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»Denk immer daran, dass Rosen Dornen haben. Sie sind nicht nur schön anzusehen, sondern können Schmerz verursachen.« Die Tage der Kindheit sollten erfüllt sein von Wärme und Licht. Rosalies waren tiefschwarz. Wenn sie an ihre ersten Monate auf dieser Welt zurückdachte, verspürte sie keine Zufriedenheit in ihrem Herzen, sondern hatte einen salzigen Geschmack im Mund. In der Obhut von Vlad Dracul wurde sie von klein auf darauf trainiert, Margery im Krieg der Farben zu töten. Zwei Schwestern, die geboren wurden, um einander zu hassen, bis nur noch eine von ihnen übrig blieb. Ist Rosalie wirklich böse oder trägt sie vielleicht mehr Gutes in sich, als sie selbst glaubt?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Was zuvor geschah
Ein Dorn im Herzen
Rosenkuss
Verlassene Orte
Ein Schloss aus Rosen und Dornen
Ein geheimes Treffen
Hoch am Himmelszelt
Der heldenhafte Frosch
Die einsame Rose
Der versunkene Mond
Dornenkrone
Schlussworte der Autorin
Danksagung
Maya Shepherd
Die Grimm Chroniken 15
„Rosenkuss und Dornenkrone“
Copyright © 2019 Maya Shepherd
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Illustration „Joe“: Laura Battisti – The Artsy Fox
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor
E-Mail: [email protected]
Für meine Mama
Ich könnte mir keine bessere Oma
für meine Tochter wünschen.
Danke, dass du immer da bist!
Mittwoch, 24. Oktober 2012
9 Uhr
Ember und Philipp erreichen das Hotel Loreley in Königswinter, nachdem sie in der Nacht vor der bösen Königin und ihren Anhängern durch den Wald geflohen sind. Von der Rezeptionistin erfahren sie, dass Julia am frühen Morgen ausgecheckt hat.
Philipp bucht ihnen ein Zimmer, in dem sie sich von den Strapazen erholen können.
10 Uhr
Sowohl Will und Margery als auch Maggy und Jacob erwachen an unterschiedlichen Orten, aber zur selben Zeit von dem Fluch des Schlafenden Todes. Während Will und Margery in einem Verlies von der bösen Königin gefangen gehalten werden, befinden sich Maggy und Jacob auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses. Neben ihrem Bett findet Maggy das Hexenbuch von Baba Zima sowie Wills Medaillon. Sie schleicht sich aus ihrem Zimmer und hört ein Gespräch zwischen Jacob und den Ärzten mit an, in dem sie ihn über sein krankes Herz informieren. Sollte er keine Herztransplantation durchführen lassen, bleiben ihm nur noch wenige Wochen zu leben.
10.15 Uhr
Nachdem Philipp mit seinen Eltern telefoniert hat, treffen vier Bodyguards zu seinem Schutz ein. Gemeinsam überlegen Ember und er, wie sie die anderen Mitglieder der Vergessenen Sieben in der heutigen Zeit ausfindig machen könnten. Sie vermuten, dass Simonja bei einem Bestatter arbeiten könnte, und wollen mit der Suche nach ihr beginnen.
13 Uhr
Joe wird in einem Zimmer des Schlosses der bösen Königin gefangen gehalten. Rosalie sucht ihn auf, um von ihm Informationen über die Vergessenen Sieben zu erhalten. Nachdem Joe sich weigert, offenbart sie ihm, dass Maggy aus dem Koma erwacht ist und Rumpelstein sich auf dem Weg zu ihr befindet, um sie in seine Gewalt zu bringen.
15.45 Uhr
Maggy wird von einem Feueralarm geweckt und sieht sich mit Rumpelstein konfrontiert, der sie zu betäuben versucht. Gerade noch rechtzeitig wird er von Jacob daran gehindert. Zusammen fliehen sie aus dem Krankenhaus, dabei vertraut Jacob ihr an, dass die böse Königin nicht Mary ist, sondern diese in einem schwarzen Spiegel gefangen gehalten wird.
