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Als Meisterwerk der zeitgenössischen dänischen Literatur gefeiert: eine einzigartige Familiensaga über fünf Generationen von Frauen
Ein modernes Märchen, das vom Zusammenleben mit der Natur erzählt – mit »Rosarium« gelingt Charlotte Weitze eine grenzüberschreitende, höchst originelle Mischung aus Realismus und Fantastik. Da ist ein junges Mädchen, das mit dem Bruder allein im Wald lebt, Wurzeln schlägt und Fähigkeiten einer Pflanze annimmt. Da ist eine Botanikerin, die nicht nur ihre eigene Geschlechtsidentität findet, sondern auch eine ungewöhnliche Liebe und eine geheimnisvolle Rose. Und da ist eine Urgroßmutter in Amerika, die ihrer Urenkelin vor dem Tod noch ihr geheimes Wissen mitteilen möchte.
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein modernes Märchen, das vom Zusammenleben mit der Natur erzählt – mit »Rosarium« gelingt Charlotte Weitze eine grenzüberschreitende, höchst originelle Mischung aus Realismus und Fantastik. Da ist ein junges Mädchen, das mit dem Bruder allein im Wald lebt, Wurzeln schlägt und Fähigkeiten einer Pflanze annimmt. Da ist eine Botanikerin, die nicht nur ihre eigene Geschlechtsidentität findet, sondern auch eine ungewöhnliche Liebe und eine geheimnisvolle Rose. Und da ist eine Urgroßmutter in Amerika, die ihrer Urenkelin vor dem Tod noch ihr geheimes Wissen mitteilen möchte.
Charlotte Weitzes einzigartige Familiensaga über fünf Generationen von Frauen wurde von Publikum und Presse als Meisterwerk der zeitgenössischen dänischen Literatur gefeiert.
Charlotte Weitze, geboren 1974, schreibt Romane, Kurzgeschichten und Hörspiele. Sie studierte an der Universität von Kopenhagen Folkloristik und debütierte 1996 mit der Kurzgeschichtensammlung »Skifting«, für die sie den Bogforums Debutantpris erhielt, den wichtigsten dänischen Debütpreis. Die Beschäftigung mit der Beziehung des Menschen zur Natur zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Texte, sie lotet dabei die Grenzbereiche zwischen Realismus und Fantastik aus und knüpft an mündliche Erzähltraditionen wie Märchen und Legenden an. Ihr neuester Roman »Rosarium« wurde als Meisterwerk der zeitgenössischen dänischen Literatur gefeiert und für den DR Romanpreis und Weekendavisen Literaturpreis nominiert.
Charlotte Weitze
Roman
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Bruder und Schwester
J.
Pangäa
Mutter und Vater beugten sich über uns. Bruders Augen waren magisch mondbleich. Im Laufe der Nacht hatten wir unsere Bettdecke zu einem Strudel zerwühlt, darunter seine weiche Haut, dicht an meiner. Wir waren wie ein Unterwasserwesen mit vier Armen und vier Beinen.
Unsere Eltern trugen Mäntel und Schuhe und rissen das Traumgewässer weg. Mutter packte mich, Vater packte Bruder. Sie halfen uns beim Anziehen: Hastig die Hose zugeknöpft, den Gürtel des Kleides festgezogen. Wintermantel, Mütze, Schal, Handschuhe. Füße in die Stiefel.
Jemand brüllte laut auf Russisch und hämmerte gegen die Tür des Nachbarn.
Mutter und Vater zogen uns zu dem Fenster, das auf den Küchengarten und den Wald hinausging. Vater öffnete die Haken und schob es auf.
Mutter und ich liefen Vater und Bruder nach, sie flitzten auf den Schlund des Waldes zu. Wir trampelten durch den leeren Küchengarten, und ich sah unsere erstarrten, abgemagerten Nachbarn vor den Häusern stehen. Männer mit erhobenen Händen, den Blick auf die Gewehrläufe der Soldaten gerichtet. Frauen, die mit gespreizten Beinen auf dem Boden lagen.
Einer der Soldaten war unser Nachbar von gegenüber, der vom König dafür angestellt worden war, den Jagdwald zu kennen wie seine eigene Westentasche. Er wusste, wo sich das Wild aufhielt, und bestrafte Wilderer. Ich hatte ihn nie zuvor in russischer Uniform gesehen, und während mich seine blauen Augen direkt fixierten, schoss er auf uns, eine Kugel pfiff an meiner Schulter vorbei.
Mutter presste ihre Hand auf meine Augen, und alles war rot, während wir weiterliefen. Mutters Finger rochen nach dem Dampf des Suppenkessels, den wir auf dem Herd hatten stehenlassen. Ich hörte eine Nachbarin aufheulen und einen Soldaten schimpfen, bis Schläge von Metall auf Fleisch und Knochen ertönten. Mutters Hand verstärkte den Druck auf mein Gesicht, meine Beine liefen weiter über das Stoppelfeld. Ich war wie ein kopfloses Huhn.
»Beeilt euch!«
Bruder rief mit schwingender Stimme. Vater zischte: »Still!«
Unsere Füße zerstampften knisternde Blätter und knackende Zweige. Ein letzter Schuss, eine hochfliegende Kugel zischte zwischen die Äste und wurde weiter innen von einem massiven Baumstamm aufgehalten. Mutters Hand hüpfte auf und ab, zu meinem Haar, über meinen Mund hinab und wieder zum Haar. Dann war sie weg, und ich sah all das Grün um uns herum flackern. Weit oben die gewölbten Baumkronen, in der Mitte die schimmelfarbenen Rindenstämme, ganz unten das aufquellende Moos. Der Wald hatte sich um uns geschlossen, doch wir rannten weiter, Vater und Bruder noch immer voraus. Auf den Lichtungen leuchteten ihre Nacken und Hände rosa wie Kirschblüten, unter den Bäumen wurden sie wieder graugrün, vom Schein des Laubes getönt.
Mutter und ich duckten uns unter die tiefhängenden Zweige, aber Mutters Kopf färbte sich rot, in langen Streifen. Ich sorgte dafür, vor ihr zu gehen, damit ich nicht verlorenging. Sie humpelte, als hätte sie plötzlich ein Holzbein.
Das Herbstdunkel von Himmel und Waldboden presste die Familie zusammen. Vater musste die Flucht vorbereitet haben, denn am Ende des Tages blieb er unter einer Gruppe von Tannen stehen, deren Zweige bis auf den Boden reichten. Atemlos sanken die Eltern und Kinder auf die glatten braunen Nadeln. Sie betteten sich mit einer Decke unter und einer über sich, versuchten, einander zu wärmen und schlossen die Augen. In der rechten Hand, dem einzigen Körperteil, der aus dem Familienbündel herausragte, hielt Vater die Pistole. Im schwachen Mondschein leuchtete sie unter den Bäumen auf, und Schwester schmiegte sich enger an Mutter, die herb nach Eisen roch. Schwester wollte ihre Hand in Mutters zwängen, doch deren Finger waren zur Faust geballt. Stattdessen versuchte Schwester, die Nase daranzuhalten, vielleicht dufteten sie immer noch nach Suppe? Doch Mutter zog ihre kälteblauen Hände weg.
Schwester fror und bemerkte erst jetzt, dass sie von einem Schuss gestreift worden war. An der einen Schulter klebte eine Kruste geronnenen Blutes, die zwickend Widerstand leistete, als Schwester sie abziehen wollte. Sie presste die Wange gegen die Wunde. Ringsherum wurden die Atemzüge ruhiger, die anderen schliefen, während Schwester an sich selbst schnupperte. Die Wunde, das offene Fleisch, roch wie die zurückgelassene Suppe zu Hause in der Küche: kräftig, süßlich und würzig. Schwester wurde seltsam satt.
In den ersten Tagen wagte Vater es nicht, Feuer zu machen. Dabei hatte er einen Wetzstahl und einen Eisentopf, die er vor der Flucht hier versteckt haben musste. Doch Feuer ist ein Lebenszeichen, und was diesen Ort zu einem Zuhause gemacht hätte, konnte sie auch verraten.
Die Eulen schrien, ein Reh schreckte, ein Fuchs bellte. Ringsherum huschten Tierschatten vorbei. Die Familie kannte alle Geräusche und Bewegungen, Vater und Mutter waren mit dem Wald um das Dorf aufgewachsen. Ihre Vorväter hatten sogar im Wald gewohnt und sich von dem ernährt, was sie jagen und sammeln konnten. Jetzt lag jedoch keine Hauswand mehr zwischen ihnen und den Bäumen. Und die Geister ihrer Vorväter, die auf dem Friedhof des Dorfes lebten, konnten sie auch nicht beschützen.
Mutter und Vater fuhren beim kleinsten Geräusch zusammen. Ihre ängstlichen Zuckungen übertrugen sich auf Bruder und Schwester, die ihre Ohren spitzten und nur noch in kurzen Intervallen schliefen, so wie Tierkinder es von Geburt an lernen.
Kein Raubtier näherte sich ihrem Lager, auch nicht, als die Familie ruhiger wurde und die gesunden Arme und Beine abwechselnd unter den Tannenzweigen hervorragten.
Warum ließen die Wölfe sie in Ruhe? Waren die Augen der Menschenfamilie so fest geschlossen, dass sie auch von anderen nicht gesehen wurden? Roch ihre Furcht so säuerlich, dass keiner von ihnen abbeißen wollte? Erschreckte Mutters Schluchzen nicht nur Schwester? Oder können Tiere einfach gnädiger sein als Menschen?
