Rosmarinträume - Katrin Tempel - E-Book

Rosmarinträume E-Book

Katrin Tempel

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Beschreibung

Seit die junge Journalistin Anne über den Fund zweier ineinander verschlungener Skelette berichtet hat, wird sie von schrecklichen Albträumen geplagt. Die Geschichte der Liebenden lässt sie nicht los, und so geht sie den wenigen Hinweisen nach, die sie finden kann. Unterstützt wird sie dabei von dem Archäologen Lukas, den der spektakuläre Fund ebenfalls fasziniert. Bald stoßen sie gemeinsam auf die tragische Geschichte zweier Liebenden am Ende des 18. Jahrhunderts, die einander nie vergessen konnten und noch im Tod aneinander festhielten.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Georg und Emma

ISBN 978-3-492-97182-9

März 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur

Gerd F. Rumler (München)

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Anna Verdina/getty images (Himbeeren);

www.buerosued.de (Rosmarin, Lavendel)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1

Sie umarmten sich zärtlich. Seine Hand lag auf ihrer Hüfte, die Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, die Finger waren ineinander verschlungen. Das Paar lag in einer flachen Grube auf einer Waldlichtung, ein Stück entfernt vom nächsten Weg. Die beiden hätten sich ungestört in die Augen blicken und ihre Zweisamkeit genießen können.

Wenn sie noch Augen gehabt hätten.

Doch dort waren nur leere Höhlen, weiße Knochen, die Zähne zu einem ewigen Grinsen verdammt.

Anne spürte, wie ihr die Gänsehaut über den Rücken kroch. Sie kam sich wie ein ungebetener Gast vor, wie die Augenzeugin eines innigen Moments, der nur den beiden Toten gehörte. Zum Glück war sie nicht allein auf der Lichtung. Ein Rechtsmediziner im Schutzanzug beugte sich kopfschüttelnd über die beiden Skelette in der Grube.

»Kein Fall für die Polizei, wenn ich das richtig sehe. Die sind schon so lange tot, dass auch die Täter garantiert das Zeitliche gesegnet haben. Und ihre Kinder und Kindeskinder auch.« Er lachte auf und nickte in Richtung der beiden Männer, die einige Meter entfernt standen. »Auf jeden Fall haben sie unseren Schatzsuchern einen gründlichen Schrecken eingejagt. Kommt ja nicht so oft vor, dass man alte römische Münzen sucht und dann über zwei echte Leichen stolpert.«

»Werden diese Leute eigentlich oft fündig? So ein Metalldetektor kostet doch sicher eine Stange Geld.« Anne konnte sich nicht vorstellen, warum man als erwachsener Mann an einem wunderbaren Sommertag mit einem solchen Gerät in der Hand durch den Wald rannte.

Der Mediziner zuckte mit den Achseln. »Hier in der Gegend finden die jeden Tag etwas. Natürlich geben sie es nicht ab, sondern behalten ihre ›Schätze‹ für sich. Eichstätt ist schon ewig besiedelt, hier haben sich die Menschen seit der Keltenzeit wohlgefühlt – da ist natürlich so einiges liegen geblieben.«

Der Polizist, der neben Anne stand und ebenfalls in die Grube sah, runzelte die Stirn. »Wenn diese Herrschaften hier historische Leichen sind, dann sollte ich mir wohl besser die beiden Männer und ihre illegalen Funde vorknöpfen. Da kann ich wenigstens so etwas wie ein richtiges Vergehen aufklären und nicht nur ein paar Knochen beim Vermodern zusehen.«

Er klopfte sich seine Uniformjacke ab und wandte sich zum Gehen.

»Halt!«, rief Anne. »Können Sie mir wenigstens noch sagen, was mit den beiden Skeletten jetzt passiert?«

»Ist mir egal«, erklärte der Polizist mürrisch und stapfte durch das hohe Gras zu den beiden Schatzsuchern. Offensichtlich waren sie die lohnenderen Opfer seiner Arbeit.

