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Der Eigentümer des Mehrfamilienhauses in der Rosengasse 17, Xaver Armbruster, sitzt leblos auf dem Boden des Aufzuges seines Mietshauses. In seinem Herzen steckt ein großes Kochmesser. Offenkundig wurde Xaver brutal ermordet. Dies ist wieder einmal ein Fall für Kriminalrat Dr. Edelbert von Gutmanson, der aufgrund seines aristokratischen Erscheinungsbildes und wegen seiner ausgeprägten anglophilen Lebensart, von seinen Kollegen respektvoll der Lord genannt wird. Wer könnte ein Motiv haben, den stets höflichen, freundlichen älteren Herren, der mutmaßlich keine Feinde hatte, auf eine solch unappetitliche Art aus dem Weg zu räumen? Ist die Eigentümerin des Messers, das Edelcallgirl Jennifer Habestolz, deren Fingerabdrücke auf der Tatwaffe entdeckt wurden, die Täterin? Oder käme Gottlieb, der Sohn des Opfers, infrage? Dieser Bursche kann kein Alibi nachweisen und hätte zudem ein Motiv. Als die Ermittlungen sich auf eine Person konzentrieren, geschieht das Unfassbare; eine weitere Leiche wird aufgefunden. Nun ist der Lord gefordert. Mit seinem kriminalistischen Scharfsinn, gepaart mit süffisanten Bemerkungen, begibt er sich auf die Suche nach dem Mörder.
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Seitenzahl: 207
Veröffentlichungsjahr: 2021
Volker Simon Haymann
Rosengasse 17
© 2021 Volker Simon Haymann
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-28072-4
Hardcover: 978-3-347-28073-1
e-Book: 978-3-347-28074-8
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Für meine geliebte Frau Rita, die seit mehr als 50 Jahren mein Leben bereichert.
Montag, 4. März, 8.00 Uhr
Xaver Armbruster sitzt in seiner Küche beim Frühstück. Der Bayerische Rundfunk lässt einen Mix aus leichter Unterhaltungsmusik und kurzweiligen Nachrichten durch die Lautsprecher der zentralen digitalen Musikanlage strömen. Vor Xaver ausgebreitet, liegt die aktuelle regionale Tageszeitung, deren eingehende Lektüre zu seinem täglichen, selbst auferlegten Pflichtprogramm gehört. Seit dem Tod seiner Frau vor acht Jahren hat er sich stets bemüht, seinen Tagesablauf gewissenhaft zu strukturieren. Dies fällt ihm nicht ausnehmend schwer, da er von Natur aus ein sehr penibler Mensch ist. Zudem hat ihn seine jahrzehntelange berufliche Tätigkeit in dieser Richtung geprägt. Als Steuerberater in einer großen Steuerberatungsgesellschaft in München bildeten schließlich strukturiertes Arbeiten und Denken seinen Alltag.
Auf seiner heutigen Agenda, die er wie üblich während des Abendbrotes am Vortag aufgestellt hat, steht die Fertigung der Mietnebenkostenabrechnung für das abgelaufene Kalenderjahr. Diese Abrechnung für sein Mehrfamilienhaus in der Rosengasse 17 in einer süddeutschen Kreisstadt unweit von München will er heute mit Unterstützung verschiedener Excel- und Worddateien und einem speziellen Programm für Hausverwaltungen abschließen.
Xaver Armbrusters Dachgeschosswohnung thront förmlich auf seinem Haus in der Rosengasse 17 und beherrscht die unter ihr liegenden vier Mietwohnungen. Seine riesige Wohnung im Dachgeschoss wird flankiert von zwei kleineren Mietwohnungen. Demzufolge sind insgesamt sieben Wohnungen abzurechnen. Es versteht sich von selbst, dass er für seine eigenen vier Wände ebenfalls eine Abrechnung erstellt. Und sollte er etwas nachzahlen müssen, wird er das Geld selbstverständlich unverzüglich auf das separate Bankkonto mit dem Namen Rosengasse 17 überweisen. Abrechnen zu dürfen, erfüllt den guten Xaver stets mit großer Freude. Hier darf er mit Zahlen jonglieren und fühlt sich, zumindest ansatzweise, in seinen früheren Beruf, den er mit großer Hingabe und Leidenschaft ausübte, zurückversetzt.