Im Nebeldunkel strichen ein paar Rehe ganz nah an ihnen vorbei. Klauenknirschen, graue Geweihe, Prusten. Vater hätte spielend leicht eines davon schießen können. Bruder rollte sich aus den Decken und packte einen Huf. Doch das Tier trat ihm gegen die Stirn, und er musste loslassen, als die Herde panisch floh.
Am nächsten Morgen war Bruder wütend; sie bräuchten doch Nahrung. Aber Vater sagte, was Bruder bereits wusste: Das Wild gehöre nicht ihnen, und sollte sie jemand beim Jagen erwischen, seien sie nicht bloß ein paar Flüchtlinge, die sich in einem verbotenen Wald aufhielten, sondern auch Wilderer. Die Strafe für Wilderei sei schlimmer als der Hungertod, und Vaters Pistole mit der einen Kugel dürfe nur im äußersten Notfall zum Einsatz kommen. Ein hallender Schuss könne verraten, dass sich jemand im Wald befinde, und auch eine Falle würde Aufmerksamkeit erregen.
Sie mussten sich mit Zwillen oder mit ihren bloßen Händen begnügen. Auch das war verboten, aber weniger riskant. Von allen Arten von Rotwild, Wölfen, Elchen, Bisons, Luchsen und Bären mussten sie sich fernhalten. Sie waren die Trophäen der Herrscher.
»Wie kann man sagen, man würde die Bäume besitzen?«, schimpfte Bruder. »Wie kann man sagen, man würde die Tiere besitzen?«
Eine Woche nach ihrer Flucht von zu Hause, am ersten Morgen mit beißendem weißem Frost, wagte Vater es, Zunderschwämme, Äste und Zweige zu sammeln. Er machte ein Lagerfeuer und holte Wasser von einer nahe liegenden Quelle. Einige Tage darauf durfte Schwester ihn dorthin begleiten. Und noch ein paar Tage später durfte sie allein gehen, jetzt würde sie die Blutkruste an ihrer Schulter spülen und ablösen.
Ob ihr Nachbar von gegenüber, der ein Jäger des Zaren geworden sein musste, auf sie geschossen hatte, weil Schwester ihn wiedererkannt hatte? Hatte er ursprünglich geplant, sie laufen zu lassen? Um Mutter zu verschonen?
Die Wunde blutete in einem Streifen, der zur Brust hinabkroch und in der Dunkelheit ihrer Kleider verschwand. Sie wusch sie erneut und tupfte sie mit trockenem Moos ab. Dann lutschte sie an der Wunde, probierte das Fleisch und schluckte.
Bald färbte sich das Laub gelb und braun. Mutter humpelte immer noch, ihr Kleid war rot. Inzwischen wusch sie sich nicht mehr und ließ den Stoff starr werden. Beim Laufen klammerte sie sich an die Bäume, um nicht zu fallen. Ihre Wangen waren weiß, sie flüsterte, wenn sie sprach, und trank so viel Wasser, als wollte sie die Quelle leeren.
Vater und Bruder stritten sich. Manchmal zog Bruder los und kam erst im Dunkeln wieder. Dann stand er plötzlich da, eine unruhige Gestalt im gelben Feuerschein.
»Das ist verboten«, wiederholte Vater.
Ein Zweig knackt zwischen den Bäumen. Schwester öffnet die Augen, ohne dass sich etwas ändert. Es bleibt genauso dunkel.
Bruders Schnarchen verstummt. Der wache Körper warnt den des Schlafenden, als hätten Bruder und Schwester einen gemeinsamen Blutkreislauf. Vier Ohren spitzen sich in der Dunkelheit, bis Bruder dreimal auf Schwesters Handrücken klopft. Es besteht keine Gefahr, meint er, und schläft wieder ein.
Schwester schließt schaudernd die Augen. Bruder friert, spürt sie, es ist spät in der Nacht. Schwester presst ihren Rücken wieder an Bruders Bauch und faltet ihre Beine bis unter die Brust. Noch sind die Decken groß genug. Könnten sie sich hier drinnen ausstrecken, würde die Wolle nach wie vor von Hals bis Fuß reichen.
Sie hatten die Eichenhöhle bereits gefunden, als Mutter und Vater noch bei ihnen waren. Der ausgehöhlte Baum bot gerade genug Platz für zwei Kinder, und Vater sagte, Mutter und er würden weiterhin am Feuer schlafen. Sie hatten sich ein Fell zugelegt, das sie einem auf natürlichem Wege gestorbenen Elch abgezogen hatten. Es bedeckte sie gerade so.
Die Eule wurde mit einem Stein vertrieben. Das Eichhörnchen schimpfte, wurde jedoch so schwer an der Stirn getroffen, dass es gehäutet und verspeist werden konnte. Die Kreuzotter hielt Winterschlaf, und schlaff, wie sie war, ließ sie sich mit einem Stock herausheben und lag am nächsten Morgen erfroren im Gestrüpp. Die Insekten sind sie nie losgeworden. Sie kribbeln das ganze Jahr über, weil Bruders und Schwesters Körper den Baum aufwärmen. Wie zum Beispiel der Ohrenkneifer, der genau in diesem Moment über Schwesters Kehle krabbelt. Sie streicht ihn weg, knibbelt ein Stück von dem morschen Holz ab und zerbröselt den Klumpen zwischen den Fingern. Vater hatte geschätzt, die Eiche könne über tausend Jahre alt sein.
Ob ihr wieder Blätter wachsen? Im letzten Frühjahr waren die Blätter nur kleine, verschrumpelte Mäuseohren, gar nicht so, wie sie sein sollten: groß wie Kinderhände.
Schwester dreht sich um und weckt dabei ein ganzes Heer von Kellerasseln, die aufstehen und über Bruders Gesicht marschieren. Er schnieft drei Soldaten durch die Nase ein und hustet sie durch den Mund wieder aus. Dann schnarcht er weiter, jetzt an Schwesters Schulter.
Bruder riecht nach Fleisch mit Fell, bitter wie das der Raubtiere. Sie selbst riecht wohl nur aus der Wunde an der Schulter, die nach wie vor nicht verheilen will.
Wenn es Frühling wird, können sie wieder baden. Wagten sie es jetzt, würde ihnen nicht mehr warm werden.
Einst war das Quellwasser Himmelsdampf, der als warmer Regen auf die obersten Blätter der Bäume fiel. Dann trillerten die Tropfen hinab, eine Etage nach der anderen, bis auf den Waldboden. Hier versickerten sie zwischen Nadeln, Wurzeln, Humus und Kies, bis ganz hinab in die unterirdischen Flüsse des Grundwassers.
Bruder gibt einen Laut von sich, tief aus der Kehle. Er erinnert schwach an das Röhren eines Hirschs. Bruders Beine laufen im Schlaf, er hebt eine Hand und gurgelt Krrk.
Schwester legt die Finger über Bruders Lippen und holt die Pistole auf ihre Seite. Dann dreht sie den Rücken wieder zu Bruders Bauch und drückt ihren Hinterkopf an seinen Mund. Er murmelt irgendetwas mit seiner neuen Stimme, jener, die erwachsen ist und an die des Vaters erinnert.
Die Uhr im Wohnzimmer tickte, die Gardine war vorgezogen. Bruder und ich lagen im Alkoven, bis der Mittagsschlaf überstanden war.
Dann gingen wir hinaus ins Licht, wo Mutter im Küchengarten arbeitete. Wir kletterten in den alten Birnbaum am Wegrand. Von oben konnten wir sehen, ohne selbst gesehen zu werden.
Scheitel, Reifröcke, Schuhspitzen und Kahlköpfe. Wir sahen herab auf Mutter und den Nachbarn von gegenüber, den Jäger des Königs, der zu Besuch kam, wenn Vater nicht zu Hause war. Meistens entschuldigte sich Mutter, sie habe etwas im Haus zu erledigen oder eine Menge Gartenarbeit vor sich. Der Vertraute des Königs hatte jedoch keine Eile, Wild oder Wilderer zu jagen.
Bruder schoss, beinahe lautlos, mit seinem Holzgewehr auf alles, was sich in der Nähe des Baumes bewegte. Aus seinem Mund trieften Spuckefäden. Ich klammerte mich an den Birnenstamm, wenn er im Wind wankte.
Wenn niemand mehr im Garten war, kletterten wir hinunter. Bruder flitzte immer im Kreis ums Haus herum und schoss in alle Richtungen. Ich ging zum Spielen zu meiner Freundin mit dem langen braunen Haar und den hübschen grünen Augen. Wir saßen draußen, ich nähte Puppenkleider aus sommerdicken Eichenblättern. Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Wir waren abgemagert, schon lange bevor die russischen Soldaten kamen. Zwischen Polen und Russland herrschte Krieg, und unser Küchengarten, unsere Felder und unser Stall wurden von unseren eigenen Männern, den polnischen Soldaten, geplündert, denn das Heer musste versorgt werden.
Zwei Tage vor unserer Flucht verhungerte ein Nachbar und wurde bei den alten Gräbern am Waldrand beerdigt. Am selben Abend lag ich da und spähte durch den Gardinenspalt des Alkovens. Mutter war hinausgegangen, um etwas zu holen. Vater saß in Mutters Stuhl, die Lampe spiegelte sich doppelt in der Scheibe. Auf dem Tisch lag eine Pistole. Vaters Gesichtshaut spannte, seine Knochenhände lagen neben der Waffe. Seine Augen waren Lichtpunkte.
