Rosie oder Die Angst vor der Liebe - Grace Wynne-Jones - E-Book
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Rosie oder Die Angst vor der Liebe E-Book

Grace Wynne-Jones

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Beschreibung

Charlie scheint der ideale Freund zum Unterschlüpfen, wenn man gerade seinen Ehemann beim Seitensprung ertappt hat. Außerdem lebt bei Charlie auch noch Rosie, eine Seele von einem Hausschwein, von dem man fürs Leben lernen kann. Ein zarter, selbstironischer Roman über Liebe, Lachen und Neubeginn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 338

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Grace Wynne-Jones

Rosie oder Die Angst vor der Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Monika Curths

FISCHER Digital

Inhalt

In Erinnerung an meine [...]«Man braucht sehr lange, [...]EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigDank

In Erinnerung an meine lieben Eltern

«Man braucht sehr lange, um jung zu werden.»

Pablo Picasso

Eins

Ich kann nicht glauben, daß ich nächsten Monat vierzig werde.

Jane Fonda meint, auf das vierzigste Lebensjahr sollte man vorbereitet sein und nicht mir nichts, dir nichts und weil es sowieso nicht zu ändern ist hineinschlittern.

Bruce hat mir ein Buch von ihr gekauft, um mich moralisch aufzubauen. Es ist kein Buch, das ich mir gekauft hätte. Ich greife eher nach Büchern mit Titeln wie Kein Grund zur Panik: Mutige Frauen verändern ihr Leben. Doch es war lieb gedacht von Bruce. Einer der gelegentlichen kleinen Beweise, daß er mich vielleicht auf seine Art immer noch liebt, obwohl von romantischer Liebe bei uns kaum noch die Rede sein kann. «Weißt du was, Jasmin», verkündete er fröhlich an unserem neunzehnten Hochzeitstag. «Eine der angenehmsten Seiten der Ehe ist, daß man mit jemandem zusammenlebt, bei dem man ungeniert furzen kann.»

Früher stieß er einen Schrei aus – «O Go-o-tt!» –, wenn er kam. Heute stöhnt er nur: «Ah». Wenn ich unter der Dusche stehe, sieht er mich kaum. Als wir jung verheiratet waren, liebte er selbst die Art, wie ich mein Diaphragma einlegte. Er fand, ich sähe dabei so konzentriert aus, als würde ich ein Modellflugzeug zusammenbauen. Nun sieht er mir gern beim Fernsehen zu, weil ich, wie er sagt, komische Gesichter schneide, ohne es zu merken.

Mir gefällt, daß er dabei seinen Spaß hat, und mir gefällt auch, daß er denkt, er könne singen, obwohl er es nicht kann. Aber das alles läßt mein Herz nicht höher schlagen. Es ist nicht das, was die Frau in Die Brücken am Fluß empfand, als Clint Eastwood plötzlich vor ihrer Haustür in Madison County stand. Man kann natürlich träumen, daß das gleiche hier in Glenageary passiert, aber leider gibt es bei uns nur jede Menge abgebrannte Brücken, und die interessieren keinen Photographen.

Seit meine Tochter Katie in Galway auf dem College ist, sind die Vormittage sehr still. Früher, wenn Katie morgens zur Schule losmarschiert war, machte ich mir, die herrliche Ruhe genießend, eine Tasse Tee und stellte das Radio an. Zeit war etwas Kostbares. Jetzt gibt es soviel davon, daß ich mir überlegen muß, was ich damit anfange.

Sicher, ich habe meine Tierschützer und die Erwachsenenbildung; es gibt den Haushalt, den Traum von dem Schauspieler Mell Nichols und die Menschen, die mir fehlen – manchmal fehle ich mir sogar selbst –, und dies alles nimmt Zeit in Anspruch.

Manchmal, wenn mir so zumute ist, gehe ich nach oben und öffne den Schrank, in dem ich Katies Spielsachen aufbewahre. Einige habe ich verschenkt, aber unsere Lieblingsstücke habe ich behalten. Ich ziehe das kleine Huhn auf und schaue ihm zu, wie es pickend über den Teppich wackelt und umfällt, und dann nehme ich Teddy in den Arm und sage ihm, daß er sich nicht einsam fühlen soll und daß ich ihn immer noch liebhabe.

Ich glaube, niemand würde mir solche Verrücktheiten ansehen. Anscheinend wirke ich ruhig und heiter und keineswegs sentimental oder versponnen. Das Problem ist nur, daß ich das Gefühl habe, dies alles nicht länger für mich behalten zu können.

Ich fürchte, ich habe ein Leck bekommen.

Es ist Zeit für meinen Morgentee. Ich setze den Teekessel auf und schalte das Radio ein. Eine Frau redet über ihren Mann, der in die Badewanne pinkelt. Dann kommen Nachrichten, und mir fällt ein, daß ich mich um elf mit Susan und Anne treffe. Ich überlege, ob ich mich umziehen soll, aber weil die Zeit dazu nicht mehr reicht, lasse ich die Jeans an.

Ich habe Susan seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie hat in Afrika als Krankenschwester gearbeitet und das abenteuerliche Wanderleben geführt, das auch ich immer führen wollte. Im Grunde will ich sie nicht sehen.

«Hallo Susan – großartig, dich wiederzusehen!» sage ich, als sie die Tür ihrer Wohnung mit Garten in Ballsbridge öffnet. Sie trägt Jeans und sieht wundervoll aus. Sie hat noch die gleiche Frisur wie früher, aber sie kann es sich leisten; ihr Haar ist dunkel und voll. Sie dreht es zu einem Knäuel, aus dem sich einzelne Strähnen und Löckchen lösen und ihr hübsches, nachdenkliches Gesicht umrahmen.

«Wundervoll, dich wiederzusehen!» ruft sie und umarmt mich herzlich. «Anne ist schon hier.» Ich winke Anne zu, die auf einem Sofa mit hellem Baumwollbezug sitzt, umgeben von Kissen mit handgewebten, orientalisch gemusterten Bezügen. Sie sitzt dort wie ein Spatz, der sich in einen tropischen Garten verirrt hat.

Susan, Anne und ich waren zusammen in der Schule. Susan ging nach ihrer Krankenschwesterausbildung auf Reisen, aber sie schrieb uns regelmäßig, und natürlich war Anne auf meiner und ich auf Annes Hochzeit. Danach trennten sich unsere Wege.

