Romantische Bibliothek - Folge 42 - Ursula Fischer - E-Book

Romantische Bibliothek - Folge 42 E-Book

Ursula Fischer

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Beschreibung

Die hübsche Hella führt auf dem Grabbe-Hof ein angenehmes und ruhiges Leben. Doch die Gedanken an ihre Herkunft quälen die junge Frau jeden Tag aufs Neue.

Als sie zwei Jahre alt war, fand der Eisenbahner Adomeit sie bei Wind und Wetter verängstigt vor seiner Tür. Niemand weiß, wer ihre Eltern sind, vermutlich starben sie bei einem Fliegerangriff.

Seit vielen Jahren lebt Hella nun in der Ungewissheit, wer sie wirklich ist - bis sie eines Tages erfährt, dass sie aus einer Adelsfamilie stammt. Und nicht nur das: Ihr Herz macht einen Sprung, denn ihr Vater, Graf Hostedt, hat überlebt!

Endlich hat ihr Leben wieder einen Sinn. Doch der Graf will nichts von ihr wissen und stürzt Hella mit seiner Zurückweisung in tiefste Verzweiflung ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Unter ihrem Stande

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Bastei Verlag/von Sarosdy

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-3782-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Unter ihrem Stande

Eine Komtess lebte jahrelang als Magd

Von Ursula Fischer

Die hübsche Hella führt auf dem Grabbe-Hof ein angenehmes und ruhiges Leben. Doch die Gedanken an ihre Herkunft quälen die junge Frau jeden Tag aufs Neue.

Als sie zwei Jahre alt war, fand der Eisenbahner Adomeit sie bei Wind und Wetter verängstigt vor seiner Tür. Niemand weiß, wer ihre Eltern sind, vermutlich starben sie bei einem Fliegerangriff.

Seit vielen Jahren lebt Hella nun in der Ungewissheit, wer sie wirklich ist – bis sie eines Tages erfährt, dass sie aus einer Adelsfamilie stammt. Und nicht nur das: Ihr Herz macht einen Sprung, denn ihr Vater, Graf Hostedt, hat überlebt!

Endlich hat ihr Leben wieder einen Sinn. Doch der Graf will nichts von ihr wissen und stürzt Hella mit seiner Zurückweisung in tiefste Verzweiflung …

Die Bäuerin Anni Grabbe war eine gutmütige Frau. Sie war derb und untersetzt, plump.

„Es muss am Wetter liegen, dass ich heute so gereizt bin. Es hängt ein Gewitter in der Luft.“

„Ja, das glaube ich auch.“

Hella, gleichfalls Grabbe genannt, mittelgroß, schlank und feingliedrig, nickte bestätigend. Schon lange lebte sie auf diesem Hof.

Drei Jahre alt war sie gewesen, als sie hierhergekommen war. Vielleicht etwas älter, vielleicht etwas jünger, aber das wusste sie nicht. Niemand wusste es …

„Hast du schon im Haus aufgeräumt?“

„Ja, bis auf Ottos Zimmer. Das mache ich gleich noch.“

„Dann tu es jetzt. Der Junge bereitet mir in letzter Zeit Kummer, Hella. Ich möchte wissen, was dahintersteckt. Bestimmt ein Mädchen. Aber er rückt ja nicht mit der Sprache heraus. Hoffentlich hat er sich die Richtige ausgesucht. Ein bisschen Geld könnten wir brauchen.“

Es war selbstverständlich, dass ein Bauernsohn wie Otto Grabbe bei der Wahl seiner künftigen Frau auf eine angemessene Mitgift achtete.

Als Hella das Zimmer des jungen Bauern betrat, um das Bett zu machen und Staub zu wischen, hing sie ihren Gedanken nach.

Sie fühlte sich hier nicht zu Hause, obwohl sie kein anderes Zuhause hatte und immer hier gewesen war.

