Rot ist schön - Rita König - E-Book

Rot ist schön E-Book

Rita König

4,8

Beschreibung

"Natascha hatte ihr erklärt, dass die Farbe Rot und das Wort schön im Russischen den gleichen Wortstamm haben. Rot ist schön." 1985. Silke ist 15, als die Mutter die Familie mitsamt dem jüngeren Bruder verlässt, erst Brandenburg, später Deutschland den Rücken kehrt. Silke bleibt beim Vater zurück - ohnmächtig, die entstandene Lücke zu schließen. Fortan ist sie auf der Suche: Nach sich selbst, nach einer, ihrer Familie, nach Stabilität, deren Fehlen auch durch den Zusammenbruch der DDR omnipräsent wird. Und liebt dabei so radikal, wie sich das Land um sie herum verändert. Jetzt, zehn Jahre später, findet Silke den Mut, ihre Suche zu beenden. Die Bahn bringt sie zur Mutter nach Holland - weg von allem Vergangenen - und ebnet so Kilometer für Kilometer den Weg in Silkes Zukunft. "Rot ist schön" - ein Roman über persönliche und gesellschaftliche Umbrüche und der immerwährenden Suche nach Zugehörigkeit.

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Seitenzahl: 409

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Das Buch

Silke ist fünfzehn, als die Familie zerbricht. Die Mutter lässt Silke beim Vater zurück, zieht mit dem Bruder aus. Zehn Jahre später begibt sich Silke auf die Hunderte Bahnkilometer lange Reise zum neuen Wohnort der Mutter, ohne sicher zu sein, ob sie dort aussteigen wird.

In diesen zehn Jahren sucht sie in rothaarigen Liebhabern und Freundinnen eine, ihre Familie, von der sie lediglich spürt, dass es sie irgendwo gibt. Währenddessen verändert sich das Land – schnell und brutal. Mit der Mauer fallen ganze Bezugssysteme, nichts hat mehr Bestand. Genauso liebt Silke: Sie verletzt und wird verletzt und findet keinen Halt. Vorerst.

Die Autorin

Rita König (*1962) ist diplomierte Betriebswirtin und lebt in Rathenow/Brandenburg.

Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Aufenthaltsstipendien, zum Beispiel im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf und dem Künstlerdorf Schöppingen. Für die Arbeit an ihrem aktuellen Roman Greta reiste sie mithilfe eines Recherchestipendiums des Brandenburgischen Kultusministeriums nach Polen und ins Baltikum. Ihre Erzählungen erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien deutscher Schriftstellerverbände.

Rot ist schön ist ihr Romandebut.

Rita König

ROTISTSCHÖN

ROMAN

MIT GLOSSAR IM ANHANG

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© Originalausgabe 2015 Der Kleine Buch Verlag, KarlsruheProjektmanagement, Lektorat, Umschlaggestaltung, Satz & Layout:Beatrice HildebrandKorrektorat: Tatjana WeißUmschlagabbildung: olga_lebedeva/Fotolia.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-2129-9

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen:ISBN: 978-3-7650-9108-7

www.derkleinebuchverlag.dewww.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

Für meinen Sohn

1

In der Kindheit war immer Sommer.

Silke zog den Schal fester und den Reißverschluss des Anoraks noch etwas höher. Wurde man erwachsen, wenn es auch andere Jahreszeiten gab? Wenn die Mutter nicht mehr Welten entfernt war, sondern nur Bahnkilometer? Wenn man selbst Mutter wurde?

Sie hockte sich neben den weinroten Stein, wischte mit dem Zeigefinger den Schnee vom Namen des Vaters.

»Hättest du nicht warten können, auf eine kleine Natascha oder einen Micha? Wer wird den Flitzbogen für sie bauen, wer mit ihnen russische, englische oder französische Vokabeln pauken, wer ihnen zeigen, wie die Feile gehalten werden muss oder die Speichen am Rad festgezogen?«

Sie legte die Handfläche an den Stein, schluckte.

»Ja, Papa, natürlich. Peter wird ein guter Vater sein. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ja, ich weiß. Ich habe es dir versprochen.«

Sanft strich sie über den Schriftzug. Die Beine begannen zu kribbeln. Silke hauchte warmen Atem auf die kalten Finger, hob den Blick und schaute über den Stein, über die Friedhofsmauer hinweg.

