1,99 €
Alles scheint verloren. Amber muss einsehen, dass sie gegen das Schicksal, das Victoria Callahan ereilt hat, nichts ausrichten kann. Oder doch? Sie trifft auf einen alten Mann, den die Stadt nur als Obdachlosen kennt - doch sein Verhältnis zu Victoria ist enger als jeder glaubt. Auch Lynn erlebt eine Überraschung der besonderen Art - und ein Junge mit blaugrünen Augen hat seine Finger im Spiel. Am Ende der Woche gibt es eine riesige Überraschung für alle. --- Band 6 --- Rosegarden Inn - Ein Hotel zum Verlieben besteht aus 6 Teilen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2018
Copyright © 2018, Corina Bomann & Amy Summerfield, Potsdam
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages und der Autorin wiedergegeben und verbreitet werden.
Titelabbildung:
Ola-la (Rosentapete) www.shutterstock.com
Kelly Sorenson (Lace Frame Vector), https://creativemarket.com/kellyjsorenson
Das Rosegarden Inn in Hollow Moon soll für die Schwestern Amber und Lynn Harris ein Neuanfang sein – doch schnell tauchen die Probleme auf. Sabotageakte erschüttern das Hotel und der Neffe der Besitzerin versucht, es seiner Tante abzunehmen, um es gewinnbringend zu verkaufen.
Auch in Lynns Schule läuft es nicht reibungslos. Nachdem ihr ein Schulaufsatz gestohlen wurde, flippt sie aus und greift eine Mitschülerin an. Zur Strafe muss sie in der Schulkantine aushelfen – und begegnet dort einem alten Obdachlosen, der von den Küchenfrauen nur »Professor« genannt wird. Dieser Mann scheint ein Geheimnis zu verbergen – jedenfalls scheint er nicht nur ein einfacher Obdachloser zu sein.
Als die Besitzerin des Hotels, Mrs Callahan, einen Schlaganfall erleidet, steht plötzlich alles auf dem Spiel: Ambers Anstellung im Rosegarden Inn und auch ihre neue Liebe zu dem attraktiven Jaden.
Was hat das Schicksal mit den beiden Schwestern vor?
Ambers Herz raste. Auf einmal war es, als würden die Wände des Flurs näher rücken.
Sie kannte Mr Hunter inzwischen gut genug, um zu wissen, dass seine ernste Miene auch etwas wirklich Ernstes bedeutete. Dass er sie in sein Büro bat, war allein schon sehr seltsam. Eigentlich war sie es, die Angestellte in ihr Büro zitierte. Nicht einmal als er glaubte, dass er den Saboteur gefunden hatte, hatte Hunter sie in sein Büro gebeten. Was erwartete sie hinter der Tür? Vielleicht ein grinsender John Callahan, der ihr mitteilte, dass sie gefeuert war?
Nein, das glaubte sie nicht. In so einem Fall hätte Hunter sie wohl gewarnt.
Sie hätte ihn zu gern gefragt, was los sei, doch da kamen ihnen ein paar Dienstmädchen entgegen. Sie grüßten, und Jill lächelte ihr zu. Amber fiel ein, dass sie mit Mrs Callahan nicht über ihr Alkoholproblem gesprochen hatte. Aber mittlerweile war sie sicher, dass das Mädchen nicht hinter den Anschlägen auf das Hotel steckte. Sie hoffte nur, dass sich Sandy nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen ließ, was den echten Saboteur anging. Aber das würde sie nachher besprechen, wenn sie erst einmal musste, was Mr Hunter von ihr wollte.
»Entschuldigen Sie bitte, Miss Harris, aber ich wollte nicht vor Ihrer Freundin und deren Tochter mit der Nachricht rausplatzen«, sagte Hunter, während er ein wenig unbehaglich neben der Tür stehen blieb. »Eigentlich sollte es vor Ihnen noch keiner der Angestellten erfahren.«
»Okay, gehen wir rein«, entgegnete sie. Inzwischen war die Spannung in ihrer Brust zu einem Ballon angewachsen, der jeden Augenblick zu platzen drohte.