Und nun hat Susan ein Wiedersehen arrangiert, weil sie die Art von Person ist, die so etwas tut. Obwohl ich weiß, daß es lustig sein könnte, den Tag noch einmal aufleben zu lassen, als wir die Schule schwänzten, um Vom Winde verweht in der vordersten Reihe zu sehen, so daß wir Rhett Butlers Atem zu spüren glaubten, ist das erste, was mir einfällt, als ich neben Anne auf dem hellen Sofa Platz nehme, der Mann, der in die Badewanne uriniert.

«Hat eine von euch heute morgen Radio gehört?» sage ich, während ich mich in dem sonnendurchfluteten Zimmer umsehe, das geräumig ist und in einer Farbe gestrichen, von der ich nicht einmal wußte, daß es sie gibt, geschweige denn, daß sie sich gut macht – ein Zimmer voller afrikanischer Artefakte und einer kleinen persönlichen Note da und dort. «Diese Frau, die von ihrem Mann erzählt hat …?»

«… der eine Affäre mit seiner Fußpflegerin hat?» fragt Anne.

«Nein – der in die Badewanne pinkelt, wenn er betrunken ist.»

«O ja – weil sie leichter anzupeilen ist.» Anne lacht irgendwie hohl.

Und ehe wir uns versehen, sprechen wir nicht über all die aufregenden Dinge, die Susan in Afrika erlebt hat oder wie ich zur Erwachsenenbildung und zu den Tierschützern kam oder Anne eine Montessorilehrerin wurde. Nein, wir reden über Männer – ihren Egoismus und ihren Gefühlstourismus; daß sie selten wissen, wo die Wäscheklammern zu finden sind oder die Klitoris; daß sie wacker fummeln und man ihnen am Ende doch alles sagen muß.

Anne und ich reden über Männer, während Susan, die ledig geblieben ist, höflich zuhört.

«Er sagt ständig: ‹Was soll ich denn tun?›» Anne spricht von ihrem Mann.

«Typisch», sage ich.

«Ich will nur, daß er mir einmal zuhört, daß er versucht zu verstehen.»

«Genau.»

«Ich meine, Gefühle sind keine Autos, oder?»

«Nein, nein.»

«Du kannst nicht einfach die Motorhaube hochklappen und ein bißchen Öl nachfüllen.»

«Richtig.»

Plötzlich springt Susan von ihrem marokkanischen Sitzkissen auf und sagt: «Entschuldigt, daß ich euch unterbreche, aber möchtet ihr Tee oder Kaffee?»

«Tee, bitte», sage ich.

«Ich auch», sagt Anne.

Ich sehe, daß Susan gelangweilt ist, so zielstrebig wie sie ihre Küche ansteuert. Und dann geschieht etwas Komisches. Ich merke plötzlich, daß ich auch gelangweilt bin. Extrem gelangweilt. Ich führe diese Gespräche mit Frauen wie Anne seit Jahren, und sie scheinen nie zu irgend etwas zu führen. Wenn ich heute vormittag noch ein Wort über Männer sagen muß, wird mein Kopf wie ein Zementblock auf den Sofatisch fallen.

Ich stehe auf und gehe im Zimmer umher. «Wie ich gesagt habe …» Anne kommt jetzt so richtig in Fahrt. «Er scheint nie zuzuhören.»

Ich gehe zum Kamin und nehme eine afrikanische Holzplastik vom Sims, eine Frau mit riesigen Brüsten.

Dann kommt Susan mit dem Tee, und wir reden über Afrika, bis ich herausplatze: «Ich werde nächsten Monat vierzig.»

«Du liebe Zeit! Natürlich! Wie gut, daß du mich erinnerst», ruft Susan.

Früher haben wir Geburtstagsbücher geführt. Wir kannten das Alter und die Geburtstage von jedem einschließlich unserer Goldhamster und Hunde.

«Ich darf nicht vergessen, ein Geschenk für dich zu besorgen», fährt Susan fort.

«Oh, das ist wirklich nicht nötig», sage ich verlegen und dankbar.

«Natürlich ist es nötig», sagt Anne. «Weißt du was, Jasmin? Du hast dich kein bißchen verändert.»

Ich drehe an meinem türkischen Vexierring und lächle über den Blödsinn, den Freundinnen manchmal zueinander sagen. Dann sagt Susan beiläufig: «Ich habe gelesen, daß Mell Nichols hier einen Film dreht.»

«Mell Nichols ist hier – hier in Irland?» Ich verschütte beinahe meinen Tee.

«Ja. Er filmt in County Wicklow, das im Film Yorkshire sein soll.» Susan war schon immer pedantisch. «Er spielt einen Bauern, der sich in die Postamtsvorsteherin – sie wird von Meryl Streep gespielt – verliebt, die dann unter geheimnisvollen Umständen verschwindet. Du hast doch immer ein Faible für Mell gehabt, nicht wahr, Jasmin?»

«Ich – ja – ich finde schon, daß er attraktiv ist», murmle ich und überlege, ob dies der richtige Augenblick ist, um zu gestehen, daß sich dieses Faible zu einer glühenden Leidenschaft ausgewachsen hat; daß Mell und ich in den letzten Jahren schweißtreibende Nächte verbrachten, in denen wir Körpersäfte und seelenvolle Intimitäten austauschten, und daß der einzige kleine Schönheitsfehler unserer perfekten Beziehung nur darin besteht, daß Mell von alldem nichts ahnt.

«Ich bin nie über Clark Gable hinweggekommen.» Anne dreht verträumt an ihrem Ehering. «Ich werde nie den Tag vergessen, als wir Vom Winde verweht gesehen haben. Nie.»

Dann gehen wir alle nach draußen, weil die Sonne scheint. Der Garten ist erfreulich unordentlich, zeigt aber schon die ersten Spuren gärtnerischer Pflege – ein paar Begonien und rankende Kapuzinerkresse. «Ich werde wahrscheinlich nicht lange hierbleiben», sagt Susan. «Aber ein paar Blumen machen alles gleich freundlicher.»

Susan macht stets alles ein bißchen freundlicher, egal wo sie ist, weil das ihre Art ist. Vielleicht würde sie auch mich etwas freundlicher stimmen, wenn ich endlich aufhören könnte, mich zu fragen, wo ich den falschen Weg eingeschlagen habe und sie den richtigen. Wenn ich mich mit der Unordnung und Rätselhaftigkeit meines Lebens abfinden und sehen könnte, daß selbst das Unkraut, das zwischen den gesprungenen Steinplatten sprießt, kleine Blüten treibt.