»›Jederzeit‹, hat Mutter geantwortet, postwendend.«

Sie wechselte das Standbein.

»Telefonnummer, Wegbeschreibung, Bahnverbindungen säuberlich aufgelistet. Zehn Jahre. Zehn Jahre sind viel. Meinst du, ich schaffe das?«

Sie stand auf, schluckte die Spucke hinunter und zog die Nase hoch. Peter würde bestimmt akzeptieren, wenn sie nicht fuhr. Sie strich in Bauchhöhe über den Anorak und das baumelnde Schalende.

Bald schon wäre Peter für immer bei ihr, sie würden sich lieben und die Familie sein, die sie sich seit ihrer Kindheit gewünscht hatte.

Sie seufzte. Würden sie nicht.

»Ja, Papa, ich weiß. Zehn Jahre sind gar nicht so viel.«

Die kahlen Äste der Blutbuche trugen einen weißen Flaum aus Schnee. Weihnachten. Es gab nicht nur den Sommer, es gab auch Weihnachten, kinderjahrelang. Weihnachten mit dir, Papa. Im Losgehen fegte sie Schneekrümel vom Stein und kühlte damit die Wangen.

Am nächsten Morgen ging sie zum Bahnhof und kaufte eine Fahrkarte.

2

»Kälte bringt einen guten Sommer«, sagte eine Frau zu Silke, bevor sie sich an der Anzeigetafel vergewissern konnte, auf dem richtigen Bahnsteig zu stehen. »Werde ich viele Pfifferlinge finden.« Sie sprach mit dem gleichen Akzent wie Natascha.

Das Dröhnen des einfahrenden Zuges unterbrach ihr Reden nur kurz. Während Silke die Fahrkarte festhielt, tief ein- und ausatmete und sich dabei vorbetete, jederzeit umkehren zu können, ließ sie sich von den Worten der Frau in den Waggon ziehen.

»Pilzsuppen haben wir am liebsten gegessen«, plauderte die Frau weiter, und Silke hatte plötzlich den Geruch frischen Hefekuchens in der Nase. Die warmen Kanten durften sie naschen, ihr Bruder das erste Stück, sie das zweite. Nein, kein Hefekuchen. Nie mehr. Pilzsuppen. Weiter zuhören, nicht denken, nicht jetzt, erst ein paar Kilometer fahren, auf dem Weg sein, wenigstens das. Es versuchen. Sie wollte es doch wenigstens versuchen. Also: Pilzsuppen, Pfifferlinge. Sie rief sich den Duft der gelben Lamellen in Erinnerung, sah die daran klebenden Moose und Kiefernnadeln vor sich, roch das Aufwallen – auch Tage später hing immer ein Rest in der Luft, der Appetit machte auf gebratene Pilze mit Rührei, oder welche im Gulasch. Silke schluckte, dabei sprach die Frau jetzt gar nicht mehr vom Essen, sondern von ihrem Sohn und dessen klarer Stimme. Von seinen ersten Gesangsauftritten. Ihr Stolz darauf füllte das Abteil wie eine Parfumwolke. Der Mann auf See, sie allein, tags und auch nachts arbeitend, kräftezehrend, schwer. Das Schwere strich sie mit einer sanften Handbewegung beiseite und fuhr fort, vom Fleiß des Sohnes zu schwärmen. Jeden Abend hätte er geübt, auch morgens, noch vor dem Frühstück; letzte Woche wäre sie auf seinem Konzert gewesen, eines in einem riesigen Saal, er sei nun erfolgreich, betonte sie, leiser, und ließ die Finger, die beim Erzählen minutenlang gekreist waren, ruhig wie die Hände eines Pianisten auf die Oberschenkel sinken: »Es hat sich gelohnt.«