Xaver, der vor wenigen Wochen seinen einundachtzigsten Geburtstag feiern durfte, ist geistig fit wie ein Turnschuh. Auf seinen klaren, messerscharfen Verstand kann er sich felsenfest verlassen. Während seiner aktiven Tätigkeit als Steuerberater stellte seine brillante Denkmaschine eine äußerst scharfe Waffe dar, mit der er sich im gefährlichen Steuerdschungel erfolgreich durchzuschlagen vermochte. Ihm gelang es immer wieder, die Gestaltungsspielräume, die ihm das deutsche Steuerrecht bot, bis zum zulässigen Limit auszureizen. Die rote Linie wurde hierbei allerdings nie überschritten. Seine Devise war stets: Wer Steuern zahlen muss, muss auch das Recht haben, Steuern zu vermeiden. Dabei achtete er sorgsam darauf, dass seine oft abenteuerlichen steuerlichen Gestaltungen stets in rechtlich sauberen Bahnen verliefen.
Sein auch heute noch beeindruckender geistiger Fitnesszustand steht allerdings in einem krassen Gegensatz zu seinem körperlichen Befinden. Wahrscheinlich stellt ihm sein Körper nun die Quittung dafür aus, dass er während der Zeit seiner beruflichen Aktivitäten ein gesundes Leben nur vom Hörensagen kannte. Ein Zehn- bis Zwölfstundenarbeitstag war für ihn die Regel. Xaver hatte immer bis zum Anschlag gearbeitet. Vermutlich ist dies auch ein Grund dafür, warum bei Steuerberatern im Allgemeinen das Herzinfarktrisiko überproportional höher ist als in anderen Berufsgruppen. Auch neben seiner beruflichen Tätigkeit ließ er nichts anbrennen.
Ja, früher, da hat er es im Begleitprogramm verschiedener Steuerberaterkongresse gerne mal ordentlich krachen lassen. Auch Weihnachtsfeiern waren für ihn immer wieder ein lieb gewonnener Anlass, kräftig auf die Pauke zu hauen. Sein berufliches Engagement, das zum Teil kämpferische Züge annahm, und seine Eskapaden bei betrieblichen Veranstaltungen brachten ihm in der Kanzlei den Titel Der Wilde Xaver ein.
Nun aber ist der Wilde Xaver gezähmt und zu einem hageren, kränklichen Mann mutiert, der auf die Unterstützung eines Rollators angewiesen ist. Mit diesem Gehwegporsche ist er auch in seiner weitläufigen Wohnung unterwegs. Xaver darf sich glücklich schätzen, dass sein Haus mit einem komfortablen Aufzug ausgestattet ist. Ohne diesen hätte er bereits vor Jahren aus seiner luxuriösen Behausung unter dem Dach in eine wesentlich kleinere Wohnung im Erdgeschoss umziehen müssen.
Xaver lebt im Hier und Heute und bewegt sich als Realist durch sein Leben. Er schwelgt nicht in Erinnerungen und jammert nicht irgendwelchen Versäumnissen nach. Xaver Armbruster hat sein Leben gelebt und geliebt. Nun akzeptiert er seine körperlichen Gebrechen und lebt in dem klaren Bewusstsein, dass alles, was ihm nun noch im großen Konzert seines Lebens dargeboten wird, bereits zur Zugabe gehört.
Er besitzt ein stattliches Vermögen und bezieht ein ansehnliches Einkommen. So kann er sich die besten und teuersten Ärzte und Physiotherapeuten leisten.
Einmal im Jahr verschwindet er für sechs Wochen nach Bad Wildungen. Dort genießt Xaver eine Vielzahl ihm wohltuender Anwendungen, die nicht ausschließlich nur von medizinischem Fachpersonal geleistet werden. Bei verschiedenen anderen Verwöhnungsprogrammen legen dann Angehörende anderer, nicht medizinisch orientierter Berufsgruppen zu seiner vollen Zufriedenheit Hand bei ihm an.
Nachdem er auch das tägliche Sudoku aus der Tageszeitung gelöst hat, räumt er sorgfältig den Frühstückstisch ab und verschwindet mit Unterstützung seiner Gehhilfe, der er den Namen Willi verpasst hat, in sein Arbeitszimmer. Für ihn bedeutet dieses Büro ein Refugium, ja so eine Art heile Welt. Er parkt seinen Willi neben dem hochmodernen Schreibtischsessel. Dieses Hightech-Teil lässt sich in allen Richtungen mehrfach elektrisch verstellen und nimmt damit Rücksicht auf seine geschundenen Bandscheiben. Auf diesem Stuhl nimmt er nun Platz und sieht dann seinen riesigen Schreibtisch, der sich elektrisch in der Höhe verstellen lässt, vor sich. Unter dem Tisch arbeitet ein höchst professioneller PC, und vor ihm auf dem Schreibtisch leuchtet ein riesengroßer Monitor. Als Hintergrundbild hat er eine beeindruckende Aufnahme der Münchener Allianz-Arena ausgewählt. An den Wänden stehen ultramoderne, halbhohe Aktenschränke, zu denen er bequem auf seinem Stuhl rollen kann.