Plötzlich stand er auf und öffnete die Tür für Mutter, die schwankend hereinkam. Sie hatte Telleraugen, und ihr Kleid war bis weit unten rot gefärbt. In der einen Hand hielt sie die Axt, in der anderen einen Eimer, aus dem sie etwas in den Suppentopf auf dem Herd plumpsen ließ.
Vater umarmte Mutter, aber sie schubste ihn weg, flüsterte, sie sei entdeckt worden. Hastig zog sie das Kleid aus und wusch sich am Waschtisch. Das Blut lief unentwegt an ihren gelbgrünen Streichholzbeinen herunter. Es war hellrot, verdünnt vom Seifenwasser. Dann kroch Mutter langsam in den Alkoven der Eltern und zog die Gardine vor.
Vater blieb einen Moment stehen, ehe er scheppernd etwas in einen Sack packte. Anschließend ging er zu dem Fenster, das auf den Küchengarten und den Wald hinausging. Ich hörte ihn hinausklettern und wollte ihn rufen.
Am nächsten Morgen humpelte Mutter zum Herd und machte Feuer unter dem Topf.
Vater war zurück.
Bruder und ich bekamen Suppe. Sie war würzig und stark. Dunkle, feste Fleischbrocken schwammen zwischen kleinen Fettaugen umher. Wir hatten schon lange nicht mehr etwas so Gutes gegessen. Mutter und Vater wollten nichts. Sie sagten, das sei alles für uns, und starrten uns an, während wir aßen. Der Silberschein der Löffel erlosch jedes Mal, wenn wir sie in die Suppe tauchten. Sie leuchteten erneut, wenn wir sie wieder hoben und das Essen in uns hineinschlürften.
Wir leerten unsere Schalen wieder und wieder. Wir wollten mehr und mehr. Zuletzt sagte Mutter, wir sollten auch noch etwas für den nächsten Tag übrig lassen.
Schwester stupst Bruder an. Wenn sie noch rechtzeitig vor dem Morgengrauen ein wenig schlafen will, wird es jetzt Zeit.
Er reagiert nicht, sie bohrt ihren Finger tiefer in ihn hinein, doch er ist kalt wie ein Stein.
»Bruder«, sagt sie laut, obwohl man leise sprechen soll.
Schwester betastet sein eingefallenes Gesicht und spürt keinen Atem. Sie fasst an sein knochiges Handgelenk und fühlt keinen Puls. Sie drückt ihr Ohr an seine spitze Brust, drückt die kleinen gekringelten Haare platt. Da ist ein Klopfen, aber ist das vielleicht nur das Echo ihres eigenen pochenden Herzens?
»Bruder!«
Sie versucht, ruhig zu atmen, wartet lange mit dem Ohr zwischen seinen Brustwarzen.
Da war ein Schlag! Und noch einer!
Sie bekommen beide wieder Luft. Schwester lässt sich erneut auf den Rücken fallen. Wie dumm und ängstlich kann man eigentlich sein? Vielleicht hatte Bruder das seltene Glück, in den Tiefschlaf zu versinken, wo alles ein einziges schwarzes Vergessen ist.
Sie drückt ihm einen Kuss auf die Wange, und als er mit einem Schnarcher einatmet, flüstert sie, er dürfe schlafen, so lange er wolle.
Wäre der Wald kein Jagdwald gewesen, hätte man ihn schon vor vielen Jahren gefällt. Könige, Fürsten, Zaren und andere Herrscher brauchen Bauholz, Brennholz und fruchtbare Böden. Und die Bevölkerung auch.
Doch der Wald wurde ein Jagdwald, weil das Gebiet so sumpfig ist, dass man die Baumstämme nur schwer hinaustransportieren kann. Pferd, Holz und Mensch würden im Schlamm stecken bleiben.
Der sumpfige Untergrund hat den Wald auch vor größeren Bränden bewahrt.
Nachdem die Nachbarn der Familie erschossen oder deportiert worden waren, zogen einheimische, arme russische Waldmenschen in ihre Häuser. Die frühere Grenze zwischen Polen und Russland verlief genau am Dorf entlang.
Bruder und Schwester haben keine Schüsse mehr gehört, seit sie in den Wald geflüchtet sind. Auch keine Soldaten marschieren. Eine Jagdgesellschaft ist ebenfalls nicht da gewesen. Anscheinend herrscht im Gebiet wieder Frieden.
Der Herrscher ist fett, hatte Vater immer gesagt.
Er nannte ihren König, den polnischen, immer der Herrscher.
Außer der Familie des Herrschers, seinen Gästen und angestellten Jägern durfte sich keiner im Wald aufhalten. Wilderern wurden die Augen ausgestochen und die Knochen gebrochen, einer nach dem anderen, und anschließend wurden sie erschossen oder gehängt. Den Hunden im Dorf wurde das linke Hinterbein amputiert, damit sie das Wild nicht aufschrecken konnten. Die Einwohner durften es nicht von ihren Feldern vertreiben, selbst wenn es ihnen die Ernte wegfraß. Sie durften auch keinen Zaun aufstellen, weil sich die Hirsche daran aufspießen konnten, wenn sie hinüberspringen wollten. Im Winter mussten sie Heu im Wald auslegen, damit die Tiere nicht verhungerten.
Obwohl es jetzt der russische Zar ist, der anstelle des polnischen Königs über den Wald regiert, gelten für die Einheimischen bestimmt noch dieselben Regeln. Was das betrifft, hat es nichts zu bedeuten, wer der Herrscher ist.
Wenn eine Jagd stattfinden soll und die Einheimischen den Wald vorbereiten müssen, gelten sicher auch noch all die Regeln: Bäume, die auf die Jagdwege und Pfade gestürzt sind, werden entfernt. Grüne Jäger inspizieren den Wald, um herauszufinden, wo sich das gute Wild aufhält. Das geschieht unter der Leitung eines ortsansässigen Jägers. Der Herrscher hat immer einen Vertrauten im Dorf.
Vater hatte einen Cousin, der in einer der Hütten am Königsweg wohnte. Er heißt jetzt wohl Zarenweg und führt zum Wald. Einmal, als der Herrscher, der polnische König, auf die Jagd gehen wollte, und die Einheimischen alles dafür vorbereiteten, stattete Vater seinem Vetter einen Besuch ab. Was für eine Vorstellung, dass der mächtige Mann ausgerechnet an Vetters Haus Halt machen könnte. Es hieß, er wisse ein Bauernbier und eine einfache Mahlzeit zu schätzen. Deshalb sollten alle, die entlang des Königswegs wohnten, ihre Laterne anzünden und ein Essen bereithalten.
Vater wartete zusammen mit Tante und Onkel, dem Cousin und der tauben und blinden Großmutter. Die Kleidung war gewaschen, der Tisch gescheuert, auf dem Boden war Sand ausgestreut, und neben dem Ofen lag ein zusätzliches Holzscheit bereit. Die rostige Laterne draußen über der Tür schaukelte im Wind.
Mit einem Mal schreckte die Familie zusammen. Jagdhörner ertönten, schwere Kutschen rollten heran. Ein Ruf, ein Prrrrr. Die Familie sah zu ihrem kleinen, blinden Fenster hinüber.
Zuerst kamen einige Jäger und rotgekleidete Diener herein. Sie stellten sich an den gekalkten Wänden auf. Dann öffnete ein Diener in hellblauer Livree die Tür. Er trug eine dunkle Kiste mit geschnitzten Rosetten, die ans Tischende gestellt wurde.
Der Herrscher musste sich ducken, um durch die Tür zu treten.
In der Kiste lag sein Goldbesteck. Außerdem befanden sich darin ein tiefer und ein flacher Porzellanteller mit verziertem Rand.
Mit zitternder Hand tat Tante dem Herrscher auf. Er saß schwer unter seinem Bisonmantel, die Fellhaare wippten im Takt mit dem, was vor ihm auftauchte: Grütze, Brot, Kohl und eine Gemüsesuppe. Natürlich suchte er nach Fleisch. Er grunzte und dachte wohl an Hirsch, Bär, Bison, Wildschwein oder Elch. Onkel setzte zu einer Erklärung an, schloss den Mund jedoch wieder, und für einen kurzen Moment errötete der Herrscher.
Dann schlang er alles in sich hinein. Seine Wangen hüpften auf und ab, und seine Augen sprangen ihm fast aus dem Kopf, bis er den Stuhl zurückschob, aufstand, eine Goldmünze auf den Tisch legte und Vater bedeutete, er solle mitkommen.
Im Wind hielt Vater das weiße Pferd, damit der Herrscher aufsteigen konnte. Seine Nase war genau auf der Höhe von dessen Bauch gewesen, erinnerte sich Vater. Der Herrscher verlor absichtlich eine Goldmünze auf dem Boden, ehe er mit der Zunge schnalzte, worauf sich der Trupp der steifgefrorenen Jäger und Diener knirschend auf das Jagdschloss zubewegte.
Vater hob die Münze auf, sie war noch warm. Er steckte sie in seine Innentasche, denn sie sollte niemals kalt werden.
Immer wenn Vater mit seinem Vater auf den Markt ging, war er versucht. Wenn die Familie am Ende des Winters hungerte, bevor die Bäume wieder ausschlugen, und kurz davor war, die Kuh zu schlachten, drehte und wendete Vater seine Goldscheibe. Genau wie damals, als Vaters kleiner Bruder schwer krank wurde und einen Arzt brauchte. Doch erst, als Vater schließlich Mutter traf, wusste er, wofür die Münze bestimmt war. Mutter war das Mädchen, das eigentlich zu hübsch für ihn war. Das Mädchen, das alle Jungen im Dorf anstarrten. Das Gold brachte Vater dazu, aufrecht zu stehen, und plötzlich wollte Mutter gern mit ihm Gras flechten und Händchen halten, Walderdbeeren im Grenzgebiet essen, Pilze von Baumstämmen sammeln und Blaubeeren auf der Zunge rollen.
