Rote Augen - Myriam Leroy - E-Book

Rote Augen E-Book

Myriam Leroy

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Beschreibung

Eine Frau bekommt eine Nachricht auf Facebook. Sie ist Radiomoderatorin und Denis ein Bewunderer, dessen Freundschaftsanfrage sie angenommen hat. Zögerlich lässt sie sich auf den Austausch ein und es beginnt eine Eskalation, über die sie von Anfang an keine Gewalt hat: Seine erst anbiedernd verehrenden Nachrichten werden immer aufdringlicher, schließlich offen sexistisch und rassistisch. Als sie sich von ihm distanziert, beginnt Denis, sie zu demütigen, ihr bei der Arbeit nachzustellen und Gerüchte über sie zu verbreiten. Freunde und Kolleginnen, Polizei und Anwälte reagieren hilflos oder mit Unverständnis, während das Leben der Erzählerin langsam zerstört wird. Schließlich nimmt sie Rache – und wird selbst zur Täterin erklärt. »Rote Augen« ist ein Roman, der einen nicht mehr loslässt: Mit dem Kunstgriff einer Erzählerin, die durchgehend in indirekter Rede berichtet und somit nur darüber charakterisiert wird, was andere über sie sagen, macht Myriam Leroy die Machtlosigkeit und Isolation spürbar, der Opfer digitaler Gewalt ausgesetzt sind und die sie selbst erlebt hat. Sie zeigt: Der Frauenhass, der sich in den sozialen Netzwerken Bahn bricht, ist kein Online-Phänomen – sondern ein höchst realer Albtraum.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2023

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MYRIAM LEROY, geboren 1982, lebt in Brüssel. Sie ist Journalistin, Schriftstellerin und Autorin mehrerer Theaterstücke. Ihr Debütroman Ariane war für den Prix Goncourt du premier roman nominiert. Rote Augen ist ihr zweiter Roman, er stand auf der Shortlist des Prix Médicis 2019, des Prix Blù Jean-Marc Roberts und des Prix Révélation SGDL.

DANIELA HÖGERLE, geboren 1975, studierte in Freiburg und an der Université de Caen Normandie Romanistik, Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre. Rote Augen ist ihre erste literarische Übersetzung.

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Les yeux rouges © Éditions du Seuil, 2019

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außeninisteriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der Fédération Wallonie-Bruxelles.

Editorische Notiz:

Das Zitat von Gustave Flaubert folgt der Übertragung durch Elisabeth Edl, Madame Bovary, Carl Hanser Verlag, München 2012;die Zitate von Alfred de Musset folgen der Übertragung durch Sigrid Behrens, Man spielt nicht mit der Liebe, Drei Masken Verlag, München 2016; alle anderen Zitate übertragen von Daniela Högerle.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2021

Deutsche Erstausgabe September 2023

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Porträt der Autorin Seite 2:

© Romain Garcin

1. Auflage

ISBN EPUB 978-3-96054-323-7

Für Justin und Elfi

Ein Krampf warf sie auf die Matratze.

Alle traten heran. Sie lebte nicht mehr.

Gustave Flaubert, Madame Bovary (1857)

Er heiße Denis und freue sich sehr, meine Bekanntschaft zu machen.

Wir kannten uns nicht. Also, ich kannte ihn offensichtlich nicht, aber er wisse ziemlich gut, wer ich sei. Er sei ein Hörer meiner Radiosendung, der meine Arbeit sehr schätze, sie genau verfolge und für die er sich sogar als Experte aufspielen könne, LOL, deswegen erlaube er sich dieses Eindringen auf Facebook (und hoffe, dass es mich nicht störe).

Er finde mich sehr charmant, ehrlich. Und nicht einfach bloß hübsch. In meinem Blick sei so etwas wie ein Sprung, eine Bruchstelle, er wisse nicht, wie er es ausdrücken solle, aber tief in meinen Pupillen sei etwas, etwas Trauriges, das seine Neugierde geweckt habe.

Ich solle ihn auf keinen Fall falsch verstehen, er habe nicht vor, mich anzubaggern. Er sei in einer Beziehung, schon immer und ewig, verheiratet, ja, Zwinker-Emoji, und stolzer Papa eines siebenjährigen Sohnemanns.