Zwei

Nach dem Besuch bei Susan laufe ich noch ein wenig in Ballsbridge herum und denke an Mell Nichols. Die Tatsache, daß wir uns zur selben Zeit im selben Land befinden, hat unsere Beziehung intimer, aber auch schmerzlicher gemacht. Denn wenn ich nicht gerade verzückt in seinen Armen liege, im Bewußtsein, daß er mich ewig lieben wird, weiß ich etwas ganz anderes. Ich weiß, daß ich eine einsame Frau in den mittleren Jahren bin, an die er keinen Blick verschwenden würde, und daß wir uns wahrscheinlich nie begegnen werden, obwohl wir auf demselben Planeten und sogar im selben Land weilen.

Aber ich werde mich nicht länger auf diesen wirklichkeitsfremden Unsinn einlassen, der nichts als Zeitverschwendung ist. Und Zeit ist kostbar, weil sie vergeht und unwiederbringlich ist. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, und erstaunlich leicht, es zu vergessen. Also spaziere ich über die Pembroke Road und sehe mir die Haustüren und Klingeln der Leute an, ihre sauberen Fenster mit den gerafften Gardinen und die schmutzigen ohne geraffte Gardinen, hinter denen wahrscheinlich jemand zur Miete wohnt. Ich versuche, in der Gegenwart zu leben, mir jedes grüne Blatt und jeden Schritt bewußt zu machen, aber meine Gedanken kehren immer wieder zu Annes Bemerkung zurück, ich hätte mich nicht verändert.

So absurd diese Bemerkung ist, scheint sie ein Körnchen Wahrheit zu enthalten. Anders gesagt: Der unvermeidlich eingetretenen Veränderung scheint eine weitere Verzögerung folgen zu müssen. Ich kann mich nicht wie bisher einfach treiben lassen. Ich muß ein paar Entscheidungen treffen. Zum Glück komme ich nicht an einem Friseurgeschäft vorbei, weil ich sonst mit ziemlicher Sicherheit mein Heil in einem neuen Haarschnitt suchen würde.

Als ich Bruce kennenlernte, trug ich mein Haar im «Gipsy Look», mit den dazugehörenden langen Rüschenröcken und bestickten Boleros.

Bruce fand mich wundervoll. «Was ich an dir so mag, Jasmin», sagte er, «ist deine Natürlichkeit.» Nur meine Farbzusammenstellung sei ein wenig problematisch. Ich brächte meine Pastellfarben mit meinen Grundfarben durcheinander und würde zu viele verschiedene Farben gleichzeitig tragen. Dadurch würde ich konfuse Signale aussenden, obwohl ich durchaus keine konfuse Frau sei. Bruce ist beim Fernsehen; er ist ein visueller Typ.

Ich trug Cremeweiß, als ich ihn heiratete. Ich hatte eigens einen Farbberater aufgesucht, der mir erklärte, Wintermenschen könnten Weiß und Schwarz tragen, Sommermenschen aber würden darin verschwinden. Und verschwunden wäre ich dann auch am liebsten, als mich mein Vater zum Altar führte, weil mir in der Kirche plötzlich einfiel, daß ich erst zwanzig Jahre alt war. Ich blieb immer wieder stehen, um den Blumenschmuck an den Kirchenbänken zu bewundern und den festlich gekleideten Freunden zuzulächeln, aber im Grunde hoffte ich, mein verrückter früherer Freund Cyril würde sich betrunken über die Chorempore beugen und lauthals verkünden, ich sei die tollste Braut, die er je gebumst habe, und für immer die seine. Im darauf einsetzenden Tumult wäre ich geflohen. Ich hätte mich in ein Kloster oder einen Ashram geflüchtet und mein Leben Jesu oder Buddha oder welcher Instanz auch immer gewidmet.

Diese Option halte ich mir noch immer offen.

Es beginnt zu regnen, als ich eine Telefonzelle finde und Charlie anrufe wegen der Demonstration am kommenden Montag. «Ich will das Schwein nicht übernehmen», erkläre ich ihm.

«Das Schwein heißt Rosie.»

«Ich weiß, daß es Rosie heißt, und ich werde Rosie nicht über die O’Connell Street führen.»

«Okay.»

«Ich wollte das nur klären, Charlie.»

«Nun, das hast du getan.»

Dann hänge ich auf, und weil es inzwischen gießt, gehe ich in Jurys Hotel, wo ich mich unter amerikanische Touristen mische. Ich sage nichts. Ich stehe nur im Andenkenladen neben ihnen, höre ihrem Geschnatter über Belleek-Porzellan und Aranpullover zu und bilde mir ein, in Kalifornien zu sein.

Ich bin tatsächlich in Kalifornien gewesen. Susan und ich gingen während unserer Ausbildung einen Sommer lang nach San Francisco. Wir arbeiteten im Hippie-Bezirk Haight Ashbury in einem Café, in dem es einen Flügel und Unmengen von Büchern gab. Es war harte Arbeit, aber wir fühlten uns ungebunden und frei. Dort trafen wir den Mann, den wir für unsere Entjungferung vorsahen.

Doug wohnte in einer geodätischen Kuppel in Mill Valley. Die Straße zu seinem Haus führte steil bergauf. Rechts und links davon gähnte der Abgrund. An einem Baum unten an der Straße hing ein Schild: «Laß alles hinter dir – laß los», und oben erwartete einen ein weiteres, auf dem stand: «Und das auch.»

Und ich glaube, das taten wir eine Weile. Die traumhaften Tage verschmolzen ineinander wie dicke Mozzarellascheiben auf unseren Spezialsandwiches.

Unsere Jungfräulichkeit wurden wir bei Doug nicht los, weil sich herausstellte, daß er schwul war. Aber das war ganz gut so, denn sexuell unerfahren wie wir waren, hatten wir gedacht, wir könnten ihn uns teilen. Also begehrten wir ihn nur, lauschten seinen Worten und luden unsere Keuschheit andernorts ab.

Eines Abends, als wir auf dem Hügel saßen und über die Rotholzbäume blickten, erzählte uns Doug, wie es ist, wenn man LSD nimmt. Man würde ganz viele Informationen auf einmal bekommen, aber so schnell, daß sie keinen Sinn ergäben. Den Sinn zu erfassen sei im Grunde wünschenswert, aber er habe die Abkürzung genommen, obwohl der längere Weg vielleicht besser gewesen wäre, um die ganze Botschaft zu verstehen.

Einige Menschen, sagte er – und er meinte, daß auch Susan und ich dazu zählten –, könnten zum Beispiel einen Tisch ansehen und ohne LSD erkennen, daß er nur eine Masse sich tummelnder Moleküle sei.