Nein. Da war noch eine Erinnerung, eine Erinnerung an winzige Einzelheiten. An eine große Standuhr mit einem altmodischen Zifferblatt.

Hella sah sie deutlich vor sich wie auf einer Fotografie. Sie hatte sogar noch den Klang im Ohr, mit dem die Standuhr die Stunden verkündete.

Und dann die Katze!

Eine grauschwarz gestreifte Katze war es gewesen. Den Namen der Katze hatte Hella vergessen, wie sie auch alles andere vergessen hatte.

Nur ein Brunnen war ihr gegenwärtig.

Er stand mitten auf einem großen Platz, der in ihrer Erinnerung riesige Ausmaße hatte. Ein rundes Becken, in der Mitte ein Podest, auf dem ein Reh stand.

Von allen Seiten spritzte das Wasser ins Becken und hüllte das Reh in einen Dunstschleier aus Wasserstaub ein.

Wo war das gewesen?, fragte sich Hella grübelnd. Sie stand auf den gescheuerten Dielen und starrte vor sich hin.

Wenn ich doch nur einmal ein Bild dieses Brunnens sehen würde, damit ich wenigstens den Namen der Stadt erfahre, aus der ich stamme, dachte Hella.

Der Platz war mit Kopfsteinen gepflastert, runden Katzenköpfen, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Bauernwagen lustig klapperten …

An solche unwichtigen Einzelheiten erinnerte sich Hella ganz genau. Aber ihr Nachname fiel ihr nicht ein.

Sie erinnerte sich an die endlos lange Fahrt im Güterwagen, an das Rattern der Räder auf den Schienen. Aber es waren immer nur Momentaufnahmen, die in ihrem Kopf aufblitzten; es war keine zusammenhängende Kette von Eindrücken.

Das Mädchen war so in Gedanken versunken, dass es das Knarren der Tür überhörte. Erst als die Dielen unter dem Gewicht eines schweren Mannes ächzten, schreckte Hella hoch.

„Ach, du bist es, Otto.“

Sie schenkte dem jungen Mann ein flüchtiges Lächeln. Sie waren hier auf dem Hof wie Geschwister aufgewachsen, und lange Zeit hatte Hella auch geglaubt, Otto sei ihr großer Bruder.

Bis andere Kinder aus dem Dorf sie einmal aufgeklärt hatten, dass sie eigentlich nicht dazugehöre.

„Du kommst heute früh zurück.“

Hella beugte sich übers Bett, um die Decke glatt zu ziehen.

Der junge Mann stand da und kaute auf seiner Unterlippe. Seine Arme hingen unbeholfen an ihm herab. Er trug eine ausgebeulte, alte Hose, hohe Stiefel und ein Hemd, das längst seine ursprüngliche Farbe verloren hatte.

„Wir sind früher fertig geworden“, brachte er hervor, und man merkte, dass das Sprechen ihn Mühe kostete.

Er war ein flinker und gewissenhafter Arbeiter, ein Bauernsohn, wie ihn sich die Eltern wünschten. Nur mit Worten kam er nicht so gut zurecht.

„Verdammt heiß“, äußerte er.

„Ja, es muss draußen kein schönes Arbeiten gewesen sein. Im Haus merkt man die Hitze weniger. Hier ist es angenehm kühl.“

Otto nickte. Er hatte einen massigen Hals, der zu seinem vierschrötigen Körper passte.

„Du siehst immer frisch aus“, sagte Otto und bekräftigte seine Feststellung durch ein Nicken. „Du bist immer frisch.“

„Ich schwitze selten.“ Hella lächelte ihm freundlich zu.

Sie hatte ihn ins Herz geschlossen, und sie half ihm gern, wenn es nötig war. Früher zum Beispiel, bei den Schularbeiten, obwohl er ein paar Klassen über ihr gewesen war.

