Rosenhain - Claire Beyer - E-Book

Rosenhain E-Book

Claire Beyer

0,0

Beschreibung

"Rosenhain" versammelt fünf wunderbare Geschichten, jede für sich ein kleines Kunstwerk in Komposition und Themenführung. Auf den ersten Blick sind es Liebesgeschichten, über die Blindheit unserer Gefühle den Partnern gegenüber. Darüber hinaus ist jede dieser wunderbaren Geschichten einem der Sinne gewidmet: In Rot geht es um das Schmecken, in Kapitelle um das Sehen, dann folgen das Riechen, Fühlen und Hören. Die sechste Erzählung beschreibt schließlich das Denken. Alle fünf vorherigen Geschichten fallen hier in eins, so wie idealiter unsere fünf Sinne im Denken gebündelt werden. Die Suche nach persönlicher Wahrheit, nach dem innersten Sinn, nach der Seele vielleicht, ist hier für den Leser der letzten Geschichte intensiv, geradezu körperlich spürbar. Claire Beyer ist mit ihrem neuen Buch etwas Meisterhaftes gelungen, und der Leser geht mit geschärften Sinnen aus dieser berührenden Lektüre hervor. Die Menschen sitzen in einem zweifachen Käfig, so scheint es Claire Beyer sagen zu wollen, doch beim Lesen ihres neuen Buchs schieben sich auf wunderbare Weise die unsichtbaren Stäbe beiseite und irgendetwas berührt das Herz. Es ist die Schönheit der Sprache, die Raffinesse der Plots, vor allem aber die Liebe, die sich aus einem großen Mitgefühl für die Menschen nährt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 193

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ROSENHAIN

Rosenhain versammelt fünf wunderbare Geschichten, jede für sich ein kleines Kunstwerk in Komposition und Themenführung. Auf den ersten Blick sind es Liebesgeschichten, über die Blindheit unserer Gefühle den Partnern gegenüber. Darüber hinaus ist jede dieser Geschichten einem der Sinne gewidmet: In Rot geht es um das Schmecken, in Kapitelle um das Sehen, dann folgen das Riechen, Fühlen und Hören. Die sechste Erzählung beschreibt schließlich das Denken. Alle fünf vorherigen Geschichten fallen hier in eins, so wie idealiter unsere fünf Sinne im Denken gebündelt werden. Die Suche nach persönlicher Wahrheit, nach dem innersten Sinn, nach der Seele vielleicht, ist hier für den Leser der letzten Geschichte intensiv, geradezu körperlich spürbar.

Claire Beyer ist mit ihrem neuen Buch etwas Meisterhaftes gelungen, und der Leser geht mit geschärften Sinnen aus dieser berührenden Lektüre hervor. Die Menschen sitzen in einem zweifachen Käfig, so scheint es Claire Beyer sagen zu wollen, doch beim Lesen ihres neuen Buchs schieben sich auf wunderbare Weise die unsichtbaren Stäbe beiseite und irgendetwas berührt das Herz. Es ist die Schönheit der Sprache, die Raffinesse der Plots, vor allem aber die Liebe, die sich aus einem großen Mitgefühl für die Menschen nährt.

PRESSESTIMMEN

»Die Geschichte in der Geschichte – das ist das Konstruktionsprinzip dieses Erzählungsbandes, der erst in seinem letzten Drittel seine Struktur ganz preisgibt: Es ist ein Zyklus, in dem alle Figuren mit großer Kunstfertigkeit miteinander verbunden sind. Vermag schon jede einzelne dieser sechs Geschichten zu überzeugen und mitunter sogar zu fesseln, so erschließt sich die ganze Raffinesse Claire Beyers erst, wenn man den ganzen Band in den Blick nimmt.«

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

»Das Altmodische, Novellen- und Märchenhafte der Erzählungen gehört wie die Verweiskunst zu den Qualitäten des Buches. Die Gegenwart wird dadurch, ohne insgesamt weniger realistisch geschildert zu werden, von älteren, größeren Räumen unterzogen und eine mythische Echokammer entsteht. Zufälle oder kuriose Parallelen bekommen dadurch eine übersinnliche Dimension, die wenig mit Esoterik, um so mehr aber mit Ästhetik und Tradition zu tun hat. (…) Was bei flüchtigem Lesen wie eine Sammlung trauriger, doch harmloser Liebesgeschichten über die Sinne wirken könnte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als intelligentes Gründeln im Sinnenmeer.«

