Rocktage - Dana Bönisch - E-Book

Rocktage E-Book

Dana Bönisch

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Beschreibung

Ein Roman über die Sehnsucht, die sich falsch anfühlt und dennoch richtig ist Die Tage, an denen die Welt sich bewegt, an denen man das Leben spürt, das sind für Tobias Puck Rocktage. Die anderen? Die trüben Tage, an denen man das Leben nicht spüren kann? Gummispülhandschuhtage. Als Puck nach einer Uni-Party Gwen begegnet, schlägt bei ihm der Blitz ein. Endlich hat er nicht mehr das Gefühl, nur Statist in seinem eigenen Leben zu sein. Wenn es ihm nur gelänge, Gwens Liebe zu gewinnen, wenn sie seine Gefühle erwidern würde, wenn er ihr begreiflich machen könnte, dass sie beide füreinander bestimmt sind, dann – so glaubt Puck – dann würde es nur noch Rocktage geben, dann würde er endlich nicht mehr nur durch sein Leben stolpern wie durch einen falschen Film. Gwen ist seine Chance, sie wird ihn retten, aber sie hat einen Freund. Und der ist nicht das einzige Problem, mit dem Puck konfrontiert wird. Eindringlich und poetisch, mit feinem Witz und Gespür fürs Absurde erzählt Dana Bönisch in ihrem Debütroman von einem jungen Mann am Abgrund. Dessen beste Freunde die Laubfrösche im Terrarium sind, der von labbrigen Fischstäbchen lebt und manchmal mit einem Typ namens Goethe in der U-Bahn fährt. Sehnsucht und Liebeswahn: Rocktage erzählt so anrührend und verstörend von dieser klassischen Paarung, dass es sich anfühlt, als geschähe es zum ersten Mal.

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Seitenzahl: 163

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Dana Bönisch

Rocktage

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Dana Bönisch

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Dank

Rocktage

Inhaltsverzeichnis

Danke

denen, die dieser Geschichte vielleicht einen kleinen Momentsplitter beigefügt haben, ohne es zu merken; Kerstin Gleba für die vielen Milchkaffees und alles andere;

Frank Dohmen für die Rettung des Manuskripts vor meinem tückischen Computer.

Inhaltsverzeichnis

An den guten Tagen ging Puck zwischen den Leuten hindurch und konnte in ihre Seelen sehen und begriff ansatzweise die tausend Welten, die zwischen Neumarkt und Roncalliplatz parallel existierten, und er sah ganz deutlich einzelne Federn im Gefieder von schmutzigen Vögeln, und er sah den fallenden Wassertropfen, und er sah Multivitaminbonbons in Mündern verschwinden, und er schrieb im Kopf Gedichte über alles, was er sah – und Musik existierte als fünftes Element, an guten Tagen.

Rocktage.

An schlechten Tagen ging Puck und sah die Leute hinter einer Mattscheibe, und wenn man sie mit den Fingerspitzen berührte, zischte es kurz und kalt, und man bekam einen gewischt. Es gab keine Musik, an den schlechten Tagen.

 

»Hören Sie, Herr … Puck«, sagte Herr Kiel und fixierte etwas hinter Pucks Kopf, »so werden Sie nicht weit kommen. Es gibt Regeln. Alle hier müssen sich dran halten, sonst funktioniert nichts.« Puck wusste nicht, meinte er mit »hier« die Erde? Oder die Redaktion? »Sie werden nicht weit kommen, wenn Sie so weitermachen.«

»Kommt drauf an«, sagte Puck, »wo man hinwill.« Herr Kiel lachte kurz und hustend. Vor dem Fenster flog eine Möwe kopfnickend vorbei.

»Auch Sie werden einmal sterben, Herr Kiel«, sagte Puck und ging.

 

Draußen dominierte Beton, und die Sonne kam nicht wirklich zu den Leuten durch, die unten auf der Straße herumkrebsten. Puck ging schnell, er bekam Seitenstiche und konnte schlecht atmen. Er kramte in seiner Tasche nach dem Asthmaspray, fand es aber nicht. Seitlich gegen die Schaufensterscheibe eines Sanitärladens gelehnt, wartete er ein paar Minuten. Mit einem Auge sah er sich im Spiegel, seine schattige Gesichtshälfte, die Augenhöhle wie ein dunkles Tal und irgendwo darüber schwarze strubbelige Boomer-Haare.