Aber sein dumpfer Verstand war nicht zum Lernen geschaffen, während Hella schnell begriff und bald in der Dorfschule die beste Schülerin und der Stolz des alten Lehrers war.

„Otto“, sagte Hella und erinnerte sich an die Worte seiner Mutter. „Hast du etwas auf dem Herzen? Zu mir kannst du Vertrauen haben, das weißt du. Wenn ich dir irgendwie helfen kann … Ist es ein Mädchen, mit dem du nicht zurechtkommst?“

Otto knetete die Hände. Ein paarmal setzte er zum Sprechen an, kam aber nicht über ein tiefes Atmen hinaus.

„Wer ist es denn?“, fragte Hella mitleidig.

Sie konnte sich schon denken, dass Otto einen Fürsprecher brauchte, wenn es sich um ein wortgewandtes und flinkes Mädchen handelte.

Einen Korb würde Otto Grabbe kaum bekommen. Er war der einzige Sohn. Der Hof war schuldenfrei und aufs Beste ausgestattet.

Und er war schließlich ein ansehnlicher Mann. Nach dem Geschmack der Bauern, die kräftige Arme und eine breite Brust zu schätzen wissen.

„Du!“, sagte Otto und nickte.

„Wer?“, fragte Hella und lachte. „Nun sag mir schon den Namen! Mach kein Geheimnis daraus, Otto. Deine Eltern freuen sich bestimmt, wenn du bald heiratest. Auf dem Hof fehlen Kinder.“

Otto nickte. Er konnte jeden ihrer Sätze unterstreichen.

„Also, wann wollen wir heiraten?“

Noch immer stand er vor ihr, die Hände zusammengepresst, ein törichtes Lächeln auf dem gutmütigen Gesicht. Seine blassblauen Augen bettelten um Verständnis und Nachsicht.

Hella schüttelte unwillkürlich den Kopf.

„Du meinst, dass du mich heiraten willst?“, fragte sie.

Es war völlig ausgeschlossen, dass er seine Worte so gemeint hatte. Dazu kannte Hella die Denkweise der Bauern dieser Gegend viel zu gut.

„Ja. Dann bleibt alles beim Alten. Du stellst dein Bett in mein Zimmer und den Schrank, und das ist es dann …“

„Otto, du machst dich über mich lustig.“

Dabei wusste Hella genau, dass er kein Mann war, der zu derartigen Scherzen neigte. Aber sein Antrag war so überraschend und absurd, dass ihr nichts anderes einfiel.

„Warum nicht? Wir passen zusammen. Also, ich dachte, so in etwa acht Wochen. Dann haben wir die Rüben geerntet und ein bisschen Zeit für uns.“

„Aber das geht nicht! Du solltest dir das noch einmal überlegen, Otto. Es gibt so viele Mädchen, die viel besser zu dir passen würden als ich.“ Hella schüttelte den Kopf. „Schau mich doch an! Wer bin ich schon? Ein Mädchen, das nicht einmal einen eigenen Namen hat. Ein Fräulein Niemand. Aus Gnade und Barmherzigkeit hier aufgezogen.“

Das wusste Otto selbst.

„Wenn du mich heiratest, dann heißt du wirklich Grabbe“, sagte er.

„Deine Eltern werden nicht einverstanden sein. Deine Frau muss zupacken können, Otto.“

Ein verbissener Ausdruck legte sich über das Gesicht des jungen Mannes.

„Ich arbeite eben für zwei“, antwortete er dumpf. „Ich mag dich, Hella. So was Schlankes wie dich. Ich mag die Mädchen aus dem Dorf nicht, die alle so … Ich mag so was Schlankes.“

„Otto, wo steckst du?“, rief Anni aus der Küche. „Hella, wir müssen die Kartoffeln aufsetzen.“

„Entschuldige mich“, murmelte Hella.

Das Mädchen lief an Otto vorbei, der nicht so schnell schalten konnte. Er musste erst verarbeiten, was Hella gesagt hatte.