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

»Eigenartig faszinierende und in einer ungemein lyrischen Sprache verfasste literarische Miniaturen um den Aspekt Wahrnehmung.«

MURRHARDTER ZEITUNG

»Mit ihrem Prosaband bewegt sich die 54-jährige Autorin weitab von ausgetretenen erzählerischen Pfaden. Schmecken, Sehen, Riechen, Fühlen und Hören: In jeder Erzählung steht einer dieser Sinne im Vordergrund. Und die zelebriert Beyer in einer poetisch verdichteten Sprache, der die Lyrikerin deutlich anzumerken ist. Im Grunde sind alle Erzählungen des Bandes Liebesgeschichten, wenn auch sehr eigenwillige.«

SAARBRÜCKER ZEITUNG

Claire Beyer

Rosenhain

Sechs Geschichten von fünf Sinnen

Rot

Das Salz kommt von den Tränen der Fische! Der Notar Johan Bengte hatte es Bo nachgerufen, als sie schon im Flur des Nachlassgerichtes stand. Ihr sagte diese Bemerkung ebenso wenig wie alles andere, was er ihr zuvor mitgeteilt, nein, vorgetragen hatte. Denn Bengte war der Rezitator und sie seine Zuhörerin. Das Stück hieß Testamentseröffnung, er aber hatte heute kein dankbares Publikum. Bo zeigte sich weder gerührt noch demütig, noch war ein habsüchtiger Zug in ihrem Gesicht zu entdecken gewesen. Nur Ungläubigkeit, Unverständnis und Zweifel. Schnell hatte der Notar das Interesse am Spiel verloren und die Amtshandlung mit entschlossener Eile vollzogen. Sie sei Erbin. Ihr Großvater Sverre Grote habe ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, und da sie die einzig bekannte Nachfahrin sei, könne sie das Erbe annehmen – oder auch nicht. Er wippte dabei mit den Zehenspitzen, und obwohl er wieder sicher auf den Fersen landete, flogen die Papiere zu Boden. Schnell stopfte er alles in ein großes Kuvert und bemühte sich nicht einmal mehr, freundlich zu sein. Sie unterschrieb.

Bo Grote hatte ihre scheinbare Gleichgültigkeit mit einiger Mühe gespielt. Was gingen den Notar ihre Gefühle an. Sie hatte seine großspurige Generosität von Anfang an nicht gemocht, sollte er doch Ergriffenheit bei denen suchen, die ihm feuchte Blicke zuwarfen und deren Trauerkleider tausend Taschen hatten. Sie war gekommen, das Erbe abzulehnen. Dass sie es sich anders überlegt hatte, lag an ihrem Trotz. Und den Fakten.

Jetzt umklammerte sie den Umschlag, der wegen seiner Größe nicht in ihren Stoffbeutel passte, und die Neugier überkam sie wie ein wilder Hunger. Nur mit größter Anstrengung riss sie das Kuvert nicht schon unter dem Torbogen des Nachlassgerichts auf. Selbstbeherrschung hatte sie ihr Vater gelehrt, der Neugier verabscheut und es entschieden abgelehnt hatte, spontanen Wünschen nachzugeben. Wer dem Teufel auch nur den kleinen Finger reiche, verliere nicht nur die ganze Hand, sondern vor allem seine Seele. Ihr Vater fehlte ihr. Seine liebevollen Erziehungsversuche hatten oft genug an der Eisbude geendet, wo er augenzwinkernd versicherte, der Teufel meide in jedem Fall italienisches Eis, weshalb die Erfüllung solch kleiner Wünsche für die moralische Entwicklung ungefährlich sei. Er hätte gewusst, was richtig oder falsch war, und je länger sie die Straße entlanglief, desto mehr Zweifel überkamen sie, ob sie das Erbe hätte annehmen dürfen. Ihren Großvater hatte sie kaum gekannt. Als er im vergangenen Monat starb und sie das Mobiliar und die persönlichen Dinge aus seiner Blockhütte abholen musste, war ihr, als beginge sie einen Diebstahl. Man hätte die Tradition der Verbrennung persönlicher Gegenstände beibehalten sollen. Selbst wenn einem der Verstorbene nicht nahe stand, wurden Kleidungsstücke, Geschirr oder Kopfkissen zu Fetischen, die nichts als Trauer über den Tod auslösten.