Er wusste nicht, wohin. Das fiel ihm nun auf.

Puck ging langsam weiter, sah sein Spiegelbild in die Sonne treten, raus aus der Schaufensterwelt von Rheumaunterhosen und Inkontinenz-Beratungsbroschüren.

Es war früher Frühling.

Puck hoffte, wirklich da zu sein. So, dass die anderen Leute ihn auch sehen konnten. Er hoffte, sich sein Leben nicht einzubilden. In der U-Bahn hatte er aus Testgründen mal laut gesungen, aber niemand hatte wirklich hingesehen oder ihn angelacht oder Ähnliches. Sie saßen alle da wie vorher. All dies gab zu denken. Möglicherweise träumte er nur. Er konnte die Leute verstehen, die sich die Arme aufritzten, um zu spüren, dass sie da waren. Aber er selbst hatte viel zu viel Angst vor seinem eigenen Blut.

Am Tag seines Rauswurfs fuhr Puck genauso still und tot U-Bahn wie die anderen auch.

Es war eben einfacher.

Allerdings saß an diesem Tag auch Johann Wolfgang neben ihm, der vor sich hin flüsterte: »Was zieht mir das Herz so? Was zieht mich hinaus?« Und Puck fühlte tatsächlich Ähnliches. Eine undefinierte Sehnsucht, vielleicht nach etwas, was er mal gekannt und dann verloren, oder nach etwas, was er nie gekannt und immer gesucht hatte.

Schließlich stieg er an der Universitätsstraße aus und kaufte sich eine Brezel, und mit der Brezel im Mund rief er Mo an und bestellte sich Gras.

Mo erwartete ihn dann schon am Weiher, saß auf den Steinen am Ufer und fütterte Enten. In einer H&M-Tüte hatte er altes Brot mitgebracht.

Und blitzbildartig erinnerte sich Puck an anderes altes Brot, in einer Zeit, die ihm vorkam wie ein anderes Leben, Brot in einer Kaufring-Tüte, und an Regen, der sich in den Sommertag mischt.

»Alter«, sagte Mo.

»Alter«, sagte Puck. Er setzte sich neben ihn auf den kalten Stein.

Später gingen sie im Biergarten noch was trinken, denn Mo hoffte, die Rothaarige aus der Meteorologie-Vorlesung wiederzusehen, die angeblich fast jeden Tag um diese Zeit hierherkam. Nach zwei Bier und einer Stunde wurde es jedoch langsam kalt für T-Shirt-Leute, und Mos Handy quäkte wegen wichtiger Geschäfte, und beide, Mo und Puck, gingen wieder ihrer Wege.

»Alter«, sagte Puck.

»Alter«, sagte Mo. Und verschwand Richtung U-Bahn, während Puck den Uni-Trampelpfad einschlug.

Er mochte die Luft an Früh-Frühlingstagen, abends wenn schon ein paar Lichter brannten, hier eins, da eins, und wenn es plötzlich dämmrig geworden war, ohne dass man es bemerkt hatte, weil man sich unterhalten oder nachgedacht oder vom Gesicht eines Mädchens im folgenden Sommer geträumt hatte.

 

Rocktage konnten auch traurig und still sein; vielleicht waren sogar die meisten traurigen und stillen und auch die verzweifelten Tage Rocktage. Auch die Tage, an denen man seinen Job verlor. Oder beim Skaten eine kleine Spitzmaus überfuhr. Und anschließend mit einem Feuerzeug ein Grab für sie buddelte. Und der Tag ein paar Tage später, an dem man von Weitem mitansehen musste, wie sie, die tote Spitzmaus, von einem Hund wieder ausgebuddelt und unwürdigst behandelt wurde. Das alles hinterließ ein unsicheres, schmerzendes Gefühl im Bauch; ein Gefühl, das nachts verdrängt wurde von warmen, unwissenden, sorglosen Sommerträumen, das aber im Land zwischen Traum und Erwachen wieder auftauchte und sich in Pucks Bauch schlich. Dann blieben ihm noch ein paar Sekunden, in denen das schlechte Gefühl nicht definiert war, nur am Rande von Sonnenwelt und Gänsehaut auf Mädchenbeinen existierte. Und dann fiel ihm alles wieder ein. Der ganze. Scheiß. Platschte. Mit Voller. Wucht. Auf. Ihn. Runter, und er wollte nichts als wieder einschlafen, für immer zurück in die Welt, die nicht Leben war. Und meistens stand er dann doch auf. Und begab sich in die andere, die eine, deren Kühlschränke leer waren, und unaufgeräumt und kalt war es, und er war allein. Es gab traurige Musik, Akustikversionen von Radiohead oder etwas in der Richtung. Auch diese Tage waren Rocktage, denn er lebte oder versuchte es zumindest, und von Zeit zu Zeit berührte ihn die Sehnsucht. Schlechte Tage aber waren Tage, an denen man das Leben nicht spüren konnte. Gummispülhandschuhtage.