16 Uhr
Nachdem auch die böse Königin wieder erwacht ist, sucht sie Joe auf, um ihn zum Reden zu zwingen. Sie versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen, indem sie ihm verspricht, dass sie Maggy am Leben lassen und nur den Teil von Margery aus ihrem Herzen entfernen würde. Sie erkennt jedoch an Joes Reaktion, dass dieser nicht einmal wusste, dass seine Schwester zu den Vergessenen Sieben gehört, und somit auch nicht wissen kann, wer die anderen sind.
Joe versucht, sie mit einem Gedicht, das Jacob Maggy im Koma anvertraut hat, vom Gegenteil zu überzeugen. Als die Königin sich jedoch weigert, ihn im Tausch für sein Wissen seine Schwester sehen zu lassen, ahnt er, dass Maggy die Flucht gelungen sein muss, und hüllt sich erneut in Schweigen. Dadurch wird er für die Königin wertlos und muss um sein Leben fürchten.
17 Uhr
Will und Margery werden von Arian aus ihrer Zelle befreit. Er führt sie durch das Verlies der Schlosskommende Ramersdorf, dabei stoßen sie auf einen Sarg, in dem sich Dorians Leichnam befindet. Durch Wills Blut erwacht Dorian zu neuem Leben und vertraut seiner Tochter an, dass die böse Königin nicht ihre Mutter ist. Das ist auch der Grund, weshalb er sich ihrer Flucht nicht anschließt, sondern zurückbleibt, um die Königin zu töten.
Mittwoch,
24. Oktober 2012
Noch 7 Tage
Mittwoch, 24. Oktober 2012
18.00 Uhr
Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, ein Zimmer im ersten Stock
Joe stand kalter Schweiß auf der Stirn, als er sich vor Schmerzen auf dem Bett krümmte. Sein T-Shirt war rund um seinen Bauch dunkelrot verfärbt und auch die Decke unter ihm hatte bereits einiges abbekommen. Seitdem die Königin ihre Hand in seine Wunde gebohrt hatte, blutete es schlimmer als je zuvor.
Es war nur ein oberflächlicher Schnitt gewesen, der laut Rosalie nicht einmal hatte genäht werden müssen. Es hatte nur noch etwas geziept, wenn er sich ruhig verhielt, was in den letzten zwölf Stunden schwierig gewesen war.
Nun befand sich an der Stelle ein klaffendes Loch, das eine Schmerzwelle nach der anderen durch seinen Körper jagte. Wie durch ein Wunder war es ihm gelungen, vor der Königin den Starken zu mimen, doch jetzt fürchtete er, dass er sich bald keine Sorgen mehr darüber zu machen brauchte, dass er etwas verraten könnte, weil er noch in dieser Nacht verbluten würde.
Als er hörte, wie der Schlüssel gedreht wurde, stemmte er sich dennoch auf seine Beine und biss die Zähne zusammen. Er wollte nicht so hilflos und verzweifelt wirken, wie er sich fühlte.
Tapfer blickte er dem entgegen, was als Nächstes kommen würde.
Die Tür ging auf und Rosalie betrat den Raum – dieses Mal allein.
Er atmete unbewusst auf und sackte etwas in sich zusammen, da er von ihr keine Gefahr erwartete. Ehe er sich jedoch versah, durchschritt sie das Zimmer und knallte ihm ohne jede Vorwarnung ihre Faust mitten ins Gesicht. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, und dachte nicht einmal daran, sich zu wehren. Eine rote Flüssigkeit floss ihm aus der Nase, als er stöhnend rückwärts taumelte. Der Geschmack seines eigenen Blutes drang in seinen Mund und ließ ihn würgen.
Sie ließ ihm keinen Moment zum Verschnaufen, sondern packte ihn am Kragen und schlug ihm erneut ins Gesicht. Dieses Mal verfehlte sie sein Auge nur knapp und traf die Augenbraue darüber. Es fühlte sich an, als hätte man ihm eine Zwanzig-Kilo-Hantel direkt gegen die Stirn geknallt. Ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine sackten weg. Er wäre wie ein Sandsack zu Boden gestürzt, wenn Rosalie ihn nicht aufgefangen hätte. Sie schlang ihre Arme um seinen Oberkörper und zerrte ihn zum Bett.
Kraftlos fiel er auf die Matratze und sehnte sich nach einer Ohnmacht, um zumindest für eine Weile dem Schmerz zu entfliehen. Doch er verschluckte sich an dem Blut in seiner Kehle und rang röchelnd nach Luft.