Da schmolz Vater die Münze ein und ließ zwei dünne Goldringe aus ihr fertigen. Beide mit einem weißen Quarzstein aus den zerklüfteten Bergen im Süden.
Und dann heirateten Vater und Mutter.
Schwester hat jetzt Vaters Ring. Er hängt an einer dünnen Schnur aus geflochtener Rinde um ihren Hals. Ihre Finger sind zu mager, als dass sie ihn tragen könnte.
Der Winter folgte auf einen trockenen Sommer. Der Herbstregen fiel spät, die Bäume warfen bereits ihre Blätter ab. Jetzt wollte der Regen gar nicht mehr aufhören.
Die Familie war ständig durchnässt, sie fror und hungerte mehr denn je.
Schwester presste ihre Nase auf die Wunde, es half ein wenig, aber nicht genug. Mutter und Vater flüsterten draußen am Lagerfeuer davon, etwas zu wagen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Mutter war knochenbleich. Sie stand nur auf, wenn sie hinter einem Baum verschwinden musste.
Eines Morgens hieß es, Bruder und Schwester sollten in der Eiche liegen bleiben: »Atmet einfach, macht nichts anderes. Spart eure Kräfte. Wartet hier, Brüderchen und Schwesterchen.«
Vater stopfte alles, was die Familie an Fellen und Decken besaß, fest um die Kinder herum, küsste sie und hängte die geflochtene Schnur mit seinem Ring um Schwesters Hals.
Mutters Augen sahen weg. Sie trug ihren Ring noch um den Hals.
Vater stellte zwei Holzschalen mit Wasser ans Fußende und legte den Wetzstahl zwischen sie. Die Pistole mit der einzelnen Kugel wurde auf Schwesters Seite abgelegt.
Bruder weinte heiser, und Vater küsste sie noch einmal, bevor er Mutter davontrug.
Die Kinder lagen mucksmäuschenstill da, während die Eiche ein kleines bisschen wuchs. Sie holten immer seltener und seltener Luft. Ihre Herzen schlugen mit langen Pausen.
Erst träumte Schwester grün. Es war die Geschichte, die Vater von seinem Vater erzählt worden war, der sie wiederum von seinem Vater gehört hatte. Von ihren Vorvätern, die einem Volk angehört hatten, das im Wald lebte, alles über den Wald wusste und nie an einem anderen Ort gewesen war.
Schwester versank in der Schwärze. Trotz ihres hohen Alters drangen die Wurzeln der Eiche tiefer in die Erde, und ihr Rindenkörper wurde strammer. Die Geräusche des Waldes wurden schwächer, aber die Insekten saugten immer weiter vom Blut der Kinder, bis Bruders und Schwesters Erinnerung an ihre richtigen Namen verschwand, zusammen mit den Namen der Eltern und aller anderen Dorfbewohner.
So hätten tausend Jahre vergehen können, doch irgendetwas musste sich in Bruder verändert haben, denn eines Morgens setzte er sich plötzlich auf. Schwesters Augen öffneten sich einen Spaltbreit. Das Licht draußen war blendend weiß. Bruder hockte gekrümmt da und blickte in die Kälte hinaus.
»Wir sollten liegen bleiben«, flüsterte sie.
Er drehte sich knirschend um und warf ihr einen Luftkuss zu. Schwester umklammerte die Pistole. Eine Herde Hirschkühe strich durch den Birkenhain rechts von der Feuerstelle.
Aber er war nicht dazu imstande, einen Hirsch zu überwältigen. Und auch nicht dazu, die Pistole aus Schwesters verkrampften Händen zu reißen.
Schwester erwachte, als Bruder in die Glut des Lagerfeuers pustete. Sie erwachte erneut, als er ihr ein Stück weißen Fisch in den Mund schob.
In den nächsten Tagen fing er erst zwei, dann vier und dann acht Fische. Er sagte, jetzt wolle er dazu übergehen, Vögel und kleine Nager zu fangen. Das, was Vater vor lauter Erschöpfung aufgegeben hatte.
Gestern hatte Bruder mit der Zwille einen Dachs getroffen. Er briet das Fleisch über dem Feuer dunkelbraun, kaute ein Stück vor und versuchte, es in Schwester hineinzuzwängen. Er selbst verschlang die Brocken halbroh, bekam rote Lippen und richtete sich auf.
Bruder blieb am Feuer sitzen, er reinigte seine Zähne mit einem entrindeten Birkenzweig, bis alle Fleischfetzen beseitigt waren. Seine Augen starrten wie Feuer ins Feuer.
Ein Sonnenfleck fällt auf Schwesters Seite der Eiche. Sie dreht sich um, tastet nach Bruder, doch er ist weg.
Schwester setzt sich auf: Bruder ist nicht am Feuer, aber das Feuer raucht.
Der nächtliche Raureif ist geschmolzen und hat nur schwarzen Schlamm hinterlassen. Schwester stößt Bruders Laute aus: zwei Krähenschreie, ein kurzer und ein langer.
Keine Antwort.
Wo ist die Pistole? Auch weg.
Schwester atmet tief ein, ihre Nase streift die Wunde. Sie krabbelt aus dem Baum hinaus, und zum ersten Mal, seit Vater und Mutter gegangen sind, steht sie auf beiden Beinen.
Der Wald riecht braun, die Sonne wärmt. Die Blätter verbergen sich noch immer in ihrer Knospenschale, nehmen aber schon das Himmelslicht in sich auf. Schwester geht zu einigen Haselsträuchern, die in einem Grüppchen zusammenstehen. Vielleicht sind sie aus dem vergessenen Nusslager einer Maus gewachsen. Schwester steckt sich eine Knospe in den Mund und kaut, bis ihr Speichel schäumt. Die Knospe schmeckt grün.
Man braucht Grünzeug, sonst fallen die Zähne aus, und dann stirbt man. Hatte Mutter immer gesagt.
Unter Schwesters Stiefeln kleben Schlammkrusten. Die alten Blätter des Herbstes heften sich fest. Im Herbst war alles Blau gewichen, nur Gelb und Braun blieben übrig. Auf diese Weise schließen die Bäume ihre Augen. Die Würmer und Larven fressen die Blätter in sich hinein und scheiden Kot in derselben Farbe wieder aus.
Ist Bruder wirklich hinausgegangen, ohne sie zu wecken? Oder hatte er sich verabschiedet, und sie hatte im Schlaf geantwortet? Glaubte er, sie hätte gehört, was er sagte?
Die Quelle entspringt zwischen zwei Steinen. Sie dampft nicht mehr, aber sie rauscht noch, wie der Wind in den Baumwipfeln.
Schwester lässt sich zwischen zwei Schachtelhalmtrieben nieder. Mit ihrer Holzschale schöpft sie über dem blubbernden Sandboden Wasser. Es schmeckt ein wenig nach Tanne, in ihrem Bauch schwappt es, die Quellenkälte beißt.
Dann erhebt sie sich wieder, diesmal ist ihr weniger schwindelig. Sie zerdrückt weitere Knospen, kaut und kaut. Ihr Magen knurrt, sie versucht, noch mehr Grün zu finden. Dort, wo die Hirsche gefressen haben, schmecken die Knospen bitter, von ihnen hält sie sich fern. Die Bäume haben sich selbst unappetitlich gemacht, nachdem sie dem sauren Speichel der Tiere ausgesetzt waren.
Die ledrigen Blätter der immergrünen Pflanzen und die stechenden Tannennadeln sind das ganze Jahr über da, aber wenn man sie isst, dreht sich einem der Magen um. Schwester zieht stattdessen die Rinde von jungen Bäumen ab, aber so behutsam, dass niemand auf den Gedanken käme, es wären Menschen im Wald. Sie isst die helle Innenseite. Unter den Pinien findet sie Zapfen, doch alle Kerne sind bereits verspeist. Neben einigen trockenen Zweigen auf einer Lichtung ragen ein paar Brennnesseln hervor. Sie reibt die Blätter mit dem Saum ihres Oberteils ab, um das Gift unschädlich zu machen, und stopft sie sich in den Mund. Am Fuß eines Felsens stehen zwei honigsüße Veilchen, und da – eine Hundskamille.
Schwester lockert ein wenig Moos, verspeist vorsichtig die oberste Schicht. Manche Pflanzen kann man in kleinen Dosen essen, doch wenn man es übertreibt, sind sie giftig. Mach es wie die Tiere, sagte die Mutter. Probiere, warte, und spüre, was dein Magen dir sagt. Iss so viele unterschiedliche Dinge wie möglich und nie über einen längeren Zeitraum dieselben Pflanzen. Alles ist giftig.
Gierige Tiere sterben schnell. Junge und dumme Tiere lernen von älteren. Ein alleinlebendes Jungtier kann an seiner naiven Neugier sterben.
Zurück an der Quelle, am Ufer, wo das Wasser stillsteht, betrachtet Schwester ihr Gesicht. Ihre gescheitelten Haare sind zwei Äste, die Augenhöhlen Astlöcher, Nase und Haut grau. Ihre Lippen bewegen sich auf und ab, als sie zu lächeln versucht.
Schwester bringt das Bild durcheinander, wäscht sich unter den Armen. Hebt das Kleid und spült sich im Schritt. Auch die Wunde kommt an die Reihe und blutet erneut. Schwester leckt und schluckt.
