Rosablanche - Jolliet Matias - E-Book

Rosablanche E-Book

Jolliet Matias

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Beschreibung

Rosablanche, so heißt ein Gipfel in den Walliser Alpen. In seinem Erstlingswerk erzählt Matias Jolliet von einer einsamen Wanderung in den Bergen. Es ist die Geschichte eines Aufbruchs. Nachdem er mit sich selbst gerungen hat, folgt der Erzähler dem Ruf der Berge, lässt seinen Alltag und die Stadt mit ihrer Betrieb-sam­keit hinter sich, um sich ganz der Einsamkeit, der Weite des Raumes, den Launen des Wetters und den Gefahren des alpinen Geländes auszusetzen, sich von äußeren Zwängen zu befreien und in der Ursprünglichkeit des Gebirges zu sich selbst zu finden. Mehr noch als von einer Bergbesteigung handelt die Erzählung von einer inneren Reise – der Berg als Lebensschule. Aus dem Französischen von Walter Pfäffli

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Seitenzahl: 73

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Matias Jolliet

Rosablanche

Aus dem Französischen von Walter Pfäffli

Nimmermehr, und sei es auch noch so anstrengend, sollte man vor der Vielzahl der Segnungen, die es an solch einem Bergtag zu entdecken gibt, zurückschrecken. Was auch immer das Schicksal für einen bereithält, ob man ein langes oder ein kurzes Leben während stürmischer oder ruhiger Zeiten führt, solch ein Tag bereichert auf ewig.

John Muir

Inhalt

1404 m

1457 m

1852 m

2133 m

2250 m

2558 m

2899 m

2804 m

2802 m

2572 m

2634 m

2845 m

2908 m

3143 m

3280 m

3280 m

3228 m

3277 m

3303 m

1227 m

2567 m

Dank

1404 m

Ich stehe am Wegrand, an einen großen, noch immer nächtlich kühlen Granitblock gelehnt, eine Tasse dampfend heißen Kaffees in der Hand, und nehme die tiefe Ruhe auf, die in der Dunkelheit herrscht. Der Saum des Waldes über mir ist ein undurchdringlicher Schatten, der die Obergrenze der verschlafenen Wiesen markiert, und aus dem Dorf unten, wo in einigen Fenstern bereits das Licht angegangen ist, steigen lilafarbene Rauchschwaden zu den letzten Sternen auf, die allmählich im Milchig-Blau eines klaren und friedlichen Himmels erlöschen. Was für ein Kontrast zu den dunklen, in Nebel gehüllten Bergmassen! Nichts rührt sich, alles ist wie in der Schwebe. Die Vögel, die mit der Morgendämmerung zu singen begonnen haben, sind verstummt. Der Wind hat aufgehört. Es gibt kein Geräusch, keine Bewegung mehr. Alle Lebewesen halten den Atem an.

Mir ist, als hörte ich dort oben, in der Ferne, im ersten Morgenlicht, weit jenseits der Welt der Menschen, Stimmen, die leise reden, miteinander flüstern. Ihre Sprache ist diejenige der Berge, Gletscher, Flüsse und Wolken, und wie Nachtstaub breitet sich ihr Gemurmel in der Dämmerung des schlummernden Tals aus. Die Melodie klingt mir sanft und verführerisch in den Ohren, und wenn ich mich auf die Stimmen konzentriere und zu verstehen versuche, was sie sagen, schlüpfen sie mir, ungreifbar wie Traumgewebe, durch die Finger. Aber das hat keine Bedeutung. Ich lasse es, frage nicht, widerstrebe nicht. In sorgloser Lethargie versunken, gebe ich mich diesem Augenblick außerhalb der Zeit hin, der dahinrinnt wie eine lautlose Welle durch die Unendlichkeit.