Rosalie drehte ihn auf die Seite und klopfte ihm auf den Rücken, bis er sich erbrach. Sobald er wieder atmen konnte, sank er keuchend auf das Kissen zurück.
Alles um ihn drehte sich und er konnte nicht mehr sagen, wo es ihm am meisten wehtat. Er schämte sich nicht einmal für das Wimmern, welches seinen Lippen entwich. Vermutlich hätte er sogar geweint, wenn er dafür noch genug Energie gehabt hätte.
Von irgendwoher hörte er ein Plätschern, bevor jemand sachte seinen Kopf anhob und ihm einen kühlen Lappen in den Nacken legte. Ein Eisbeutel wurde auf seine Stirn gedrückt, der sofort für Erleichterung sorgte.
Geschickte Hände begannen, ihm mit einem nassen Tuch das Gemisch aus Blut und Erbrochenem von den Lippen zu waschen. Es waren dieselben Hände, die ihn zuvor geschlagen hatten.
»Es tut mir leid, dass ich dir wehtun musste«, entschuldigte sich Rosalie bei ihm und klang dabei aufrichtig. »Bei deinem ramponierten Gesicht wird niemand auf die Idee kommen, dass ich bei meiner Folter zu nachsichtig gewesen sein könnte.«
Mit niemand meinte sie vermutlich die böse Königin. Allerdings bezweifelte er, dass diese sich noch lange zum Narren halten lassen würde. Sie hatte bereits erkannt, wie wenig er wusste, sodass sie sich seiner bald entledigen würde, wenn er sie nicht mit einer hilfreichen Information vom Gegenteil überzeugte.
Rosalie tätschelte seine Wange. »Keine Sorge, du bist immer noch hübsch anzusehen«, zog sie ihn auf. »Die geschwollene Schläfe verleiht dir etwas Verwegenes. Frauen finden so etwas sehr anziehend.«
Ihm war nicht zum Scherzen zumute, sodass er keine Miene verzog. »Du hättest mir die Nase brechen können«, warf er ihr vor.
»Ich hätte dich töten können«, widersprach sie ihm. »Aber du hast Glück, dass ich genau weiß, was ich tue.«
Mit einem Ruck zerriss sie sein T-Shirt und legte seinen Bauch frei. Er ächzte, als sie seine Wunde berührte.
»Pssst«, machte sie sanft. »Das sind nur ein paar Stiche. Wenn ich dich genäht habe, bekommst du ein Schmerzmittel.«
Sie wartete gar nicht erst auf sein Einverständnis, sondern legte direkt mit der Desinfektion los. Er krallte sich mit beiden Händen in die Decke, als sie die Nadel durch seine Haut zog.
»Wofür?«, krächzte er verständnislos.
»Wenn du unbedingt den starken Mann spielen willst, kannst du natürlich auch auf das Schmerzmittel verzichten«, erwiderte sie und schien sich dabei ungemein witzig vorzukommen.
Joe stöhnte, als sie den zweiten Stich setzte. »Warum nähst du mich zu, wenn die Königin mich ohnehin töten wird?«, brachte er mühsam hervor.
»Du könntest ihr auch einfach sagen, was sie wissen will«, konterte Rosalie, auch wenn es sich nicht so anhörte, als ob sie den Vorschlag ernst meinen würde. Sie wusste bereits, dass Joe nichts verraten würde, und machte sich deshalb nicht die Mühe, ihn zu foltern. Es wäre sinnlos und im Gegensatz zur Königin empfand sie keine Freude dabei, anderen wehzutun.
»Warum lest ihr nicht die ›Grimm-Chroniken‹?«, fragte er sie zerknirscht, nachdem sie mit einem dritten Stich seine Wunde verschlossen hatte. Es war seine Schuld, dass sich dieses mächtige Buch nun in ihren Händen befand. Sie konnten es aber nicht gelesen haben, denn sonst hätten sie bereits gewusst, wie nutzlos er war, und sich gar nicht länger mit ihm abgegeben.
Rosalie verschwand von seiner Seite. »Du weißt doch, dass jeder es nur einmal lesen kann.«
Es überraschte ihn, dass das sogar für die Königin galt.
