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Handelt es sich nur um einen Zufall, dass die Tatwaffe in einem geheimnisvollen Mordfall und der Name der Geliebten des Hauptverdächtigen identisch sind? Seit Tagen ist Karl Dreher in seinem Wohnmobil auf der Flucht. Von Dortmund aus flieht er in Richtung Süden, über Frankreich und die Pyrenäen. Sein Ziel: Madrid, wo seine Geliebte Rosa auf ihn wartet, jene Frau, die sein Leben von Grund auf verändert hat. Doch was hat es mit ihren rätselhaften Nachrichten auf sich? Und was steckt hinter dem Erpressungsversuch eines anonymen Täters, der eine Bezahlung in Bitcoin verlangt? Ein ebenso düsterer wie spannender Thriller im Spannungsfeld zwischen Liebe, Rache, Gerechtigkeit und Cryptowährungen.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2022
Rose – Die dunkle Seite
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Mobil Sonnenenergie nutzen – Ihr Weg in die Autarkie
Usa l’energia solare mobile – la tua strada verso l’autosufficienza
Rose - Die dunkle Seite
Stephan Wellnitz
© 2021 Stephan Wellnitz
ISBN Softcover:
978-3-347-47866-4
ISBN Hardcover:
978-3-347-47872-5
ISBN E-Book:
978-3-347-47875-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany.
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1. Kapitel
Frankfurt am Main, Februar 2020
Manchmal verbergen sich unsere größten Talente in unseren dunkelsten Tiefen.
Die Bierflasche gab ein leises Zischen von sich, als Karl sie öffnete. Es war zwar erst kurz nach vier am Nachmittag, doch es war ein Sonntag und das Tageslicht draußen trübte sich bereits mit feinen Fäden aus Zwielicht ein. Zu dieser Jahreszeit wurde es manchmal kaum richtig hell, vor allem an wolkenverhangenen Tagen wie heute.
Einzig das riesige, in intensiven roten Farben gemalte Bild hellte den Raum auf. Die Leinwand war viel zu groß für den kleinen Raum, beherrschte ihn, doch das störte Karl nicht. Das Haus war zu klein für dieses Bild, nicht das Bild zu groß für dieses Haus, so hatte er es schon immer gesehen.
»Karl? Kannst du mir eine von den großen Salatschüsseln aus dem Keller bringen?« Claudias Stimme drang über das Treppenhaus aus der Küche zu ihm in sein Arbeitszimmer.
Karl seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche. Das Bier schmeckte herb und kalt, angenehm erfrischend, doch der Alkohol verfehlte seine Wirkung. Sein Kopf wollte einfach nicht abschalten.
»Ja, mache ich gleich«, rief er zurück und wandte sich wieder seinem Laptop zu, der angeschaltet vor ihm auf dem Schreibtisch stand.
Eigentlich war er nie der Typ gewesen, der Arbeit mit nach Hause nahm oder an einem Sonntag seine E-Mails las. Seit 21 Jahren arbeite er bei der gleichen Bank, hatte nach der Schule erst Bankkaufmann gelernt und dann später berufsbegleitend noch seinen Betriebswirt obendrauf gesetzt, eine solide Karriere ohne nennenswerte Umwege oder Sprünge.
Er mochte es, mit Zahlen umzugehen. Zahlen waren zuverlässig, berechenbar und folgten einer Logik, ganz anders als Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit.
Doch vor etwa anderthalb Jahren war sein Chef auf ihn zugekommen und hatte ihn darüber informiert, dass man seine Abteilung schließen würde. Von Sparmaßnahmen war die Rede, davon, jetzt effizienter zu arbeiten, von Lean Workforce und Outsourcing und anderen, neudeutschen Formu–lierungen, bei denen Karl schon nicht mehr richtig zugehört hatte. Er wusste, was das bedeutete. Eine Menge Leute waren plötzlich ihren Job los, damit »die da oben« und vor allem die Aktionäre noch mehr Kohle scheffeln konnten.