Hunter öffnete die Tür und ließ sie ein. Das Büro war klein, eher ein Aufenthaltsraum als ein Ort, an dem er richtig arbeitete. Bei ihrem ersten Rundgang mit Mrs Callahan hatte sie nur kurz hineingeschaut. Mrs Callahan erklärte ihr damals, dass Mr Hunters wahres Reich die Lobby war – doch wenn die Concierges Schreibarbeiten zu erledigen hatten, würden sie sich hierher zurückziehen. Der Raum war karg eingerichtet und wirkte freudlos – die richtige Atmosphäre für Schreibarbeiten aber sonst ziemlich deprimierend.
Hunter schloss die Tür hinter sich, atmete tief durch und sah sie dann an. »Ich fürchte, ich habe sehr schlechte Nachrichten für Sie.«
Etwas lief eisig über Ambers Rücken. Sie wollte es nicht zulassen, doch die Angst flutete ihre Gedanken. Es war wie damals, als sie den Notarzt wegen ihres Vaters gerufen hatte.
»Mrs Callahan ist heute Morgen verstorben, ihr … ihr Neffe hat angerufen.«
Der Ballon in ihrem Innern platzte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in sich zusammenzufallen. Wie damals, als der Arzt ihr sagte, dass er für ihren Vater nichts mehr tun konnte.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
»Stimmt das denn?«, fragte sie verwirrt. »Ich meine, es war doch John Callahan, der angerufen hat …«
»Über Mr Callahan kann man viel sagen, aber ich bin sicher, dass er sich keinen makabren Scherz erlaubt hat«, antwortete Hunter. In seinen Augenwinkeln glitzerte plötzlich etwas. Er presste die Lippen zusammen und wischte sich dann übers Gesicht. »Wie dem auch sei, Mrs Callahan ist heute von uns gegangen. Und ich ...« Seine Stimme versagte.
Amber ließ sich auf den Stuhl sinken. Ihre schlimmste Befürchtung ist nun doch eingetroffen. Es war zwar sehr taktvoll von Mr Hunter gewesen, dass er es ihr nicht am Telefon gesagt hatte – doch besser wurde es dadurch nicht. Mrs Callahan war tot. Sie konnte es nicht fassen.
Minutenlang starrte sie auf die Tür. So, als könnte Victoria jeden Moment auftauchen und ihnen allen sagen, dass sie einem dummen Scherz ihres Neffen aufgesessen waren. Aber Hunter hatte vermutlich Recht. Nicht einmal John Callahan macht Scherze mit dem Tod.
»Hat er auch gesagt, wann die Beerdigung stattfinden soll?«
Amber fühlte sich merkwürdig betäubt. Sie wollte weinen, aber irgendwie konnte sie das nicht. Das war damals, als ihr Vater gestorben war, genauso gewesen. Der Schmerz hatte sich erst später eingestellt – dann, als ihr bewusst wurde, dass sich das Haus leer anfühlte, dass ihr Vater nie wieder mit ihr reden würde.
Victorias Tod würde Konsequenzen haben. Alles war verloren.
»Bereits diesen Freitag«, hörte sie Mr Hunters Stimme wie aus weiter Ferne sagen.
Amber nickte. »Er scheint keine Zeit verlieren zu wollen.«
»Offenbar hatte er sich schon auf das Ableben seiner Tante vorbereitet. Im Gegensatz zu uns kannte er die medizinischen Details.« Hörte sie Groll in Hunters zitternder Stimme? Ihm schien der Tod der Hotelbesitzerin jedenfalls sehr nahe zu gehen.
Amber ging es ähnlich – wenngleich sie Mrs Callahan nicht so lange gekannt hatte, wie Mr Hunter. Wer weiß, was er ihr alles zu verdanken hatte.
»Wurde auch schon den Ort für die Trauerfeier festgelegt?«, fragte sie und wandte sich jetzt Hunter zu. Wie sie den heutigen Tag schaffen sollte, wusste sie nicht. Möglicherweise würde Callahan noch heute erscheinen und ihr die Kündigung überreichen. Dabei stand die Hochzeit an und es war noch so viel unerledigt …
Wie kannst du jetzt daran denken?, schalt sich Amber im Stillen.