Denis sei Verwaltungsangestellter in einem Pharmaunternehmen, ein stinklangweiliger Job – wie ich mir sicher vorstellen könne –, aber ganz gut bezahlt, also bleibe er wie ein folgsamer Köter dort, um seine dreitausend im Monat zu verdienen, fast schon ein Manager-Gehalt, obwohl er überhaupt keinen Abschluss habe und Schule und er schon immer zwei Paar Schuhe gewesen seien, sogar drei, LOL. Daher schätze er sich glücklich, diesen Job gefunden zu haben, und benehme sich anständig – einer wie er, der doch eigentlich ein rebellisches Temperament habe, der sein ganzes Leben lang für die Autoritäten eine harte Nuss gewesen sei und der sich heute, mit seinen 49 Lenzen, immer noch als Rotzbengel bezeichnen würde, Teufelchen-Emoji.

Ob ich schon von der Facebook-Seite Denis the Menace gehört habe? Das sei sein Überdruckventil, sein Zeitvertreib. Er leite mir den Link weiter, bei Interesse brauche ich ihn nur anzuklicken.

Dort sei er ganz er selbst und habe seinen Spaß, Bizeps-Emoji.

Schon von klein auf habe er eine unbändige Leidenschaft für das Kino gehabt. Zu faul, selbst einen Film zu drehen und vor allem nicht genug in der Szene vernetzt, um den Durchbruch zu schaffen, glaube er, endlich seinen Weg gefunden zu haben, indem er Filmkritiken, Zusammenfassungen von Pressekonferenzen und Künstlerinterviews anbiete.

Die Staatspresse, die hörigen Medien (ich solle nicht sauer sein, das gehe nicht gegen mich) hätten seine Prosa immer von oben herab behandelt: zu unabhängig, nicht »corporate« genug. Er verbeuge sich nicht vor subventionierten Regisseuren. Da er also von unseren Institutionen nichts erwarten könne, habe Denis den Arsch hochgekriegt und sein eigenes Ding erschaffen, seinen Blog, einen Freiraum, weit weg von den kommerziellen und ideologischen Zwängen der Webseiten und Zeitungen des Establishments.

Und nein, es sei ihm nicht entgangen, dass ich ja selbst für die Prawda schufte, und er verurteile mich dafür nicht, von irgendetwas müsse man ja leben. Aber er sei sicher, dass sich tief in mir drin ein Hund schüttele, der genauso verrückt sei wie er. Und genau diese kognitive Dissonanz hätte er gern in einem Interview ergründet, in einem Gespräch, das auf seiner Seite veröffentlicht werden solle und das ich ihm nach freiem Ermessen und in einem Kontext, der mir Freude bereiten würde, gewähren sollte.

Wenn ich wolle, könne ich noch über seine Begegnung mit Robert Rodriguez lesen, ein Anthologiebeitrag – sage er, ohne anzugeben –, durch den er die Achtung des Milieus gewonnen habe, das übrigens ein kleines Milieu von kleinen Nutten sei. Daraus folge: Wenn man nur seinem Gewissen die Treue schwöre, blieben immer noch Menschen übrig, die das zu schätzen wüssten.

Jetzt sei der Ball in meinem Feld. Er umarme mich (ganz ohne Hintergedanken), errötendes Emoji.

Echt nett, dass ich ihm geantwortet hätte. Er habe sich wirklich sehr darüber gefreut. Auch wenn ich mir Zeit gelassen hätte, aber Ente gut, alles gut, vor Lachen weinendes Emoji. I made his day und wahrscheinlich auch seine week. Er könne sich schon vorstellen, dass ich von allen Seiten in Anspruch genommen werde, und er habe eigentlich damit gerechnet, mit seiner Flaschenpost unentdeckt zu bleiben. Denis fühle sich privilegiert. Schließlich komme es nicht alle Tage vor, mit einem Star plaudern zu können (auch wenn er vermute, dass ich dieser Bezeichnung widersprechen würde, bleibe er dabei: Ich sei sehr wohl ein Star).

Was solle er jetzt schreiben, um mich bei der Stange zu halten?

Witze? Er kenne nur den einen: Kommt ’ne Frau beim Arzt … LOL.

Komplimente? Er vermute, dass ich Unmengen davon bekäme und dass sich mit platten Speichelleckereien sicherlich keiner aus dem Schwarm meiner Verehrer herausheben würde. (Apropos Schwarm: Auf dem Heimweg habe er auf der Landstraße einen Formationsflug von Staren gesehen. Ob ich wisse, dass man das Formationsflug nenne? Ob das nicht wunderschön sei? Er hätte weinen können – ein Vogelballett! Zur Untermalung habe nur noch das Adagio von Albinoni gefehlt.)