»Ich rufe jetzt die Archäologen an«, erklärte der Rechtsmediziner, der inzwischen aus der Grube gestiegen war. »Die können dann genauer ihr Alter bestimmen und rauskriegen, aus welchem Jahrhundert sie stammen. Und ich kann einen Bericht schreiben, in dem ich erkläre, warum hier kein Fahndungsbedarf besteht.«

»Und dann?« Anne sah ihn neugierig an. Irgendwo musste es doch noch eine Geschichte hinter den beiden Toten geben.

Der Mediziner holte eine Kamera aus seiner Tasche und lichtete die beiden Skelette aus allen erdenklichen Blickwinkeln ab. »Das entscheiden die Archäologen«, sagte er. »Die schauen, ob das ein bedeutender Fund ist und ob sich das Weitergraben in dieser Grube noch lohnt. Nach meiner Erfahrung ist das aber nur selten der Fall. Dann werden die Knochen in eine Kiste gesteckt und in einem Regal abgestellt. Wahrscheinlich können die beiden froh sein, dass sie das nicht mehr mitkriegen …«

Anne sah wieder in die Grube. Der Anblick des Paares rührte sie merkwürdig an. »Bleiben sie dann wenigstens zusammen?«

Er schüttelte den Kopf, schulterte seine Tasche und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er ganz in der Nähe auf einem Waldweg geparkt hatte. »Jetzt sind Sie aber sentimental, junge Frau. Wenn die beiden so lange tot sind, wie ich denke, dann wären sie vor allem glücklich gewesen, in geweihter Erde begraben zu werden. Das war den Leuten vor ein paar hundert Jahren sehr wichtig. Die hatten Angst, dass sie sonst als Wiedergänger herumgeistern oder für ewig im Fegefeuer schmoren. Beides keine schönen Aussichten, erst recht nicht für mittelalterliche Gemüter.«

»Wie lange geben Sie den beiden Toten denn? Sind die wirklich aus dem Mittelalter?« Anne stolperte neben ihm her, um ihm noch ein paar Informationen zu entlocken.

»Keine Ahnung, ob sie wirklich so alt sind. Das müsste ich genauer untersuchen. Hundert Jahre auf jeden Fall, vielleicht sogar dreihundert oder vierhundert. Wenn Sie mehr drüber wissen wollen, dann rufen Sie doch in den nächsten Tagen mal bei den Archäologen in der Uni an.« Er musterte sie genauer. »Sie sind die Volontärin bei der Donaupost, richtig?«

Anne lächelte. »Seit dem 1. Mai nicht mehr. Ich bin jetzt Redakteurin in der Lokalredaktion.« Sie zückte ihre neue Visitenkarte und überreichte sie voller Stolz.

Der Mediziner sah sich die Karte an. »Anne Thalmeyer. Dann gratuliere ich zu Ihrem neuen Job. Wir werden uns sicher öfter begegnen.« Er steckte die Karte achtlos in seine Hosentasche und winkte zum Abschied.

Anne sah ihm hinterher. Seine Glückwünsche klangen in ihren Ohren nicht ganz echt. Hielt er die Stelle bei der Donaupost womöglich für keine gute Sache? Immerhin hatte sie mit ihren erst vierundzwanzig Jahren einen Festvertrag ergattert und wurde nach Tarif bezahlt. Das hatten nur wenige ihrer Mitstudenten geschafft.

Sie lief die wenigen Schritte zurück zu dem mit gelben Bändern markierten Fundort. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag stand sie allein an der Grube mit den beiden Skeletten. Sie trat nahe an den Rand und spähte noch einmal hinunter. Täuschte sie sich, oder umklammerte die eine knöcherne Hand einen Gegenstand? Mit der Handykamera zoomte sie die Hand heran. Vielleicht konnte sie ja später auf dem Bildschirm ausmachen, was das war. Sie drückte noch einige Mal auf den Auslöser.