Doch es kam ganz anders. Er hatte Glück. Irgendjemand, vielleicht sein Teamchef oder der Abteilungsleiter, hatte sein »Potenzial« im Umgang mit Zahlen erkannt, wie es jetzt immer so schön hieß, und seine Versetzung in die neue Tochtergesellschaft FinTech angeregt, wo man sich mit Produkten wie Cryptowährungen und NFTs für die Kunden beschäftigte.
Karl hatte vorher nicht viel über Crypto–währungen gewusst, nur mal hier und da den ein oder anderen Begriff wie Blockchain oder Bitcoin aufgeschnappt, doch schon am ersten Tag in seinem neuen Job begriff er, dass er hier endlich seine wahre Berufung gefunden hatte.
Es war so herrlich simpel und logisch. Am liebsten würde er den ganzen Tag nichts anders machen, als über NFT und die Blockchain zu fachsimpeln, was dazu führte, dass er jetzt auch abends und am Wochenende für seine Kollegen per E-Mail erreichbar war, sehr zum Ärger seiner Frau.
»Karl! Die Salatschüssel!«, rief Claudia gerade wieder.
Der Geruch von Schmorbraten lag in der Luft, dazu gedünstetes Gemüse, Claudias Spezialität.
Karl rollte mit den Augen, nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche und stand widerwillig auf.
Der Sonntag war der Familie vorbehalten, auch wenn die Kinder längst aus dem Haus waren. Tobias studierte bisher in Marburg Jura und stand kurz vor dem zweiten Staatsexamen, und wechselte jetzt doch noch nach Frankfurt, Annika hatte im Sommersemester ihr Lehramtsstudium in Heidelberg aufgenommen aber machte gerade ein Referen–dariat hier in Frankfurt.
Claudia bestand darauf, dass die Kinder an den Sonntagen zum Essen nach Hause kamen, zumindest an den meisten und Tobias und Annika taten ihr den Gefallen, zumindest meistens.
Karl verließ das Arbeitszimmer, stellte seine Bierflasche im Flur auf die Anrichte und ging in den Keller, wo es nach Heizöl, Waschmittel und Vergangenheit roch. Irgendwo zwischen der Weihnachtsdeko und der Campingausrüstung bewahrte Claudia den Teil ihrer Küchenutensilien auf, für die es oben in ihrer Küche keinen Platz gab, obwohl sich Karl hin und wieder bei der Frage ertappte, was sich dann in den immerhin sieben Küchenschränken befand, die zu der Einbauküche gehörten, auf der sie damals bestanden hatte.
Vor 25 Jahren, kurz nach Tobias‘ Geburt, hatten sie das Reihenhaus im Frankfurter Norden gekauft, damals noch erschwinglich, heute wäre es vermutlich unbezahlbar, denn die Immobilienpreise in der Region explodierten. Eigentlich war es für ihn und Claudia längst zu groß, doch wenigstens bot es so Raum genug, damit sie sich aus dem Weg gehen konnten.
Er griff nach einer der Salatschüsseln, die ordentlich aufgereiht in einem der Regale standen, zwischen dem Raclette und dem Fondue und ging wieder nach oben.
Claudia stand mit geröteten Wangen über den dampfenden Töpfen, während Annika an der Anrichte fleißig Salat schnippelte. Karl stellte die Salatschüssel ab und ging in das Wohnzimmer zu Tobias, der gerade durch die Sportkanäle zappte.
Karl setzte sich neben ihn. Eine Weile saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander und starrten auf den flimmernden Bildschirm, während sich die beiden Frauen in der Küche angeregt unterhielten.
Annika erzählte ihrer Mutter gerade mit aufgeregter Stimme von dem neuen Freund, den sie zu Beginn des Referendariats kennengelernt hatte. Markus befand sich bereits im letzten Semester und war wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein guter Fang offensichtlich.
»Er ist so klug, Mama, du musst mal hören, wie er über Geschichte spricht«, schwärmte Annika gerade.
Tobias schnalzte mit der Zunge und seine Mundwinkel zuckten. Er kannte das Gemüt seiner Schwester nur allzu gut. Annika verliebte sich schnell und häufig und immer war es dann »der Richtige«, davon konnte auch Karl ein Lied singen.
»Und, mein Junge, wie läuft es an der Uni?«, fragte Karl, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen.