Was ich gern über ihn wissen wolle (wenn ich überhaupt etwas wissen wolle)?

Er jedenfalls sei schrecklich neugierig. Auf alles. Auf mich. Alles über mich. Auf das Leben, das ich führe, die Marke meiner Haarspülung, meine Meinung zum Israel-Palästina-Konflikt, zum Zoff pro und kontra Erdnüsse in M&M’s, meine UK-Schuhgröße … einfach alles halt.

Um die Wahrheit zu sagen: Er langweile sich wahnsinnig auf der Arbeit. Seine Kollegen seien unterirdisch. Keiner zum Reden oder Lachen. Er führe buchstäblich ein Murmeltierleben: Jede Woche grüße eine Kopie der vorherigen und mittlerweile tue er nicht einmal mehr so, als wäre er wach. Jetzt zum Beispiel sei er gerade von einem Nickerchen aufgewacht. Er habe seine Methoden, schiebe eine ruhige Kugel und mache seit einiger Zeit einen Mittagsschlaf nach dem Essen. Zugegebenermaßen sei er intellektuell unterfordert.

Er habe sich lange Zeit damit abgefunden. Die sich ständig wiederholenden Aufgaben und die fehlenden belebenden Interaktionen hätten ihm jedoch ermöglicht, sein eigenes Innenleben zu formen. Im Grunde genommen sei die Langeweile seine Universität gewesen. Sie habe ihm die Muße gegeben, nachzudenken, tiefer zu graben und sich durch das unendliche Verzeichnis existentieller Fragen zu arbeiten. Aber jetzt habe er genug davon. Er wolle Schrägstrich brauche einen Sparringspartner, wie beim Boxen. In diesem Fall eine Sparringspartnerin: mich. Eine Gegenspielerin und vor allem eine Verbündete, jemanden mit Niveau, kompromisslos, eine, die die Latte hoch hängen, die ausweichen und den Ball zurückwerfen würde. Eine Dosis mentales Dope. Er brauche verdammt nochmal einen schriftlichen Austausch, um die Stromkreise wieder zu verbinden. Jedes Mal, wenn er jemanden kennenlerne, führe er unbewusst dieses Casting durch. Und jedes Mal sei der Kandidat gescheitert.

Bis zu jenem gelobten Tag, als ich auf seinem Radar aufgetaucht sei.

Er wolle mir ja keine Angst einjagen, aber er habe alle Jetons auf meine Zahl gesetzt.

Ob ich die Herausforderung annehme? Ob ich einschlage, Faust-Emoji?

Ob er mir zuerst von seinem Leben erzählen solle? Vielleicht, ja, warum eigentlich nicht. Es sei nicht mieser als das von anderen, manchmal sogar eher cool.

Also: Er sei auf dem Land geboren und in einem hübschen Steinhaus mit großem Garten aufgewachsen, eine glückliche Kindheit. Sein Papa, ein Linienpilot, war nicht oft da, der Ärmste, und seine Mama habe sich um den Nachwuchs gekümmert. Keine Geschwister, aber eine Menge Hunde. Seine Eltern seien bis heute ein Paar, trotz zahlreicher Gewitter, die über ihre Ehe hereingebrochen seien. Ghislaine und René seien der lebende Beweis dafür, dass ein alter, erloschen geglaubter Vulkan wieder Feuer spucken könne.

Diese Geschichten von dämlichen Stars und Sternchen, die sich scheiden ließen, als würden sie den Bus nehmen – so was mache Denis unfassbar wütend.

Seine Mutter hätte zehnmal, hundertmal gehen können, sie hätte es sogar nach heute geltenden Normen tun müssen, aber sie habe durchgehalten. Sein alter Herr sei kein einfacher Mensch, räumte er ein, er sei ein Hitzkopf, manchmal brutal, und obwohl er nie gesehen habe, dass er die Hand gegen die Alte erhoben hätte, sei er, das könne man wirklich nicht leugnen, ein Macho der alten Schule, ein Pilot eben: männlich, stark, ein Kerl, der selten Gefühle preisgebe. Und außerdem hätten Seitensprünge, Geliebte, Bordellbesuche damals dazugehört. Doch selbst wenn die Gesellschaft das mehr oder weniger toleriere, müsse man doch einiges aushalten, wenn man selbst betroffen sei.