Er war überzeugt, wenn wir den Tisch nur lange genug betrachteten, würden wir schließlich all die kleinen Moleküle herumflitzen sehen und wissen, daß alles und jedes letzten Endes nur Energie ist.

Die Stille in jener Nacht auf dem Hügel war so tief, daß man sie hören konnte. Wir blickten in den riesigen schwarzen Himmel mit all den unzähligen Sternen und dachten, was für ein unglaublich erstaunlicher, wundervoller Ort das Universum ist.

Am nächsten Tag flogen wir nach Hause und erfuhren, daß sich die irische Nation in jenem Sommer den Kopf zerbrochen hatte, wem man erlauben sollte, Kondome zu verkaufen.

Während ich diesen Erinnerungen nachhänge, bin ich in den Empfangsbereich des Hotels gelangt. Draußen regnet es noch immer, und ich sitze auf einem Sofa. Ich lasse mir einen Gin Tonic und ein Sandwich bringen, bevor ich zum Supermarkt gehe, und frage mich, ob das Leben jemals wieder wundervoll für mich sein wird.

Ich frage mich auch, wer als erster auf die Idee kam, Eiskrem mit Sex zu assoziieren, und ob ein großer Becher Schokoladen- und Haselnußeis heute abend als Dessert genügen wird. Bruce hat ein paar Kollegen zum Abendessen eingeladen.

Dann blicke ich auf – und schaue in die Augen des Mannes, nach dem ich mich seit zehn Jahren hoffnungslos und leidenschaftlich verzehre. Er sieht mich leicht genervt an und wendet sich der Rezeption zu.

Drei

Ich bin eine ziemlich nervöse Gastgeberin. Obwohl die Kollegen und Schauspieler aus Bruce’ Produktion seit Monaten immer mal wieder zum Dinner kommen, habe ich noch nicht gelernt, über die Algarve zu plaudern, ohne daß mir die gefüllten Tomaten anbrennen. Es gelingt mir immer noch nicht, Cait Carmodys Ausführungen über ihren geplatzten BH bei einer besonders pikanten Szene in der Abtei zuzuhören, ohne mittendrin aufzuspringen und zu rufen: «O mein Gott, die Oliven!»

Cait und Bruce und die übrigen, die sich bei uns von ihrer Theaterarbeit erholen, obwohl sie wahrscheinlich noch immer Theater spielen, sollen nicht merken, daß ich, ohne schauspielerische Ausbildung, plötzlich das Gefühl habe, auf einer Bühne zu stehen. Es ist schon schwierig genug, Requisiten wie Oliven oder fettucine carbonara herbeizuschaffen, und dann soll ich auch noch den Text improvisieren.

Bevor Bruce von National Broadcasting wegging, lud er meistens in Restaurants ein. Aber seit er seine eigene Produktionsfirma hat, muß er den Gürtel enger schnallen und seine Gäste öfter zu Hause bewirten. In einer Hinsicht bin ich froh, daß er nicht mehr bei National Broadcasting ist, weil ich seine Tiraden über diesen «Verein» nicht mehr hören konnte. Wenn er seinen dortigen Arbeitstag schilderte, klang er wie Ich, Claudius, Kaiser und Gott.

Als ich ihm das einmal sagte, meinte er, Ich, Claudius, Kaiser und Gott sei genau die Art wertvoller Literatur, die er immer verfilmen wollte, wenn seine früheren Arbeitgeber ein bißchen Mumm und Phantasie aufgebracht hätten. Wenn er so redet, bekommt sein Gesicht einen erschöpften Ausdruck, weil wir beide wissen, daß ich diese schrecklich komplexen Dinge nie verstehen werde.

National Broadcasting tat es so leid, daß Bruce ging, daß sie ihm dafür viel Geld bezahlten. Die Lobreden zu seinem Abschied waren geradezu euphorisch. Er schien das ganze Unternehmen zusammengehalten zu haben, und man fragte sich, wie sie ohne ihn auskommen wollten.

Merkwürdig ist, daß National Broadcasting jetzt mehr Literatur bringt. Und Leute, die Bruce ausgesprochen verachtete, sind jetzt dicke Freunde von ihm. Sie sind wirklich ziemlich nett zu ihm, und es sieht so aus, als würden sie seinen Film Avril: Die Geschichte einer Frau, der im Zweiten Weltkrieg spielt, finanziell unterstützen.

Soviel ich herausbekommen habe, lebt Avril an der irischen Westküste bei ihrem betagten Onkel und sammelt tagaus, tagein Seetang, mit dem die Felder der Farm gedüngt werden, die sie ganz allein bewirtschaftet. Eines Tages trifft sie am Strand einen Mann, der aus England fliehen mußte, weil er spioniert haben soll. Avril weiß aber irgendwie, daß er unschuldig ist, und er wird ihr Liebhaber. Dann wird das Ganze zu einem Thriller, der mit Avril nicht mehr viel zu tun hat.

Avril ist nun die «andere Frau» in unserer Ehe. Bruce ist besessen von ihr – was sie tragen wird, ob sie mit dem Bus in die Stadt fährt oder zu Fuß geht, um die paar Schillinge zu sparen. Ich wünsche mir, er hätte nur einmal soviel Interesse an mir gezeigt, und ich reagiere ziemlich gereizt, wenn er mich fragt, ob eine so junge Frau ein Kopftuch tragen würde und ob sie ihre Jungfräulichkeit auf dem Heuboden oder in den Sanddünen verlieren sollte.

Cait Carmody wird die Avril spielen, und deshalb kommt sie zum Dinner zusammen mit Eamon, der die Rolle des Liebhabers übernommen hat, und mit Alice, die anscheinend für alles andere da ist. Alice ist die Produktionsleiterin und ungeheuer tüchtig. Sie arbeitet seit Jahren mit Bruce zusammen. Ich habe sie einmal gefragt, warum sie nicht selbst Filme produziert, und sie antwortete, soviel Unsinn auf einmal sei ihr zuviel. Ich habe Alice immer gemocht.

Nun sitzen wir also alle um meinen Pinienholztisch, essen Salat und leicht angebrannte Lasagne. Als mich Cait fragt, ob die Salatsoße die von Paul Newman oder meine eigene Erfindung ist, fällt mir ein, daß ich das Eisdessert nicht in den Kühlschrank gestellt habe. Ich stürze in die Küche und stopfe es ins Kühlfach. Weil der Wein meine Nerven nicht ausreichend beruhigt, mache ich mir einen Gin Tonic, schütte ihn in mich hinein und zwicke mich, damit ich weiß, daß ich nicht träume, wenn ich daran denke, was ich heute nachmittag in Jurys Hotel erlebt habe.