Das hier ist Xavers Revier. Jede Akte befindet sich dort, wo sie nach seiner Meinung zu stehen hat. Falls irgendein Beleg oder Nachweis aus den Akten einzusehen ist, reicht ein Griff und das Thema ist erledigt. Xaver beherrscht eine Unmenge von Anwendungsprogrammen. Seine EDV-Kenntnisse würden manchen Fachmann in Erstaunen versetzen.
Innerhalb weniger Stunden hat er sein Zahlenwerk erledigt. Nachdem der Drucker die Hausabrechnungen ausgespuckt hat, werden sie fein säuberlich kuvertiert. Xaver wird sie, wenn er gleich mit Willis Unterstützung rüber zum Gasthof zur Krone wackeln wird, unten in der Briefkastenanlage verteilen. In der Krone ist er mittäglicher Stammgast. Dort nimmt er seine Mahlzeiten ein und pflegt, wenn auch nur in einem sehr eingeschränkten Umfang, seine wenigen Sozialkontakte.
Als Xaver aus seiner Wohnung auf den Flur tritt, wartet vor dem Fahrstuhl, der unmittelbar gegenüber seiner Wohnungstür seine Fahrgäste aufnimmt, bereits Tobias Kerner. Tobias Kerner hat die Wohnung gemietet, die sich am Ende des Flures zu Xavers linker Hand befindet. Er ist der dienstälteste Mieter der Rosengasse 17. Seit bereits achtzehn Jahren lebt und arbeitet Kerner in Xavers unmittelbarer Nachbarschaft. Er betreibt, wie man es heutzutage so schön nennt, ein Homeoffice. Verschiedene namhafte Verlage nehmen Kerners Dienste als Lektor in Anspruch. Zudem betätigt er sich als Übersetzer. In diesem Bereich hat er sich auf Wirtschaftsenglisch spezialisiert. Der alleinstehende Kerner kann sich von den Honorareinnahmen offenbar gut ernähren. Das zumindest zeigen die einhundertzwanzig Kilogramm, die der ein Meter siebzig große, zweiundvierzig Jahre alte Bursche auf die Waage bringt.
Obwohl die beiden seit vielen Jahren Tür an Tür leben, ging ihr Kontakt nie über freundliche Grüße im Vorbeigehen auf dem Flur oder im Aufzug hinaus. Man schätzt und man akzeptiert sich. Nicht mehr und nicht weniger.
Anders verhält sich das allerdings mit der Mieterin, die am Ende des Flures zu Xavers rechter Hand lebt. Jennifer Habestolz, eine betörend hübsche, junge Frau, wohnt seit einem Jahr in der Rosengasse 17.
„Guten Tag Herr Armbruster.“
„Guten Tag, Herr Kerner. Heute geht´s mal wieder nach München?“
„Ja, wie jeden Montag, Herr Armbruster. Bitte nach Ihnen.“ „Danke, Herr Kerner.“
„Gerne.“
Nachdem der Fahrstuhl die beiden Fahrgäste ins Erdgeschoss entlassen hat, verabschieden sich die zwei ebenso einsilbig, wie sie sich wenige Augenblicke zuvor im Dachgeschoss begrüßt haben.
Xaver verteilt die Nebenkostenabrechnungen in den jeweiligen Briefkästen. Dabei achtet er äußerst sorgfältig darauf, keine zu verwechseln. Da es leicht regnet, ist er in einen Regenponcho gehüllt, den er nun über seinen Willi stülpt, damit seine Hände ebenfalls trocken bleiben. So geschützt verlässt er das Haus in der Rosengasse 17. Sein Ziel, der Gasthof zur Krone, erfordert nur einen kurzen Weg von wenigen Minuten. Soweit er das in Erinnerung hat, stehen heute Leberknödel mit gestampften Kartoffeln und Sauerkraut auf der Tageskarte.