Aber seine Mama sei geblieben. Sie habe ihren Garten gepflegt, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Und wenn sie heute an der Seite ihres Mannes, der jetzt Rentner sei, ihren Enkel aufwachsen sehe, da wisse sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen habe, und sie bereue nichts.

Denis empfinde für diese Frau tiefsten Respekt. Sie habe alles für ihr einziges Kind und ihren Ehemann geopfert, einfach alles. Ihre Jugend, ihre Schönheit (denn sie sei sehr schön gewesen), ihren Komfort und sogar ihre Ausbildung zur Krankenschwester, ein Beruf, den sie außerhalb ihres Grundstücks nie ausgeübt habe. Wenn das Wort Würde ein Gesicht hätte, dann wäre es das seiner Mutter.

Und das, obwohl Denis sie seine ganze Jugend über an den Rand der Verzweiflung gebracht habe, worauf er nicht stolz sei, das könne ich ihm glauben: Er sei heimlich abgehauen, habe gekifft, sei besoffen Auto gefahren und habe sämtliche läufige Hündinnen des Viertels mit nach Hause gebracht … Ghislaine wiederum habe ihn gefahren und abgeholt, wartend wachgelegen, wenn er zum Schlafen nicht nach Hause gekommen sei, habe ihm ein Katerfrühstück gemacht, wenn sein Magen vom Saufen gebrannt habe … Das alles, ohne sich jemals zu beklagen.

Wenn er sich die Mütter von heute ansehe, die sich stolz auf Instagram zu ihrem Versagen und ihren Unzulänglichkeiten bekennen würden, wenn er einen Blick in ihre Chaos-Wohnzimmer, auf ihre verdreckten Kinder und ihre Nicki-Hausanzüge werfe, dann sage er sich, dass die mal schön ein Praktikum bei seiner Mutter machen sollten – immer wie aus dem Ei gepellt, lächelnd, fröhlich, selbst nach dem Kloputzen.

Wenn man von so einer Frau aufgezogen worden sei, dann müssten alle anderen natürlich unter dem Vergleich leiden. Er habe sich Zeit gelassen, bis er unter der Haube war, und auch wenn es dieses Mal passe, so komme er nicht umhin, beim Betrachten seiner Frau nur einen Abzug seiner Mutter zu sehen, für die alles so viel einfacher und fröhlicher scheine.

Niemand aus seiner Familie habe jemals zu irgendeinem Psychodoc gemusst, in eine Kur, eine Depression durchstehen (dieser Trend mache Denis ratlos), und erst recht habe keiner einen Burnout, Boreout oder Brownout gehabt – um es mal wie eine Neurotikerin auszudrücken.

Er selbst habe nie das Bedürfnis gehabt, seinen inneren Mülleimer vor wem auch immer auszukippen: Schamgefühl sei eine Kardinalstugend – das hätten ihm seine Eltern unter anderem beigebracht. Er finde, dass die Leute mit ihrer ganzen Selbstdarstellung, auf jedem Gerät mühelos lesbar, vollkommen uninteressant seien. So trauere er zum Beispiel den Zeiten nach, als die Stars noch Stars gewesen seien, distanziert, still oder gar stumm, als das Publikum nichts von der Farbe ihrer Socken oder ihrer politischen Meinung gewusst habe. Diese »politisch engagierten Singer-Songwriter« würde er am liebsten mit Lowkicks wegfegen. Und was solle man zu diesen militanten Öko-Schauspielerinnen sagen? Die sollten ihren Job machen und die Fresse halten. Man habe sie um nichts anderes gebeten. Die Zuschauer brauchten absolut keine Lektion in Kompostieren oder Fahrradfahren, erst recht nicht von Multimillionärinnen, die sich nur mit Chauffeur in der Limousine fortbewegten und bei denen zu Hause ihre spanische Conchita putze.

Denis versuche, seinen Sohn im Einklang mit den Prinzipien zu erziehen, die seine eigene Erziehung gelenkt hätten, und seiner Meinung nach habe er sich bis jetzt nicht allzu schlecht geschlagen: James sei ein höflicher Junge, der Guten Tag und Danke sage, ein Kind, dem alles gelinge, was es sich vornehme, das einwandfreie Noten mit nach Hause bringe, talentiert Fußball spiele und sich schon sein eigenes Taschengeld mit Autowaschen im Viertel verdiene.