Dann trottete er wie ein gutmütiger Bär hinter der schlanken Hella in die Küche.

„Jetzt hast du uns wieder den ganzen Dreck ins Haus geschleppt“, schalt Anni. „Dass ihr Männer euch niemals richtig die Schuhe saubermachen könnt. Los, geh in die Diele, und tritt dir die Stiefel gründlich ab!“

Der junge Bauer gehorchte wortlos. Er war es gewohnt, dass seine Mutter in diesem Ton mit ihm sprach, und er fand nichts dabei.

Hella kümmerte sich ums Essen, während Anni hinausging, um den Hühnern Futter hinzustreuen.

Es kann ihm nicht ernst gewesen sein, dachte Hella. Wir sind wie Bruder und Schwester, wir können nicht heiraten.

Niemals hatte sie bisher in Otto Grabbe den Mann ihres Lebens gesehen, so gern sie ihn auch hatte.

Aber eigentlich ist es doch nett, dass er mich heiraten will, dachte sie. Eine größere Liebeserklärung hätte ein Mann wie er ihr gar nicht machen können. Was für innere Kämpfe, was für Überwindungen musste es ihn gekostet haben, bis er sich durchgerungen hatte, ein bettelarmes Mädchen zur Frau nehmen zu wollen.

***

„Ich will heiraten“, sagte Otto abends, als er mit seinem Vater zusammen die Schweine fütterte.

Bauer Hinrich Grabbe ließ sich nicht anmerken, dass er sich wunderte. Er ließ sich nicht in seiner Arbeit stören.

Es roch im Stall, wie man es nicht anders erwarten konnte, nach Schweinen und Mist. Für romantische Stimmung war es nicht gerade die richtige Umgebung.

„Wen?“, fragte Hinrich Grabbe. Er redete genauso wenig wie sein Sohn und beschränkte sich auf das Allernotwendigste.

„Hella.“

Bauer Hinrich Grabbe hob den Kopf und gab durch sein Stirnrunzeln zu verstehen, dass er die Antwort seines Sohnes nicht verstanden hatte.

„Kenne keine Hella“, sagte sein Vater schließlich, als Otto keine Anstalten machte, deutlicher zu werden.

„Unsere Hella.“

Otto setzte den leeren Eimer ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Im niedrigen Stall war er drückend heiß.

Auch Vater Hinrich richtete sich auf.

„Unsere Hella?“, wiederholte er ungläubig.

Otto nickte.

„Nein!“

Vater Hinrich bückte sich nach den beiden leeren Eimern und schlurfte zum Ende des Stalles, um sie mit neuem Futter zu füllen.

Sein Sohn stampfte hinter ihm her. „Warum nicht?“

„Keine Bäuerin.“

„Aber ich mag sie.“

Otto räusperte sich. Es war schon viel, dass er dieses Geständnis laut aussprach. Sein Vater stellte die Eimer, die er inzwischen gefüllt hatte, rechts und links von sich auf den festgestampften Lehm.

„Du bist verrückt geworden“, sagte er brummig. „Hella gehört nicht zu uns.“

„Das kannst du nicht sagen. Sie ist nun schon so lange hier.“

„Keine von uns. Viel zu fein. Und die Kinder, die Hella mal in die Welt setzen würde … Such dir eine andere, Otto. – Wir müssen uns beeilen, sonst schimpfen die Frauen, wenn wir zu spät zum Essen kommen.“

„Aber ich will Hella!“

„Nein!“

Bauer Hinrich Grabbe arbeitete gelassen weiter. Schließlich war er der Herr im Hause, und Otto sollte sich gefälligst fügen.

Der Bauer fand es nur merkwürdig, dass ein so vernünftiger Kerl wie sein Sohn sich ausgerechnet hatte in Hella verlieben können. An der war seiner Meinung nach nichts dran.