 

Puck vergrub die Hände in den Taschen, es war kühl, der Uni-Trampelpfad voller Früh-Frühlingsregenpfützen.

»Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt«, sagte Johann Wolfgang neben ihm, und Puck sah ihn ungläubig an.

In seinen Taschen fand er neben Krümeln, Blättchen und Kaugummipapier einen Flyer.

Er sah ihn sich an: Semesteranfangsuniparty, siehstumal. Das hatte er vergessen. Aber er würde auch nicht hingehen. BWLer-Scheiße.

 

Die Zugvögel kamen wieder und unterhielten sich am Himmel in formierten Schwärmen.

 

Die Leute unter ihm feierten ein wenig, als er nach Haus kam; man roch es, sie machten dann immer so einen komischen Gemüseauflauf (»praktisch und schnell, lecker und leicht!« Mit Ausrufezeichen dahinter. Er hasste Ausrufezeichen). Und sie hörten ziemlich laut Musik, alles, was man ihnen gerade als hip verkaufte, bei Saturn oder Mediamarkt. Okay, dachte Puck sich dann. Leben und leben lassen. Sie würden später auf die Uniparty verschwinden. Früher hatten sie sich mal ganz gern gemocht, er und die Quasi-Nachbarn unter ihm (direkte Nachbarn hatte er eigentlich gar nicht, oder sie waren nie da oder vielleicht über sechzig), aber dann hatte er eines Tages von oben auf ihren Balkon gekotzt. Er war noch nicht mal betrunken gewesen, hatte nur was Schlechtes gegessen, und jemand hatte ihn ausgesperrt. Da war er allein mit den Sternen und seinem aufmüpfigen Magen.

Und wenn er sich das genau überlegte: Hatte er nicht zuvor, früher am Abend, unten vorbeigeschaut und ein bisschen Gemüseauflauf gegessen? Das mochte durchaus so gewesen sein. Er hatte ihnen eventuell ihren eigenen Gemüseauflauf von oben auf den Rattansessel gekotzt. Alte Geschichten. Jetzt redeten sie jedenfalls nur noch das Notwendigste mit ihm. Hallo. Tschö. Ist das deine Zeitung, die da im Flur in der Hundepisse vor sich hinweicht? Viel Spaß. Fröhliche Weihnachten. Sag deinen One-Night-Stands mal, sie sollen nicht nachts um fünf in deiner Wohnung hin- und herstöckeln. Aber ihm machte das natürlich nichts aus. Er schlurfte an der lauten Tür vorbei, unter der Gemüseauflaufschwaden durchzogen, und die Treppe hinauf.

Oben wartete schon der Anrufbeantworter auf ihn und tappte nervös mit seinem roten Blinklicht. »Sie haben eine Nachricht. Freitag, zwan-zigs-ter April, sech-zehn Uhr drei-und-fünf-zig.« Er verabscheute die Satzmelodie dieser Automatenfrau. Sie ging am Ende ganz affektiert hoch, bei »zig«. Und »eine Nachricht« sagte sie, als würde sie eigentlich »nur eine Nachricht« meinen. Puck öffnete eine Schokomilch. »Hallo Tobias«, sagte seine Mutter in einem nahezu geschäftlich-kühlen Ton, den sie immer anschlug, wenn sie es mit Anrufbeantwortern zu tun hatte, »hier ist Mama. Ich wollte dich fragen, ob du am Samstag zum Essen kommen möchtest. Und hast du dich um die Versicherung gekümmert? Das ist dringend! … Ja, dann ruf mich doch mal zurück. Bis denn.« Sie sagte immer »bis denn« statt »bis dann«. Puck trank die Schokomilch aus und stellte sie auf den Boden neben den Kühlschrank. Dann ging er nachsehen, was die Frösche machten. Sie wohnten in einem kleinen Terrarium in seinem Schlafzimmer. Manchmal saß er lange davor, ganz nah, und starrte hinein, bis seine Augen nur noch grüne Pflänzchen und Steine wahrnahmen und natürlich die Frösche. Er versuchte, sich von ihrer Froschwelt absorbieren zu lassen. Irgendwann würde er sich bei so einem Versuch in einen Frosch verwandeln. Dann käme nach zwei, drei Tagen seine Mutter sorgenvoll vorbei oder Jan oder Lilli, weil er nie ans Telefon gehen würde, und er wäre nicht mehr da. Irgendwann – wie lange würde das wohl dauern: Wochen, Monate? – würden sie weinend seine Wohnung ausräumen und nicht bemerken, dass fünf statt vier Frösche im Terrarium saßen. Weil sie sich nie für die Frösche interessiert hatten. Und sie würden kurz beraten, was mit den Viechern zu tun sei, und er würde von unten zusehen, sein kleines Froschgesicht gegen die Glaswand gepresst. Seine Mutter würde den Vorschlag machen, sie ins Tierheim zu bringen. Ja, das würde sie wirklich tun.