Damit stieg die Frau aus. Die Wolke aus Stolz und Geschichten hing im Waggon, ringsherum war es leise, als hätten sämtliche Mitreisende der Frau gelauscht. Erst der Schaffner durchbrach die Stille. Silke hörte Zeitungsrascheln, ein Kofferschloss schnappte, jemand räusperte sich. Sie zog den Reißverschluss des Anoraks auf und schaute aus dem Fenster, aber die Frau war nicht mehr zu sehen. Eine Gesangsausbildung. Gitarre spielte Silke auch, leidlich, singen lernte man in der Schule. Nicht für ein bedeutendes Konzert. Nicht für solch einen Stolz, solch phantastische Abschlüsse. Die Mutter opfert sich auf, damit aus dem Kind etwas werden kann und das Kind erfüllt all ihre Wünsche. Was für ein Klischee. Ach, Quatsch, sie wurde einfach nur schwach, sobald jemand mit dem Akzent sprach, der für sie zu Natascha gehörte wie ihr rotblondes Haar und ihr großer Busen. Ganz sicher waren alle anderen Reisenden längst wieder mit sich selbst beschäftigt. Die Wolke aus Geschichten hatte sich aufgelöst wie die gesamte Sowjetunion, und wer sagte überhaupt, dass die Frau eine wahre Geschichte erzählt hatte? Selbst wenn – was hatte das alles mit ihr zu tun?

Silke zog den Anorak aus, der Zug war gut beheizt, sie wickelte den Schal um die Hände. Auf diese Weise hatte sie ihre Finger schon als Kind gewärmt, nachdem die Handschuhe schneenass geworden waren. »Is ljesu jolatschku wsjali mj damoj«, summte sie vor sich hin, das Tannenbäumchen aus dem Wald, das hatten sie immer zusammen geholt, wie in diesem russischen Lied. Nie war der Bruder dabei, nur der Vater und sie zogen jeden Heiligabend los.

Auch an den ganz normalen Tagen saß nur sie beim Vater in der Werkstatt. Während er einen krummen Nagel nach dem anderen in den Schraubstock spannte und gerade klopfte, erzählte sie ihm, was sie gelernt hatte und ließ sich mit Beispielen von Traktoren und Mähdreschern, die der Vater reparierte, den Sinn von Mathematik erklären. Oft sangen sie gemeinsam, wobei sie es nie schaffte, bei »Jedermann liebt den Samstagabend« mehr Strophen zu wissen als er, der dem »Bobo waro fero Sato deh« aus Nigeria das chinesische »Ren ren si huan pai lu« hinzufügte, das sie sich nie merkte, der die spanischen Verse nicht mit den portugiesischen verwechselte und die Zeilen sogar auf Esperanto sang, einer Sprache, zu der es gar kein Land gab. Saß der Bruder doch einmal dabei, dirigierte Silke und krakelte die russischen Texte mit deutschen Buchstaben auf ein Blatt, damit er mitsingen konnte. Doch er holte höchstens seine Buntstifte und malte aus jolatschka das Tannenbäumchen. Der Vater dagegen übte mit ihr die kyrillischen Schriftzeichen und die Grammatikregeln und dachte sich Eselsbrücken aus: »Die Jahre liegen mir auf dem Buckel, dritter Fall«, sagte er zum Bruder, als der Russischunterricht auch für ihn begann, und setzte mit steiler Schrift die richtigen Endungen in dessen Aufgabenheft. Silke war stolz, denn bei all ihren Klassenkameraden kontrollierten die Mütter die Hausaufgaben. Sie verstand jedoch nicht, weshalb der Vater mitlernte. Fragte sie ihn, ob er in die Sowjetunion fahren wolle, wich er aus. Später vielleicht, sagte er manchmal. All die anderen Länder aus den Liedern, England, China, Afrika, lagen hinterm Mond. Polyglott war das erste Fremdwort, das Silke sich merkte. Sie benutzte den Ausdruck gern, obwohl ihr dabei jedes Mal der zweite einfiel: polygam, den sie am Dorfkonsum gehört hatte und der ebenso ihren Vater meinte.

Ein Junge weinte, ein paar Sitze weiter. Silke lauschte, aber sie hörte nur den Jungen, nicht, ob die Mutter oder der Vater ihn mit leisem »sch, sch« beruhigten. Draußen lagen die Felder und Wiesen unter einer dünnen Schneeschicht. In einem Dorf, das nur aus dem zerfallenen Bahnhofsgebäude und wenigen Häusern dahinter zu bestehen schien, stand ein Mann an der Schranke. Neben ihm ein Mädchen auf einem pinkfarbenen Fahrrad mit Stützrädern.