Dann sah sie sich suchend nach dem Polizisten um. Aber der sprach jetzt aufgeregt mit den Schatzsuchern, die am späten Vormittag die beiden Toten gefunden und bei der Polizei gemeldet hatten. Offensichtlich hatten die schweren Gewitter der letzten Tage die Knochen aus dem Erdreich freigespült. So reimte sie sich das zumindest aus den knappen Aussagen der Männer zusammen.

Die Sonne sank tiefer zwischen den Bäumen. Es wurde Zeit, in die Redaktion zurückzukehren. Der zufällige Fund der Skelette war dem Chef der Lokalredaktion sicher eine längere Geschichte wert. So viel passierte in Eichstätt an einem durchschnittlichen Dienstag wie diesem schließlich nicht. Widerwillig machte sie sich auf den Rückweg. Zu gerne hätte sie noch zugesehen, was ein Archäologe mit den beiden Skeletten anstellte. Wurden sie einfach nur für ihren letzten Transport ins Archiv eingepackt? Oder passierte noch etwas hier vor Ort?

Sie nahm ihre Tasche und ging durch das unwegsame Gelände zurück zu ihrem Auto. Ihre Gedanken eilten voraus, und sie überlegte schon, wie sie den Artikel anfangen könnte. Vielleicht mit einem Zitat des Rechtsmediziners? Oder doch lieber mit einer Beschreibung, wie die beiden Toten gefunden worden waren?

Anne liebte ihren Beruf. Schreiben, das war ihre Begabung, das hatte sie seit den ersten Artikeln gewusst, die sie für die Schülerzeitung verfasst hatte. Die Welt als Reporterin zu bereisen, mit einer Sonnenbrille im Haar und den wildesten Geschichten auf der Spur – so hatte sie in der Abiturzeitung ihre Zukunft beschrieben. Die Stelle bei der Donaupost war nur der erste Schritt in die richtige Richtung. Davon war sie überzeugt.

Sie setzte sich ans Steuer des klapprigen Golf, der als Dienstfahrzeug der Redakteure diente, und das schon einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. Doch die Rostlöcher waren ihr egal. Er brachte sie überallhin – was ihr mit dem eigenen Fahrrad schwergefallen wäre.

Schwungvoll fuhr sie den schmalen Waldweg entlang, als ihr ein anderes Auto entgegenkam. Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt kamen die beiden Fahrzeuge zum Stehen. Anne forderte den Fahrer des anderen Wagens wild gestikulierend auf, zurück in Richtung Straße zu fahren, aber der reagierte nicht.

Entnervt sprang sie aus dem Auto. »Können oder wollen Sie nicht rückwärtsfahren? Ich habe zu arbeiten.«

Der Fahrer sah sie aus freundlichen grauen Augen überrascht an. »Ich auch. Und ich muss schnell zu meinem Arbeitsplatz, bevor es dunkel wird. Die Ausweichstelle ist doch nur ein paar Meter hinter Ihrem Auto – das geht viel schneller, als wenn ich durch den halben Wald rückwärts bis zur Straße fahre. Meinen Sie nicht?«

Seine Freundlichkeit nahm Anne den Wind aus den Segeln. »Wollen Sie zu den beiden Skeletten?«, fragte sie neugierig.

Der Mann nickte. »Und wie gesagt: Es ist eilig. Wenn die Knochen vor der Nacht nicht geschützt werden, dann wird die Grabungsstelle womöglich verwüstet.«

»Wer würde denn so was machen?« Jetzt war sie wirklich überrascht.

»Tiere.« Seine Stimme wurde ungeduldig. »Es gibt jede Menge kleine und große Nager, die gern einen Knochen verschleppen oder zerbeißen. Wenn Sie also jetzt die Güte hätten, ein kleines Stück zurückzufahren?«

Verlegen zückte Anne zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Visitenkarte. »Ich bin Redakteurin bei der Donaupost und soll über den Skelettfund schreiben …«

Er nahm die Karte an sich, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Schön. Dürfte ich jetzt bitte …?«

Anne sprang ins Auto und holperte rückwärts über den engen Waldweg. Es dauerte ein Weilchen, bis sie einen Platz zum Ausweichen fand und den Archäologen vorbeilassen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Ein Fehler, aber wahrscheinlich war das auch nicht so wichtig. Wen interessierte schon, welcher Archäologe sich jetzt mit den Knochen beschäftigte?