Neben der Spur eines mittelgroßen Vogels, die ebenfalls an einen Zweig erinnert, hat ein kleiner Hirsch seine Fährte hinterlassen, tief im weichen Lehm des Ufers. Schwester spürt, dass sie beobachtet wird. Sie erstarrt, doch ihre Nasenflügel zittern.
Ein Raubtier ist es nicht. Es riecht anders, nach pflanzlichem Material, das in einem Magen aufgelöst und im Darm verdaut wurde und durch die Haare hinausgesickert ist.
Mensch? Mutter, Vater? Der Jäger? Bruder? Nein, er hat gestern einen Dachs gegessen.
Langsam hebt sie den Kopf und blickt in ein braunes Augenpaar. Die kleine Hirschkuh kaut hastig, ihre Ohren zucken. Sie nickt in Richtung des Wassers, als würde sie darauf warten, dass sie mit dem Trinken an der Reihe ist. Als könnte sie spüren, dass Schwester keine Waffe hat.
Ihr Bauch wölbt sich, das Leben unter dem Fell befindet sich nicht länger im Winterschlaf. Alles wächst frühlingshaft und lebendig.
Ein Klicken, ein Schuss. Schwester und die Hirschkuh zucken zusammen, doch nur das Tier fällt um.
Schwester weint erschrocken, als Bruder aus dem Gestrüpp hervorspringt und das Messer zwischen die Rippen, ins Herz der Hirschkuh stößt. Dann schlitzt er dem Tier die Kehle auf, und während das Blut hervorströmt, umarmt er seine Schwester.
»Das durftest du doch nicht!«
Bruder hinterlässt rote Fingerabdrücke auf Schwesters Kleidung. Er bindet ein Seil um die Hirschkuh, legt es sich über die Schulter und stemmt sich nach vorn, versucht, das Tier zu ziehen.
Schwester faucht ihn wütend an, als sie das kurze Stück Weg nach Hause zum Lager gehen. Doch sie hilft ihm, die Beute mitzuschleifen. Der Kopf der Hirschkuh schlenkert von einer Seite zur anderen.
Erschöpft, zitternd vor Übelkeit und mit verschlossener Nase führt Schwester mit Bruder die rote Arbeit durch. Als er den Bauch aufschlitzt, spritzt Milch aus den Zitzen. Bruder wischt sich die Augen. In der Gebärmutter liegt ein einzelner Fötus. Er erinnert an eine Insektenpuppe.
Wütend kocht Schwester Wasser für die zäheren Fleischteile. Sie legt mehr Holz nach, damit sie sie weichkochen können.
Bruder redet und redet. Dass er lauernd im Gestrüpp gelegen habe. Seine Beine seien eingeschlafen, aber das Blut sei genau in dem Moment zurückgelaufen, als er den Hahn gespannt habe. Wie gut, dass Schwester an der Quelle gewesen sei. So habe die Hirschkuh alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet und ihn gar nicht gesehen.
Er bewegt seinen Kopf wild hin und her, imitiert das letzte Zappeln des Tieres, lässt seine Augen erstarren und klappert immer langsamer mit den Zähnen.
Bruder entfernt die Fruchtblase, lächelt liebevoll und legt das Kalb für seine Schwester ins Feuer.
»Du bist doch wahnsinnig!«
Stolz malt er sich einen roten Blutfleck mitten auf die Stirn und beginnt, der Hirschkuh das Fell abzuziehen. Es gelingt ihm gut, obwohl das Maul Schwierigkeiten bereitet. Dann werden die Hinterläufe abgetrennt und mit dem Seil in eine Ulme hinaufgezogen. Der Körper folgt ihnen nach, wie ein geöffnetes Blatt mit freiliegenden Gefäßen.
Schwester sammelt die Knochenreste auf und schleudert sie weit weg. Sie versteckt die Pistole unter einem Stein.
Schwester möchte kein Fleisch, dabei versucht Bruder, sie mit kleinen Herzstückchen zu füttern. Sie dreht den Kopf weg, doch es duftet, und ihr Magen summt. Da nimmt sie doch einen Bissen, kaut und kaut. Sie nimmt noch ein Stück, beißt in die Bleikugel und spuckt sie tief in den Wald, während er mehr Fleisch ins Feuer legt. Bruder hat gerötete Wangen, seine Augen glänzen.
»Nicht zu viel auf einmal«, sagt er mit einer verzerrten Elternstimme. »Wenn man gehungert hat, muss man darauf achten, sich den Bauch nicht zu voll zu schlagen.«
Bruder wühlt in einer Tasche und wirft ein weiß-gelbes Pulver in die Flammen, das in einer großen Stichflamme explodiert. Sie blinzelt und ruft: »Oh!« Vater hatte ihnen einmal gezeigt, was die Sporen der getrockneten Bärlappe können; dieser kriechenden, langen und an Krähenbeersträucher erinnernden Pflanze. In den Blütenständen der nadelförmigen Blätter, die die Sporenhäuser enthalten, befindet sich Vaters Hexenmehl.
Die Sterne tänzeln in einem brunnenrunden Kreis über den Geschwisterköpfen. Schwester legt Holz nach, der Feuerschein bringt die Himmelspunkte zum Verschwinden. Ihr wird warm in der Brust, das Gesicht kocht. Nur der Rücken ist nach wie vor kalt.
»Sie fehlen mir.«
Bruder schneidet das letzte Filetstück ab und legt es auf das Feuer. Die Blutstropfen fallen zischend in die Flammen.
»Ich wage es nie wieder, einzuschlafen!«
»Bald werden wir beide schlafen.«
»Du hast geschossen!«
»Uns ist hier noch nie ein Mensch begegnet, aber wir haben jeden Tag gehungert. Niemand hat etwas gehört, und eines Tages werde ich ein Bison erlegen.«
Körper unter Decke und Fell. Bruder küsst Schwesters Gesicht. Er liebe sie, sagt er, über alles in der Welt.
»Es gibt ja sonst auch niemanden.«
»Schwesterchen …«
Bruders Atem ist Fleisch, gebraten und gekaut. Sein Bauch knarrt und Schwesters blubbert. Sie presst das Gesicht an seine Brust und umarmt ihn, so fest sie kann.
»Das darfst du nie wieder tun.«
»Mutter und Vater waren viel zu vorsichtig. Nur deshalb ist es so böse ausgegangen.«
»Wer sagt denn, dass sie tot sind?« Sie schlägt ihm auf den Mund und weint, doch er hält sie fest und sagt, wenn sie Bäume wären, würden sie jetzt, in diesem Moment, zusammenwachsen. Bruder küsst sie, Schwester schluckt und erwidert den Kuss. Er schiebt die Hände unter ihren Pullover, sie steckt ihre Finger zwischen die seinen. Es gibt eine alte Tradition, die besagt, dass man niemals jemanden von einem anderen Volk heiratet.
Als Bruder schläft, schleicht sich Schwester hinaus und erbricht sich. Das Fleisch fällt aus ihr heraus wie eine Wurst, und sie tritt es zwischen die Bäume.
Obwohl sich ihr Magen jetzt leer anfühlt, ist ein klein wenig davon in den Darm gelangt. Es hat ihr Blut erreicht und legt sich wie Speck um ihre Hüfte und Brüste.
Schwester legt sich wieder zurück. Bruders Arme umschlingen sie erneut. Sie nimmt einen süßlichen, würzigen Duft wahr. Ihre Wunde? Nein, er kommt von außen. Könnten es die Reste der Hirschkuh sein? Nein, es muss etwas anderes sein. Lächelnd schließt sie die Augen, legt die Hände auf den Bauch und schläft ein.
Die Stämme empor, über die Kronen hinweg, aus dem Wald hinaus, an den Feldern vorbei und durch die Dörfer. Weiter die Flüsse entlang zu den Sümpfen, an denen die große Stadt liegt. Dort, in der Mitte der schnurgerade darauf zulaufenden Straßen, steht der Palast, und im Nordflügel wohnt der Sohn des russischen Zaren. Er schreckt aus dem Schlaf hoch.
Der Mond starrt mit einem blassen und langen Blick hinein. Das kalte weiße Licht fällt auf das Himmelbett und die zerknitterte Bettdecke.
War es nur die Turmuhr, die geschlagen hatte? Oder die Wachablösung?
Er setzt sich vorsichtig auf. Die Rose hat ihr letztes kleines Kronblatt verloren. Es liegt gekräuselt auf dem Tisch neben der Fensternische und zittert. Bei Tageslicht war die Rose dunkelrot, im Mondschein ist sie grau. Ihre Zweige zeigen zugleich nach Osten und Westen, auf ihn und sie und den Kleinen und die Tür. Sie strecken sich zum Fenster, zur Lampe und zur Decke.
Nimmt die Rose seine Anwesenheit überhaupt wahr? Er hat ja mit ihr gesprochen, sie gegossen und gedüngt. Gestern hat er sie angeschrien, ein Blatt abgerissen, zerfetzt und zu Boden geworfen. Seine Frau kam herein und fragte, was er mache. Da musste er weinen und entschuldigte sich wieder und wieder. Sie schüttelte den Kopf und ging zurück in ihr Kabinett.
Seine Finger jucken noch immer, der Saft der Rose ist intensiv. Die Zeiger der Turmuhr stehen auf zwanzig Minuten vor vier.
Seine Frau liegt auf dem Rücken und schnarcht mit geöffnetem Mund. Er stupst sie an. Kann er sie dazu bewegen, sich auf die Seite zu drehen? Doch ihr ausgestreckter Körper ist wie ein riesiger Stein.