Denis könne sich nicht damit rühmen, immer ein toller Kerl gewesen zu sein, aber ein guter Vater, das schon.

Puh, er finde, dass er mir schon ganz schön viel über sich erzählt habe. Schon witzig, wie er sich mir anvertraue, obwohl er sich doch eben noch als zurückhaltend beschrieben habe! Ich hätte das wohl bei ihm ausgelöst. Er stelle bei mir ein außergewöhnliches Gespür fürs Zuhören fest (eher fürs Lesen, LOL).

Er lasse mich jetzt allein, heute Abend führe er Madame aus. Kino und Restaurant, das letzte Mal sei lange her.

Küssendes Katzen-Emoji.

So, jetzt habe er endlich entdeckt, was ihn an meinen Augen so angesprochen habe. Sie würden leicht nach unten gehen, selbst wenn ich lachte. Ein Gesichtsausdruck, der zeige, dass hinter dem unbekümmerten Auftreten eines hübschen Mädchens meines Alters noch eine Ernsthaftigkeit übrig sei – die entzückende Narbe eines Schicksalsschlags, mit dem ich mich abgefunden hätte.

Denis sei von seiner Entdeckung ganz aufgewühlt. Er spüre, dass das vielleicht der Schlüssel für unsere zukünftigen Unterhaltungen sei. Ich solle ihm doch mehr von mir erzählen und nicht so zurückhaltend sein.

Um mich dazu zu bringen, könne er nochmal in den Ring steigen und etwas mehr von sich selbst preisgeben.

Er liebe Schokolade über alles. Er nenne sich übrigens den Homme Chocolat (Zwinkern an Olivia Ruiz, die er süß finde). Ich könne ihn ganz einfach mit einem Schokoladenfondue rumkriegen. Mit Erdbeeren. Hmm, ihm laufe schon das Wasser im Mund zusammen, wenn er nur daran denke.

Direkt nach Schokolade komme Kino.

Seit er Vater sei, habe er leider nicht mehr so oft die Gelegenheit, ins Kino zu gehen, aber eigentlich spiele das keine Rolle: Erstens ziehe er sich alles aus dem Netz und zweitens seien die großen Meister sowieso schon tot. Er sei total in Romy Schneider verliebt – in ihre Eleganz, ihre Anmut, den durchscheinenden Teint, die kleinen bläulichen Adern an ihrer Stirn, nicht zu vergessen, wie sie als Kaiserin den Kopf halte, er liebe alles an ihr, bis zur feinen Wölbung ihres Kopfes (und jeden Tag, den Gott schaffe, bedauere er, sie nicht mehr treffen zu können). Romy verkörpere für ihn DIE Frau in all ihrer Wunderbarkeit, die prächtigste Kreatur auf Erden.

Und dann gebe es noch Musik. Ohne Dogmatismus. Aber auch ohne Zugeständnis an den Zeitgeist. Als anspruchsvoller Musikliebhaber habe er für vergänglichen Hype nichts als abgrundtiefe Verachtung übrig. Denis habe weder Gott noch Meister, er knie trotzdem vor Morissey nieder. Der beste Beweis dafür, dass er kein Fanatiker sei: Nichts verursache bei ihm mehr Mordgelüste als veganer Terrorismus, Clown-Emoji, auf das ein Wasserpistolen-Emoji gerichtet war.

Denis hoffe, dass ich Fleisch äße und mein freier Wille noch nicht von den Kugeln des essgestörten Totalitarismus niedergestreckt worden sei. Eines Tages vielleicht, er dürfe doch träumen, werde er mich in ein slawisches Restaurant, ins Paradies für Billigfleischfans, zum Essen ausführen – sein Lieblingsrestaurant (wieder ein Beweis dafür, dass er wirklich für alles offen sei).

Und ansonsten treibe er ein wenig Sport, vor allem drinnen: Eisenstemmen, wie alle Kerle eben, ohne Leidenschaft, aber dafür mit Opferbereitschaft. Für sein Alter finde er sich echt nicht schlecht gebaut.

So, jetzt sei ich dran!

(Oh ja, und er sei begeistert, dass ich seine Freundschaftsanfrage angenommen hätte.)