»Die Königin ist auf der Suche nach jemandem, der Teil der Geschichte ist, aber das Buch noch nie in den Händen hatte«, sagte sie, bevor ihre Schritte auf dem Teppichboden zu hören waren, als sie in das angrenzende Badezimmer lief und sich dort die Hände wusch.
Joe und Maggy fielen somit raus, aber was war mit Will? Wenn die Königin auch ihn in ihrer Gewalt hatte, könnte sie versuchen, ihn dazu zu bringen, ihr daraus vorzulesen? Allerdings könnte sie nie sicher sein, dass er auch wirklich das vorlas, was dort stand, und nicht vielleicht Tatsachen veränderte oder Details ausließ.
»Es gibt allerdings eine Ausnahme«, vertraute Rosalie ihm an, sobald sie wieder an seine Seite zurückgekehrt war. Die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach und sie setzte sich erneut neben ihn. »Derjenige, der die Geschichten geschrieben hat, kann sie zu jeder Zeit lesen.«
»Jacob«, murmelte Joe, denn es war kein Geheimnis. Jedes Kind kannte die Brüder Grimm. Ungewiss war nur, wie viel der Verfasser der Geschichte noch über deren Inhalt wusste, zumal sie sich von allein weiterschrieb. Jeder Gedanke fand sich in dem Buch wieder, ebenso wie dieses Gespräch. Es war für Jacob unmöglich, all dies zu wissen.
»Die Königin hat Rumpelstein losgeschickt, um deine Schwester und den Märchenschreiber zu ihr zu bringen …«
»… aber beide sind ihm entkommen«, vollendete Joe ihren Satz. Es war mehr eine Vermutung, doch ihr darauffolgendes Schweigen verriet ihm, dass er richtiglag. Er wollte nicht in der Haut des Zwerges stecken. Sicher tobte die Königin über sein Versagen.
Jacobs Flucht lieferte in gewisser Weise eine Erklärung dafür, weshalb Joe noch am Leben war – die Königin hatte noch keine bessere Informationsquelle als ihn gefunden.
»Hast du die ›Grimm-Chroniken‹ auch gelesen?«, fragte er Rosalie, auch wenn er nach allem, was er bisher von ihr erfahren hatte, davon ausgehen musste. Aber es gab viele Dinge, die er sich nicht erklären konnte. Er kannte längst nicht die ganze Geschichte, doch viele Details standen in absolutem Widerspruch zu der jetzigen Situation – allen voran die Königin. Er hatte von einer jungen Frau namens Mary gelesen, die sich verliebt hatte. Damit begann ihr Unglück und das Schicksal schien ihr einen Stein nach dem anderen in den Weg zu legen. Dennoch hatte er in keinem ihrer Kapitel einen boshaften Wesenszug an ihr feststellen können.
»Nein«, antwortete Rosalie ihm jedoch zu seiner Überraschung.
»Warum liest du sie dann nicht?«, wollte er verständnislos von ihr wissen. »Solange das Buch geöffnet bleibt, könntest du alles mitverfolgen, was geschieht, sogar dieses Gespräch.«
Warum sollte die Königin nach jemand anderem suchen, der das Buch für sie las, wenn Rosalie es genauso tun könnte? Sie standen doch auf einer Seite! Es sei denn, es gab in der Geschichte einige Punkte, die Rosalie vielleicht dazu bringen würden, sich von der Königin abzuwenden.
Er konnte ihr ansehen, dass sie den gleichen Gedanken hegte, aber nicht wagte, ihn auszusprechen. Doch das Misstrauen war bereits gesät.
»Du bist nicht dumm und weißt ganz genau, dass die Königin nur einen einzigen Grund haben kann, um dir die Geschichte vorzuenthalten«, stellte er fest. »Sie will nicht, dass du die Wahrheit kennst, weil du dich dann vielleicht gegen sie stellen würdest.«
»Warum sollte ich das tun?«, widersprach sie ihm. »Selbst wenn sie mir Dinge verheimlicht hat, gibt es doch zumindest eine unumstößliche Tatsache. Meine Eltern haben mich weggegeben, weil ich der böse Zwilling bin. Ich werde ihr Untergang sein.«
Obwohl sie es ihm nicht zeigen wollte, konnte er den Dorn sehen, der sich tief in ihr Herz gegraben hatte. Er wusste ganz genau, wie es war, sich ausgestoßen und ungeliebt zu fühlen. Es war aber offenbar nicht nur seine Lebensgeschichte, sondern auch ihre. Vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die er von Anfang bei ihr wahrgenommen und die ihn deshalb so sehr angezogen hatte.