Lilli und Jan würden dann darauf kommen, ihn und die anderen am Aachener oder Decksteiner Weiher auszusetzen. Puck würde glücklich sein. Aber Lilli könnte auch darauf bestehen, sie zu adoptieren – und er müsste ihr sein ganzes restliches kurzes Leben lang beim Sex zusehen, sein kleines Froschgesicht gegen die Glaswand gepresst.

Plötzlicher Hunger auf Fischstäbchen führte Puck in die Küche zurück. Dort fand er auf dem Tisch eine Schokomilchflasche vor. Eine viertel volle Schokomilchflasche. Dieselbe, aus der er eben getrunken hatte. Und er hätte schwören können, dass er sie ganz ausgetrunken und dann auf den Boden neben dem Kühlschrank gestellt hatte. Da waren aber nur Bierflaschen.

Er stand in der Küche. Und überlegte, warum es in seinem Leben andauernd Continuity-Fehler gab.

Wie in Filmen, man kannte die Beispiele: In einer Szene hat Rhett Butler die Hemdsärmel hochgekrempelt und in der gleichen Szene, nach einem Schnitt, ordentlich am Handgelenk zugeknöpft. Und in »Pulp Fiction«, als … jedenfalls: Wenn es in seinem Leben Continuity-Fehler gab – wem unterliefen sie?

 

Die Fischstäbchen gelangen ihm nicht. Sie waren nicht kross. Er saß allein an seinem Küchentisch, im Bauch schließlich labberige Fischstäbchen und trauriges Grundgefühl.

 

Ruhelosigkeit. Den Kühlschrank aufmachen und reingucken und dann doch nichts essen wollen.

Vom Schlafzimmer in die Küche tigern und wieder zurück, im Bad in den Spiegel gucken, sich durch die Haare wuscheln und wieder rausgehen. Fenster auf, Fenster zu. Radio an, unbefriedigende Musik, Radio wieder aus. An den Schreibtisch setzen und arbeiten wollen und dann nicht denken können, absolut nichts zustande kriegen.

 

Puck ging dann irgendwann raus; als es schon ziemlich spät war, konnte man ihn die Zülpicher Straße überqueren sehen. Ob er was suchte? Man weiß es nicht. Tatsache ist, dass er irgendwann doch noch auf der Uniparty auftauchte.

Es war heiß, heiß und feucht; drei riesige Tanzflächen auf drei Stockwerken, Körperstau auf den Treppen dazwischen, Musik bis in den Bauch, Hunderte bekannte Gesichter und Tausende unbekannte, und alles griff mit einer riesigen Hand nach ihm, nahm ihn an der schlabbrigen Hose und zog ihn nach innen, obwohl er sich wehrte. Die Zeit verwischte; irgendwann traf er Jan und Konrad und die anderen, und ein tolles Mädchen in einem roten T-Shirt kam vorbei und übergoss ihn aus Versehen mit Bier und küsste ihn zum Trost, und später verlor er sie im Körperstau, und Konrad sagte ihm was ins Ohr von Praktika bei Microsoft und Thunfischbagels, und er verstand nur jedes fünfte gebrüllte Wort. Lilli griff mit heißen Händen nach ihm und nahm ihn mit zur Bar, weil die Tequila-Happy-Hour nur noch fünf Minuten dauerte.