Für mich sei das vielleicht nur ein Detail, aber für ihn bedeute es viel: Ich sei frei, glücklich trotz allem, hier zu sein, um mit France Gall zu sprechen, LOL. Kurzum, Denis sei total happy, mein Like unter seinem neuen Profilbild entdeckt zu haben. Er sei nicht sehr gierig, er nehme, was ich zu geben bereit sei, selbst wenn es nur ein Like sei, dann sei es eben nur ein Like und er wisse es zu schätzen.

Er dagegen habe festgestellt, so ziemlich alles zu liken, was ich poste, er sei mehr als ein Fan: ein richtiger »serial liker«.

Das Foto, das ich vorgestern gepostet hätte, sei herrlich – er sage es so, wie er es meine –, und wenn ich ihm dieses leichte Übermaß an Vertraulichkeit verzeihen möge: Man müsse ein Eunuch sein, um beim Anglotzen nicht über die eigene Zunge zu stolpern. Ahuuuuuuuuu! Grauer-Wolf-Emoji.

Ich hätte viel Stil. Irgendwie aus der Zeit gefallen, unmöglich zu datieren. Ob auch ich mich in der Epoche geirrt hätte?

Er für seinen Teil fühle sich wie ein Staatenloser. Nichts oder kaum etwas aus der modernen Welt (außer den sozialen Netzwerken, würde ich sicher antworten, LOL) ginge ihn wirklich etwas an. Er empfinde eine große Melancholie, wenn er sich mit den Nachrichten konfrontiert sehe, und pendele – paradoxerweise, gebe er zu – hin und her zwischen tiefer Gleichgültigkeit gegenüber dem, was um ihn herum geschehe, und einer morbiden Faszination für das, woran er sich stoße. Und zugleich schätze er sich irgendwie glücklich, denn er ziehe aus dieser Nostalgie für eine Welt, die er im Grunde nie gekannt habe, die Energie für sein Werk. Aus Trauer, Wut, Unverständnis […] schöpfe er die Besessenheit, die ihn beim Schreiben auf Denis the Menace ergreife.

Ob ich sie mal angeguckt hätte? Was hielte ich davon? Ob mich seine Sorgen (er vermute, sie seien den meinen ähnlich) berührt hätten?

Er hoffe, dass er mir bei der Lektüre seines bissigen Beitrags über Marion Cotillard zumindest ein Lächeln habe entlocken können. Was sei das doch für eine beschissene Schauspielerin, was für eine unerträgliche, eingebildete Pute. Wenn heute die Außerirdischen die Erde entdecken würden, würden sie das Werk von Marion ganz klar auf den Kompost werfen, Kacke-Emoji.

Er beuge sich vor, nehme meine Hand und hauche einen zarten Kuss darauf.

Was für eine schöne Überraschung, mich dort getroffen zu haben!

Der letzte Ort auf dieser Welt, an dem er erwartet hätte, mir über den Weg zu laufen, sei diese Straßenpunk-Konzerthalle nur ohne Punkerhunde. In seiner Vorstellung sei ich eher der Pop-FM-Typ als unanständiger Elektropunk. Eher Aperol Spritz mit Freundinnen auf der Terrasse eines Concept Stores als gestrecktes lauwarmes Bier in einer Garage.

Wie dem auch sei, er wolle sich hiermit für sein merkwürdiges Verhalten entschuldigen. Das sei wegen seiner Frau Sonia gewesen, die sei eifersüchtig. Ja, eifersüchtig auf mich. Er müsse zugeben, dass er ihr unheimlich viel von mir erzähle, nur Gutes, und dass er normalerweise keine Lorbeeren für Journalisten übrig habe, Zwinker-Emoji, deshalb sei Sonia zuerst neugierig gewesen und so langsam aber ein bisschen genervt deswegen.

Ob mir denn aufgefallen sei, dass sie sich bei Denis’ Begrüßung im Hintergrund gehalten habe? Da sei das feurige Temperament der andalusischen Frau erwacht. Na gut, es sei ja auch meine eigene Schuld. Was ich auch so hübsch sein müsse, Emoji mit Sternchen-Augen?

Im Nachhinein bereue er, so unterkühlt zu mir gewesen zu sein. Wie er das wiedergutmachen könne?

Ob ich in den nächsten Tagen einmal Zeit für ein Käffchen hätte? Das wäre auch die Gelegenheit, mit dem besagten Interview voranzukommen, dem ich mit allen Mitteln auszuweichen versuche – das könne er genau sehen, Äffchen-Emojis, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen.