Als ich einige Minuten später an den Tisch zurückkehre, verfüge ich immerhin über genügend Geistesgegenwart, um zu erklären, daß das Eis ein bißchen weicher sein wird als gewöhnlich.

Natürlich sagen alle, genau so äßen sie Eis am liebsten, und als wir alle zu löffeln anfangen, bringt Bruce Avril aufs Tapet. Er frage sich, wie Avril ihren Liebsten ernähren kann, ohne daß ihr Onkel mißtrauisch wird.

«Er wird doch wohl zum Krämer gehen und sich selbst etwas kaufen können», sage ich mit einer Heftigkeit, an der ich merke, wieviel ich getrunken habe.

«Das kann er natürlich nicht, Jasmin», sagt Bruce geduldig. «Er lebt in einem Heuschober, und Agenten suchen überall nach ihm.»

«Seetang ist sehr nahrhaft.» Ich lächle.

«Also wirklich!» Bruce trinkt den flüssigen Rest seiner Eisportion, stellt, offensichtlich gänzlich ermüdet, die Schale ab und fragt Alice, ob sie die Ortsbesichtigung für nächste Woche vereinbart hat. Dann wirft er Cait einen langen, wissenden Blick zu – einen von vielen an diesem Abend. Er versucht, mich mundtot zu machen, mich auszuschließen, aber ich mache nicht mit.

«Mir scheint», sage ich bereits etwas nuschelnd, «Avril hat ein so elendes Leben, daß sie sich weniger um diese Männer sorgen sollte und mehr um sich. Sie sollte nach Dublin ziehen und – na, vielleicht einen Massagekurs machen oder so etwas.»

«Einen Massagekurs?» Alice ist fasziniert.

«Ja. Eine Freundin von mir, ich weiß jetzt nicht mehr, welche es war – sie hat einen Massagekurs gemacht und Aromatherapie. Etwas absolut Solides. Und jetzt hat sie ihre eigene Praxis. Wißt ihr was? Ich habe einen neuen Titel für euch – Avril: Die Aromatherapeutin!»

Dann kichere ich wie verrückt und stoße mein Weinglas um, und Bruce verschwindet in der Küche, um den Kaffee und ein Tuch zu holen. Cait geht ihm nach, «um zu helfen». Wir hören die beiden flüstern und mit Geschirr klappern; dann kichern sie, und dann herrscht für einige Zeit Stille.

«Wie geht es Katie?» fragt Alice etwas zu munter.

«Oh, es geht ihr gut, hoffentlich», sage ich. «Sie studiert im ersten Semester in Galway Anthropologie … nein, Psychologie. Sie fehlt mir sehr.»

«Und was machen die Tierschützer?» wirft Eamon ein.

Halb betrunken, wie ich bin, läuft mir ein kleiner Schauder über den Rücken. In der Küche geht etwas vor, das ich wissen sollte.

«Oh, eigentlich nichts Besonderes.» Meine Zunge ist plötzlich schwer und ungelenk. «Am Montag marschieren wir mit einem Schwein über die O’Connell Street. Es heißt Rosie – ein hübsches Schwein.»

«Davon bin ich überzeugt», sagt Alice, die sich etwas unbehaglich zu fühlen scheint.

«Ein hübsches Schwein», wiederhole ich. «Sehr sensibel und sehr treu.»

«Entzückend», sagt Eamon. «Ah – hier kommt der Kaffee.» Bruce kommt endlich zurück, gefolgt von Cait, die ihren Lippenstift verschmiert hat, während sie ein Geschirrtuch holte. Mit dem Tuch tupft sie den verschütteten Wein vom Tisch. Sie macht das sehr sorgfältig und ostentativ, während sich die übrigen zur Sitzgruppe begeben.

Ich gehe zu meinem Lieblingsplatz in der Ecke. Der Lehnstuhl ist nicht besonders bequem, aber er gehörte meinem Vater. Ich setze mich dorthin, um so weit wie möglich von den anderen entfernt zu sein, und wünsche mir, Dad würde noch leben, damit ich ihm erzählen könnte, daß ich heute nachmittag für einen Moment in die Augen von Mell Nichols geblickt habe und daß mein Mann vielleicht eine Affäre mit Cait Carmody hat. Ich würde ihm auch erzählen, daß er mir schrecklich fehlt, und ich wünschte, ich könnte glauben, er sei noch da.

Susan glaubt, daß er noch hier ist. Susan glaubt auch an Schutzengel. Sie sagt, wir alle haben jemanden, der immer über uns wacht.

Ich stehe auf. «Entschuldigt mich einen Augenblick», sage ich, während ich in die Küche gehe. «Ich will nur den Süßstoff holen.»

Aber statt dessen gehe ich durch die Hintertür in den Garten, um zum großen schwarzen Himmel aufzusehen und nach den kleinen goldenen Sternen zu suchen.

Ich suche und suche – aber der Himmel ist bewölkt, und ich kann sie nicht sehen.

Vier

Ich habe dir gesagt, daß ich nicht mit dem Schwein gehen will.»

«Ich weiß, ich weiß. Ich muß nur mal für kleine Jungs», sagt Charlie und läßt mich mit Susan und Rosie unter Clerys Uhr stehen. Rosie quiekt aufgeregt und zerrt an der Leine.

Susan ist mitgekommen, nachdem sie mich heute morgen angerufen und gesagt hat, sie fühle sich einsam. Sie war so lange weg, daß sie hier nicht mehr viele Leute kennt, und sie wollte ein bißchen Gesellschaft. Trotzdem glaube ich nicht, daß sie dabei an einen Marsch mit einem Schwein über die ganze Länge der O’Connell Street gedacht hat.

«Er ist ein prima Typ, nicht wahr?» Susan knuspert einen Müsliriegel und betrachtet die Dessous in Clerys Schaufenster.

«Wer?» frage ich.

«Charlie. Er sieht gut aus.»

«Ja, wahrscheinlich – auf seine Hippieart.» Ich seufze. «Susan, ich weiß, ich habe dich da in letzter Minute hineingezogen, aber ich brauche Hilfe.»

«Was kann ich tun?»

«Hilf mir erst mal, dieses Schwein festzuhalten. Es ist unglaublich stark.»