Sie hat darüber den Himmel vergessen. In Norwegen schaut jeder zum Himmel, der aus dem Haus tritt. Schon die ganz Kleinen schauen nach oben und wissen, was er vorhat. Heute hat er viel vor. Seit dem Morgen türmt er Wolken übereinander und wird nicht eher damit aufhören, bis die unterste platzt, damit die Menschen den Blick senken und er sich in Ruhe neue, wunderbare Farben ausdenken kann. Es ist die Zeit, in der man in eines der Restaurants einkehrt. Davon gibt es in Trondheim viele, auch in der Kjopmannsgate. Hier ist sie oft, trifft sich mit Freunden, hatte sich auch mit den Eltern getroffen, die nicht in ihre Wohnung kommen wollten. Ihre Mutter hatte stets vorgegeben, wegen einer Tierfellallergie nicht kommen zu können, obwohl Bo nur eine Schildkröte namens Thor besaß.

Ein heftiger Regenschauer ließ Bo schneller gehen. Weil sie keinen Schirm dabeihatte, war das Kuvert vor Nässe weich geworden. Der Pub im alten Kaufmannshof hatte die Tür weit geöffnet, und in der Loggia war noch ein Tisch frei. Bo liebte es, bei Regen auf den Nidelv zu schauen. Er schien die Wassermengen von oben mit der gleichen stoischen Gelassenheit zu ertragen wie die Geschichte der Stadt.

Den nass gewordenen Umschlag legte sie neben sich auf einen Stuhl, und nachdem der Kellner ihr Kaffee gebracht hatte, löste sie vorsichtig die Schnur, die um eine Art Schneckenklammer gewunden war. Sie ertastete das kleine flache Buch, zog es hervor. Seine Farbe war rot, auf dem Umschlag stand in goldfarbenen Buchstaben auf Deutsch: Sparkassenbuch. Innen Zahlen und das Wort Zinsen, ganz unten der Betrag, den sie schon vom Notar erfahren hatte: Über sechshunderttausend Deutsche Mark. Das sind in Kronen...

Bo hatte noch immer nur eine geringe Vorstellung davon. Schnell schob sie das rote Buch ins Kuvert zurück. Der Kellner stand vor ihr, wollte wissen, was sie zu essen wünsche. Ohne in die Karte zu sehen, nannte sie ein Gericht. Aber als es serviert wurde, stocherte sie vor Nervosität ohne Appetit darin herum. Ihr Großvater sollte ein vermögender Mann gewesen sein? Davon hatte sie nichts gewusst und davon hatte sie in seiner Hütte nichts erahnen können. Klobige selbst gezimmerte Möbel, ein verrußter Ofen und über der dreibeinigen Kiefernholzkommode ein blind gewordener Spiegel. Sie hatte alles in ein Lagerhaus bringen lassen. Auch die Kleidung. Nur einen schweren Fellmantel, der im Winter auf dem Fenstersims liegen könnte, hatte sie sich mit nach Hause genommen. Bo ließ sich die Rechnung geben. Der Kellner schaute fragend auf den Teller, sie zuckte nur mit den Schultern.

Es hatte aufgehört zu regnen. Der Fluss gurgelte und schluckte jetzt doch an seinem ansteigenden Pegel. Sie begleitete ihn ein Stück weit, war in Gedanken aber bei dem Umschlag, aus dem sie bisher nur das Sparbuch hervorgeholt hatte. Jetzt erst beglückwünschte sie sich lachend dazu, das Erbe nicht ausgeschlagen zu haben. Sicher, ganz sicher hätte ihr Vater ebenso gehandelt. Vielleicht hätte er neue Kirchenbänke bauen lassen. Oder Orgelpfeifen gekauft, einige röchelten schwer unter der Feuchte, die durch das geschwärzte Holz gedrungen war. Sie ist niemandem etwas schuldig. Keiner hat ihr vor sechs Jahren geholfen, als man die Eltern nach dem Unfall fand. Bo blieb stehen. Das Sparkassenbuch stammte aus Deutschland. Großvater Sverre hatte Geld aus Deutschland bekommen. Inzwischen war sie am Busbahnhof angelangt, fuhr nach Hause, nach Lade, dem östlichen Vorort.