Montag, 4. März 17.00 Uhr
Gegen 17 Uhr hält ein dunkelroter Golf vor dem Hauseingang in der Rosengasse 17. Die Beifahrertür öffnet sich, ein gut aussehender Mann entsteigt flink dem Fahrzeug und begibt sich rasch zur Heckklappe des Wagens. Offenbar vom Fahrer gesteuert, surrt die Heckklappe hoch, und Adrian Moslechner entnimmt eine Kiste Bier. Danach schließt die Klappe, das Fahrzeug entfernt sich, und Adrian Moslechner trägt die Bierkiste durch den Hauseingang und stellt sich und die Kiste vor den Fahrstuhl.
Normalerweise benutzt Adrian nicht den Aufzug. Die sechzehn Stufen zu seiner Wohnung im ersten Stock bewältigt der junge Mann locker schnellen Schrittes. Heute aber hatte er einen sehr harten Arbeitstag in der Schreinerei und ist zudem mit einer Bierkiste beschwert.
Über der Tür des Aufzuges leuchtet die Zwei. Adrian drückt den Knopf, um den Lift ins Erdgeschoss zu schicken. Ein leises Surren ist zu vernehmen. Wenige Augenblicke später öffnet sich die zweigeteilte Schiebetür. Eine Hälfte verschwindet in der rechten, die andere in der linken Wand. Adrian verschlägt es den Atem! Der Blick in den Aufzug lässt ihn erschauern. So etwas hat er noch nie gesehen. Auf dem Boden sitzt, mit dem Rücken an die Fahrstuhlwand gelehnt, Xaver Armbruster. Seine hellblauen Augen sind halb geöffnet. Ebenso der Mund. Xaver bietet beim ersten Hinsehen ein friedliches Bild. Wenn da nur nicht dieses riesengroße Kochmesser wäre, das in seinem Herzen steckt. Auf dem hellgrauen Pulli hat sich ein fast kreisrunder großer Blutfleck gebildet und bringt etwas Farbe in das ansonsten graue Erscheinungsbild. Auf dem Boden erkennt Adrian einen zerknüllten Regenponcho. Neben Xaver liegt Willi, sein Rollator. Aus der Seitentasche der Gehhilfe ragt eine Weinflasche heraus. Adrian gerät in eine Art Schockstarre. Aus dieser wird er urplötzlich gerissen, als die Lifttüren den Versuch unternehmen, sich aus der Wand zu schieben. Beherzt setzt Adrian einen Fuß dazwischen, greift gleichzeitig zu seinem Smartphone, wählt 1 1 2 und schaut wie ferngesteuert auf die Uhr seines Handys: 17.03 Uhr. Als er die Stimme einer Mitarbeiterin der Notrufzentrale vernimmt, meldet er vollkommen emotionslos:
„Guten Tag. Mein Name ist Adrian Moslechner. Ich stehe im Flur des Hauses in der Rosengasse 17. Bitte schicken Sie einen Notarzt. Vor mir liegt eine männliche Person, die offenbar erstochen wurde. Ich halte es für angebracht, dass auch die Polizei verständigt wird.“
„Ich werde alles veranlassen, bleiben Sie bitte dort, wo Sie jetzt sind.“
„In Ordnung.“
Dann schiebt Adrian die Bierkiste vor die linke Fahrstuhltür, um diese zu blockieren. Bereits acht Minuten später hört er Martinshörner. Ein Krankenwagen und der Notarztwagen halten fast zeitgleich vor dem Haus Rosengasse 17. Als Erster erscheint der Notarzt Dr. Julius Bremser, gefolgt von zwei Rettungssanitätern.
Dr. Bremser untersucht Xaver sehr sorgfältig. Währenddessen erscheinen Polizeimeister Thorsten Bertkau und Polizeiobermeister Friedel Rauscher. Der Notarzt schüttelt nur den Kopf:
„Wir sind leider zu spät. Der Gute benötigt keinen Krankenwagen mehr. Ihr könnt den großen schwarzen Kombi mit den hübschen weißen Gardinen bestellen.“
Polizeiobermeister Friedel Rauscher greift zu seinem Mobiltelefon.
„Ja hallo, Rauscher hier. Ich melde einen Leichenfund in der Rosengasse 17. Vermutlich Tötungsdelikt. Bitte schicken Sie das ganz große Orchester. Aber wirklich. Das ganz Große! Danke, Tschüss!“
Dann wendet er sich zu Adrian.