Wenn man die in den Arm nahm, dann war das genauso, als hätte man nichts im Arm. Ein Mädchen musste man ordentlich spüren, fand er.

„Ich hab schon mit ihr gesprochen.“

„Nein.“

Bauer Hinrich beschränkte sich in seinen Antworten auf dieses kurze „Nein“. Es genügte völlig, war er überzeugt. Otto war es gewohnt, ihm zu gehorchen, wie es seit jeher der Sohn dem Vater gegenüber zu tun pflegte.

„Aber ich will sie“, sagte Otto beharrlich.

Sein Vater schlurfte mit den leeren Eimern durch den mittleren Stallgang, stellte sie neben den Futterbehälter und ging hinaus.

Sie waren mit dem Füttern noch nicht fertig. Mochte Otto den Rest allein erledigen. Im Gehen wischte sich Ottos Vater die Hände an der Hose ab.

Hella stand am Herd, und bei seinem Eintreten wandte sie den Kopf.

„Soll ich schon anfangen, die Eier zu braten?“, fragte sie.

„Otto hat mit mir gesprochen. Wie kommst du nur auf die Idee, ihn heiraten zu wollen? Das gibt es nicht, Hella. Du bist nett, aber unseren Otto heiraten, dass musst du dir aus dem Kopf schlagen.“

„Aber ich will ihn gar nicht heiraten. Ich war ganz erstaunt, als er vorhin davon anfing, Vater.“

Misstrauisch schaute Hinrich Grabbe sie an.

„Wirst ja wohl ’n bisschen nachgeholfen haben“, äußerte er dann. „So einen schönen Hof wie unseren, den findest du nicht so leicht wieder. Aber wir wollen nicht, dass du den Otto heiratest.“

„Ich verstehe. Ich bin euch nicht gut genug. Ich trage zwar euren Namen, aber ich gehöre nicht zu euch. Ich bleibe ewig das Kind, das ihr damals für ein paar Tage aufgenommen habt und dann nicht wieder losgeworden seid. Und ich dachte, in all den Jahren hättet ihr mich ein bisschen liebgewonnen.“

Hinrich Grabbe rutschte auf dem Küchenstuhl hin und her.

„Wir haben dich ja gern“, brummte er. „Bestimmt. Nur dass du immer hierbleibst, als Bäuerin … Du bist eben nicht von unserem Schlag. Mehr so ein Stadtmädchen. Mach das dem Otto klar.“

„Ich möchte mal wissen, wer ich bin. Ihr habt ja keine Ahnung, was es heißt, ein Niemand zu sein. Der ärmste Bauer im Dorf weiß, wohin er gehört, er weiß, woher er kommt. Und ich? Nichts weiß ich von mir.“

„Waren schlimme Zeiten damals.“ Hinrich Grabbe zog die Schultern hoch und ließ sie resigniert wieder fallen.

„Aber ich habe auch Eltern. Vielleicht leben sie noch.“

„Vielleicht.“

Der Mann widersprach ihr nicht, obwohl er es leicht hätte tun können. Was hatten sie damals nicht alles unternommen, um Hellas Eltern ausfindig zu machen. Doch es war alles vergeblich gewesen.

„Wie kann ich sie finden?“ Das Mädchen presste die Fäuste gegen die Stirn. „Wenn sie noch leben, dann müsste ich sie finden können. Vielleicht würden sie sich freuen, mich wiederzubekommen. Sie würden mir nie vorhalten, dass ich nicht zu ihnen gehöre.“

„Reg dich doch nicht so auf.“

Der Bauer legte ihr die schwielige Hand besänftigend auf den Arm.

„War ja nicht so gemeint gewesen“, sagte er. „Nur als Otto ankam, dass er dich heiraten will, das geht natürlich nicht. Du kannst bei uns bleiben, solange du willst.“

„Danke.“

Unwillkürlich klang Hellas Stimme etwas bitter. Dabei wusste sie selbst, dass sie allen Grund hatte, den Grabbes dankbar zu sein.