«Mein Gott, das ist es wirklich», sagt Susan, während wir beide versuchen, Rosie daran zu hindern, über die Straße zu rennen. Ihre Nase zuckt in Richtung des Moore-Street-Markts.

«Sie riecht das Obst.» Ich gerate etwas in Panik. «Wenn sie dort hinüber will – ich weiß nicht, ob wir sie aufhalten können.»

«Ich setze mich auf sie drauf», verkündet Susan, wie immer eine Frau der Tat.

«Aber nicht mit deinem ganzen Gewicht!»

«Nein, nein. Ich nehme sie nur zwischen die Beine und halte sie fest.»

«Gute Idee.»

Rosie findet die Idee weniger gut. Sie quiekt wie verrückt, und wir bekommen Publikum. Die Leute starren uns an, und einige lachen.

«Hüh, Pferdchen, hüh!» ruft ein Mann.

«Kleine Wutz», sagt ein Steppke, der selbst an einer Leine geht und von seiner Mutter weggezerrt wird.

«Macht ihr Reklame für Schinken?» fragt eine Frau mit Kopftuch. «Dann möchte ich gern einen Gutschein.»

«Nein, das hier ist eine Demonstration gegen die Massentierhaltung», entgegne ich grimmig, während Rosies stramme Beinchen vor Ungeduld zittern und auf dem Pflaster ausrutschen.

«Hat das hier etwas mit der Orwell-Adaption in der Abbey zu tun?» fragt ein junger Mann mit Pferdeschwanz.

Bevor ich zu einer Erklärung ansetze, sehe ich Charlie auf der anderen Straßenseite aus einer Telefonzelle kommen.

«Ein hervorragend gewählter Zeitpunkt, um zu telefonieren», sage ich bissig, als er stirnrunzelnd bei uns anlangt. Rosie blickt bewundernd zu ihm auf. Sie schnüffelt an seiner Jackentasche, aus der er eine Möhre hervorholt, die sie glücklich verspeist.

«Und wo sind die anderen? Ich dachte, wir würden mindestens zwanzig Leute sein», fahre ich ärgerlich fort. «Jemand wollte auch Plakate bringen. Wo sind sie?»

Nachdem sich Rosie beruhigt hat, löst sich die kleine Versammlung rings um uns auf.

«Tut mir leid, Leute.» Charlie schenkt Susan und mir ein schiefes Lächeln. «Da hat jemand etwas verwechselt. Sarah dachte, der Marsch sei auf nächsten Montag verlegt worden, und das hat sie allen bei ihrem Rundruf gesagt. Ich hätte sie anrufen sollen. Wir machen am besten Schluß für heute und gehen zum Wagen zurück.»

«Aber ich verstehe das nicht.» Ich platze beinahe vor Ärger. «Ich habe Sarah eigens angerufen, und sie hat mir bestätigt, daß der Marsch um elf Uhr beginnt – unter Clerys Uhr am Montag, dem Siebzehnten.»

Charlie und Susan sehen sich an.

«Heute ist nicht Montag, der Siebzehnte», sagt Susan leise.

«Wie bitte?»

«Heute ist der Zehnte.» Charlie sieht mir in die Augen, damit ich weiß, daß er nicht lügt.

«Das ist unmöglich. Ich habe in meinem Kalender nachgesehen.»

Charlie bleibt unbeeindruckt. «Du hast wahrscheinlich die falsche Seite aufgeschlagen.» Er versucht, ernst auszusehen.

«So ein Schlamassel!» stöhne ich. «Das ist nicht komisch, Charlie!» Ich sehe ihn böse an.

«Das habe ich nicht behauptet.»

«Aber du grinst mit den Augen. Und behaupte nicht das Gegenteil.»

«Wenn ihr zwei fertig seid, könnten wir dann hier verschwinden?» sagt Susan. Rosie wird wieder unruhig.

«Oh, verdammt!» stöhne ich.

«Oh, Scheiße!» ruft Susan, weil Rosie auf das Pflaster gemacht und sie angespritzt hat.

«Das ist das zutreffende Wort», sagt Charlie ungerührt, während er Rosie zum Wagen zerrt.

Im Auto breche ich in Tränen aus. «Komm, komm», sagt Susan, «ich irre mich auch oft im Datum. Wir kommen einfach nächsten Montag wieder her. Mein neuer Job fängt noch nicht an, so daß ich euch helfen kann.»

«Mein Leben ist völlig durcheinander. Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist», jammere ich und zerknülle ein feuchtes Taschentuch. «Man sollte mich mästen und als Pedigree Pal verkaufen.»

«Was redest du da? Ich dachte, wir sind gegen Massentierhaltung», sagt Charlie, der besorgte Blicke mit Susan tauscht, während er die aufgeregt schnaubende Rosie hinten in den Kombi bugsiert.

«Batteriehennen legen wenigstens Eier!» schluchze ich. «Sie tun wenigstens etwas Nützliches.»

«Aber unter völlig unmenschlichen Bedingungen», sagt Charlie, der unzählige Artikel zu dem Thema geschrieben hat. «Freilaufend würde dir viel eher entsprechen, Jasmin. Wirklich.» Er versucht mich aufzuheitern, was er gewöhnlich auch schafft, aber heute nicht.

«Du nimmst mich nicht ernst!» heule ich hysterisch.

«Doch, das tu ich.» Charlie klingt jetzt leicht genervt. «Aber du überreagierst jetzt wirklich. Es ist nur eine Demo, Jasmin. Wir können nächste Woche wiederkommen.»

«Ich bin fast vierzig, und was habe ich in meinem Leben geleistet? Nichts!» Die Worte drängen unaufhaltsam aus mir heraus, während ich schniefe und schluchze. Charlie sieht mich nachdenklich an. Dann blickt er zu Susan, die den Wink versteht.

«Jasmin, komm, beruhige dich», sagt sie freundlich.

«Du hast gut reden!» fauche ich sie an. «Du mit deinem Bilderbuchleben.»

Susan beschließt, nicht beleidigt zu sein. «Was ist mit den armen Tieren, denen du geholfen hast? Mit der Erwachsenenbildung? Und du hast Katie, Jasmin – ganz zu schweigen von deiner Ehe.»

«Von der ganz zu schweigen, weiß Gott.» Ich schluchze nicht mehr und sehe einen Straßenhändler, der bunte Schals verkauft. Katie bindet sich manchmal das Haar mit solchen Schals zusammen.

«Und warum das?» erkundigt sich Charlie, der inzwischen hinter dem Steuer sitzt.