»Du täuschst dich«, behauptete er nachdrücklich, auch wenn er sich da nicht zu hundert Prozent sicher sein konnte. Aber er brauchte nur in Rosalies Augen zu blicken, um zu wissen, dass sie in den Tiefen ihres Herzens nicht böse sein konnte. Zudem gab ihm ihr Verhalten Rätsel auf. Sie hatte gesagt, dass die Königin nicht ihre Mutter sei. Bedeutete das womöglich, dass die Königin auch nicht die Apfelprinzessin Mary war, über die er gelesen hatte? Er wusste zwar nicht, wie das möglich sein sollte, aber es würde ihren enormen charakterlichen Wandel erklären.
»Weißt du etwas?« Unsicher blickte Rosalie auf ihn herab. Eine gewisse Neugier lag in ihrer Stimme. »Du hast die ›Grimm-Chroniken‹ doch gelesen. Steht dort etwas über meine Mutter?«
»Ganze Kapitel sind aus ihrer Sicht geschrieben«, gestand Joe und konnte dabei beobachten, wie der schwache Funke der Neugier aufloderte. Es musste für das Mädchen verlockend erscheinen, dass eine Möglichkeit existierte, mit der es sich selbst von der Wahrheit überzeugen könnte. Irgendetwas in ihr sträubte sich jedoch dagegen, denn mit einem Wimpernschlag war das Interesse durch Bitterkeit ersetzt worden.
»Und trotzdem wusstest du nicht einmal, dass ich existiere.«
Vielleicht war es die Angst davor, dass alles sich wirklich so zugetragen hatte, wie man es ihr von klein auf erzählt hatte. Sicher hatte sie als Kind oft davon geträumt, dass alles nur ein Missverständnis war. Auch Joe hatte sich vorgestellt, dass seine und Maggys Eltern irgendwo verzweifelt nach ihnen suchten, weil sie Opfer einer Entführung geworden waren. Es war ein schönerer Gedanke, als sich der traurigen Wahrheit stellen zu müssen, dass man nicht erwünscht gewesen war. Durch die ›Grimm-Chroniken‹ wusste er nun, dass ihre Eltern sich nie freiwillig von ihnen getrennt hatten.
»Ich bin nicht bis zu dem Punkt deiner Geburt gekommen«, erklärte er ihr. »Aber ich habe gelesen, wie sehr sich deine Mutter gefreut hat, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hat. Sie hat dich vom ersten Augenblick an geliebt und geschworen, ihr Kind zu beschützen. Ich kann mir nicht vorstellen …«
Sie unterbrach ihn und spie nur ein einziges wütendes Wort aus: »Schneewittchen!« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihr Gesicht erstarrte zu einer hasserfüllten Fratze. »Damit meinte sie Schneewittchen – nicht mich!«
Das war die Wunde, in welcher der Dorn steckte und sich seit Jahren immer tiefer in ihre Seele grub. Wenn man ihn zog, würde es fürchterlich bluten, aber irgendwann würde sich eine Narbe bilden und der Schmerz könnte nach und nach verblassen, auch wenn er nie ganz verschwinden würde.
»Ihr Name ist Margery«, entgegnete Joe, aber es lag ihm fern, die schwarzhaarige Prinzessin zu verteidigen. Er glaubte jedoch, dass Rosalie ein falsches Bild von ihrer Schwester hatte. »Sie ist nicht so gut und rein, wie man dich vermutlich hat glauben lassen.«
Sie zog ihre linke Augenbraue hoch, denn es erstaunte sie, dass er nicht dem Schneewittchen-Fanclub angehörte, wo doch seine eigene Schwester einen Splitter von deren Herz in sich trug. »Natürlich nicht«, zischte sie. »Sie ist ein Vampir.«
»Bist du keiner?«
Sie schüttelte den Kopf. Auch das war ein weiterer Punkt, warum sie glaubte, dass ihre Schwester es immer besser im Leben getroffen hatte. »Deshalb musste ich umso härter trainieren, um es mit ihr aufnehmen zu können. Menschen sind die schwächere Rasse und dennoch wird sie keine Chance gegen mich haben.« Argwöhnisch musterte sie ihn und kam auf seine Aussage zurück. »So blutrünstig Margery auch sein mag, ist sie dennoch die Gute. Was hat sie dir angetan, dass du daran zweifelst?« Ein spöttischer Ton schlich sich in ihre Stimme. »Hat sie etwa an dir geknabbert?«
Offenbar konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre Schwester in der Lage wäre, jemandem ernsthaft Schaden zuzufügen.