Es waren damals schlechte Zeiten gewesen, als das Ehepaar sie aufgenommen hatte. Und dann hatte man sie sogar behalten, einen Esser mehr am Tisch.

Aber sie hatte sich nicht so entwickelt, wie Hinrich und Anni Grabbe es sich wohl gewünscht hatten.

Sie war keine stämmige Magd geworden, sondern ein feingliedriges Mädchen mit großen tiefblauen Augen, die immer ein wenig fragend in die Welt schauten.

„Wolltest du ihn gernhaben, unseren Otto?“, fragte Bauer Hinrich mitleidig.

„Nein. Ich hätte ihn sowieso nicht geheiratet. Aber dass ich euch nicht gut genug bin … Ihr habt mich gehalten wie eure Tochter, aber wenn es darauf ankommt, dann gehöre ich nicht zu euch. Dann bin ich das fremde Mädchen, das ihr aufgezogen habt, Hella, genannt Grabbe, weil ich nicht einmal einen Namen habe.“

„Ach, Kind.“

Sie wandte sich heftig zu Hinrich Grabbe herum. „Sogar das Vieh hat bei uns Namen, nur ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich Hella heiße. Warum muss das Schicksal mich so strafen? Was habe ich getan?“

„Beruhige dich wieder! Ist ja alles gut. Und wenn du den Otto sowieso nicht haben wolltest …“

„Aber darauf kommt es doch gar nicht an! Ich habe keine Heimat, nur ein Dach über dem Kopf. Ihr wart für mich Vater und Mutter, Otto war mein Bruder. Und jetzt merke ich, dass alles nur Einbildung war. Ihr liebt mich nicht.“

„Mach die Eier fertig! Otto wird gleich mit dem Füttern fertig sein.“

Vater Hinrich stopfte sich seine Pfeife. Er verstand nicht recht, was Hella wollte.

Hatten sie das Mädchen nicht aufgezogen wie ein eigenes Kind, ihm Kleider gekauft, zu essen gegeben? Ein eigenes Zimmer hatte Hella, und jetzt tat sie so, als sei das nicht genug.

Eigentlich ist sie undankbar, folgerte Hinrich Grabbe. Sollen wir sie halten wie eine Prinzessin, ihr unseren guten Hof übergeben? Und dann setzt sie Kinder in die Welt, die keinen Pflug richtig in die Erde drücken können.

Aber so ist das, wenn man fremdes Blut ins Haus aufnimmt. Man sollte es nicht tun, man wird ja doch nur enttäuscht.

Hellas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, während sie die Eier in die Pfanne schlug. Es war bitterschwer für sie, so allein zu leben.

Sie hatte keine Freundin, eigentlich nur den alten Lehrer, den sie manchmal besuchte und zu dem sie Vertrauen hatte.

Sie gehörte nicht hierher, sie dachte anders als die Menschen dieser Gegend, sie fühlte anders und sie sprach anders.

Vielleicht hätte ich nicht so viel lesen sollen, dachte sie. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich nur um den Haushalt gekümmert.

Aber sie hatte es nicht gekonnt. Schon als kleines Mädchen war es ihr höchstes Glück gewesen, sich irgendwo mit einem Buch zu verstecken.

Der Lehrer hatte eine schöne Bibliothek, und ihm hatte es Freude gemacht, Hellas Horizont durch geeignete Bücher zu erweitern.

„Wieder gut?“, fragte Hinrich Grabbe und gab ihr einen leichten Klaps auf den Rücken.

„Ja, alles wieder gut“, sagte Hella dumpf.

Aber sie wusste, dass es nie wieder so sein würde wie früher.

Sie war allein. Auch hier.

***

Gleich nach dem Abendessen verließ Hella das Bauernhaus.