«Weil …» Ich lege eine dramatische Pause ein. «… weil mein Mann eine Affäre mit Cait Carmody hat.»

«Meinst du die Schauspielerin?» fragt Susan.

«Ja – genau die.»

«Darum geht es also», seufzt Charlie. «Ich denke, jetzt brauchen wir eine Teepause bei mir zu Hause.»

«Gut», sagt Susan. «Aber laßt mich noch schnell ein paar Kirschtaschen kaufen.»

Charlies Haus liegt kurz hinter Bray. Es ist groß und unordentlich, so ähnlich wie er selbst. Das Gebäude an sich ist gut in Schuß, weil Charlie ein Praktikus ist, aber abgesehen von der teuren Stereoanlage neben dem großen Wohnzimmerfenster ist es ziemlich unkonventionell. Es liegen haufenweise Kissen herum, aber sie sind nicht aufgeschüttelt. Poster hängen an den Wänden, aber sie sind nicht gerahmt. Wenn Charlie ausziehen müßte, bräuchte er nicht mehr als einen Koffer, weil er weiß, was ihm wichtig ist. Alles übrige würde an die Wohlfahrt oder an Secondhandshops gehen, woher sowieso das meiste stammt, abgesehen von der Hifi-Anlage, die er wahrscheinlich verkaufen, und seinen Kassetten und CDs, die er mitnehmen würde.

Charlie spielt hauptsächlich Liebhabermusik – Jazzplatten von Leuten mit komischen Namen. Er würde, wenn auch widerwillig, zugeben, daß er einmal für die Blonde von Abba geschwärmt hat. Manchmal, wenn er ein wenig Aufmunterung braucht, legt er auch jetzt noch «Dancing Queen» auf.

Charlie ist freiberuflicher Toningenieur. Er ist siebenundvierzig und ein gutaussehender Mann. Aber ich kenne ihn schon so lange, daß es mir nicht mehr auffällt. Er ist groß und schlaksig und hat dichtes braunes Haar, das ihm über die Ohren fällt, aber nicht ganz bis auf die Schultern. Das Auffallendste an ihm sind die Augen. Sie sind blau und sehr aufmerksam.

Ich lernte ihn vor fünf Jahren bei den Tierschützern kennen, und wahrscheinlich ist er der Grund, warum ich immer noch dabei bin. Ich bin längst nicht so engagiert wie er. Mir tun die Tiere leid, aber das ist eigentlich alles.

Charlie ist verläßlich, freundlich und lustig. Wenn wir Flugblätter fotokopieren oder Briefumschläge zukleben, reden wir über alles mögliche. Wir sind nicht im geringsten auf romantische Weise aneinander interessiert, und das ist wirklich angenehm.

«Ihr könnt Kamillen-, Hagebutten-, Fenchel-, Mango-, Pfirsich- oder einfach nur Tee haben», ruft Charlie aus der Küche.

«Einfach nur Tee, bitte», rufen Susan und ich zurück.

«Du liebe Zeit, er macht auch Aromatherapie», sagt Susan und deutet auf die Duftlampe auf dem Kaminsims. «Ich habe es schon gerochen, als ich hereinkam.»

«Ylang-Ylang mit einem Tropfen Geraniumöl», ruft Charlie.

«Und was bewirkt das?» fragt sie.

«Es ist belebend und harmonisierend.»

Susan betrachtet das Räuchergefäß und die Postkarte mit einem Buddha. «Bist du auch Buddhist?» fragt sie, während sie zu ihm in die Küche geht, um ihm mit dem Teetablett zu helfen.

«In gewisser Weise», sagt Charlie.

«Genau wie ich», meint Susan lächelnd.

Als wir alle Platz genommen haben, werde ich ausgequetscht. Ich fühle mich sehr albern, weil ich seit Jahren keinen solchen Gefühlsausbruch hatte. Ich neige mehr zu stiller Verzweiflung.

«Woher weißt du, daß Bruce eine Affäre hat?» fragt Susan.

«Weil er sie beim Dinner dauernd komisch angesehen hat – und weil sie sich in der Küche geküßt haben.»

«Hast du sie dabei gesehen?» fragt Charlie.

«Nein, aber Caits Lippenstift war verschmiert, als sie mit dem Tuch zurückkam.»

«Mit welchem Tuch?» Ich muß ausführlich berichten.

«Also bist du keineswegs sicher?» sagt Charlie nach zwei Fencheltees, vier Haferflockenplätzchen und einer Kirschtasche.

«Nein – es ist nur ein Gefühl.» Ich schaue aus dem Fenster in den verwilderten Garten, wo Rosie in ihrem geräumigen Verschlag herumschnüffelt. «Es tut mir leid, daß ich soviel Wind gemacht habe, aber jetzt geht es mir besser. Irgendwie hat sich alles mögliche in mir aufgestaut. Es ist nicht nur wegen Bruce. Es sind auch andere Dinge.»

«Was für andere Dinge?» fragt Susan. «Komm schon, Jasmin, du weißt, daß du mit uns reden kannst.»

«Ja, schon», sage ich, während ich an der Quaste eines indianischen Kissens zupfe. «Aber vieles läßt sich so schwer sagen.»

«Nun mach schon.» Susan läßt nicht locker. «Nenn ein paar Beispiele.»

Und dann erzähle ich ihnen, belebt und harmonisiert von Ylang-Ylang und Geraniumöl und vom frisch hinzugefügten Latschenduft vielleicht zur Wahrheit verleitet, von Mell Nichols.

«Ihr seht, es ist alles ziemlich albern.» Ich lache freudlos, nachdem ich ihnen Einzelheiten meiner zehnjährigen Leidenschaft anvertraut habe, abgesehen von den Sexphantasien in steckengebliebenen Liften. «Ich habe in seine Augen geblickt, und dann hat er sich wieder der Rezeption zugewandt, als sei er genervt. Das war alles.»

«Und jetzt ist dir klargeworden, daß aus dir und Mell vielleicht nie ein Paar wird.» Charlie lächelt mich freundlich an.

«Das habe ich immer gewußt, aber ich wünschte, es wäre mir weniger heftig klargemacht worden.» Ich muß über mich selbst lächeln.

«Jeder von uns hat Phantasievorstellungen, Jasmin.» Susan beugt sich zu mir und sieht mich ernst an. «Ich zum Beispiel träume unglaublich lebhaft von Daniel Day-Lewis.»

«Wirklich?» Das ist eine erfreuliche Neuigkeit.