Bei Sissel war der rotweiße Sonnenschirm noch aufgespannt. Das bedeutete, dass ihr Laden geöffnet war. In drei runden Körben lagen Äpfel, Birnen und Bananen, daneben stand eine Kiste mit kleinen hellen Kartoffeln, und auf einem alten Fischernetz hatte sie Salat ausgebreitet, der jetzt am späten Nachmittag matt seine Blätter hängen ließ. Bo hatte jetzt doch Hunger und nahm einen Salatkopf mit. Das Herzstück wird sie ihrer Schildkröte zum Fressen geben und wie immer erstaunt dabeisitzen, wenn der kleine Thor schmatzend Teile davon abbeißt und dabei eine, wie von einer Gartenschere abgetrennte, gerade Linie zurücklässt. Den zartroten Lachs habe sie erst am Nachmittag bekommen, sagte Sissel und packte ihn ein, ohne auf das Ja von Bo zu warten. Sissel widersprach man nicht.

Gelassen biss sich Thor durch das Salatherz. Er streckte seinen alten Echsenhals hervor und krallte sich dabei in ein Teppichstück, das ihm Bo zurechtgeschnitten hatte, weil er auf den Holzdielen keinen Halt fand, was sie anrührte und ihr zugleich deutlich machte, dass eine Schildkröte nichts in einer Wohnung zu suchen hat. Thor lebte auf eine langsame Weise, verlangte gerade so viel, wie sie zu geben bereit war. Eine Freundin hatte ihn zur Pflege dagelassen und ihn nicht wieder abgeholt. Thor schien der Wechsel egal zu sein. Für Bo aber war dieses kleine gepanzerte Ding ein Grund, sich in ihrer Wohnung willkommen zu fühlen. Ihr Vater hätte es gerne gehabt, wenn sie nach dem Studium wieder ins elterliche Haus zurückgekommen wäre. Aber Bo verstand sich nicht mit ihrer Mutter. Keiner außer dem Vater verstand sich mit ihr. Als müsste sie ihrer Größe und ihrem Umfang gerecht werden, schlug oder drückte sie alles um sich herum platt und warf so große Schatten, dass nichts gedeihen konnte. Ob es sich um ihre Tochter handelte, die nicht wachsen wollte, oder die Walfischsteaks, die sie beinahe in das Holzbrett klopfte. Verschont, weil sie ihn anhimmelte, blieb der Vater. Er schwebte wie eine Feder durch das Leben der Mutter, und wenn sie ihn umarmte, tat sie es mit einer Zartheit, die Bo nie in ihr vermutet hätte. Zum tödlichen Unfall kam es, weil ein Gasrohr leckgeschlagen oder abgerissen worden war. Genau hatte sich das nicht mehr feststellen lassen, denn das Haus war völlig zerstört worden. Bo stand damals vor den Trümmern, aber wenn sie die Erinnerung daran suchte, sah sie immer nur ihren Großvater, der einen Zweig roter Beeren auf die Steine legte, dann auf sie zutrat, sich vornüber neigte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Zu der Trauerfeier, an der die Kirchengemeinde geschlossen teilnahm, kam er nicht. Ihr Vater hatte einmal gesagt, es gebe so viele Arten der Trauer, wie es die der Freude gebe.

Ihren Großvater hatte sie danach nie wieder gesehen. Zu sehr war sie mit dem Studium und später mit ihren Unterrichtsvorbereitungen beschäftigt. Beide waren sich immer fremd geblieben, über den Tod hinaus. Zu seiner Beerdigung kamen die, die jeden Tag zum Friedhof gingen, gekannt hatte sie niemanden.

Es gab keinen Grund mehr, den restlichen Inhalt des Kuverts nicht genauer zu besehen. Sie hatte gegessen, das Geschirr weggeräumt, Tee zubereitet und sich eine Decke geholt. So richtig warm wurde es nie in der Wohnung. Das rote Sparbuch lag wie ein Stein auf dem Stapel Blätter. Bo schob es zur Seite, fächerte die Papiere auf. Dokumente, darunter das Kennwort für die Bank: Das Salz kommt von den Tränen der Fische. Neben dem Testament ein gefalteter Brief. Sie glättete ihn, sah, dass er an ihren Großvater gerichtet war und von einer Frau namens Marion Hansen stammte. Ich hoffe, Sverre, stand da, du wirst das Geld, das dir zusteht, annehmen. Es gehört dir, ich habe es für dich angelegt. Alles Weitere erfährst du vom Trondheimer Notar. Wenn du mit mir reden möchtest, findest du mich unter untenstehender Adresse. Sie habe ihn sehr geliebt, lautete der Abschiedsgruß, und hoffe inständig auf Vergebung.