Fast unmerklich zuckte Tobias zusammen und straffte sich.
»Ähm, gut, gut, ich lerne für das zweite Staatsexamen. Die Bib ist mein zweites Zuhause.«
Karl nickte anerkennend. Er hatte nie an einer Universität studiert, sondern nur neben der Arbeit an einer privaten Hochschule. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass aus seinem Sohn mal ein Rechtsanwalt oder sogar ein Richter werden würde.
»Und, was sind deine Pläne für danach?« Karl vermied es, seinen Sohn anzusehen. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie unangenehm ihm einst Gespräche dieser Art mit seinem eigenen Vater gewesen waren. Warum änderten sich manche Dinge eigentlich nie?
»Also, weißt du, ich habe mir überlegt, mich auf Umweltrecht zu spezialisieren«, sagte Tobias, die Augen fest auf den Fernseher fixiert.
Karl hob eine Augenbraue. »Umweltrecht? Ich dachte, du wolltest Firmenrecht machen.«
Tobias nickte langsam. »Ja, klar, das war eine Überlegung, schon wegen der Kohle und so. Aber weißt du, mir ist klargeworden, dass ich nicht mein Leben lang etwas nur wegen des Geldes machen möchte. Irgendwie brauche ich mehr als das. Eine Berufung oder so.«
»Verstehe«, brummte Karl, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er wirklich verstand. Die jungen Leute heute waren irgendwie ganz anders als er und Claudia damals.
Sie hatten sich damals danach gesehnt, einen Führerschein zu haben, ein Auto, bloß weg von zu Hause, auf eigenen Füßen zu stehen.
Tobias hingegen war nach dem Abitur erst einmal mit seinem Rucksack durch Südamerika gereist. Claudia war fast verrückt geworden vor Sorge. Immerhin war er danach brav sein Studium angetreten, doch einen Führerschein hatte er bis heute nicht.
Karl klopfte ihm auf das Knie. »Du wirst schon wissen, was du machst«, sagte er. Es sollte aufmunternd klingen, doch irgendwie verfehlte er den richtigen Tonfall.
»Karl!« Claudias Stimme klang eindeutig vorwurfsvoll.
Karl drehte sich um.
Claudia stand mit seiner geöffneten Bierflasche in der Hand in dem Durchgang zur Küche und schüttelte den Kopf.
»Jetzt habe ich einen Bierkranz auf der Anrichte im Flur.«
Karl verzog das Gesicht. Mist, das Bier hatte er vergessen, als er aus dem Flur zurückkam.
»Tut mir leid«, brummte er, stand auf und nahm die Flasche entgegen.
»Wir können essen«, sagte Claudia und es klang noch immer vorwurfsvoll.
Die Familie setzte sich an den Esstisch. Das Essen roch köstlich und schmeckte noch besser, was Karls Laune hob. Claudias Kochkünste waren unübertroffen, eine Eigenschaft, die er an ihr auch nach all den Jahren noch immer schätzte. Vielleicht lag es auch an dem Bier, das jetzt, nach der dritten Flasche, nun endlich eine kleine Wirkung zeigte.
Karl scherzte und lachte, die Stimmung wurde gelöst und ausgelassen. Familie war eben nicht nur eine Pflichtveranstaltung und die sonntäglichen Mittagessen hatten ja auch etwas für sich.
Sein Handy piepste und verriet ihm, dass er eine E-Mail bekommen hatte. Karl runzelte die Stirn.
»Ich muss mal kurz rüber ins Arbeitszimmer«, murmelte er.
Claudia verzog bedauernd den Mund. »Am Sonntag?«, fragte sie.
»Es ist nicht die Arbeit, es sind meine Aktien«, sagte Karl geheimnisvoll und stand auf. »Es hat köstlich geschmeckt, Schatz«, sagte er und gab Claudia einen Kuss auf die Wange, was sie leicht erröten ließ. Es kam nicht mehr oft vor, dass die beiden sich körperlich nahe waren.
Tobias blickte auf seine Uhr, dachte an seine Freunde. »Ich habe nicht mehr viel Zeit, mein Zug geht bald.«
»Ich kann dich mitnehmen, wenn ich fahre«, verkündete Annika, die keine Gelegenheit ausließ, ihren älteren Bruder damit aufzuziehen, dass er keinen Führerschein besaß.