Plötzlich, Szenenwechsel, springt am Himmel ein Funke auf! Erschrocken drehe ich mich um und sehe, wie sich die Gratlinie der Berge auf der ganzen Länge entzündet hat, verwandelt in ein glühendes Flammenmeer. Lichtstrahlen werfen sich Tausende von Kilometern weit in die Atmosphäre hinein, ehe sie in einer weichen, kreisförmigen Bewegung sanft zur Erde zurücksinken. Mir gegenüber erwachen die höchsten Bergspitzen, recken sich, erröten wie in Glut, während auf der anderen Talseite ein Feuervorhang langsam herabkommt. Gebannt betrachte ich, unendlich kleiner Zuschauer des großen Lebenstheaters, von meinem Logenplatz in der ersten Reihe aus dieses Schauspiel, diese Lichtlawine, die alles hinwegfegt, was ihr im Weg liegt.

Die kleinsten Halme, die hohen Stängel der Gräser, die Blumen und die niederliegenden Sträucher, die Flechten auf den Steinen, das Laub der Bäume, die Tannennadeln erwachen aus ihrer nächtlichen Starre, richten sich auf, um der Wiederkehr des Tages zu huldigen. Die Gesamtheit der Lebewesen rührt sich, blüht auf, treibt aus in einer stillen Symphonie. Sogar die mineralische Welt scheint aus ihrer Schlafstatt zu kommen und funkelt mit tausend Blitzen. Alles ist nur unmerkliches Zittern in dieser Welle des Lichts, die unermüdlich, Tag für Tag, über die Oberfläche des Erdballs gleitet. Alles ist nur ewiger Wiederbeginn.

Die Tauperlen rollen zur Oberfläche der Erde, steigen als Dunst auf in die Luft und verwandeln sich unter der Liebkosung der ersten direkten Sonnenstrahlen in goldenen Nebel. Sie werden sich den Wolken anschließen, und eines Tages, wer weiß, nach langer Reise, den Flüssen und Ozeanen.

Schon spürt man die Hitze, und wohlriechende Dämpfe der feuchten Erde, vermischt mit Düften süßlicher Säfte, steigen vom Boden auf. Alles verwandelt sich unter meinem Blick. Überall herrscht Dringlichkeit, es gilt keine Sekunde des Lebens zu verlieren. Im Rausch des tief einfallenden Lichts wirbeln Wolken von Insekten, Schmetterlingen und kleinen Mücken herum. Die Vögel beginnen wieder zu singen, in der Höhe läuten wieder die Glöckchen der Schafe, aus dem Tal erhebt sich der Gesang des Flusses, und im Himmel hallt ein durchdringender Schrei. Ein Schleier liegt mir über den Augen, während ein Frösteln die Wirbelsäule hochsteigt. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf geht, ist, wenn ich jetzt stürbe, vom Atem einer Lawine niedergemäht, die auf mich zukommt, fände man gewiss meinen Körper glücklich, entspannt und strahlend vor Freude. Das Bild macht mich schmunzeln. Der Lichttod wird warten. Still bedanke ich mich bei diesem außergewöhnlichen Schauspiel eines neuen Tages, der auf dem Planeten Erde anbricht, atme tief die frische Luft ein, schnüre die Schuhe mit einem Doppelknoten, packe die Thermoskanne ein und schultere den Rucksack, der gut zehn Kilo wiegt.

1457 m

Man muss tief in den dunklen Schichten des eigenen Wesens wühlen, um auf die kleine Flamme des Willens zu stoßen, die dort wie ein Bergkristall schimmert. Hat man sie gefunden, muss man sie mit den Händen zärtlich umschließen und behutsam mit dem Atem anfachen. Man muss mit ihr über seine Wandervorhaben sprechen, über die Gipfel, die einen in Schwingung versetzen, muss sie mit seiner Sehnsucht nähren, immer wieder dorthin zurückzukehren. Mit seinen Träumen von den großen Weiten muss man sie unterhalten, jeden Tag, damit sie nicht erlischt. Sie muss uns leuchten, damit wir das Licht finden, das uns mitten in der Nacht weckt und die Kraft gibt, die Behaglichkeit und wohlige Wärme des Betts zu verlassen, während alles noch schläft. Wer sonst als mein Wille, oft genug links liegengelassen in meinem allzu geregelten Leben, lässt mich die Schwierigkeit und die Intensität der Anstrengung wählen, anstatt des Ausschlafens und warmer Croissants vor dem Fernseher. Er gibt mir die nötige Motivation, um mich freiwillig der vollen Verantwortung für meine Handlungen und meine Entscheidungen zu stellen, im Land der Freiheit.