„Guten Tag, Polizeiobermeister Friedel Rauscher. Haben Sie den Toten gefunden?“
„Ja.“
„Wie ist Ihr Name bitte?“
„Adrian Moslechner. Ich wohne hier im ersten Stock.“
„Kennen Sie den Toten?“
„Ja, das ist der Hauseigentümer, Xaver Armbruster. Er wohnt oben im Dachgeschoss.“
„Er wohnte.“
„Ach ja, natürlich.“
„Ich vermute mal, das dort ist Ihre Bierkiste, richtig?“
„Richtig.“
„Dann erzählen Sie mal.“
„Ja, so fürchterlich viel zu erzählen gibt es da nicht. Normalerweise nehme ich nie den Lift. Aber, auch wegen der Bierkiste, wollte ich heute mal den Aufzug nehmen. Als ich hier ankam, stand der Lift im zweiten Stock. Ich habe ihn angefordert, und als sich die Türen öffneten, bot sich mir dieses grauenvolle Bild.“
„Haben Sie den Aufzug betreten oder irgendetwas berührt?“
„Nein, außer diesen Knopf, um den Aufzug nach unten zu holen.“
„Wollten Sie keine erste Hilfe leisten?“
„Welche Hilfe sollte das sein? Ein bewegungsloser Mensch mit einem Messer im Herzen! Ich habe sofort den Notarzt gerufen. Das erschien mir in dieser Situation das einzig Richtige.“
„Gibt es neben dieser Eingangstür auch eine andere Möglichkeit, das Haus zu betreten oder zu verlassen?“
„Nein.“
„Okay. Wir müssen erst einmal den Fundort absperren, bis die komplette Mannschaft bei uns eintrifft. Warten Sie bitte hier, fassen Sie nichts an und halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.
„In Ordnung.“
„Ach ja Herr Moslechner. Eine Frage hätte ich noch. Hat Herr Armbruster Angehörige?“
„Er ist Witwer. Aber Herr Armbruster hat einen Sohn. Soweit ich weiß, wohnt der Sohn in München. Seine Adresse kenne ich allerdings nicht.“
„Danke!“
So nach und nach füllt sich das Treppenhaus. Die Damen und Herren der Spurensicherung in ihren weißen Overalls verleihen dem Ganzen eine fast gespenstische Atmosphäre.
Etwas abseits stehend, schaut Adrian dem für ihn völlig fremden Treiben fasziniert zu. Solche Szenen kannte er bisher nur aus dem Fernsehen. Zwei Herren in Zivil treten ins Treppenhaus und schauen höchst interessiert in den Aufzug.
Einer von ihnen wendet sich an einen der beiden Overallträger, die im Aufzug mit ihren Untersuchungen und Spurensicherungen beschäftigt sind.
„Hallo Manfred, bist du mal wieder im Ganzkörperkondom unterwegs? Ich hätte dich fast nicht erkannt.“
„Ach, schau an, unser Lord. Schön, dich mal wieder zu sehen.“
Bei dem als Lord titulierten Beamten handelt es sich um Kriminalrat Dr. Edelbert von Gutmanson. Der promovierte Jurist passt in keines der für Kriminalkommissare üblichen Klischees. Dr. Edelbert von Gutmanson stellt, wie man es so schön formuliert, etwas dar. Er sieht aus, wie sein Name dies vermuten lässt: edel! Seine schlanke, sportliche Figur, seine markanten Gesichtszüge und sein wundervolles, dickes, leicht gelocktes, im Ansatz bereits ergrautes Haar, das ihm fast bis zur Schulter reicht, verleihen ihm einen ausgesprochen aristokratischen und würdevollen Ausdruck. Den Spitznamen Lord, den er übrigens gerne vernimmt, verdankt er seiner, ja fast schon krankhaft anmutenden, ausgeprägten Anglophilie. Nur das, was von der Insel kommt, ist wirklich gut. Es versteht sich von selbst, dass seine Kleidungsstücke, Schuhe und Accessoires very british daherkommen. Zu diesem Zweck gönnt er sich gelegentlich einen Flug nach London. Dort lenkt er dann seine Schritte in die Jermyn-Street und lässt sich bei Turnbull & Asser Hemden schneidern. Schließlich werden ja auch die James-Bond-Darsteller von diesem Edelschneider ausgestattet. Ein Besuch bei Ede And Ravenscroft in der Chancery-Lane, deren Maßanzüge auch von den Mitgliedern des englischen Königshauses geschätzt werden, darf ebenso nicht fehlen wie die Anprobe bei John Lobb in der St. Jame´s Street, dessen Maßschuhe Kultstatus besitzen.