»Er sagte, dass die Trauerfeier hier stattfinden soll – wo seine Tante gelebt und gewirkt hat.«
Jeden anderen hätte sie angesichts dieser Worte für einen anständigen Menschen gehalten. Bei John Callahan war das etwas anderes. Offenbar wollte er schon auf der Trauerfeier allen zeigen, wer der Herr war. Sie war fest davon überzeugt, dass er die Feier allein ausrichten würde – oder sogar schon jemanden dafür mitbringen würde, um sie dumm dastehen zu lassen.
»Okay, ich denke, wir bekommen das hin«, antwortete Amber mit belegter Stimme. Schweigen folgte ihren Worten. Auch Mr Hunter hatte keine Lust, etwas zu sagen. Erst nach ein paar Minuten erhob sich Amber. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Seit ihr Vater gestorben war, hatte sie sich nicht mehr so traurig gefühlt wie in diesem Augenblick.
»Tja, dann werde ich mir mal überlegen, was ich der Belegschaft sage.« Sie wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung übers Gesicht.
»Sie sollen wissen, dass wir alle hinter Ihnen stehen werden, wenn Mr Callahan überlegt, etwas an der personellen Aufstellung zu ändern.«
Also, wenn er daran denkt, mich rauszuwerfen, dachte Amber bitter. Dass Hunter ihr versicherte, die Belegschaft würde hinter ihr stehen, war gut gemeint, doch Amber war sich darüber im Klaren, wie es aussehen würde, wenn es hart auf hart kam. Niemand würde seinen eigenen kostbaren Arbeitsplatz für sie aufgeben. Und das wollte sie auch von niemandem verlangen.
»Danke, das ist sehr freundlich«, sagte Amber, und einen Moment lang wäre sie am liebsten weggelaufen, weit weg, wo sie all die Probleme nicht erreichen konnten. Doch dann straffte sie sich und ging zur Tür. Hunter machte ihr Platz und folgte ihr nach draußen.
»Hey, Lynn, bringst du noch die letzten Müllsäcke raus, bevor du gehst?«, fragte Macie, während sie sich aus ihrer Küchenschürze pellte. »Und vergiss nicht, deine Schürze hier zu lassen.«
»Klar doch!«, entgegnete Lynn und schnappte sich dann den ersten der Säcke. Es war unglaublich, was die Leute sich mitnahmen, dann nicht aufaßen und später wegwarfen. Schade, dass nicht mehr Hilfsbedürftige kamen und sich Essen von hier holten. Lynn war sicher, dass man ihnen hier ebenso wie dem Professor helfen würde.
Sie schulterte den Sack und trug ihn nach draußen. Bei den Mülltonnen wurde sie von einer Möwe begrüßt. Lynn ließ vor Schreck den Sack fallen. Das Tier hatte sie hier noch nie zuvor gesehen.
Der Möwe schien es ähnlich zu gehen, denn als sie das Mädchen sah, flog sie auf und flatterte dann mit lautem Geschrei über das Schulgebäude.
Lynn hob den Sack wieder auf und beförderte ihn in die Tonne. Ihr Herz klopfte. Verdammt, seit wann war sie so schreckhaft? Das war doch nur eine Möwe, die nach etwas Essbarem suchte und wahrscheinlich genug von Seafood hatte.
»Sieh mal einer an, wen haben wir denn hier? Die kleine Cinderella.«
Die spöttische Mädchenstimme ließ Amber erstarren. Den ganzen Tag über war es ruhig gewesen. Ihre Mitschüler hatten sie geflissentlich ignoriert. Doch offenbar war das nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen.
Sie wirbelte herum, in der Absicht, Katie eine ordentliche Erwiderung zu geben – da sah sie, dass ihre Rivalin nicht allein war. Sie war in Begleitung von vier weiteren Mädchen. Sie erkannte Samantha, Jane und Loreen, Noels Freundin. Die letzte aus der Reihe hatte sie zwar schon gesehen, kannte ihren Namen aber nicht.
Was wollten sie? Ihr eine ordentliche Abreibung geben? Lynns Muskeln spannten sich. Sie hatte sich in ihrem Leben bisher nur einmal richtig geprügelt – das war in der zweiten Klasse gewesen, als Nancy Havock versucht hatte, ihr eine Spinne in den Blusenkragen zu stecken. Gegen fünf Mädchen würde sie keine Chance haben. Angst überfiel sie und machte ihren Mund trocken. Sie hätte sich natürlich umwenden und in die Küche zurücklaufen können – doch mittlerweile waren die anderen ihr so nahe, dass sie sie schnappen konnten, sobald sie die Flucht antrat.