Thor verschlang das Salatherz, ohne Geräusche zu machen, während Bo erstaunt den Namen ihres Großvaters betrachtete und für einen Moment glaubte, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Ihn als Geliebten angesprochen zu sehen, konnte sie sich kaum vorstellen, ihn, den hageren, wortkargen Waldgänger. Sie nahm den Umschlag und sah auf das Datum. Es lagen vier Jahre zwischen dem Brief und Sverres Tod.

Bo wartete einige Tage, dann schrieb sie an jene Marion Hansen aus Hamburg, nachdem sie sich bei Johan Bengte vergewissert hatte, dass man ihr das Erbe unter keinen Umständen mehr nehmen konnte. Der Notar lächelte, als er ihr die Auskunft gab. Sie gönnte ihm den späten Triumph.

Die Antwort kam, als sie sie schon nicht mehr erwartete. Doch Monate später lag ein dickes Kuvert im Briefkasten. Bo erkannte deutsche Briefmarken und ließ sich diesmal keine Zeit, es zu öffnen. Sie las noch auf der Treppe. Liebe unbekannte Bo Grote, ich habe ihren Großvater geliebt – und diese Liebe hat mich gerettet. Hier ist meine Geschichte, unsere Geschichte war es nie und wird es nie mehr sein. Ihre Marion Hansen.

Bo begann zu lesen:

Fisch kaufte ich nur auf dem Großmarkt. In der Frühe des Morgens waren meist nur wenige Menschen unterwegs. Schichtarbeiter, die von der Arbeit auf der Werft zurückkehrten, und müde Verkäuferinnen, auch Zeitungsausträger, die mit ihren schweren Taschen schief und gebückt liefen. Ich liebte diese frühe Stunde. Wartete, bis sich die Tore des Großmarktes öffneten, stand abseits und sah zu, wie die Händler ihre Stände aufbauten. Blumen, Fische, Gewürze, Tee oder Kaffee. Die Tagesangebote standen auf Schiefertafeln notiert. Wer hier kaufte, wusste, was er wollte. Es waren Floristen und Fischhändler, Marktfrauen und Köche, wie Jasper Philip. Und auf ihn wartete ich, stand dort, wo der weiße Lieferwagen seines Hotels jeden Morgen hielt. Dieser Platz wurde freigehalten, auch ohne ein Verbotsschild. Ein dunkelhäutiger Junge, verschlafen und ernst, stand wie ich immer schon da. Er riss die Tür auf, kaum dass Jaspers Wagen angehalten hatte, trug dessen Körbe und schleppte Eisstücke zum Kühlen heran. Dafür bekam er Geld. Ich wusste nicht, wie der richtige Namen des Jungen lautete. Alle nannten ihn Earl Grey, weil er ausschließlich diese Sorte trank. Er genoss seinen Tee, und ich genoss die von Gerüchen erfüllte Luft, trank und aß sie zugleich, biss mich durch diesen großen Gewürzstrauch, bis ich den Sauerampfer, den Klee, die Pfefferminze, den frisch geräucherten Fisch, das Brot und den Honig wiederfand, all das, was auf den langen Bänken in den Obstgärten meiner Eltern aufgebaut gewesen war und wir als Kinder schmecken, riechen und kosten durften. Die Erinnerungen daran füllten meinen Korb, und noch immer glaube ich, dass meine Freude am Kochen allein der Suche und dem Wiederfinden meiner Kindheit dient. Auch Jasper Philip erinnerte mich daran, wenn er majestätisch die schmalen Wege zwischen den Ständen abschritt, deren Ware er wie ein Goldschmied auf Güte und Beschaffenheit prüfte. Nicht ich wähle den Fisch, der Fisch wählt mich,gab er an, wenn er nach seinem Geheimnis gefragt wurde. Er war bei den Händlern geachtet und gefürchtet. Schenkte er einem keine Aufmerksamkeit, tuschelten die anderen, der könne bald zumachen. Zog er einen den anderen vor, standen die Einkäufer dort in langen Reihen an. Jasper Philip war sich nur scheinbar seiner Macht nicht bewusst. Exzentrisch und eitel, entging ihm nicht eine Bemerkung während seines Rundgangs. Manchmal durfte ich in sein Küchenreich, wo er seine Auftritte zelebrierte wie ein Zauberer. Eine Taube aus dem Ärmel, ein Kaninchen? Nicht bei Jasper. Er hatte eine Gabe dafür, die Dinge auseinander zu nehmen und unerwartet neu wieder zusammenzusetzen. Seine Formel, wenn es so etwas überhaupt gab, hieß: Sieh, fühl und erneuere deine Sinne. Er bereitete ihnen einen Boden, auf dem du dich wie ein Kind erstaunt, neugierig und wohlig wieder fandest. Er lehrte das archaische Gedächtnis der Zunge und füllte es mit der Magie seiner Gewürze, und er ließ sich fürstlich dafür bezahlen.