»Nein«, entgegnete Joe ernst. »Sie hat meine Mutter getötet.«
Völlig überrumpelt riss Rosalie die Augen auf und starrte ihn fassungslos an. Niemals hätte sie mit so etwas gerechnet. So ähnlich hatte sich auch Joe gefühlt, als er durch die ›Grimm-Chroniken‹ hinter die Wahrheit gekommen war. Seine Mutter, Marie Hassenpflug, war in Engelland die einzige Freundin von Königin Mary gewesen. Nachdem der Vater von Hänsel und Gretel im Krieg an der Dornenhecke gefallen war, hatte Mary sich für ihre Freundin und deren zwei Kinder verantwortlich gefühlt, vielleicht auch schuldig, denn immerhin wurde der Krieg nur wegen ihrer Tochter geführt. Sie bat Marie, zu sich ins Schloss zu ziehen, um als Kindermädchen für Margery zu arbeiten. Marie hatte erst Zweifel, da sie wusste, dass Margery ein Vampir war, ließ sich dann aber doch überreden. Es war ein großer Fehler, denn Margery biss ihr beim Spiel im Schnee in den Hals und ließ nicht mehr von ihr ab, bis Marie tot war. Hänsel und Gretel mussten den Tod ihrer Mutter mit ansehen.
Joe hatte zwar keine Erinnerung an sein früheres Leben, aber als er die betreffende Stelle gelesen hatte, hatte er den Schmerz gespürt, als wäre seine Mutter erst gestern gestorben. Nein, ermordet worden! Margery hatte sie ihm genommen.
Diese Neuigkeit verschlug Rosalie die Sprache und sie versuchte, sie mit dem in Einklang zu bringen, was sie wusste. Langsam wandelte sich der erste Schock in Zuneigung, denn sie erkannte, dass auch Joe einen Grund hatte, ihre Schwester zu hassen – vielleicht sogar noch mehr als sie. Es war ihr unmöglich erschienen, dass er jemals die Seiten wechseln könnte, doch plötzlich gab es Hoffnung. Sie hatten einen gemeinsamen Feind und das machte sie in gewisser Weise zu Verbündeten.
Die Frage war nur, ob Joes Hass auf Margery größer war als die Liebe, die er für seine Schwester hegte.
Irgendwo zwischen Engelland und Transsilvanien, irgendwann zwischen 1796 – 2003
Die frühesten Erinnerungen eines Kindes sind nicht konkret, sondern eher von Sinneseindrücken bestimmt: die sanfte Stimme der Mutter, das kitzelnde Gefühl eines Lachens, der süße Plätzchenduft und die Geborgenheit von Armen, die einen in den Schlaf wiegen. Die Tage der Kindheit sollten erfüllt sein von Wärme und Licht.
Rosalies waren tiefschwarz.
Wenn sie an ihre ersten Monate auf dieser Welt zurückdachte, verspürte sie keine Zufriedenheit in ihrem Herzen, sondern hatte einen salzigen Geschmack im Mund.
Tränen sind die einzige Möglichkeit von Babys, um den Menschen in ihrem Umfeld ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Sie weinen nicht nur, wenn sie Hunger haben, sondern auch wenn sie sich nach Nähe sehnen.
Rosalie machte von Anfang an die Erfahrung, dass Tränen unerwünscht waren und nur zu Einsamkeit führten. Immer wenn sie weinte, sperrte man sie in eine dunkle Kiste, die erst geöffnet wurde, wenn sie wieder still war.
Ihre erste Zeit verbrachte sie fast ausschließlich in der Dunkelheit, bis sie in der Lage war, zu begreifen, was von ihr erwartet wurde. Danach weinte sie nie mehr.