Einmal, als er gegen sieben nach einer Party wie dieser im Bett lag, wurde ihm klar, dass er während der ganzen Zeit an diesem Ort nicht gedacht hatte; oder dass er sich zumindest nicht daran erinnern konnte, gedacht zu haben. Deswegen war auch die Zeit verwischt, gestaucht im Ganzen, gedehnt in manchen Momenten. Aber er dachte natürlich nicht daran, dass er nicht dachte, als er beispielsweise gerade mit Lilli durch das Körpermeer zur Bar schwamm. Puck hatte zwischendurch vom ersten ins zweite Stockwerk gewechselt, denn unten hatten sie angefangen, arroganten HipHop zu spielen – so Sachen, bei denen er sich immer schütteln musste. Oben hatten sie mal wieder »Smells Like Teen Spirit« rausgekramt. Er sah den Leuten zu, wie sie mit den Köpfen nickten und die Lippen bewegten, ohne den Text zu können.

 

Ob es irgendwann in der Weite der Rockjahre auf einem Konzert irgendwo auf diesem Planeten schon mal passiert war, dass alle Leute in jenem Raum auf einmal in der Luft waren? Hunderte, Tausende? Dass sie in derselben Nanosekunde hochgesprungen und in derselben Nanosekunde wieder gelandet waren? Dass eine Nanosekunde lang kein Paar Füße den Boden berührt hatte? Niemand, niemand würde das je wissen.

Puck fand sich später draußen auf den Stufen vor der Mensa wieder.

Am Himmel führten die Sterne für ihn einen leisen und bedächtigen Tanz auf. »I wish … we could be dancing in the dark …«, sang er vor sich hin, »… really slow …«

Und die Sehnsucht tat ihm weh, traf ihn unvorbereitet irgendwo in der Bauchgegend. Wonach er sich sehnte, wusste er nicht. So musste es sich anfühlen, wenn man einen Zwilling hatte, den man seit seiner Geburt nicht gesehen hatte, von dem man vielleicht gar nichts wusste.

Aber er glaubte nicht an den Zwillingskram. Er hatte bestimmt keinen gehabt. Tobias Puck war allein hier. Er musste irgendwie fertig werden mit dem Leben auf diesem Planeten.

Aber woher kam das Gefühl dann?

Hatte es was mit der Unendlichkeit zu tun? Und damit, dass niemals jemand wissen würde, ob mal alle Leute auf einmal in der Luft gewesen waren?

Puck ging die Treppe hinunter und ließ Mos Rucksack auf den Stufen liegen.

Kiffen half auch nicht mehr.

Es konnte nichts gegen die Sehnsucht tun.

 

Der Park war nicht weit.

Puck pflügte mit seinen großen Adidas-Füßen den Kies zur Seite. Er kieselte durch die relative Stille der Frühlingsanfangsnacht. Sein Handy fing plötzlich an, die Muppets-Melodie zu quieken. Lilli hatte das programmiert. Er mochte es nicht besonders, sein Handy. Also nicht so, wie andere Leute das tun.

»Hallo?«

»Sag mal, wo bist’n du? Was denkst’n dir dabei?«

Es war Mo. Er hatte wahrscheinlich seinen Rucksack allein auf der Mensatreppe vorfinden müssen, obwohl er Puck instruiert hatte, ihn zu beschützen. Puck entschuldigte sich höflich und legte auf.

Mo allerdings hatte schon vorher aufgelegt.

Der Weiher war ruhig und nachtdunkel und am Rand orangefarben. Vielleicht mochte Puck den Park deshalb so gern: weil seine Laternen orangefarbenes Licht hatten, wie die in Italien. Das Licht erinnerte an Vespasurren und warme Luft in einem Land, in dem die Nacht fast niemals todesähnlich still ist. Mindestens Grillen sind immer da und passen auf einen auf, wenn man allein ist.

Im Prinzip wäre Puck wahrscheinlich doch glücklich gewesen, wenn er ein kleines anarchisches Froschleben zwischen Grashalmen führen würde, und zwischen anbetungswürdigen Gänseblümchen.

Eine Ente, still durch die Nacht quakend, nur ein einziges Mal. Sie schlief mit anderen in einem Haus mitten auf dem See. Auf der Wiese bewegte sich etwas, eine Zigarette glühte. Da saßen ein paar Leute, und jetzt nahm er auch Gesprächsfetzen wahr.

Parknacht.