Ein Stern mehr brachte ihn weiter nach oben, und bald waren auch jene da, die sich zuvor über ihn mokiert hatten. Auch Erik, mein ehemaliger Mann. Sprach ich ihn darauf an, gab er zur Antwort, ich würde die Spielregeln nie begreifen. Dazu müsse man in die obere Gesellschaftsschicht hineingeboren sein. Ich solle nicht kommentieren, wovon ich nichts verstünde. Was Erik aber nicht daran hinderte, mich mitzunehmen, wenn er mit Geschäftsfreunden einen Abschluss feiern konnte. Wir waren oft im Hotelrestaurant. Jasper Philip hatte es bei seiner Übernahme Homo Novus getauft. Indes gab es wirklich Neues. Das Publikum war ein anderes. Auch das Interieur. Es zeigte die deutliche Handschrift eines Innenarchitekten, der damit vertraut war, Individuelles so zu arrangieren, dass beliebige Elemente entstanden. Jeder konnte sich wohl darin fühlen, vorausgesetzt er war in der Lage, dafür zu bezahlen. Mit anderen Worten, man blieb unter sich, war zu Hause in Apricot und Chamois, in Ledersesseln und Chippendalestühlen. Edelhölzer für die Tische und Stühle, dort wo man seinen Espresso oder Aperitif einnahm, Seidentapeten an den Wänden, die in einer Stuckgalerie gipfelten, von der noch immer der Reichtum unsichtbarer Ahnen zu rieseln schien. Und dann das Personal. Man servierte virtuos, begrüßte die Gäste mehrsprachig und erstarrte ansonsten diskret in den Säulengängen, um nur keine Indiskretion zu begehen oder gar nach außen dringen zu lassen. Der Ton des Raumes war von einer künstlich gedämpften Eleganz, den Atem holte man sich aus einer Wolke von Dior und Armani, und die Worte waren temperiert, als habe man sie auf Zimmerwärme heruntergekühlt. Jeder wusste, hier tafelte man nicht, um Geschäfte zu machen, sondern um Erfolge zu feiern. Die gedrosselten oder geschärften Zahlen lagen in den Luxuslimousinen zwischen Aktendeckeln, bewacht von Chauffeuren, die stolz ihre Uniformknöpfe im Lack spiegeln ließen. Dies war meine Welt geworden, mein Ersatz für die verlorene Kindheit, die Jasper mit seinen Speisen wieder heraufbeschwören konnte, um sie mich dann nur schmerzlicher vermissen zu lassen. Eine seiner Besonderheiten war das Amuse-Gueule. Für die Frauen, ich wusste damals noch nicht, dass es nur für Einzelne galt, gab es eine feine rote Pfeffermischung darüber, den Männern wurde die schwarzgraue Variante gereicht. Ich liebte Jaspers Kunstfertigkeit, ein Gericht aussehen zu lassen, als hätte es Kandinsky gemalt, und es holte mich in die Realität zurück, dass Erik es nicht wahrnahm, weil er sich damit beschäftigte, die anderen Gäste zu taxieren: den Chefarzt der Klinik, der von Leber oder Galle oder verstopften Kanülen erzählte, oder einen fremdländischen Geschäftsmann, der sich damit brüstete, schon mehr Schusswunden gesehen zu haben als die ganze Pathologie zusammen. Und dass sich jener nicht mehr in seine Heimat getraue, weil er wohl für einige Schüsse selbst verantwortlich sei. Erik nahm den Klatsch zum Anlass, seine Gäste zu unterhalten. Nicht einer war darunter, der es mit Blicken auf den Teller belassen hätte.