Katie sah sie mit einem abschätzigen Lächeln an. Lynn war sicher, dass sie nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, um die anderen dazu zu bringen, sie anzugreifen.
»Tja, hier hast du wohl dein Reich gefunden, wie?«, ätzte sie. »Und einen Prinzen gibt es auch schon. Oder was wolltest du von diesem Penner?«
Ein eisiger Schauer durchlief sie. Klar, sie hatten sie beobachtet. Aber hatten sie nichts anderes zu tun, als sich ständig um sie zu kümmern? Und worauf wollten sie hinaus? Lynn wurde schlecht. Sie kannte die Wirkung übler Nachrede nur zu gut.
»Na, was ist, Großmaul? Hast du dazu nichts zu sagen?«
»Doch«, antwortete Lynn, während sie versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Dass ihr euch um euren eigenen Kram kümmern sollt. Es geht euch einen Scheißdreck an, was ich mache.«
»Und mit wem«, fügte Samantha hinzu, worauf die anderen wie Hühner zu gackern begannen.
»Sag, stehst du auf alte Männer?«, schlug die Unbekannten in die gleiche Kerbe. »Machst du es mit jedem dreckigen Penner, der dir über den Weg läuft?«
Zorn kochte in Lynn hoch. Am liebsten hätte sie ihr eine runtergehauen. Doch dann hätten die anderen es wohl so dargestellt, dass sie angefangen hätte. Das Wort von fünfen stand gegen ihres – da konnte sie sich ausrechnen, was die Direktorin sagen würde.
Tränen stiegen Lynn in die Augen. Sie versuchte, sie wegzublinzeln, aber das klappte nicht.
Angestachelt von diesem Beweis für ihre Schwäche baute sich Katie vor ihr auf und versetzte ihr einen Stoß gegen die Schulter. »Siehst du? Ich kann das machen, ohne dass ich hier antanzen muss. Aber Müll wie du wird bestraft. So läuft das hier.«
Lynn dachte wieder an das Gespräch mit Mr Gideon. Entweder hatte er noch nicht mit Katie geredet – oder das Gespräch hatte keinerlei Spuren hinterlassen.
»An eurer Stelle würde ich sie in Ruhe lassen!«, tönte es plötzlich von der gegenüberliegenden Ecke.
Wenig später trat Noel vor Katie und die anderen. Dass seine eigene Freundin unter den Anwesenden war, schien ihn irgendwie nicht zu überraschen.
Lynn kam sich vor, als wäre sie im falschen Film. Ebenso schien es den anderen zu gehen.
»Hi, Noel!«, schnurrte die Cheerleaderin und wollte sich schon an seinen Hals werfen, doch Noel schob sie beiseite.
»Ich meine es ernst«, sagte er, ohne den Blick von Katie zu nehmen. »Keine von euch wird Lynn jemals wieder belästigen, ist das klar?«
Die Mädchen sahen ihn an, als hätte gerade der Blitz eingeschlagen. Keine von ihnen erwiderte etwas.
»Hey, Loreen, sieht so aus, als müsstest du dir einen neuen Freund suchen«, ätzte Katie, doch ihr war deutlich anzusehen, dass beinahe vor Wut platzte. Aber seltsamerweise wollte sich keine von ihnen mit Noel anlegen. »Noel steht jetzt auf Mädchen, die mit Pennern abhängen und im Dreck rumwühlen.«
Lynn ballte die Fäuste. Nicht nur, weil sie Katie, Samantha und die Fremde mit der dreckigen Phantasie am liebsten verprügelt hätte, sondern auch, weil sie vor Noel nicht losheulen wollte.
Loreen schien das anders zu sehen, denn sie brach in Tränen aus – seltsam, denn Noel hatte ihr irgendwie nicht gesagt, dass es aus mit ihnen war. Aber offenbar wurden die Aspekte ihrer Beziehung ohnehin unter den Freundinnen ausdiskutiert.