»Der Dichter betet den Zufall an«, dachte dann der anarchische Frosch, als sich aus dem schwarzen Gruppenklümpchen auf der Wiese eine lange Gestalt löste und auf ihn zulief – es war Lilli, und ihre Lippen glänzten im italienfarbenen Licht.

»Puck«, sagte sie, und umarmte ihn warm und betrunken. »Was machst du denn hier? Magst du mit mir nach Hause gehen?«

Er wusste, dass sie gelegentlich Angst hatte vor der dunklen Brückenunterführung und dem noch dunkleren Uniparkplatz, aber er wusste auch, dass sie gelegentlich absichtlich Angst hatte.

»Willst du denn nicht zurück zur Party?«, fragte Puck und hielt sie fest.

»Nö«, nuschelte sie an seinem Hals, »mir geht’s nicht so gut, und die Leute da drüben sind so langweilig … Bitte …«

Und so brachte er sie nach Hause. Es war eigentlich nicht weit, aber sie hing ziemlich schwer an seinem Arm und erzählte von Krötenwanderungen, und ihr Parfüm erinnerte ihn an den vorletzten Winter; sie hatten die drei Wallace-&-Gromit-Filme hintereinander gesehen und Früchtequarkauflauf gegessen.

Und in ihrem Hausflur, nachdem er für sie aufgeschlossen hatte. Siehstumal. Da. Atmete. Sie. In. Sein. Gesicht. Und. Küsste. Ihn.

Im deutschen Straßenlaternenlicht, das durch die Milchglashaustür spingste, drückte sie sich an ihn, und sie küssten sich gegen die Wand gelehnt. Sie streckte beide Arme nach oben und ließ ihre Finger über die Kacheln krabbeln, sie bog sich ihm entgegen und sagte: »Ich mag nicht alleine sein. Was ist, wenn die Kröten schon da sind?«

Lilli lachte mit weißen Zähnen und wirkte plötzlich gar nicht mehr betrunken.

Sie wand sich an der Wand, ein gefangener, langer Fisch, und wollte, dass er sie packte.

Und das tat er auch, natürlich tat er das. Sie stolperten gegen das Treppengeländer.

Dann flutschte der Fisch wieder weg und zog ihn die Treppe hinauf. Sie war ihm sehr vertraut und sehr fremd in der kichernden Flurstille. Eigentlich zu vertraut, um mit ihr zu vögeln. Eigentlich zu fremd in diesem Moment, um es nicht zu tun. Aber plötzlich. Als sie mit dem Schlüssel gegen das Schloss stocherte und ihm nebenbei ihre glitschige Fischzunge in den Mund bohrte. Da sang es in seinem Kopf: And I wish … we could be dancing in the dark … und in jenem Moment wurde der Tag, der bis jetzt zwischen Rock und Gummispülhandschuh gekippelt hatte, zu einem wahren Gummispülhandschuhtag, denn er fühlte sich, als wäre er nicht da.

»Ich geh dann jetzt besser«, sagte er, und ja, unbewusst hatte er diesen Satz natürlich aus einem Film und auch die Art, wie er dabei die Hände in den Taschen hatte und unsicher die Schultern vor- und zurückschob. Lilli drehte sich ganz zu ihm um und sah ihn mit großen Augen an, mitten in der Stille, die plötzlich auf Saugen und Kichern gefolgt war.

»Das meinst du nicht im Ernst?«

»Doch, ich denke, es ist besser für uns beide, für unsere Freundschaft, weißt du …« Irgendwas in dem Sinne stammelte er sich mit Sicherheit zusammen. Wenn er aufgeregt war oder sich schämte, redete er immer sehr schnell.

»Freundschaft? Du glaubst, dass wir Freunde sind?« »Ja, natürlich …« Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie ihn gleich schlagen würde.

Sie ging rein, machte erstaunlich leise die Tür hinter sich zu, schloss ab und schrie dann von innen – er zuckte zusammen –: »Es gibt keine Freundschaft zwischen Katzen und Hunden!«

Sie schämte sich dafür, dass sie ihn nicht hatte verführen können und dass er das morgen noch wissen würde. Und er schämte sich dafür, dass er sich nicht hatte verführen lassen und dass er die Sache mit der Freundschaft vorgeschoben hatte.

Die labbrigen Fischstäbchen, die irgendwo in seinem Bauch ihr Schläfchen hielten, seufzten kurz und drehten sich auf die andere Seite.