An der Weggabelung ist wieder er es, der mir das Herz weitet und die Kraft und die Motivation verleiht, alleine loszumarschieren, der Unermesslichkeit, dem Unbekannten, der Stille und den Ängsten entgegen, denen ich werde die Stirn bieten müssen. Und natürlich auch, klar, großartiger Schönheit entgegen.

Aber sehr bald führt mich das abschüssige Gelände wieder zur harten physischen Realität zurück, zu meinen tauben Oberschenkeln und Waden. Eine erbitterte Verhandlungsrunde wird in mir drin eröffnet zwischen einem Zweigespann wenig motivierter Drückeberger auf der einen Seite, dem leidenden Körper und dem trägen Geist, denen beiden nicht nach Marschieren zumute ist, und dieser Flamme auf der anderen Seite, die mich beseelt, dieses andere, tiefe, instinktive, ungerührte, eigenwillige und entschlossene Ich, das ich wiederzubeleben hergekommen bin. Mein Geist ergreift das Wort und hält ein langes Plädoyer für den totalen und sofortigen Verzicht auf die Anstrengung. Ich erfinde alle möglichen Ausreden, um den Weg nicht fortsetzen zu müssen. Ich spreche ganz allein mit mir, rede mir gut zu, befehle mir stehenzubleiben. Ich verhandle, um für mich einen Kompromiss zu finden, schlage mir einen Plan B vor. Die Argumente steigen auf, stechen in meinem Kopf, erbittert wie eine Armee Bienen. Ich staune über die Dichte des Dossiers. Mit allen Mitteln versuche ich, mich zum Einlenken zu bewegen, aber es hilft nichts, das wissen wir genau. Das alles ist nichts als heftige innere Bewegung, Gefuchtel eines Hampelmanns, Tirade eines Komödianten, ein Phantom, das mich heimsucht und das zu ignorieren mich die Erfahrung gelehrt hat. In diesem Moment ist für meinen Geist im Sonntagsstaat der Kampf gegen meinen Willen längst verloren. Es gibt keine Wahl, keine Verhandlungsmöglichkeit. Heute wird die Larve zum Schmetterling. Oder sie verendet im Kokon.

Als ich die Fahrstraße verlasse, um den Weg in den dichten Fichtenwald einzuschlagen, der nach nasser Erde, Harz und Pilz duftet, sind meine Muskeln warm, und meine Beine geben endlich Ruhe. Ich habe nun ein gutes Tempo, der Rhythmus stimmt, ich bin bei der Sache und atme durch alle Poren. Mein Körper findet angesichts der widrigen Steigung und unter der Last des Rucksacks allmählich zu seinen Fähigkeiten zurück, die zu viele reglos auf dem Bürostuhl oder hingefläzt auf dem Sofa verbrachten Tage betäubt haben, und meine Augen sind fest auf die Füße geheftet, die Meter um Meter des zerklüfteten Geländes hinter sich lassen. Vollkommen von der Anstrengung absorbiert, blicke ich nur auf meine Schuhe. Zu beiden Seiten ziehen die Baumstämme, Wurzeln und niedrigen Pflanzen an mir vorüber, und wie ein erdiges Laufband gleitet der mit toten Zweigen und Tannennadeln übersäte Boden unter meinen Füßen weg, voller scharfkantiger Steine, denen ich im Vorankommen, so gut ich kann, ausweiche, bemüht, einen möglichst regelmäßigen Schritt beizubehalten. In meiner Brust arbeitet das Herz auf Hochtouren, und das Blut hämmert mir in den Schläfen wie eine schamanische Trommel. Beim Klang dieser eindringlichen inneren Rhythmen komme ich in einen anderen Zustand und fange an zu spüren, wie Fragmente meiner Persönlichkeit undeutlich werden, sich von meinem Körper ablösen wie Fetzen trockener Haut. Die Häutung