Silkes erstes Fahrrad war dunkelgrün gewesen. Stützräder besaß es nicht. Der Vater fuhr vor ihr, mit dem Bruder auf dem Kindersattel. Silke sah nur den Rücken des Vaters, aber sie hörte den Bruder unentwegt plappern, wenn sie nicht gerade so laut schnaufte, dass sie gar nichts mehr hörte außer ihrem eigenen Atem.

Es war nicht weit bis zum Haus der Großeltern am Stadtrand, aber sie ging noch nicht einmal zur Schule und der Weg zwischen den Kiefernwurzeln war sandig. Sie kämpfte mit dem Lenker, den Reifen, die im Mahlsand wegrutschen wollten, die Wangen schon dunkelrot.

Vor der großen Lichtung drehte der Vater sich um und zwinkerte ihr zu: »Gleich gibt es Tee!« Sobald sie den Waldsaum erreichten, ließ der Vater Silke als Erste trinken.

Im Garten der Großeltern kletterte sie auf den Kirschbaum und spuckte die Kerne so weit es ging. Oder sie sammelte Essen für die Kaninchen: Von Schafgarbe durfte sie nur die gut riechenden Stiele pflücken, an denen die Großmutter zur Kontrolle schnupperte, Vogelmiere erst, wenn die weißen Blüten zu sehen waren, keinesfalls blaue oder rote, Gänseblümchen, Löwenzahn und Melde immer. Währenddessen schnitt der Großvater mit einem riesigen Messer Kohlrüben in gleich große Stücke. Scharr, scharr, schabten die langen Zähne Schicht für Schicht, wie der Vater mit dem Hobel, nur dass bei den Kaninchen keine Späne übrig blieben. Manchmal gab der Großvater Silke die Blechschüssel mit den Körnern und sie durfte den Weizen zwischen die weißen und dunkelbraunen Hühner werfen. Sie wartete immer darauf, dass der stattliche Hahn ansetzte zu schreien – dann nämlich kamen alle Hennen zu ihm gelaufen. Oft hackte der Großvater Holz für den Kohleherd in der Küche und den Kachelofen, und wenn Silkes Vater ihm das abnehmen wollte, sagte er: »Lass sein, Junge, ich brauche das.« Sie fand es lustig, dass jemand zu ihrem großen Vater Junge sagte.

Der Junge ein paar Sitze weiter weinte immer noch. Ohne zu schniefen, melodisch, leise. Es klang, als würde er sich selbst in den Schlaf wiegen.

Was hatte der Bruder getrieben auf dem Hof der Großeltern? Es wollte ihr nicht einfallen, auch nicht, was der Vater tat außer Holz zu schichten. Die Mutter putzte drinnen und schickte ihre Mutter hinaus; nur deshalb suchte die Großmutter mit Silke draußen Gräser für die Kaninchen. Es war ein Familienausflug und was der Bruder tat, interessierte Silke an diesen Sonntagen nicht.

Zu Hause dagegen waren sie ein unschlagbares Paar, zwei Gipfelstürmer auf dem einzigen Hügel in Nähe des Dorfes. Mit dem Taschenmesser ritzten sie Zeichen in dünne Ahornstämme, bauten Indianerbuden, in denen sie Eichenlaub ankokelten und die ersten Zigaretten auf Lunge rauchten, bis ihnen so schlecht wurde, dass sie Erde aßen, um den beißenden Geschmack loszuwerden. Manchmal sammelten sie tote Mäuse und Feldhamster für Nachbars Kater. Unzertrennlich waren sie – solange sie allein durch die Gegend stromerten. Jedes Mal jedoch, wenn sie den Hof betraten, verflog der Zauber, wurde aus dem tapferen Krieger der kleine Junge und aus der Squaw das ungezogene Mädchen, das den Jüngeren in Gefahr gebracht hatte. Dann hasste Silke ihren Bruder; weil er die Mutter liebte und weil er sich auf Onkel Werner freute, den er flüsternd Wartburg-Ritter nannte.