»Du solltest besser gehen, Katie, und nimm deine Freundinnen mit. Sonst werde ich Lynn mal ein paar Dinge über euch erzählen, die sie sicher amüsant finden wird.«
Jetzt warf Katie ihm einen hasserfüllten Blick zu. Offenbar hatte sich Noel von einem Moment zum anderen zum Außenseiter gemacht.
Lynn konnte es immer noch nicht fassen. Und sie wollte sich auch lieber nicht vorstellen, welche Konsequenzen das haben würde.
»Geht, ich sage es nicht noch einmal. Ihr habt doch sicher Hausaufgaben zu machen, oder?«
Die Mädchen wandten sich um – und gingen! Ohne Lynn noch einmal anzuschauen, zogen sie ab. Zahlreiche giftige Blicke trafen Noel, aber es fiel keine einzige Bemerkung mehr.
Um ein Haar vergaß Lynn, zu atmen. Noel war aufgetaucht wie ein Ritter in einer dieser Fernsehserien und hatte sie gerettet. Einfach so! Sie schnappte nach Luft. Ihre Wangen und Augen brannten.
Noch immer raste ihr Herz, aber jetzt nicht mehr vor Angst, sondern vor Aufregung!
Noel schaute den anderen nach, als wollte er sicherstellen, dass die Cheerleader-Bande nicht irgendwelche Steine aufsammelte und nach ihnen warf. Dann wandte er sich um.
»Hi«, sagte er und lächelte.
»Hi«, erwiderte Lynn verdattert. Ihre Stimme zitterte. Nein, nicht nur ihre Stimme, auch ihr ganzer Körper. »Verdammt, was war das denn eben?« Sie deutete auf die Mädchen, von denen man nur noch die Rücken sah. »Wie hast du das gemacht? Bist du ein Gangmitglied oder so?«
Noel zuckte mit den Schultern. »Sagen wir es mal so, ich weiß wirklich so manche Geschichten über die Leute hier. Meine Familie lebt schon lange in diesem Ort und irgendwie kommen alle irgendwann ins Moonshine. Keiner von ihnen ist besser als der andere, alle haben ihre Leichen im Keller.«
Lynn fragte sich, was das für Leichen waren, aber sie wollte in diesem Augenblick nicht fragen. Immerhin hatte er ihr gerade den Arsch gerettet.
»Und was ist mit deiner Freundin?«
Er blickte verlegen auf die Spitzen seiner Turnschuhe. »Weißt du … an dieser Schule ist es irgendwie cool, einen Cheerleader als Freundin zu haben. Jeder will das irgendwie. Oder wollte.«
Lynn glaubte, nicht richtig zu hören. »Dann liebst du sie nicht? Wie kannst du sie dann küssen?«
»Ich dachte eine Weile, dass es Liebe wäre. Dann wurde es Gewohnheit. Und als ich sie jetzt stehen sah, bei Katie … Als ich gesehen habe, wie sie dabei waren, dich fertigzumachen … Da schnappte etwas bei mir über. Wie bei einer Mausefalle. Ich erkannte, dass es Quatsch war, was ich bisher gemacht habe und wollte … Dieser eine Nachmittag, unser Spaziergang … Dabei hatte ich mehr Spaß als in den vergangenen Wochen mit Loreen. Ich dachte mir, an diesem Mädchen ist etwas Besonderes. Und sie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden.«
»Wie wurde ich denn behandelt?«, wunderte sich Lynn. Sie hatte nie mitbekommen, dass Noel in der Nähe war, wenn Katie und ihre Freundinnen gemein zu ihr waren.
»Um ehrlich zu sein, wie Dreck. Vielleicht war ich nicht da, aber ich habe sehr viel gehört. Wie sie über dich redeten, wie sie sich freuten, dass sie dir den Aufsatz geklaut haben, wie dumm du dagestanden wärst im Unterricht von Mr Porter …«
»Sie haben darüber geredet?« Lynn schüttelte fassungslos den Kopf und hob dann ihre Hände, die noch immer in den gelben Abwaschhandschuhen steckten. »Eigentlich müssten sie diejenigen sein, die diese beschissenen Handschuhe tragen. Ihre künstlichen Nägel müssten ihnen abfallen, dass sie …«
Noel zog sie in seine Arme und drückte sie kurz. Lynn fühlte sich, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Noch immer glaubte sie, jeden Moment aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war.