Er habe wirklich nicht vor, mich abzuschleppen, erinnere er nochmals. Es gehe nur um die Gelegenheit, mich in einem informellen Rahmen besser kennenzulernen. Er sei nämlich felsenfest davon überzeugt, dass wir uns viel zu sagen hätten. Auf ganz unterschiedliche Weise seien wir beide Rebellen, Knüppel zwischen den Beinen des Mainstream-Denkens. Ich tanze bei der Prawda bestimmt aus der Reihe, weil ich kein Blatt vor den Mund nehme.

Allerdings würde er sich gern eine kleine Bemerkung erlauben – nicht falsch verstehen. In meiner letzten Kolumne in der Samstagssendung hätte ich ironische Bemerkungen in Bezug auf den Bürgermeister gemacht, der Maßnahmen gegen Obdachlose vor einem Supermarkt einführen wolle. Okay, mein Witz sei lustig gewesen, das gebe er gern zu. Aber ob ich kürzlich einmal einen Ausflug in die Gegend gemacht hätte? Es sei ja schön und gut, den Mann als halben Nazi hinzustellen, aber ob ich der Wahrheit mal ins Gesicht gesehen hätte? Also diesem Elendsquartier, zu dem der Vorplatz immer mehr werde, kotzendes Emoji? Es sei immer einfacher, schöne theoretische Reden zu schwingen, wenn man beim Brotholen nicht über einen völlig besoffenen Bettler steigen müsse. Ob ich so eine Welt für meine Kinder wolle? Für meine Tochter, wenn ich eines Tages eine hätte? Nichts für ungut, versicherte er mir, das habe er mal loswerden müssen. Das Menschenrechtsgetue sei in seinen Augen eine Kinderkrankheit. In seiner Jugend habe er sich damit angesteckt, aber das echte Leben habe ihn schnell davon geheilt. Das einzig Wahre sei die Realpolitik. Wie alt ich doch gleich sei? Er werde nächste Woche fünfzig, Zwinker-Emoji. Am 27. habe er den ganzen Abend Bereitschaftsdienst im Café Moji. Ob er die Freude haben werde, mich bei dieser Gelegenheit wiederzusehen, Geschenk-Emoji?

Er habe Geburtstag gehabt. Und ich sei nicht in seinem Blickfeld aufgetaucht. Schade. Das Fest sei perfekt gewesen. Wenn wir uns auf den Zufall verlassen müssten, damit sich unsere Wege erneut kreuzten – ob ich Denis gestatten würde, dem Zufall nachzuhelfen?

Damit der mir zum Beispiel zuflüstere, dass er jeden Sonntag das Wochenende in der Sunset Bar, nur einen Katzensprung von seinem Haus entfernt, beerdige? Dass er meistens alleine dort hingehe, um den Pöbel zu beobachten, und für ein Treffen zur Verfügung stehe? Dass man ihn dort suchen müsste, sollte er eines Tages verschwinden?

Er sage das jetzt einfach mal so. Damit ich wisse, auf die Gefahr hin, dass er sich wiederhole, dass es ihm sehr gefallen würde, mehr über mich zu erfahren. In seinen Augen sei ich ein ganz schön dickes Brett (LOL, er habe gerade bemerkt, dass man mich bei dieser Formulierung für einen Fettkloß halten könnte, dabei sei ich das doch ganz und gar nicht). Ich hielte ihn vielleicht für ein bisschen verrückt – Pech, das Risiko nehme er in Kauf –, aber er müsse mir beichten, dass er sich jede meiner Kolumnen im Studiostream ansehe. Er habe einen Kalenderalarm gesetzt, um keine zu verpassen. Jawohl, er gehöre zu den drei armen Wichten ohne eigenes Leben, die sich mit dieser Kamera verbänden.

Ihm sei aufgefallen, dass ich mich nicht sehr aufrecht hielte – ob er mich ermuntern könne, mehr auf meine Körperhaltung zu achten? Einerseits sei es schlecht für meinen Rücken und andererseits würde es dem Publikum meine schöne und üppige Oberweite verbergen, verlegenes Emoji.

Mein gelber Pullover von Dienstag habe ihm gut gefallen. Ganz schön mutig, an einer anderen hätte es knallig und wenig schmeichelhaft ausgesehen, aber ich könne so was tragen – auf ganz schön hübsche Art und Weise.