Im Kinderzimmer gab es eine ganze Regalreihe voller Märchenbücher. Der Bruder schwärmte von Ritterburgen und verschlang die Geschichten von der blauen Blume, aber die Kampfszenen überblätterte er. Silke hingegen mochte das Klirren der Schwerter am liebsten, probte es mit Weidenstöcken, die in der Luft Peitschenknalle hinterließen. Aus den russischen Märchen sog sie den Mut der Helden, kletterte auf die Wipfel der hohen Kiefern und bog sich mit ihnen im Wind, braute mit der Hexe Baba Jaga Zaubertränke, kaute Regenwürmer und Engerlinge, die beim Umgraben an die Oberfläche geworfen worden waren, und spuckte sie mit grässlichen Flüchen in den Wald.

Nur wochentags waren sie allein unterwegs. Sonntags musste Silke helle Pullis anziehen und auf dem Hof bleiben.

An einem der letzten Sommerferientage ihres dritten Schuljahres hatte der Vater ein Mädchenfahrrad mit nach Hause gebracht.

»Erst einmal müssen wir es herrichten, hilfst du mir?«

Silke holte Lappen und Bürste, setzte sich zu ihm ins Gras und beobachtete, wie der Vater die Speichen nachzog und die Kette spannte. Plötzlich sprang die Mutter von ihrem Platz unter dem Apfelbaum auf, wohin sie sich mit einem Eimer Bohnen gesetzt hatte, und lief auf den Abschnittsbevollmächtigten zu, der langsamen Schritts den Hof betrat. Die Mutter schrie auf. Der Vater ließ den Schlüssel fallen und ging zu ihr. Sie redeten leise.

»Was wollte der ABV?«, fragte Silke den Vater, als er sich mit einem Stöhnen neben sie hockte.

»Großvater ist mit dem Rad verunglückt.«

»Aber er wird wieder gesund?«

»Nein.«

Am Tag der Beerdigung musste sie nicht in die Schule. Die Mutter hatte dunkelblaue Sachen bereitgelegt. Sehr viele Menschen in schwarzen Hosen und Röcken kamen; sie weinten oder drückten die Mutter. Silke weinte nicht; sie fror und wollte nach Hause. Begann der Bruder vom Großvater im Himmel zu erzählen, unterbrach ihn Silke sofort. »Großvater ist bei den Kaninchen!«, schrie sie ihn an und hielt sich die Ohren zu. Die Großmutter wurde verrückt, jedenfalls aus Silkes Sicht, denn die Frau, die wirres Zeug redete und sich in die Hosen machte, die sie nun statt der langen Röcke trug, erkannte Silke nicht mehr. Die Mutter brachte die Großmutter ins Krankenhaus und fuhr sie dort allein besuchen, aber sie fuhr auch sonst manchmal allein weg. In den Herbstferien unternahm Silke mit ihren Freunden eine erste Fahrradtour ohne Erwachsene, zum Häuschen am Stadtrand. Sie klopfte und klingelte, hüpfte von einem Bein aufs andere.

»Was ist nun?«

»Ja, ja, wartet doch, Großvater hackt bestimmt Holz.«

»Ich hör nichts.«

»Ich auch nicht. Lasst uns woandershin fahren.«

»Nein, er füttert vielleicht die Kaninchen, das dürfen wir dann auch, ganz bestimmt, oder Eier aus den Hühnernestern holen, die sind noch warm, oder …«

Sie klopfte wieder, laut, bis die Finger weh taten, nahm die ganze Hand. Weshalb lehnte der Spazierstock des Großvaters nicht an der Hauswand? Ihre Freunde schwiegen; irgendwann gab sie auf, sie fuhren zurück.

Im Spätherbst starb die Großmutter. Silke warf die dunklen Sachen vom Bett, lief hinunter zum Vater, der in der Werkstatt stand, ohne zu arbeiten. »Ich will da nicht hin.«

»Es ist wichtig, zur Beerdigung zu gehen. Du hattest deine Großmutter doch gern?«

»Ich hab sie auch gern, wenn ich nicht hingehe!«

»Das weiß ich. Aber es ist trotzdem wichtig.«

»Für wen denn nur?«

Der Vater seufzte. »Für die Leute.«

»Die Leute interessieren mich nicht«, antwortete Silke, »und du hast auch immer gesagt, dass man nur das tun soll, was man selbst will oder was wenigstens notwendig ist. Was ist daran notwendig?«

Der Vater setzte zu einer Erwiderung an, winkte aber ab und schwieg.