Also steckt er die Decke um sie herum fest, sodass sie wie eine große Mumie aussieht. Doch zwischen den Schlitzen ihrer Lider bewegen sich die Pupillen von einer Seite zur anderen. Für einen kurzen Moment ringt sie nach Luft, und ihre roten Lippen runden sich, als wollte sie etwas rufen. Dann entspannen sich ihre Züge, und sie atmet wieder, wie erleichtert.
Der Sohn des Zaren geht zur Toilette, kehrt zurück und setzt sich vorsichtig wieder aufs Bett.
Er hatte irgendetwas von einem Wald geträumt. Ein Schuss und ein Reh; eine Ricke, die zu Boden ging. Das Blut sickerte aus ihrem Hals und in den Boden hinein.
Sie sollten verreisen. Er und die Frau mit dem Kleinen im Bauch. Dort unten auf den Straßen waren zwei Menschen zusammengebrochen und tags darauf tot. Der Arzt sagt, die heftige Grippe habe die Stadt erreicht.
Die Reise könnte zu anstrengend für sie werden, wenn sie zu lange warten. Gestern Abend sprach sie hier im Bett vom Meer, aber jetzt stellt er sich vor, in den Wald zu fahren. Wenn der Arzt mitkommt, könnten sie dort bleiben, und sie könnte niederkommen, und sie müssten erst zurückkehren, wenn die Gefahr gebannt war.
Bisher waren weder er noch sein Vater im Wald gewesen. Vor einigen Jahren wurden der Wald und weitere Landgebiete, die einst seinem Urgroßvater gehörten, von den Polen zurückerobert. Jetzt reist sein Vater, der Zar, mit dem Ziel umher, das Reich zusammenzuhalten.
Der Wald ist seit der Eiszeit nahezu unberührt geblieben. Bäume, die ungestört wachsen, sind stärker. Die Humusschicht ist reich an Mineralien, die Wurzeln saugen das beste Grundwasser auf. Auch die Tiere werden in solchen Wäldern kräftiger, sie sind gesünder und nicht annähernd so scheu.
Er wird dort draußen Trophäen erlegen können, obwohl er zuvor noch nie etwas geschossen hat. Bisher hat er lediglich versucht, die mechanischen, beweglichen Jagdtiere draußen im Park zu treffen; damals, als seine Brüder noch lebten. Sie waren gute Schützen, er selbst zielte nur schlecht. Ein künftiger Zar sollte so etwas eigentlich können, denn die Jagd ist eine Vorbereitung auf den Krieg. Er hat die Jagdtagebücher seines Großvaters und Urgroßvaters gelesen. Von dramatischen Ritten, von Bären und Hirschen, die zum Gegenangriff übergehen. Von Trophäen, die über Wochen hinweg gejagt werden. Er hat ihre Listen gesehen, über hundert Stück Wild, die an einem einzigen Tag erlegt wurden. Ihre Berichte, wie lange die einzelnen Tiere verfolgt worden waren.
Der Sohn des Zaren versucht, den Anblick vom Blut der Ricke zu vergessen. Im Traum war auch der Geruch da, schwer und süßlich. Er hat es niemandem gesagt, aber wenn er eines Tages Zar wird, will er den Wald befrieden und die Felder ringsherum brach liegen lassen, damit sich die Bäume noch weiter ausbreiten können.
Die Vögel werden die ersten Samen zu den Feldern fliegen und mit ihren Klecksen auf den Boden fallen lassen. Auch andere Samen werden herbeitransportiert werden, im Fell der Säugetiere verhakt.
Ebereschen und Birken, die Pionierbäume, sind die Vorhut, die ein Gestrüpp bilden. Darunter wachsen kleine Eichen heran. Sie sind geduldig, sie warten, saugen im Dunkeln verborgene Nährstoffe auf. Dreihundert Jahre später, wenn die Birken und Ebereschen von Tieren bewohnt werden und sie ausgehöhlt sind und die Pilze wie Geschwüre auf ihrer Rinde wachsen, wenn der Specht seinen Meißelschnabel bis in den Kern hämmert und die alten Bäume kaum noch Kraft haben, um Blätter auszubilden, dann, in den Winterstürmen, fallen die Pionierbäume, und Lichtungen entstehen.
Diejenigen, die wie Krüppel aussahen, die Eichenkinder, beginnen nun zu wachsen, und werden schnell größer als ein Zarenkind. In den nächsten hundert Jahren entwickeln sie sich zu Riesen, beschützt von ihrer giftigen Rinde. Sie werfen Eicheln ab, die von Eichhörnchen und Maus weggetragen und in Speisekammern versteckt werden, die so geheim sind, dass die Nager sie selbst nicht wiederfinden.
Man könnte meinen, die Eichenmütter würden sich nicht um ihre Kinder kümmern, doch als geheimen Liebesbeweis schicken sie durch die Wurzeln unterirdische Nahrung zu den Kleinen. Sie beschatten den Waldboden und zwingen ihre Kinder zu einem gesunden, langsamen Wachstum, sodass diese eine dicke Rinde bilden, ehe sie sich in die Länge strecken.
Doch eines Tages, vielleicht vierhundert Jahre später, bohren sich die ersten Larven in die Schwachstellen der Eiche. Vielleicht dort, wo nach einem Blitzeinschlag ein Ast abgebrochen ist. Auf die Larven folgt eine Reihe von Aasfressern: Asseln, Ohrenkneifer und Pilze.
Die Baumriesen fallen in sich zusammen. Zerfressene, feuchte, rotbraune Materie wallt daraus hervor wie Erbrochenes. Jetzt sind sie ausgehöhlt, und die Eichen sterben und stürzen auf die Überreste anderer Bäume. In den neuen Lichtungen wird es wieder hell, und es entsteht Platz für Birke und Eberesche: die Ururenkel der Pionierbäume, die einst dort standen. Jahrhundertelang herrschen die Pioniere erneut über diesen Flecken Land und nehmen einer neuen Generation von Eichen das Licht. Dann zerfallen Birke und Eberesche, die Eichenkinder steigen auf. Schließlich sind tausend Jahre vergangen, und die Nachfahren des Zarensohns im 38. Glied sind an die Macht gekommen.
Jetzt kann man das neue Waldstück endlich als Urwald bezeichnen. In den Tausenden von Jahren, die vergangen sind, und bis in alle Ewigkeit, wird es nur der Zarenfamilie und ausgewählten Botanikern gestattet sein, dort hineinzugehen. Kein Baum darf gefällt werden, kein Schuss abgegeben, weil ich es so bestimmt haben werde, denkt der Zarensohn und legt sich schlafen.
Tief im Wald steht ein altes Jagdschloss. Sein Vater, der Zar, hat gesagt, er könne sich vage erinnern, als Kind dort gewesen zu sein. Das Dach sei aus Kupfer, in den Schlafzimmern würden chinesische Seidentapeten mit Jagdmotiven hängen. Es gebe Möbel aus seltenen Hölzern, ausgestopfte Trophäen im Esszimmer, einen Saal mit Bernsteinmosaiken an Decke und Wänden, angeblich auch Geheimtüren, die zu verborgenen Gängen und Kammern führen, und ein naturgeschichtliches Kuriositätenkabinett.
Er muss sich bald darum kümmern, Leute auszusenden, um alles vorzubereiten. Vielleicht kann er die Jäger dazu bewegen, einen Großteil der Jagd allein zu übernehmen? Vielleicht kann er dann anschließend in den Wald gehen, ganz allein, und sich in einen Baum setzen? Das Moos polstert ihn weich, und der Wald starrt ihn nicht an, obwohl er ein Zarensohn ist. Der Waldmeister duftet nach Heu, ein gelbes Geißblatt rankt einen Stamm hinauf. Er möchte so lange dort sitzen und es betrachten, bis sich die Blüte einmal geöffnet und geschlossen hat, möchte etwas verfolgen, wozu kein menschliches Auge sonst Gelegenheit hat. Der Gärtner des Zarensohns hat gesagt, ein Mensch müsse die eigene Geschwindigkeit um ein Tausendfaches verlangsamen, ehe er die Bewegungen einer Pflanze sehen könne. Aber er wird dort sitzen; tausendmal so lang wie andere Menschen.
Ansonsten registriert man Veränderungen nur, wenn sie Einfluss auf einen selbst haben. Erst als das kleine Kind im Bauch seiner Frau zum ersten Mal gegen seine Handfläche trat, verstand der Zarensohn wirklich, was gerade passierte.
Die Zeit ist etwas Seltsames. Ein Mensch ist glücklich, wenn er achtzig Jahre alt wird. Ein Stein kann achtzig Jahre lang herumliegen. Betrachtet man ihn jedoch über einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren, wird deutlich, dass auch der Stein verwittert.
An den Tagen, an denen er nicht im Baum sitzt und den Wald betrachtet, möchte er eine Pflanze von jeder dort wachsenden Art pflücken. Er möchte sie pressen und ein Herbarium anlegen, das größer ist als alle bisherigen.
Ja, er muss sich glücklich schätzen, diesen Wald zu besitzen. Das hat auch der Gärtner immer wieder gesagt. Wenn man den Wald von einem Ballon aus betrachten könnte, würde er einem Gehirn gleichen, sagt der Gärtner, und seiner Meinung nach ist der Wald sogar ein Gehirn.