»Das geht ganz schnell«, versicherte Karl und eilte in Richtung Treppe.
Im Arbeitszimmer angekommen schloss er die Tür und schaltete den Laptop ein. Er öffnete sein Mailprogramm und las die E-Mail erneut.
BETREFF: SCHWARZE ROSE
NACHRICHT: ICH WEISS VON IHRER SCHWARZEN ROSE IN MADRID. TRANSFERIEREN SIE BIS FREITAG 5 BITCOIN AN DIE UNTENSTEHENDE WALLET ADRESSE, SONST SENDE ICH FOTOS UND WEITERE BEWEISE AN IHRE FRAU UND IHRE KOLLEGEN.
Karl wurde blass, ihm wurde übel. Er schmeckte bittere Magensäure auf der Zunge und für einen Moment befürchtete er, dass er den gesamten Schmorbraten samt Beilage wieder ausspucken würde.
Das musste ein Scherz sein. Ein schrecklicher, geschmackloser Scherz. Das konnte nicht real sein. Das durfte nicht real sein. Er schluckte, doch der widerliche Geschmack wollte einfach nicht verschwinden.
Wieder und wieder las er die Zeilen vor sich auf dem Bildschirm, doch der Inhalt veränderte sich nicht.
Panisch klappte Karl den Laptop wieder zu, als könnte das die E-Mail und ihren furchtbaren Text verschwinden lassen. Als er aufstand, hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm schwankte. Unsicher machte er einige Schritte und musste sich dann an der Rückenlehne seines Stuhls festhalten.
Karl keuchte. Der Raum um ihn herum schien sich zu drehen. Er rang nach Atem. Sein Herz raste. Krampfhaft versuchte er, sich zu beruhigen. Keinesfalls durften Claudia oder die Kinder ihn so sehen, zumindest nicht, bevor er sich eine gute Erklärung ausgedacht hatte.
Er schloss die Augen und zählte in Gedanken bis zehn. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, doch langsam, ganz langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Er gewann die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper zurück.
Er richtete sich auf, atmete einige Male tief durch und ging zu den anderen hinunter in das Esszimmer.
»Und, bist du schon Millionär?«, scherzte Tobias, der gerade von seinem Stuhl aufstand und seinem Vater die Hand zum Abschied hinhielt.
Karl zwang sich zu einem Lächeln. »Noch nicht«, sagte er augenzwinkernd und ergriff seine Hand.
Annika stand im Flur und zog sich gerade ihre Jacke an.
»Wir müssen jetzt los«, sagte sie und umarmte ihre Mutter zum Abschied. »Es war super lecker, Mama, wie immer. Ich freue mich schon auf das nächste Mal.« Sie küsste ihre Mutter auf beide Wangen, dann umarmte sie ihren Vater.
Der Geruch von Maiglöckchen stieg Karl in die Nase. So hatte die Kleine schon immer gerochen, unschuldig und süß. Er atmete tief ein. Für einen Moment gelang es ihm, den Riss, der durch seine Welt lief, zu vergessen.
Durch das Fenster beobachteten sie, wie die Kinder in das Auto stiegen und davonfuhren. Draußen war es längst dunkel.
Claudia seufzte tief und rieb sich über die Oberarme. »Sie sind so schnell groß geworden«, sagte sie und Wehmut lag in ihrer Stimme. »Ich werde dann mal die Küche aufräumen.«
Annika drückte auf den Knopf am Autoschlüssel und hörte das deutliche Klacken der Zentralverriegelung. Es war inzwischen dunkel geworden und es regnete leicht. Es war kalt.
»Hoffentlich kein Glatteis«, dachte sie und ging zu ihrem kleinen BMW an der Straßenecke. Tobias folgte ihr und checkte auf dem Handy seine WhatsApp Nachrichten. Annika schaute sich um und dachte sich, dass er aussah wie ein Geist, so im Dunkeln mit dem Licht vom Handydisplay im Gesicht. Fahl und blass. Sie machte sich Sorgen um ihren Bruder. Seit er aus den Semesterferien aus Argentinien zurück war, kam er mit dem Studium nicht weiter und hing mehr mit seinen Freunden ab, als sich auf das Studium zu konzentrieren.