So schnell es ging, machte sie sich zum zweiten Mal auf den Weg. Es wurde Zeit, dass sie ihren Artikel schrieb.

2

»Die Liebenden?« Gerhard Kuhn sah seine jüngste Redakteurin stirnrunzelnd an. »Gehst du da nicht ein bisschen weit? Bloß weil sie gemeinsam in einer Grube liegen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch zusammen durchs Leben gegangen sind.«

Anne lächelte verlegen. »Ich fand, sie sahen so aus. So, als ob sie sich immer noch im Arm halten würden.« Sie deutete auf das Bild. »Das wird auch jeder Leser so sehen. Außerdem werden die beiden nicht widersprechen oder uns wegen der Verletzung ihrer Privatsphäre verklagen.«

»Na, vielleicht hast du recht. So kriegst du wenigstens ein bisschen Gefühl in so eine dröge Geschichte über alte Knochen.« Er runzelte die Stirn. »Aber dann kannst du das nicht einfach so stehen lassen. Eine Liebesgeschichte muss immer auch ein Happy End haben. Mach doch jetzt eine kürzere Geschichte über den Skelettfund – und dann kümmerst du dich um die Geschichte dahinter. Wie lange liegen die da? Gibt es noch mehr Tote? Woran sind die Menschen gestorben? Liegen die Wälder entlang der Altmühl voller Skelette, und jeder Spaziergänger muss fürchten, dass er über solche Knochen stolpert? Schau einfach, was du alles herausfinden kannst. Vielleicht wird das ja eine schöne Sommergeschichte für eine komplette Seite.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Dann leg mal los! Ist sonst alles in Ordnung bei dir?«

Anne nickte nur und sah ihn etwas überrascht an. »Klar, was sollte nicht in Ordnung sein?«

»Na ja – so ein Haus will ja auch betreut werden.«

Sie winkte ab. »Es ist doch nur ein kleines Häuschen. Meinen größten Kampf führe ich im Garten gegen wuchernde Brombeeren und Schnecken, die mein bisschen Gemüse noch mehr lieben als ich. Aber ansonsten ist alles tadellos, es gibt keinen Grund zur Klage. Mach dir keine Sorgen.«

Damit verschwand sie etwas übereilt aus dem Zimmer des Chefredakteurs. Er war ein Freund ihrer Eltern gewesen, die vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Ständig machte er sich Sorgen, dass sie allein nicht zurechtkäme und dass das Hexenhäuschen an der Altmühl eines Tages zusammenbrechen würde, während sie halb verhungert in der Küche saß. Oder so ähnlich. Bis heute war sie sich nicht sicher, ob er ihr das Volontariat nur wegen des tragischen Tods ihrer Eltern gegeben hatte – oder weil er von ihrem Talent überzeugt war. Und jetzt auch noch der Festvertrag: Wollte Kuhn sie gut versorgt wissen?

Doch es hatte keinen Sinn, immer wieder über die gleichen Fragen nachzugrübeln. Stattdessen änderte sie im Redaktionssystem die letzten Kleinigkeiten im Artikel über die beiden Liebenden, loggte sich dann aus und machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg in ihr Häuschen, das unweit des Zentrums direkt am Fluss lag. Es war umgeben von einer Hecke und hohen Bäumen. Keiner der Besucher des Freibades auf der Insel gegenüber vermutete, dass hier jemand wohnte. Das Grundstück war schon so lange in Familienbesitz, dass es keine Urkunden mehr über den Kauf gab. Vor etwas mehr als hundert Jahren hatte ihr Urgroßvater das kleine Haus darauf bauen lassen. Im Erdgeschoss gab es einen großen Raum und eine geräumige Küche, im oberen Stockwerk zwei Zimmer und das Bad. Das war alles. Offensichtlich hatte er nur einen kleinen Zufluchtsort für sich und vielleicht auch noch für seine Frau gebaut. Für Kinder war in diesem kleinen Häuschen wirklich kein Platz. Oder höchstens für eines: Anne hatte den Verdacht, dass sie nur deswegen ein Einzelkind war, weil ihre Eltern lediglich ein Kinderzimmer hatten.