Der Mensch ist das Geschöpf auf der Welt, das zuletzt hinzukam, so steht es sogar in der Bibel. Die Pflanzen sind schon so viel länger hier, weshalb es falsch wäre, sie als dumm zu bezeichnen. Tiere und Menschen können nur überleben, wenn sie etwas anderes essen, das gelebt hat. Bei den Pflanzen ist es anders. Auf magische Weise überdauern sie mit Kohlendioxid, Sonnenlicht, Wasser und einigen Mineralien aus dem Boden. Davon abgesehen atmen sie Tag und Nacht, fast wie der Mensch. Sie nehmen Kohlendioxid über ihre Spaltöffnungen auf, die auch der Fotosynthese dienen. Das Kohlendioxid setzt Energie für die Pflanzen in Form von Zucker frei, den die Fotosynthese bildet. Nachts werden die Spaltöffnungen fast vollständig geschlossen, um den Verlust von Wasser zu vermeiden. Glücklicherweise können aber auch die Wurzeln atmen, sie atmen sogar am meisten.
Man könnte Pflanzen als geistige, intelligente, ja sogar strategische und vorausschauende Wesen bezeichnen, aber davon hält der Gärtner nicht viel. Die Pflanzen würden in ihrer eigenen Welt leben, und wir könnten nicht mit ihnen kommunizieren, geschweige denn sie verstehen.
Der Zarensohn wurde wütend. Wie heuchlerisch vom Gärtner, der doch selbst erzählt hatte, dass er lieber Beete jätete als sonntags in die Kirche zu gehen. Der Zarensohn spazierte in den Park und setzte sich ins innerste Dunkel des Buchsbaumlabyrinths. War es so unmöglich, der Natur nahezukommen? War es unmöglich, ein Teil von ihr zu werden? Er schnaubte verächtlich zwischen den bitter duftenden, kleinen dicken Blättern.
Langsam zieht der Zarensohn die Bettdecke seiner Frau beiseite, und seine Hand nähert sich dem Bauch. Das Nachthemd ist dünn, die Bauchdecke fester, als er es in Erinnerung hat.
Im Winter wird er Vater werden, sagt der Arzt.
Vorsichtig legt er einen Daumen auf ihren Nabel. Mit der anderen Hand misst er oben am Hals seine eigenen Herzschläge. Dann gleitet etwas unter der Bauchdecke vorbei. Eine Hand, ein Fuß, ein Kopf?
Er zieht den Arm zurück, sitzt lange da, beugt und streckt seine kühlen Finger. Dann nähert er sich erneut dem Bauch, aber diesmal spürt er nichts.
»Komm«, flüstert er sanft.
Nichts.
Neben dem Kind befindet sich der Mutterkuchen, dieser kleine, blattförmige Baum mit Adern, den er in den medizinischen Lehrbüchern gesehen hat. Wann erlangt das Kind ein Bewusstsein? Wann hatte der Mensch ein Bewusstsein erlangt, das ihn von allen anderen Wesen auf der Welt trennte?
Der Zarensohn schreckt erneut zusammen: der Schuss, der Wald und die Ricke, die dort liegt.
Seine Frau öffnet die Augen. Ihre Stimme ist klar: »Was machst du da?«
Er richtet sich auf wie ein Schlafwandler, legt sich auf den Rücken, faltet die Hände auf der Brust. Sie schaudert, zieht sich die Decke wieder über und dreht sich auf die Seite.
»Der Botaniker Friedrich Siegmund Voigt sagt, Pflanzen bilden sich im Licht, Tiere in der Dunkelheit.«
Er riecht das Blut der Ricke, als es in die Erde sickert und sich mit dem Duft der trockenen Blätter vermischt.
»Der Baum ist die Vervollkommnung der Pflanze, der Mensch die Vervollkommnung des Tieres.«
Sie antwortet nicht, seufzt nur.
»Ich liebe dich«, flüstert er beiden zu, obwohl er sich nicht ganz sicher ist.
Sie grunzt und verschränkt ihre Glieder um das Kind.
Immerhin ist sie wieder da, denkt er, denn in der Zeit, als die Rose blühte und ihren süßen, würzigen Duft im Schlafzimmer verbreitete, erwachte sie immer wieder und konnte nicht richtig atmen. Es sei ein Gefühl, als sitze jemand auf ihr, sagte sie.
Sie legte sich in ihr eigenes Schlafzimmer. Der Arzt erklärte, Schwangere, die auf dem Rücken schliefen, könnten unter Atemproblemen leiden. Die Gebärmutter drücke auf die große Vene, die zwischen dem Unterleib und dem Herzen verlaufe.
Doch seine Frau gab der Pflanze die Schuld. Und ihm.
Vielleicht war sie genauso empfindsam wie die Damen in früheren Zeiten? Seine Großmutter mütterlicherseits hatte erzählt, in ihrer Kindheit sei es unter den vornehmen Damen in Mode gewesen, vor Verzückung ohnmächtig zu werden, wenn sie an einer Rose rochen.
Der Zarensohn schlief mit offenem Fenster, um atmen zu können, während der Kachelofen rotglühend brannte und ihn warm hielt. Aber er rang immer noch nach Luft und entglitt in Träume von Stängeln, die sich umeinanderwanden. Auch eine hohle Eiche, die sich schloss, kam darin vor, und Wurzeln, die Steine zermalmten. Wieder und wieder schlug er seine brennenden Augen auf und starrte die Rosenblüte an, um zu sehen, ob sie sich bewegte. Doch ihre kleinen Bewegungen machte sie immer dann, wenn er die Augen schloss.
Morgens flammt der Wald gallengelb auf.
Die Birke und die Traubenkirsche sind aufgewacht und duften nach Regen. Oben in der Ulme, in der die Hirschkuh hängt, umkreist eine summende Fliegenwolke das Fleisch. Am Boden haben sich die Buschwindröschen geöffnet. Das Atmen fällt so leicht. Der Himmel auf Erden – überall weiße Sonnenflecken!
»Frühling, Frühling, Frühling«, sagt Schwester und hüpft zu Bruder hinaus, der mit seinem rußigen Gesicht vom Feuer aufsieht. Er hebt Schwester hoch und wirbelt sie herum, bis die ganze Luft, die sie beim Lachen eingeatmet hat, wieder aus ihr hinausgeschleudert worden ist.
Sie lehnt die Rippchen ab, die über dem Feuer schmoren. Pflückt stattdessen Grünzeug und versucht, auch ein paar Pflanzen in ihn hineinzubekommen.
Gemeinsam klettern sie auf Bäume und essen süße, pastellfarbene Eier. Die Sonnenstrahlen straffen ihre Haut, Sommersprossen entstehen. Bruder hat Muskeln entwickelt, Schwester einige Rundungen. An geheimen Orten sprießen Haare und Locken.
Gegen Abend wird der Gesang der Amsel melodischer. Im Winter hatte sie nur lange, missmutige Pfiffe ausgestoßen. Nach der Flucht hatte die Mutter gesungen und der Vater geflüstert, wenn Schlafenszeit war. Doch sie hörten damit auf, denn der Menschengesang klang so seltsam im Wald.
Bruder wendet ein Steak, Schwester sagt, sie sei satt. »Wer am meisten hungert, spürt den Hunger am wenigsten«, faucht er.
Dann ertönt in weiter Ferne ein tiefes Huh. Wenn der Wind genau aus Südost kommt, von der Sommerseite der Erde herbeiströmend, pfeift er durch eine andere alte Eiche. Sie steht am Fluss und ist vollkommen ausgehöhlt; das hat Vater ihnen erzählt.
Bäume können Musik machen. Die Äste und Zweige sind die Stimmlippen, der Wind ist der Atem, der die Blätter erklingen lässt. Die Pappel raschelt, der Ahorn flappt, die Ulme vibriert. Die Geräusche werden vom Skelett der Bäume und von der Form ihrer Blätter bestimmt. Die Winterlaute sind anders als die Sommerlaute – ist der Baum nackt oder angezogen? Die Früchte und Blüten, mit denen er lockt, entscheiden darüber, welche Vogelarten sich hineinsetzen und singen. Der Wald ist ein Chor.
»Pssst.«
Etwas schleicht über den Waldboden. Bruder erstickt das Feuer, hastig verstecken sie sich im Eichenloch.
Ist es der blauäugige Jäger aus dem Dorf? Sitzt er hinter einem Baum und zielt auf Bruder und Schwester, die Flüchtigen, die Wilderer? Könnte es ein Wolf sein, der ihr Fleisch erschnuppert hat? Oder sind es Mutter und Vater, die sich einfach nur im Wald verlaufen haben? Vielleicht waren sie irgendwo im Winterlager und trotten nun zurück, wie große kuschelige Bären, nachdem sie die Fährte ihrer Kinder aufgenommen haben.
Doch dann wird es wieder still. Bruder krabbelt hinaus und bläst in die Glut.
Am frühen Morgen schlägt die Eiche aus, als letzter Baum im Wald und vielleicht auch zum letzten Mal. Bruder umarmt Schwester überschwänglich, streichelt und küsst sie. Und Schwester liebkost all das Neue an Bruders Körper, sie lächelt und flüstert mehr, denn Bruders Lippen und Hände sind noch zart.
Die Bäume können das nicht. Auch das Wasser und das Gras nicht, selbst wenn es sommerwarm ist. Nichts kann so zu Schwesters Körper sein wie Bruder. Er berührt ihre kleinen hellrosa Brüste und die Hüften. Sie muss lachen, und ihre Augen werden groß und offen. Als er ihre Beine auseinanderschiebt und sie ihr Becken nach oben stemmt, tun sie das, was alle anderen auch tun, wenn es Zeit wird; die Hirsche und Wölfe, die Insekten im dunklen Gestrüpp. Die Fische hinter den Steinen, die Nachtviole, die sich für den Nachtfalter öffnet. Die Pappel, die ihre in weißen Flaum gehüllten Kinder durch die Luft davonschickt, die Linde, die mit ihrem Honigduft die Bienen lockt. Die Linde, deren Alter niemand kennt, weil sie immer neue Wurzelschösslinge bildet, aus denen neue Zweige wachsen, neue Kinder, weshalb sie unendlich alt werden kann.