Annika ließ sich auf den Fahrersitz fallen und startete den Wagen. Man hörte nichts als das leise Surren des I3. »Die Akkus sind noch fast voll, also kein Problem für die Fahrten in der kommenden Woche«, die sich öffnende Beifahrertür riss sie aus den Gedanken, Tobias ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sich an. »Das wird immer schlimmer.«
Annika antwortete nicht. Sie konzentrierte sich auf die Welt draußen und schaltete die Scheibenwischer ein. Knapp über Null Grad dachte sie und fuhr hinter einem Lkw auf die Auffahrt Richtung City. »Was meinst Du?«
Tobias blickt von seinem Handydisplay auf und murmelt »So spießig die beiden, immer diese Fragen von Papa.«
Annika reihte sich in den Verkehr auf der Autobahn ein und antwortete dann »So sind sie eben. Nichts Neues.«
»Doch, es ist anders als früher. Seit Papa in der neuen Bank arbeitet, benimmt er sich anders, so als hätte er ein Geheimnis. Das mit den Cryptowährungen nimmt ihn total ein. Hast Du gemerkt wie verändert er war, als er aus dem Arbeitszimmer zurückkam? Total krass.«
Annika blieb in der rechten Spur und hielt Abstand. Es war inzwischen ganz dunkel geworden und das Eissymbol im Display des I3 zeigte an, dass es glatt sein konnte. Die Scheibenwischer gingen monoton hin und her und der Gegenverkehr blendete sie immer wieder.
»Total krass«, dachte sie »was soll das denn heißen?« aber sagte zu Tobias »Ja gut, seit er die neue Bank leitet und sich um die Zahlen kümmert und nicht mehr um die Kunden, ist er eben in seiner Welt. Ich verstehe sowieso nicht, warum man ein ganzes Berufsleben etwas macht, dass man nicht will. Mutti hat mir erzählt er wollte immer schon mit Zahlen arbeiten und ist deshalb zur Bank. Aber dann sind eben wir gekommen und er hat viele Kompromisse machen müssen, sagt sie, also wegen der Familie und so. Jetzt kann er aber etwas ganz Neues aufbauen, etwas das ihm Spaß macht. Zahlen, Mathematik und Crypto. Na gut, Blockchain und Hashtags, das ist jetzt seine Welt. Da fühlt er sich wohl. Mutti gefällt es auch, sie sagt er sei viel lockerer als früher.«
Tobias hatte sein Handy eingesteckt und blickte in die nasse Dunkelheit draußen. Nur noch ein paar Minuten bis zu seiner Wohnung. »In der WG werden sie wieder lachen, weil ich sonntags wieder bei den Eltern war. Die verstehen das nicht«, ging es ihm durch den Kopf. Seit gut einem halben Jahr wohnte er jetzt in der Dreier WG. »Zwei Männer und eine Frau, Nara, gut dass die auf Frauen steht, sonst gäbe das garantiert Stress, so scharf wie die aussieht. Aber irgendwie klappte es gut zu dritt, bisher gab es nur mal Streit um Geld wegen der Miete«, überlegte er halblaut. Alle drei studierten in Frankfurt, das klappte nur mit Job neben dem Studium. Aber der Streit damals war nur kurz, dann war wieder klare Luft. Er mochte Nara, sie dachte in vielen Dingen genau wie er. Eben überhaupt nicht zickig, eher wie ein Mann.
Nur mit einem halben Ohr hörte er Annika zu, während er laut an Nara dachte. »Ja, habe ich auch gedacht, aber jetzt denke ich, da ist noch etwas anderes. Papa ist so oft unterwegs, das war früher nicht so, da war er immer im Büro. Jetzt ist er so oft auf Reisen. Das verändert ihn auch.«
Annika bog in die Straße am Mainufer ein und suchte nach einem Platz, um Tobias aussteigen zu lassen. Direkt vor dem Haus, in dem Tobias wohnte, fand sie eine Lücke und hielt den Wagen an. In der Wohnung von Tobias` WG brannte Licht und sie konnte Nara sehen, wie sie in der Küche stand und aus dem Fenster blickte, das Fenster war geöffnet und Nara rauchte eine Zigarette. Annika blickte zum Fenster und sah, dass Nara sie erkannt hatte. Sie winkte kurz und Nara winkte zurück. Die Glut der Zigarette leuchtete kurz heller als vorher.