Die Mutter ließ ein Bild rahmen und hängte es ins Kinderzimmer. Wenn Silke traurig war, legte sie sich aufs Bett und schaute auf die Großeltern, die in Sepia vor ihrem Haus standen, auf der Gartenseite, ihr zulächelten.

Silke lächelte auch. Im Nachhinein erschienen ihr die Sonntagsausflüge zu den Großeltern wie ein einziger langer Tag in einer glücklichen Familie. Quatsch. Schon wieder. Glückliche Familie. Sie konnte sich ja nicht einmal erinnern, was jeder auf dem Hof oder im Garten der Großeltern gemacht hatte. Der Großeltern, die sie kannte. Die Mutter des Vaters war kurz nach ihrer Geburt gestorben, der Großvater im Westen; niemals kam er sie besuchen. Wie auch.

Silke rutschte auf dem Platz hin und her, schaute nach draußen, aber außer einer mit Raureif bedeckten Lichtung und nachfolgenden Tannenwäldchen war nichts zu sehen.

»Gemeinsam« konnte man bei all den Ausflügen zu den Eltern der Mutter jedenfalls nur die Fahrt und die Mahlzeiten nennen. Nichts weiter. Und nach dem Unfall des Großvaters gab es lange Zeit gar keine Radausflüge mehr.

Silke lehnte sich wieder an. Leise geführte Unterhaltungen plätscherten wie Wasser auf sandiges Ufer. Sonst war es still um sie herum.

In dem Sommer, der dem Tod der Großmutter folgte, fuhr die Familie ein paar Mal zum See. Der Vater lief auf einem Holzsteg auf und ab, um sie immer im Auge zu behalten. Die Mutter bestand darauf, dass Silke den Schwimmreifen trug, einen dunkelblauen Ring ohne jede Verzierung, mit kratzenden Schweißnähten. Der scheuerte an den Armen.

»Hab dich nicht so«, sagte die Mutter. Der Vater wies mit dem Kopf zu den Büschen am Ufer, zog ihr dort den Reifen über den Kopf.

»Na komm schon«, er zwinkerte, »hier sieht uns keiner.«

Silke übte am Ufer die Bewegungen der Beine und Arme und schob dabei den weißen Sand mit kräftigen Stößen beiseite. Das Schieben und Rudern klappte auch im Wasser. Aber sie blieb nicht oben. Nachdem der Vater eine Weile zugesehen hatte, wie sie sich im flachen Wasser quälte, kniete er sich hin und hielt sie fest. Sie musste die Übungen wieder und wieder absolvieren, sie koordinierte ordentlich, wie der Vater das nannte, und versank augenblicklich, sobald er sie losließ.

»Dann lernst du eben zuerst tauchen und danach schwimmen.« Der Vater gab auf. Und plötzlich klappte es. Silke schwamm unter Wasser, suchte Muscheln oder Steine und wenn sie Luft brauchte, stieß sie sich nach oben.

Mit dem Bruder hatte der Vater es nicht einfacher. Der planschte mit einem dunkelgrünen Krokodil, so groß wie er selbst, aber ohne Loch, in das er hätte schlüpfen können. Er konnte sich nur an dem Tier festklammern und mit den Beinen paddeln. Schon im weißen Sand schaffte er es kaum, seine Bewegungen abzustimmen. Wiederholt griff der Vater nach seinen Füßen, zog sie in die entsprechende Richtung und murmelte, dass das schon irgendwie klar wäre. Silke wollte fragen, was klar wäre, aber sobald der Bruder zu schluchzen begann, kam die Mutter und schalt den Vater, schimpfte in nicht enden wollenden Sätzen weiter, während sie den Bruder zur Decke schob und Silke, die alles mithören konnte, keine Beachtung schenkte. Die Worte waren ähnlich, es war nicht anders, als würde sie ausgeschimpft.