Würden die Menschen und Tiere es nicht tun, gäbe es diesen Wald gar nicht.
Es fühlt sich nicht ungewöhnlich an. Sie sind nur ein bisschen spät dran, weil die meisten Säugetiere es im Spätherbst oder im frühen Winter tun. Die Jungen sollen ja im Frühjahr und Sommer wachsen und groß und stark werden.
Trotzdem schreckt Schwester zusammen und stößt einen Schrei aus. Bruder zieht sich aus ihr heraus. Sie schließen die Augen und kriechen voneinander weg, so weit sie können. Sie werden rot und krümmen sich zusammen.
»Psssst«, sagt Schwester noch einmal.
Bruder richtet sich ein wenig auf, späht hinaus, doch da ist nichts. Er nimmt einen Stein von dem kleinen Haufen, den sie zur Selbstverteidigung zusammengetragen haben, und wirft ihn in die Dunkelheit. Ein kleines Zucken, etwas macht sich davon. Bruder sinkt auf die Seite.
Die Blätter des Baums werden dicker, die Sonne erreicht kaum den Boden. Die Buschwindröschen welken, schmelzen wie Schnee, und der Waldmeister, der nicht annähernd so viel Licht braucht, öffnet seine weißen Sterne.
Eines Tages entdeckt Schwester beim Pinkeln einen Blutstreifen, der an ihrem Bein herabrinnt. An der Fessel versiegt er und gerinnt. Kommt das Blut oben aus der Narbe? Sie zieht das Oberteil an der Schulter herab. Nein, heute ist der Wundschorf fest. Könnten es im Schlaf aufgekratzte Mückenstiche sein?
Sie wischt sich mit einem Blatt ab. Eine große Wunde? Dort oben?
Blut kann Raubtiere anlocken. Schwester geht zur Quelle und wäscht sich mit dem bitterkalten Eiswasser.
»Es ist ein Mückenstich«, sagt sie zu Bruder, der am Feuer sitzt und an einem Knochen nagt.
Aber sie hat ihre Unterhose mit Moos ausgestopft.
Das Sommerlicht macht sie seltsam müde, trotzdem liegen sie nachts während der kurzen Dunkelheit wach. Im Blitz eines Spätsommergewitters wird die Eiche für einen Moment flach, es regnet.
Bruder und Schwester tun es wieder. Einmal und noch einmal. Schwester denkt, dass sie nie wieder damit aufhören können, selbst wenn sie es wollten.
»Vielleicht haben wir uns geirrt«, sagt Bruder. »Vielleicht haben wir im Winter gar nicht gehungert? Vielleicht haben wir es uns nur eingebildet?«
Schwester nickt und trommelt ein wenig aufs Holz der Eiche.
Die Mückenwolken verdichten sich, als wären sie der Geist des Waldes, der Bruder und Schwester und alle Tiere verjagen will, damit niemand das ganze Grün verschlingt. Immerhin wetzt man seine Nägel, wenn man sich Tag und Nacht kratzt.
Im Schatten unter den Bäumen und nahe der Sumpfgebiete sind die Mücken besonders gierig, auf den Lichtungen dagegen erträglicher, aber nur an der Quelle, wenn man unter Wasser taucht, hat man voll und ganz seine Ruhe.
Wenn Schwester anschließend wieder auftaucht, ist da immer dieses Rascheln im Gebüsch.
Hastig zieht sie sich wieder an. Allmählich werden ihr die Sachen zu eng.
»Glaubst du, Mutter und Vater würden uns wiedererkennen?«
Bruder fährt sich mit der Zunge über die Lippen und legt die Arme um Schwester. Sie schiebt ihn weg, zur Wand der Eiche, und erinnert sich an den Blick, den Vater ihnen zuwarf, ehe er und Mutter aufbrachen.
Schwester knibbelt an der Schulterwunde, die immer noch nicht verheilt ist.
Lautlos geht Bruder auf die Jagd. Mit sicherer Hand fängt er Nager, Fische und Vögel und isst sich satt. Der Schuss, die Hirschkuh, haben alles verändert.
»Du musst gemästet werden!«, sagt er und brät die Herzen für Schwester. Doch sie möchte sie nie haben, und manchmal muss sie sich sogar übergeben, wenn er dort sitzt und kaut. Bruders Fußlumpen, der Ersatz für die Stiefel, in die er inzwischen nicht mehr hineinpasst, stinken nach Erbrochenem.
»Deine Haut wird grün. Guck mal, ich bin braun geworden«, sagt er. »Aber du hast immer noch einen Hungerbauch.«
Als sie sich unter einen Busch hockt, ist das Braune, das sie herauspresst, voller Samen. Später kehrt sie an dieselbe Stelle zurück, um ihr Geschäft zu verrichten. Ein blassgrüner Keim steckt seinen zweiblättrigen Kopf aus dem Boden hervor.
Doch obwohl er seinen Abfall loswird, schrumpft ihr Bauch nicht. Dort drinnen herrscht ein Aufruhr, als hätte sie etwas nicht vertragen, es fühlt sich an, als würde eine Blindschleiche über den Weg gleiten, eine Eidechse unter ein Blatt huschen, ein Regenwurm in der Sonne zappeln.
Bruders Glied krümmt sich, jetzt, da sie angefangen hat, ihn wegzuschieben. Sein Gesicht ist wütend und zugleich besorgt. Sein Mund wiederholt ein ums andere Mal, dass Mutter und Vater niemals zurückkehren werden. Dass sie beide, Bruder und Schwester, die einzigen Menschen auf der Welt sind.
Sie sind einsam, wenn sie sich schließlich voneinander abwenden und sich auf ihrer jeweiligen Seite der Eiche zusammenrollen.
Wieder sind am schlammigen Ufer der Quelle kleine Hufabdrücke zu sehen. Sie spürt, wie ein Blick auf ihr ruht.
Es raschelt, dann reckt sich etwas. Ein brauner Kopf ragt aus dem Gebüsch, ein Hirschkalb trippelt heraus. Es ist schrecklich dürr, mit gewölbten Rippen, hat weiße Ränder unter den Augen und kahle, rosa leuchtende Stellen im Fell.
Schwester geht in die Hocke, streckt die Hand aus und hätte das Kalb fast mit ihrer Menschenstimme angesprochen. Seine Ohren zucken. Trotz seiner verlockenden Zartheit ist es bisher von den Raubtieren verschont worden. Sein Herz pocht wild an der Kehle, die Schnauze ist trüffelschwarz.
Sie hat keine Milch, auf die das Kalb vielleicht gehofft hat. Zitternd und schäumend fällt es ins Gras. Für einen Moment starrt Schwester das Kalb nur an und hofft, dass es schnell stirbt, doch die Krämpfe dauern an. Es stößt kleine Schreie aus, seine Augen sind larvenweiß.
»Stopp«, sagt sie.
Es wird nur noch schlimmer.
Da richtet sie das kleine Kalb auf und drückt es an sich. Sie nimmt wahr, dass es nach nichts riecht. Das Kalb beruhigt sich, doch jetzt ist es geschehen: Sein Geruch ist menschlich geworden, und es kann niemals zurückkehren, falls die Mutter doch noch irgendwo dort draußen sein sollte.
Das kleine Herz an ihrem Herzen. Im Doppeltakt.
Die langen steifen Beine ragen unter ihrem Oberteil hervor, es hat die Schnauze in ihre Achselhöhle geschoben.
Je schneller ein Herz schlägt, desto schneller stirbt man. Jedem Wesen stehen eine bestimmte Anzahl von Schlägen zu, sagte Vater. Verlängert sie das Leben des Kalbes? Verkürzt sie es?
Schwester steht vor der Eichenöffnung und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Es ist eine dumme Idee, und zu mühsam, aber dem Kalb wird die Dunkelheit bestimmt gefallen.
Ja, ja. Schwester bugsiert das Tier hinein. Sie kaut Gras und spuckt es neben sein Maul. Sie gießt ein wenig Wasser in eine Mulde im Baum. Schwester lässt das Kalb ein wenig allein, späht vom Feuer aus zum Eingangsloch des Baums. Sie kann seinen Kopf sehen. Es frisst. Schwester kaut mehr Gras vor. Es frisst und trinkt mehr.
Die Eule ruft. Sie antwortet mit einem Krähenlaut. Als Bruder im Mondschein vor ihr steht, legt sie einen Finger auf die Lippen, zeigt auf das Schlafloch und zwinkert mit beiden Augen. Das Kalb steckt den Kopf heraus und wackelt mit den Ohren.
»Hast du uns einen Nahrungsvorrat für den Winter besorgt?«
Lächelnd nähert er sich dem Tier. Schwester schüttelt den Kopf. Das Kalb springt hinaus und in den dunklen Wald.
Es kommt zurück, als Bruder gerade Schwesters Lenden küsst und mit der einen Hand liebkost. Mit der anderen zieht er seine Hose herunter. Versehentlich bekommt er den Kalbskopf zu fassen, und als er die noppige Schnauze küsst, öffnet er erschrocken die Augen und zappelt, dass die Holzspäne nur so von Wänden und Decke rieseln.
»Sorg dafür, dass es verschwindet!«