Heute trägt der Lord einen perfekt sitzenden dunkelgrauen Flanellanzug, den er sich bei Gieves And Hawkes in der legendären Savile Row No. 1 auf den Leib schneidern ließ. Das dunkelblaue Hemd von Turnbull & Asser sowie die damit harmonierenden dunkelblauen Schuhe von John Lobb runden das edle Erscheinungsbild eines Aristokraten ab.
Egal, wo und wann Dr. Edelbert von Gutmanson auftritt, sind ihm die bewundernden Blicke der Anwesenden sicher, insbesondere, wenn sie weiblichen Geschlechts sind. Der Kriminalrat bewegt sich auf der Sonnenseite des Lebens. Seine sehr wohlhabenden Eltern hinterließen ihm ein ansehnliches Vermögen. Im Grunde könnte der Lord die Früchte seiner Erbschaft genießen, ohne sich mit so nebensächlichen Dingen wie Arbeit belasten zu müssen. Seine Beamtenvergütung läuft bei ihm unter der Rubrik Taschengeld. Das Landesamt für Finanzen, das für die Zahlung seiner Bezüge zuständig ist, wird von ihm scherzhaft als Landestaschengeldkasse tituliert. Gleichwohl ist der Lord mit Leib und Seele bei der Sache und geht in seinem Beruf förmlich auf. Dabei kommt ihm die Tatsache, dass er ledig ist, natürlich sehr entgegen.
„So auf den ersten Blick haben wir es mit einem entzückenden Mord zu tun, oder liege ich da falsch, Manfred?“
„Nun, euer Lordschaft, vieles spricht dafür. Das Messer steckt mitten im Herzen und hat es vermutlich vollständig durchstochen. Der Notarzt erklärte, dass das Opfer wahrscheinlich sofort tot war. Also: Unglücksfälle sehen anders aus. Selbsttötung können wir auch ausschließen. Da muss schon jemand kräftig nachgeholfen haben. Ja, euer Lordschaft, da wurde dir wohl mal wieder ein schöner Mordfall serviert.“
„Sag doch bitte, Manfred: Mit wie vielen Leuten ist deine Truppe hier aufmarschiert?“
Manfred Sedlmeier, ein leitender Mitarbeiter der Spurensicherung, stieß fast zeitgleich mit Dr. Edelbert von Gutmanson zur örtlichen Kriminalpolizei. Beide sind befreundet und treffen sich hin und wieder auf ein Glas Bier. Im Gegensatz zu Gutmanson ist Sedlmeier allerdings verheiratet und hat zwei liebenswerte Töchter im Alter von sechs und acht Jahren.
„Wir sind zu fünft. Klaus und ich hier im Aufzug und drei weitere Leute untersuchen das Treppenhaus, damit die Bewohner es bald wieder benutzen können.“
„Okay, danke.“
Dann greift Dr. Edelbert von Gutmanson zu seinem Smartphone. „Hallo, Gutmanson hier. Ich brauche Verstärkung. Schickt mir bitte sofort zwei zusätzliche Personen von der Spurensicherung. Wir müssen so rasch wie möglich die Wohnung des Getöteten durchsuchen. Danke, bye.“
Dann wendet sich Gutmanson an seinen Kollegen Rufus Schollmeier.
„Rufus, schau doch bitte mal im Haus nach, wer von den Mietern anzutreffen ist, und stelle bitte die üblichen Fragen. Danke!“
Anschließend schreitet er zu dem abseits stehenden Adrian Moslechner.