Die kurzen Sätze dagegen, die über den Hof schallten, verstand sie nicht. »Geh doch zu deiner Rothaarigen! Fick sie und lass mich in Ruhe!«

Silke war zehn und ein Dorfkind, sie konnte mit Begriffen wie Hure nichts anfangen. Ficken war etwas, das die Jungs manchmal sagten, und dann versteckten die anderen ihre Gesichter hinter den Händen und kicherten. Schlampen waren Frauen, die Schlüpfer draußen auf der Leine trockneten und nicht auf dem Gestell über der Badewanne.

Die Lautstärke war eindeutig; und nicht erst, als die Sätze häufiger fielen und Silke den Sinn verstand, wusste sie, dass es besser war, im Zimmer zu bleiben, wenn die Mutter abends schrie. Der Bruder weinte dann. Silke drückte ihn und ließ ihn in ihrem Bett schlafen.

Im Winter beharrte die Mutter ein paar Sonntage lang darauf spazieren zu gehen. Über den hellen Pulli musste Silke eine ebenfalls helle Teddyjacke ziehen und versprechen, sich zu benehmen. Sie durfte nicht vom Weg abweichen – weder um sich einen Spazierstock zu suchen, wie beim Großvater einer an der Hauswand gelehnt hatte, noch um Schneebälle zu formen oder Regentropfen von den Zweigen zu schütteln. Sie musste langsam gehen, was ihr sowieso schwer fiel, und manchmal an Mutters Hand, was ihr peinlich war. War Onkel Werner dabei, nahm er ihr auch noch den Bruder weg, denn sie sprachen die gesamte Zeit miteinander. Der Vater beantworte Silkes Fragen nach Vögeln oder Bäumen mit wenigen Worten und lief die übrige Zeit mit zusammengekniffenen Lippen neben ihr. Sie spazierten immer durch das Dorf, nie durch den nahen Wald und nie an der Hütte der Baba Jaga vorbei. Doch genau wie die Radausflüge hörten auch die Sonntagsspaziergänge irgendwann einfach auf.

3

Das Hexenhaus im Dorf stand nicht auf einem Hühnerfuß. Es war aus dunklem Holz und so klein, wie Silke sich das Haus der Baba Jaga vorstellte. Im Frühling schlichen die Kinder dorthin, um in dem verwilderten Garten Veilchen zu pflücken. Es war eine immer wiederkehrende Mutprobe. Silke kannte die Gerüchte, die sich um die windschiefe Kate rankten wie Efeu und Wein.

Verrückt sollte sie sein, die gebückt laufende Frau, die immer ein Kopftuch und mehrere Schürzen trug, die ewig bekleckert waren. Verrückt geworden vom Inhalt der Bücher, die sich auf dem Fußboden stapelten.

Die Frau kaufte im Konsum nur Milch und Brot, nie Kartoffeln oder Fleisch. Die Milch füllte sie in zahlreiche Schüsseln, die auf dem Grundstück überall herumstanden, sodass Silke ihre Schritte vorsichtig setzen musste, um sie nicht durch das Scheppern herauszulocken. Die Frau aß die rotgetigerten Katzen, die sie mit der Milch anlockte. »Wie die Chinesen«, sagten die Leute. »Wahrscheinlich ist sie selbst eine, man weiß ja nie. Hat überhaupt mal einer ihre Haare gesehen?« Und jemand zischte: »Nicht vor den Kindern.« Silke stellte sich deshalb Chinesen als gebückt laufende Frauen vor, die mehrere Schürzen übereinander trugen.

Gab es in der Schule eine Sorte Fleisch, die Silke nicht mochte, überlegte sie, wie wohl Katzenfleisch schmeckte. Sie dachte daran, wie sich der dicke Kater vom Nachbarn auf den Rücken legte und auf die doppelte Länge streckte, um gestreichelt zu werden. Jedes Mal entschied Silke, dass auch Katzenfleisch nur sehnig sein könne und schon deswegen für sie ungenießbar, denn sie hasste nichts mehr, als diese Sehnen zwischen den Zähnen zu spüren und sie nach stundenlangem Pulen immer noch nicht herauszubekommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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