Doch an diesem Abend hatte Anne keinen Blick für die schöne Lage ihres Elternhauses. Stattdessen schob sie das Fahrrad in den kleinen Schuppen, der von Johannisbeersträuchern umgeben war. Gähnend erhob sich unter einem der Sträucher die braune Mischlingshündin, die früher ihrer Mutter gehört hatte. Tinka streckte sich ausgiebig und kam dann freundlich schwanzwedelnd zu ihrem jungen Frauchen, um sich ein wenig streicheln zu lassen.

Dann öffnete Anne die Haustür, die sie im letzten Sommer leuchtend blau gestrichen hatte, und stand bald darauf in der Küche. Helles Holz, Kräuter auf der Fensterbank und Sonnenflecken auf den Fliesen. Sie ließ sich für einen kurzen Augenblick auf einen der alten Küchenstühle fallen und schloss die Augen.

Um sie sofort wieder zu öffnen. In ihre Hand hatte sich eine feuchte Hundeschnauze geschoben. Tinka wartete immer den ganzen Tag geduldig im Garten auf sie, aber jetzt forderte sie ihr Recht. Und es gab keinen Grund, einfach hier herumzusitzen und der alten Standuhr beim Ticken zuzuhören. Mit einem kleinen Seufzer ging Anne ins Badezimmer, schlüpfte aus ihren Kleidern und zog ihre alte Laufhose und ein T-Shirt an. Dann schlüpfte sie in die leuchtend gelben Schuhe. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und war zufrieden mit dem, was sie da sah.

Kurz geschnittene, leuchtend rote Locken und dunkle Augen. Gebräunte Haut, die verriet, dass sie sich viel draußen aufhielt, und ein Haufen Sommersprossen, die sich unregelmäßig über ihr Gesicht und ihre Arme verteilten.

Anne lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu und stöpselte die Kopfhörer in die Ohren, bevor sie sich auf ihre übliche Abendrunde begab. Eine halbe Stunde lief sie jeden Tag nach der Arbeit, egal ob es Winter oder Sommer war – das war sie Tinka schuldig, die schwanzwedelnd neben ihr herlief.

Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie mit dem Laufen angefangen hatte: Es war der Abend nach der Beerdigung ihrer Eltern gewesen. Sie war nach der Trauerfeier nach Hause gekommen und hatte wie gelähmt auf einem der Stühle gesessen.

Sport war damals ihre Rettung gewesen – und Tinka der Ansporn. Vermutlich waren deren Vorfahren ausdauernde Jagdhunde gewesen, die sich mit einem Leben als Schoßhund nur schwer anfreunden konnten.

Wie jeden Tag bog sie von der Westenstraße auf den Ulrichsteig ein und rannte bergauf. Die Musik in ihren Ohren gab den Rhythmus vor, und sie spürte, wie ihr Herz unter der Anstrengung immer schneller schlug. Ob sie im Herbst wirklich den Halbmarathon wagen sollte? Fit genug dafür war sie auf jeden Fall. Sie steigerte das Tempo, als der Weg allmählich ebener wurde.

Erst unter der Dusche fielen ihr wieder die beiden Skelette ein. Der Rechtsmediziner hatte sich nicht einmal darauf festgelegt, dass es wirklich ein Mann und eine Frau waren. Vielleicht würde man herausfinden, dass es sich um zwei Frauen oder zwei Männer handelte? Um Mutter und Tochter? Einen Neffen und seinen Onkel? Womöglich war es ein lesbisches oder schwules Pärchen, dachte Anne lächelnd. Dann würde die Sache sicher noch richtig Schlagzeilen machen. Aber es war seltsam: Sie war sich eigentlich vollkommen sicher, dass es ein Mann und eine Frau waren.