„Guten Tag. Kriminalrat Gutmanson. Sie sind Herr Moslechner? Wie mein Kollege Friedel Rauscher mir sagte, haben Sie den armen Herrn Armbruster so aufgefunden. Nach Ihrer Aussage befand sich der Aufzug im zweiten Stock. Ist das zutreffend?“
„Genau, das habe ich ja auch schon dem Polizisten gesagt.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als Sie auf den Aufzug gewartet haben? Haben Sie etwas Auffälliges gesehen oder gehört? Ist Ihnen jemand begegnet, als Sie in das Haus gingen? War irgendetwas anders als sonst?“
„Ein Freund hatte mich mit seinem Auto vor der Tür abgesetzt. Ich habe dann die Kiste Bier (er zeigt zum Aufzug) aus dem Kofferraum genommen und bin anschließend durch die offene Haustür zum Lift gegangen. Ich habe weder einen der Bewohner im Fenster gesehen noch irgendjemand auf dem Gehsteig oder hier im Flur bemerkt.“
„Sie wohnen hier im Haus. Kannten Sie Herrn Armbruster näher?“
„Seit sechs Jahren lebe ich in der Wohnung im ersten Stock. Ich bin Schreinermeister und hatte für Herrn Armbruster ein Weinregal für seinen Keller gefertigt. Zu dieser Zeit lebte ich in Scheidung und war auf der Suche nach einer Wohnung. Herr Armbruster hat mir damals die Wohnung angeboten, die wegen des Todes einer alleinstehenden Dame frei geworden war. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen: So richtigen Kontakt mit ihm hatte ich nie. Wenn man sich im Flur traf, hat man sich gegrüßt. Das war´s aber auch schon.“
„Wissen Sie denn, ob der Tote zu den anderen Mitbewohnern näheren Kontakt oder tiefere Beziehungen hatte?“
„In diesem Haus wohnen, wie nennt man das so schön, sieben Parteien. Von denen geht jeder mehr oder weniger seinen eigenen Weg. Mir ist nicht bekannt, dass hier tiefere Beziehungen oder gar Freundschaften zwischen den Mietern untereinander bestehen. Aber das sollten Sie dann lieber die übrigen Mitbewohner fragen. Vielleicht ist ja etwas an mir vorbeigegangen.“
„Können Sie denn etwas über den Charakter oder die Umgangsformen von Herrn Armbruster sagen?“
„Nun ja, über die wenigen Kontakte, die ich mit ihm hatte, kann ich nur Positives erwähnen. Er war stets höflich und freundlich. Wenn in der Wohnung mal etwas zu reparieren war, hat er sich umgehend darum gekümmert und die entsprechenden Handwerker beauftragt. Aber wie gesagt: Xaver Armbruster hat nicht unbedingt die Nähe anderer gesucht. Soviel ich weiß, ging er regelmäßig rüber in die Krone. Vielleicht war er dort gesprächiger.“
„Herr Moslechner, vorerst einmal vielen Dank. Wir müssen Sie in den nächsten Tagen zu uns bitten, um Ihre Aussage zu unterzeichnen. Steht dem etwas entgegen?“
„Nein, Herr Kommissar. Meine Urlaubsplanungen liegen in weiter Ferne. Darf ich jetzt in meine Wohnung?“
Dr. Edelbert von Gutmanson ruft mit lauter Stimme ins Treppenhaus: „Wie weit seid ihr mit der Spurensicherung?“
„Das braucht etwas Zeit. In etwa einer Stunde können wir die erste Etage freigeben.“
„Sie hören es, Herr Moslechner.“
„Schon gut. Dann erledige ich in der Zwischenzeit ein paar Einkäufe in der Nachbarschaft.“
„Hallo, Lord, du benötigst Verstärkung?“
Die beiden angeforderten Kolleginnen von der Spurensicherung sind soeben eingetroffen.
„Hallo, meine bildhübschen Ladys, das ging aber rasch. Ihr seid die Schnellsten. Wenn andere noch gähnen, seid ihr schon am Schlafen. Wir müssen unbedingt die Wohnung des Getöteten untersuchen. Oben im Dachgeschoss. Name Armbruster.“
„Wie kommen wir dort hinein?“
„Gute Frage!“
Dann meldet sich Manfred Sedlmeier aus dem Lift zu Wort:
„Normalerweise benutzt man zum Öffnen einer Tür einen Schlüssel. Oder ist das heutzutage nicht mehr modern? In der Hosentasche des Toten habe ich zwei Schlüssel gefunden. Ich vermute mal, der eine passt zur Wohnungstür und der andere wird für den Keller sein. Die spurensicherungstechnischen Untersuchungen haben die Schlüssel schon hinter sich. Also fasst sie mit Handschuhen an und tütet sie anschließend ein.“
Dann fährt Sedlmeier fort:
„Wir sind hier ohnehin fast durch. Es fehlt nur noch die Punktewolke. Du wolltest sie ja unbedingt haben, nicht wahr, Lord?“
„Ja, ich bestehe darauf.“
Die Punktewolke ist ein Begriff aus der Kriminaltechnik. Die Spurensicherung macht mittels eines laserstrahlunterstützten Scanners eine 3-D-Aufnahme des Tatortes. In exakt einer Minute und einundvierzig Sekunden erzeugt dieser Scanner eine sogenannte Punktewolke. Mit dieser Aufnahme wird der Tatort quasi konserviert. Somit wird der Tatort mit allen Details, seien sie auch noch so winzig, erfasst und kann später im Rahmen der weiteren Ermittlungen immer wieder eingesehen werden. Aufgrund der dreidimensionalen Aufnahmen können die Ermittler die Lage und die Begebenheiten am Tatort bei Bedarf rekonstruieren. Sie können sich sogar im Tatort bewegen und unter verschiedenen Perspektiven wählen.