Ihr Ziel war ein kleines Haus, das irgendwie den Eindruck machte, als gehöre es nicht hierher. Es war nicht mit Stroh gedeckt, hatte nur einen kleinen Stall, und der Garten vor dem Haus war voller Blumen.

Nicht einmal Gemüse hatte der Mann angebaut, oder jedenfalls nur ein bisschen hinter dem Haus.

Hella lächelte unwillkürlich, als sie auf die bunte Pracht schaute.

Dann klopfte sie an die Tür. Eine Klingel gab es hier nicht. Hella hörte schlurfende Schritte und ein langes Husten, das mit einem röchelnden Geräusch endete.

„Ach, du bist es.“ Ein alter Mann, schwer auf einen Stock gestützt, nickte ihr zu. „Komm nur herein. Schön, dass du mich besuchst. Du wirst immer hübscher.“

„Danke.“

Hella besuchte den pensionierten Eisenbahner Hermann Adomeit ab und zu, wenn auch nicht häufig, weil ihr einfach die Zeit fehlte. Aber heute hatte sie das Bedürfnis, mit ihm sprechen zu müssen.

„Möchtest du etwas trinken? Johannisbeersaft oder Himbeersaft?“

„Nein, danke, Herr Adomeit. Sie haben mich doch damals gefunden.“

Der alte Mann hatte in seiner kleinen Stube ihm Lehnstuhl Platz genommen und den Stock zwischen die Knie gepresst. Sein Blick war klar und hell, obwohl sein Körper alt und gebrechlich war.

„Ja, ich habe dich damals gefunden“, gab er zurück.

„Können Sie sich nicht an irgendetwas erinnern, das mir einen Hinweis auf meine Eltern gibt? Erzählen Sie bitte noch einmal ganz genau, wie alles gewesen ist.“

Adomeit nickte geduldig. Er hatte ihr die Geschichte bestimmt schon ein Dutzend Mal erzählt, aber wenn Hella sie noch einmal hören wollte, dann sollte es ihm recht sein.

„Es war im April“, begann er. „Am fünfundzwanzigsten April, um genau zu sein. Es hatte den ganzen Tag geregnet, mit Schnee vermischt, ein richtiges Schmutzwetter war es gewesen.“

„Und dann kam der Güterzug mit den Flüchtlingen?“

Adomeit nickte.

„Ja, der Zug war überraschend eingesetzt worden. Ich erinnere mich noch, wie ich geschimpft habe, weil ich hinausmusste. Es war ein langer Zug, Viehwagen und offene Wagen, und voller Menschen. Er hielt bei uns.“

„Und dann?“

Hella beugte sich gespannt vor. Vielleicht fiel ihm jetzt etwas ein, was er vorher vergessen hatte zu erzählen.

„Die Leute strömten aus den Wagen. Ihnen war kalt. Sie wollten sich die Füße vertreten, und vor allem wollten sie was zu trinken haben. Kaffee oder so etwas gab es bei uns nicht. Wir waren nicht darauf eingerichtet. Und dann kam der Fliegeralarm.“

„Und?“, drängte Hella, als er eine lange Pause einlegte, in der er sich die damalige Situation vergegenwärtigte.

„Der Fliegeralarm. Täglich kamen sie, und sie haben auf die Leute auf den Feldern geschossen. Natürlich auch auf Züge. Auf die besonders, da lohnte es sich mehr, denn die waren ja bis obenhin voller Menschen.“

Adomeit schwieg und holte tief Luft.

„Was passierte dann?“

„Ja, der Zug ruckte an, und alle stürzten zu ihren Waggons zurück. Wie Trauben hingen sie an den Wagen, auf den Trittbrettern standen sie, auf den Puffern. Es war ein Geschrei, weil sie Angst hatten, der Zug würde ohne sie weiterfahren. Sie hatten alle Angst, zurückzubleiben.“

Hella nickte. Sie kannte das alles aus Erzählungen. Erinnern konnte sie sich selbst nicht.