Anne rubbelte sich die Haare trocken und wickelte sich in das Handtuch, bevor sie zum Kühlschrank lief. Stirnrunzelnd musterte sie den Inhalt. Welker Salat, ein vertrocknetes Käsestück und eine halb leere Dose mit Oliven.

»Ich glaube, du musst dein Hundefutter mit mir teilen, Tinka«, murmelte sie. »Oder du isst dein Hundefutter und begleitest mich anschließend in den Supermarkt. Was ist dir lieber?«

Tinka legte den Kopf ein wenig schief und sah sie aufmerksam an. Wie so oft hatte Anne das Gefühl, dass die Hündin sie ziemlich gut verstand.

Eine Stunde später teilte sie sich den Schinken gerecht mit Tinka, während sie das Brot ganz alleine aufessen durfte. Den vertrockneten Käse und den welken Salat hatte sie auf den Komposthaufen geworfen. Vielleicht erbarmten sich ja die Schnecken oder wenigstens eine Maus der Reste.

Dann setzte Anne sich unter ihren Lieblingsplatz im Garten. Ein alter Schaukelstuhl stand unter einem ausladenden Apfelbaum. Von hier aus konnte man durch die Bäume hindurch den Fluss glitzern sehen. Sein Rauschen beruhigte auch den aufgeregtesten Gedanken. Mit der einen Hand kraulte Anne gedankenverloren ihre Hündin hinter den Ohren, in der anderen hielt sie ihre Teetasse. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind eines Sommers ein kleines Zelt unter dem Apfelbaum aufschlagen durfte. Nachts hörte sie den Fluss und die Tiere, die im nächtlichen Garten herumschlichen. Als ihre Mutter nach dem Ende der Sommerferien darauf bestanden hatte, das Zelt wieder abzubauen, war Anne untröstlich gewesen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie den Rest ihres Lebens an genau diesem Platz unter dem Baum verbracht. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Mutter gelächelt und ihr liebevoll über die Wange gestreichelt hatte. »Du wirst eines Tages aus Eichstätt hinaus in die große weite Welt wollen, Anne. Und dann wirst du deinen Apfelbaum vergessen. Das ist häufig so mit den Dingen, die einem als Kind wichtig sind. Warte nur ab, bis du groß bist …«

Jetzt war sie groß, verdiente ihr eigenes Geld und saß immer noch am liebsten unter diesem Baum und sah nach oben in die Zweige oder auf den stetig fließenden Fluss. Ihre Mutter hatte sich geirrt: Manche Dinge änderten sich einfach nie.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie endlich aufstand und sich auf den Weg in ihr Bett machte.

3

Mühsam schleppte sie sich durch eine enge Gasse, auf der Unrat und Fäkalien lagen. Hinter ihr johlten ein paar zerrissene Gestalten. Anscheinend waren sie hinter jemandem her, der schreckliches Unrecht begangen hatte. Und diesen Menschen wollten sie töten. Jetzt.

Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass sie diejenige war, um die es hier ging. Sie hatte die Regeln dieser Leute verletzt und sollte jetzt mit ihrem Leben bezahlen. Verzweifelt versuchte sie, ihre Beine schneller zu bewegen, aber sie schienen in dem stinkenden Dreck der Straße festzukleben, ließen sich kaum noch vom Boden lösen. Schweiß lief ihr die Schläfen hinab, während sie unter Aufbietung der letzten Kräfte ein Bein vor das andere setzte. Warum nur war sie so schwerfällig? Sonst rannte sie den Menschen doch einfach davon – aber dieses Mal wollten ihre Beine den verzweifelten Befehlen nicht gehorchen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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