Für ein Kind gibt es zu Beginn keinen größeren Helden als Mutter oder Vater. Sie bilden die Achse des Universums und alles scheint sich um sie zu drehen. Jede Handlung ist mit einer Erwartung auf eine Reaktion verknüpft. Sei es, um den Eltern zu gefallen oder die eigenen Grenzen auszutesten. Dabei ist es völlig gleichgültig, wie die Eltern sich verhalten, die uneingeschränkte Liebe ihres Kindes ist ihnen gewiss. Kinder urteilen nicht, denn sie können noch nicht zwischen Richtig und Falsch unterscheiden.
Rosalie hatte weder eine Mutter noch einen Vater. Ihr Universum bestand aus Männern mit bleicher Haut und schwarzer Kleidung, die ihr Essen und Trinken brachten, sie wuschen und anzogen, aber sie niemals in den Arm nahmen oder mit ihr spielten. Sie konnte die Männer nicht auseinanderhalten, sodass sie für eine Weile gar nicht merkte, dass es verschiedene waren. Für sie war es immer derselbe Mann, der nur jeden Tag ein anderes Gesicht trug.
Die meisten Kinder lernen das Sprechen, indem ihre Eltern sich mit ihnen unterhalten, ihnen Geschichten erzählen oder etwas vorsingen.
Rosalie war in Engelland im Jahr 1796 geboren worden. Sobald Vlad Dracul sie als Neugeborenes jedoch mit sich nach Transsilvanien nahm, lag eine Zeitspanne von zweihundert Jahren zwischen ihrer Herkunft und ihrer neuen Heimat.
Zweihundert Jahre, die nicht mehr als ein paar Tage auf einem Schiff bedeuteten, jedoch den Fortschritt der modernen Technik mit sich brachten. Das ermöglichte, dass ihre Sprachentwicklung weitestgehend von einem Fernsehapparat übernommen wurde, der an der Wand angebracht war und mehrere Stunden täglich lief. Zuerst faszinierten die bunten Bilder das Mädchen, die wie ein Fenster in eine andere Welt wirkten. Doch sie verlor das Interesse an ihnen, sobald sie erkannte, dass sie keinen Einfluss auf die Figuren und Menschen hatte, die sie in dem kleinen Kasten zu sehen bekam. Sie redeten nicht mit ihr, sondern waren immer nur mit sich selbst beschäftigt, als wäre Rosalie unsichtbar. Das Flackern des Bildschirms wurde zu einem brummenden Hintergrundgeräusch.
Einmal in der Woche überprüften die dunklen Männer ihren sprachlichen Fortschritt, indem sie ihr Fragen stellten. Wenn sie keine Antwort oder die falsche gab, wurde sie bestraft. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da das dreijährige Mädchen sich weder vor der Dunkelheit noch vor der Einsamkeit fürchtete, selbst das Ausschalten des Fernsehers war ihm gleichgültig. Sie sollte körperlich nicht geschwächt werden, deshalb kam auch ein Nahrungs- oder Wasserentzug nicht infrage.
Die dunklen Männer änderten ihre Taktik und begannen, sie mit kleinen Geschenken zu belohnen. Mal brachten sie ihr ein Kuscheltier, ein anderes Mal ein Bilderbuch. Der einzige Sinn in diesen Dingen bestand darin, sie ihr wieder wegnehmen zu können, wenn Rosalie ihr Missfallen erregte.
Für eine gewisse Zeit funktionierte diese Methode, doch sie verstand schnell, dass, wenn sie sich nicht für etwas begeisterte, sie es auch nicht verlieren konnte. Nach ein paar Monaten ließ sie deshalb die Spielsachen, die man ihr brachte, unangerührt in einer Zimmerecke liegen. Lieber zog sie sich in ihre eigene Fantasie zurück, denn diese gehörte ihr allein und niemand konnte sie ihr nehmen.
*2000 – 4 Jahre*
In ihren ersten Jahren wusste sie nicht, dass ihre Welt aus mehr als einem einzigen Raum bestand. Seitdem sie denken konnte, lebte sie umschlossen von diesen vier Wänden. Es gab darin keine Möbel, nicht einmal eine Bettdecke, nur eine Glühbirne und den Fernseher, dessen Bilder jedoch keine Verbindung zu ihrem eigenen Dasein zu haben schienen.