Mir gegenüber hing ein goldgerahmter Spiegel. Dort saß ich und starrte das bleiche Gesicht an, das sich mir zeigte, das mir fremd war, weil ich die Farben der Augen nicht mehr erkennen konnte, wegen der Brechung des Lichts oder der Schwärze des gealterten Silbers, vielleicht auch, weil Jasper mir zu nahe gekommen war. Erik und ich hatten uns im Restaurant verabredet, dann aber kam, wie so oft, sein Anruf, er sitze fest, am Flughafen oder in irgendeinem Meeting, und komme erst anderntags. Ich ging dann immer, ohne bestellt zu haben. Dieses Mal blieb ich, vielleicht weil Jasper gerade in diesem Moment aus der Küche trat, um die Vorspeisen zu servieren. Ich ließ ihn gewähren, als er mir die Hand auf die Schulter legte und darum bat, nach dem Essen auf ihn zu warten. Mit jedem Gang wuchs meine nervöse Ungewissheit, aber ich erinnere mich noch immer an den samtigen Geschmack des Fisches. Auch daran, wie Jasper mich später hastig entkleidete, und ich daran dachte, dass er mit demselben Gesichtsausdruck einer Artischocke die gepanzerte Hülle abriss, um an das Herz zu gelangen. Am nächsten Morgen nahm er mich zum ersten Mal auf den Großmarkt mit. Er sprach während der Fahrt darüber, was am Abend auf der Menükarte stehen würde. Zwischen den Ständen bat ich ihn, mir eines seiner Kochbücher zu signieren, das ein Händler ausgelegt hatte. Er nahm es, tauchte die fein gespitzte Feder einer Taube in die Tinte des Octopus, schrieb dann Für Maria. Er ging zum Fischbecken, ließ mich stehen. Marion, sagte ich leise, aber er hörte mich schon nicht mehr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt längst einem Hummer, der mit seinem ungleich großen Scherenpaar hilflos durch die Luft fuhr. Das Buch steckte ich ein, es würde mich nicht verraten. Danach sahen wir uns öfter. Ich drängte Erik, seine Gäste in ein anderes Lokal zu führen. Er ließ, da er keinen Grund erkannte, meine Einwände nicht gelten. Steif behauptete er, kein Koch werde dem Fisch oder Fleisch so gerecht wie Jasper. Er koche wie ein Gott, und er verehre ihn.

An einem Abend kam Jasper wie immer an unseren Tisch, um seine Kochkünste feiern zu lassen. Er begegnete meinem Mann zuvorkommend, sah mich lachend an. Wieder einmal ging es um die Gewürze, deren Basis der rote Pfeffer war, wie Jasper es ausdrückte. Weitere Geheimnisse gebe er unter keinen Umständen preis. Außerdem wisse er sie selber nicht, zumindest nicht im Detail. Jasper hob theatralisch die Arme, aber keiner glaubte ihm. Damit sei doch ein gutes Geschäft zu machen. Ob Erik es war, der das sagte, weiß ich nicht mehr. Aber ich wusste, dass er immer sofort dann Witterung aufnahm, wenn sich ein Produkt noch nicht um den Erdball verbreitet hatte. Jasper wehrte ab. Die Mischung gehöre ihm, sie sei sein Kapital und mindestens genauso sicher verwahrt wie die Rezeptur von Coca Cola. Womit er endgültig Eriks Jagdfieber geweckt hatte. Von da an verbrachten wir fast jeden Abend im Homo Novus.

Wir bekamen unserenPlatz, unantastbar wie ein Chorgestühl im Dom. Die beiden wurden einander auf eine monströse Weise wichtig, jeder des anderen Konkurrent. Und für Erik bedeutete es darüber hinaus die Aufnahme in eine Kaste, die sich zur Begrüßung nur noch über die Schulter hauchte, da der Kuss auf die Wange schon Einzug gehalten hatte in die scène ordinaire. Bald vereinbarten sie, ich wurde nicht gefragt, den Urlaub gemeinsam in Norwegen zu verbringen. Erik und ich sollten vorausfahren, Jasper käme später nach, weil er sein Lokal nur für kurze Zeit schließen könne. Er besaß dort ein Ferienhaus, wir sollten in der Nachbarschaft untergebracht werden. Mit einigen Flaschen Dom Perignon wurde der Plan besiegelt. So kam ich zu Sverre, aber damals war es für mich nur Norwegen. Es war mir immer gleichgültig gewesen, wo wir die Urlaube verbrachten, weil von den Ländern, die wir im Lauf unserer Ehe besuchten, nie mehr als die Hotelanlage übrig blieb. Der Himmel würde auch dort kein anderer sein.