«Ja. Ich bin mit ihm in einem riesigen Landhaus und bin überzeugt, daß er mich verführen wird. Doch dann stellt sich heraus, ich bin da, um den Mahagonitisch zu polieren. Es ist nicht sehr befriedigend.»

«Ich habe es satt zu träumen», sage ich, während ich Satchmo, Charlies Kater, streichle. «Ich habe es satt, mich in irgendeinen Winkel meines Kopfes zu verziehen, sobald ich mich nach Glück sehne und mich geliebt fühlen möchte. Es kommt mir einfach falsch vor.»

Charlie tätschelt meinen Arm, als er aufsteht und ans Fenster geht. Er steht dort, reckt die Schultern und deutet in den Garten hinaus. «Sie ist mein Rollenvorbild.»

«Wer?» fragt Susan.

«Rosie.»

«Hör auf, Charlie.» Ich stelle mich neben ihn. Rosie schabt sich die rechte Hinterbacke am Zaun. Ihr Gesicht drückt tiefe Zufriedenheit aus.

«Siehst du, was ich meine?» fragt Charlie lächelnd. «Da ist nichts von Lebensangst. Sie läßt sich einfach treiben, und sie hat nicht einmal Waterstones gelesen.» Er neckt mich wegen der Bücher, die ich zur Selbstfindung lese.

Als er sich zu mir umdreht, stößt er sein Saxophon um, das neben dem Vorhang lehnt. Er hebt es auf, um es anderswo hinzustellen, aber Susan sagt: «Ich wußte gar nicht, daß du musizierst.»

«Charlie hat jahrelang in einer Jazzband gespielt», sage ich. «Komm, spiel etwas für uns.»

Charlie fummelt ein bißchen an dem Instrument herum, dann setzt er es an die Lippen, und als die Töne den großen, von Sonnenstrahlen durchzogenen Raum füllen, empfinde ich ein wehes, aber süßes Glücksgefühl.

«Das ist schön, Charlie», sage ich. «Wirklich.»

Ich blicke zu Susan, die Charlie auf eine Weise ansieht, wie sie in meiner Gegenwart noch keinen Mann angesehen hat.

Dann blicke ich aus dem Fenster zu Rosie, die aufgehört hat, sich zu schaben, und Charlie ähnlich wie Susan anhimmelt.

Fünf

Hallo – hallo – bist du das – Jasmin?»

Bruce ist am Telefon. An den heiseren, stockenden Lauten, die er von sich gibt, erkenne ich, daß er von Worten auf Geräuscheffekte umgestiegen ist. Ich soll wissen, daß er leidet und daß ich zurückkommen muß. Außerdem will er wissen, wie man Kartoffelauflauf mit Hackfleisch macht. Vermutlich fragt er mich danach, um mich wissen zu lassen, daß er bald lernen wird, ohne mich zu leben, wenn ich nicht zurückkomme; daß er methodische Schritte in diese Richtung unternimmt und demnächst imstande sein wird, allein ein Bett zu beziehen.

«Wieviel Gehacktes braucht man für zwei Personen?» fragt er, nachdem ich ihm widerwillig die Zubereitung erklärt habe.

«Was weiß ich – zwei Pfund vielleicht.»

«Eamon kommt zum Essen, sonst niemand.»

«Wie nett.»

Bruce legt eine kleine Pause ein, um seinen nächsten Trick vorzubereiten.

«Alle reden über dich.»

«So?»

«Weil du mit Charlie zusammenlebst.»

«Tu ich nicht. Er hat mir angeboten, bei ihm zu wohnen. Das ist alles.»

«Aber du brauchst nicht bei ihm zu wohnen. Du hast ein eigenes Zuhause – hier – bei mir.»

«Und Cait Carmody.»

«Ach, komm schon, Jasmin – das ist längst vorbei.»

«Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich ihre kunstdiamantene Haarspange in unserem Bett fand?»

«Kann ich. Es tut mir leid.»

«Ich wollte gerade zu meinem Literaturkurs und hab mir noch Sorgen gemacht, ob du auch mit allem zurechtkommen wirst, und dann das …»

«Jasmin. Wir müssen miteinander reden.»

«Nein, das müssen wir nicht.»

«Aber natürlich. Katie ist völlig durcheinander.»

«Das ist sie nicht. Ich habe gestern mit ihr gesprochen.»

«Oh.»

«Hör zu, Bruce. Ich nehme mir eine Weile frei, okay? Andere Leute machen Urlaub von der Arbeit – ich mache Urlaub von der Ehe. Vielleicht komme ich wieder zurück, vielleicht auch nicht. Und nun laß mich gefälligst für eine Weile in Ruhe.»

Ich knalle den Hörer aufs Telefon.

Befriedigt stelle ich fest, daß ich ziemlich grob geworden bin. Bis vor kurzem schien ich die Unverschämtheit anderer Leute immer entschärfen zu müssen, statt einfach zu kontern. Ich hielt mich für eine sanfte, einfühlsame Person, die Bestätigung sucht. Jetzt merke ich, daß in meinem Innern Zorn und Empörung brodeln wie ein Vulkan, der ganze Kontinente vernichten könnte.

Doch insgeheim muß ich von der Existenz dieses giftspeienden Kraters gewußt haben. Schließlich praktizierte ich in meiner Eigenschaft als Kundin mit schöner Regelmäßigkeit die Kunst der Fernbeschimpfung, wenn ich am Telefon über mangelhafte Ware wetterte oder irgendwelche Leute wegen unleserlicher Betriebsanleitungen oder verspäteter Lieferungen zur Schnecke machte.

Und jetzt ging über Bruce der längst fällige Ausbruch nieder. Ich bin froh, daß er mit Zerknirschung reagiert hat. Nach meiner Erfahrung ist mit vielen Leuten, die sich schuldig fühlen, nicht gut Kirschen essen. Jamie zum Beispiel, meine erste große Liebe, entwickelte sich zu einem richtigen Ekel, nachdem er mir den Laufpaß gegeben hatte. Ich war damals drauf und dran, mich vor einen Zug zu werfen. Heute weiß ich kaum noch, wie Jamie ausgesehen hat.

Obwohl ich wütend auf Bruce bin und mich verletzt fühle, reicht meine Empörung nicht aus, um von seinen Anzügen die Ärmel abzuschneiden oder einen Eimer Farbe über seinen neuen Volvo zu kippen. Ein Exklusivinterview bei einer Zeitung oder in einer Talk-Show wäre möglicherweise ganz einträglich, aber eine Karriere als frustrierte Ehefrau entspricht nicht unbedingt meinen Vorstellungen.