Manchmal hatte sie sich schon gefragt, wo die dunklen Männer hingingen, wenn sie den Raum verließen, aber sie hatte nicht erwartet, dass sie darauf jemals eine Antwort bekommen würde.
Es war ihr vierter Geburtstag, als sie zum ersten Mal ihrem Großvater begegnete, ohne zu wissen, wer er war. Doch sobald er ihr Zimmer betrat, erkannte sie, dass er nicht wie die anderen Männer war, obwohl seine Haut genauso blass und seine Kleidung genauso dunkel wie die der anderen war.
Es war seine Ausstrahlung. Er trug sein Kinn etwas höher, ging etwas aufrechter und seine Schritte waren etwas lauter. In seinen Augen stand Furchtlosigkeit. Rosalie war sich sicher, dass dieser Mann sich von niemandem etwas wegnehmen lassen würde.
»Hallo, Kind«, begrüßte er sie mit ausdrucksloser Miene.
So nannten sie auch die anderen Männer: Kind.
Aus dem Fernsehen wusste sie, dass Kinder dort Namen trugen, aber es war ein ferner, unerreichbarer Ort für sie. In ihrer Welt existierten nur die dunklen Männer und sie. Diese waren groß und stark, während sie klein und schwach war. Deshalb musste sie tun, was diese ihr sagten. Es war ein Gesetz, das sie bis dahin nicht infrage gestellt hatte.
Doch das Erscheinen dieses fremden Mannes irritierte sie und sorgte dafür, dass sie sich hilflos fühlte, weil sie nicht sagen konnte, was von ihr erwartet wurde.
Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufschauen zu können.
»Hallo, Mann«, antwortete sie ihm, da man ihr beigebracht hatte, dass sie nicht schweigen durfte.
»Nenn mich Vlad«, entgegnete er ihr und öffnete die Tür so weit, dass sie zum ersten Mal den Gang sehen konnte, der sich dahinter erstreckte. »Komm!«
Obwohl sie Angst vor dem Ungewissen hatte, zögerte sie nicht, seiner Anweisung zu folgen. Die Befehle der Männer mussten befolgt werden.
Hinter ihm verließ sie den Raum, der ihre Welt gewesen war, und lief mit großen Augen durch den Korridor, der von dem grellen Licht von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Es war ein bedrückender Ort mit vielen verschlossenen Türen.
Vlad bewegte sich schnell, sodass ihr kaum Zeit blieb, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie hastete hinter ihm her, wobei sie auch an einigen der dunklen Männer vorbeikamen, die beiseitetraten, um ihnen Platz zu machen.
Dieses Verhalten war für Rosalie völlig neu. Plötzlich wirkten sie nicht mehr ganz so groß und stark auf sie, denn nun gab es jemanden, dem sie auswichen. Manche der Männer überragten Vlad sogar und trotzdem neigten sie den Kopf vor ihm. Es war etwas, das Rosalie noch nicht verstehen konnte, aber sie faszinierte.
Der Gang führte zu einer Steintreppe, die vor einer weiteren Tür endete. Ohne Vorwarnung stieß Vlad diese auf und blendendes Licht schlug dem Mädchen entgegen. Erschrocken kniff sie die Augen vor der ungewohnten Helligkeit zusammen und taumelte sogar einen Schritt zurück.
Vlad gewährte ihr keinen Moment, um sich an diese Veränderung zu gewöhnen, sondern verlangte, dass sie weitergehen solle. Als sie blinzelnd in sein Gesicht blickte, erkannte sie, dass ihre Reaktion ihn verärgert hatte. Missbilligend schaute er mit zusammengekniffenen Lippen auf sie herab. Sie befürchtete, dass er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde, und holte eilig zu ihm auf.
Das Herz in ihrer Brust schlug so schnell wie nie zuvor, als sie aus dem Gemäuer trat und sich vor ihr eine ungeahnte Welt erstreckte. Dort gab es so viel zu sehen, dass sie gar nicht wusste, wohin sie als Erstes schauen sollte. Sie kannte bisher nur den grauen Stein der Wände, aber dort draußen wurde sie von einer wahren Farbenpracht überwältigt, die selbst die bunten Bilder des Fernsehens bei Weitem übertraf.
---ENDE DER LESEPROBE---