Während Sedlmeier den Scanner in Position bringt, erscheint Polizeimeister Thorsten Bertkau.
„Lord, vor der Eingangstür wartet eine junge Frau. Sie behauptet, sie wohne hier und möchte in ihre Wohnung.“
„Danke Thorsten, ich komme sofort.“
Gutmanson verlässt den Flur und tritt auf den Gehsteig vor die Haustür. Vor ihm steht eine atemberaubend attraktive junge Frau. Ihr hautenger, schwarzer Gymnastikanzug steht in einem aufregenden farblichen Kontrast zu ihren hennaroten, kurzen Locken. Ihre beeindruckenden femininen Konturen werden durch die Enge des Anzuges wirkungsvoll in Szene gesetzt.
„Guten Tag, Kriminalrat Gutmanson. Sie möchten in Ihre Wohnung? Wie ist denn Ihr Name bitte?“
„Jennifer Habestolz, ich wohne im Dachgeschoss. Was ist denn passiert?“
„Ja, liebe Frau Habestolz. In Ihre Wohnung dürfen wir Sie im Moment nicht hineinlassen. Es gab da einen bedauerlichen, unangenehmen Vorfall.“
„Bedauerlicher, unangenehmer Vorfall? Wie soll ich das verstehen?“
„Nun ja. Ihr Vermieter, Xaver Armbruster, wurde tot im Aufzug aufgefunden.“
„Ist das wirklich wahr?“
„Leider ja!“
„Nein, nein, nein!“
Jennifer Habestolz hält ihre Hände vors Gesicht und weint jämmerlich.
„Was ist denn geschehen? Ich habe ihn doch heute Mittag noch gesehen, da war er putzmunter.“
„Wann war das denn?“
„Das muss so kurz nach zwei gewesen sein. Ich hatte um 14.30 Uhr einen Termin im Nagelstudio.“
„Und wo sahen Sie Herrn Armbruster?“
„Hier, wo wir jetzt stehen. Er kam von seiner Mahlzeit in der Krone und erzählte mir, dass die Leberknödel, die er heute gegessen hat, die besten weit und breit seien.“
Dann beginnt sie wieder fürchterlich zu schluchzen.
„Aber, was ist denn passiert? Warum ist er nun tot?“
„Tja, meine liebe Frau Habestolz. Es hat den Anschein, dass der gute Herr Armbruster getötet wurde.“
„Getötet? Wer sollte denn so etwas tun? Der Mensch hat doch niemandem etwas zuleide getan.“
Und wieder bricht sie in Tränen aus.
„Ich stelle fest, dass Ihnen der Tod von Xaver Armbruster sehr zu Herzen geht. Hatten Sie näheren Kontakt zu dem Toten?“
„Näheren Kontakt? Ich wohne im Dachgeschoss unmittelbar neben ihm. Da trifft man sich schon mal und unterhält sich.“
„Andere Mitbewohner stuften den Toten eher als kontaktscheu ein. Von Ihnen hört sich das Ganze aber jetzt etwas anders an.“
„Was andere von ihm denken oder über ihn sagen, vermag ich nicht zu beurteilen. Mir gegenüber war er stets ein freundlicher älterer Herr mit guten Manieren, der immer für einen kurzen Plausch zu haben war.“
„Nun, dann halte ich das einfach mal so fest. Aber etwas anderes: Kennen Sie den Sohn des Herrn Armbruster oder wissen Sie gar, wo der wohnt?“
„Ja, Gottlieb heißt er. Er besucht seinen Vater gelegentlich. Als ich ihm einmal gemeinsam mit seinem Vater oben auf dem Flur begegnet bin, hat Xaver Armbruster ihn mir vorgestellt. Dieser Gottlieb wohnt in München. Die genaue Anschrift kann ich ihnen leider nicht nennen. Aber sein Geburtsdatum. Es ist der 17. März 1974.“
„Sie sind eine Frau, die sehr genau weiß, wie man erwachsene Männer zum Staunen bringen kann. Woher kennen Sie das Geburtsdatum eines Ihnen im Grunde fremden Menschen und behalten es im Gedächtnis?“