Tobias öffnete die Türe und stieg aus. »Danke fürs herfahren, und bis Sonntag. Wir telefonieren. Hasta luego!«
Annika schaute weiter zu Nara hin und antwortete kurz »Gern geschehen, big brother. Wir telefonieren. Adios!«
Tobias ging durch den leichten Nieselregen zum Haus und verschwand im Hausflur hinter der schweren Holztüre.
Eigentlich wollte Annika schon längst wieder losgefahren sein, aber sie blickte weiter zu Nara zum Fenster. Nara zog an der Zigarette und der leichte rote Schein der Glut beleuchtete kurz ihr Gesicht. Annika konnte sehen, dass sie zu ihr hinschaute und merkte, dass die Innenbeleuchtung gerade erst ausgegangen war. Sie sah wie Nara den Rauch langsam wieder ausatmete. In ihre Richtung. Sie schien den Blick nicht abzuwenden. Der Rauch ließ Naras Gesicht undeutlich werden, aber Annika wollte auch ihren Blick nicht abwenden. Sie hatte Nara nur einmal kurz im Sommer in der WG bei der Welcome-Party von Tobias getroffen und erfahren, dass sie Südamerikanerin war und in Frankfurt studierte.
Es waren damals nur ein paar Worte gewesen, die sie mit ihr gesprochen hatte, aber Naras leichter Akzent hatte sie in ihren Bann gezogen. Dazu dieses Lächeln dieser Frau. Das Blitzen in ihren Augen, wenn sich ihre Blicke getroffen hatten. Und dieses kleine Tattoo auf ihrer Schulter, eine kleine Rose, ziemlich unscheinbar aber doch eingebrannt in Annikas Gedächtnis. Immer wieder dachte sie zurück an diese erste Begegnung, aber hatte doch nie den Mut gefunden, das Gespräch fortzusetzen. Sie dachte zurück an die Begegnung und erinnerte sich, dass Nara damals nichts unter dem hellen Tanktop anhatte und ihre festen Brüste sich unter dem dünnen Stoff deutlich abzeichneten. Bei diesen Gedanken an Naras Tattoo, ihr Tanktop auf der Party und Naras Blicken auf ihren Körper machte sich ein wohliges Gefühl in ihrem Bauch bemerkbar und stieg langsam höher bis sie es in ihrer Brust spüren konnte. »Dabei wäre es so einfach, schließlich wohnt mein Bruder in der WG«, hörte sie sich selbst sagen und löste dann doch den Blick von Nara.
Sie fuhr langsam los und dann dauerte es nur wenige Minuten bis zu ihrer Wohnung. Annika wusste, dass dort niemand auf sie wartete, nur die kleine gemütliche Wohnung, und das große leere Bett. »Aber vielleicht gab es ja eine Nachricht von Markus«, murmelte sie auf dem Weg zur Haustüre, »warum hat er eigentlich kein Handy? Diese Ablehnung von Technik war schon eigenartig, immer nur Festnetz und Anrufbeantworter, nie eine WhatsApp, ich werde ihn mal fragen.« Annika ging die Stufen hinauf und öffnete die Türe zu ihrer leeren Wohnung.
In der Vorstadt verging der Rest des Abends in gemeinsamer Stille mit einem weiteren Bier und einer Tierdokumentation im Fernsehen. Erst als Karl später neben Claudia im Bett lag und ihren langsamen, gleichmäßigen Atemzügen lauschte, fiel ihm die E-Mail wieder ein und er lag plötzlich wieder hellwach in der Dunkelheit.
Seine Gedanken flogen zurück zu einem Tag im Herbst vor zwei Jahren, jenem Tag, an dem alles angefangen hatte, an dem er wieder zu leben begonnen hatte.
Dortmund, September 1990