Rote Ratten - Xiaolong Qiu - E-Book + Hörbuch

Rote Ratten E-Book und Hörbuch

Xiaolong Qiu

4,8

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Beschreibung

Eine Reise nach Amerika, davon hat Oberinspektor Chen schon lange geträumt. Und nun soll der dichtende Polizist als Leiter einer Schriftstellerdelegation für zwei Wochen Gast in den USA sein. Doch diese einmalige Gelegenheit kommt für Chen mehr als ungünstig. Denn er hat einen Auftrag erhalten, der, gefährlich und ehrenvoll zugleich, seinen vollen Einsatz in Shanghai erfordert: Nach dem Tod eines Polizisten in einem Bordell verpflichtet ihn die oberste Behörde, endlich den "Roten Ratten", korrupten Beamten und schmiergeldzahlenden Neokapitalisten, das Handwerk zu legen. Doch schon bei den ersten Recherchen muss Chen feststellen, dass er es mit einflussreichen Parteikadern zu tun bekommen wird, die vor nichts zurückschrecken. Der vierte Fall aus der beliebten Krimi-Reihe mit Oberinspektor Chen.

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Seitenzahl: 481

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Zeit:6 Std. 21 min

Sprecher:Johannes Steck

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Zsolnay E-Book

Qiu Xiaolong

Rote Ratten

OBERINSPEKTOR CHENS

VIERTER FALL

Aus dem Amerikanischen von

Susanne Hornfec

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Titel A Case Of Two Cities bei St. Martin’s Press in New York.

Zitatnachweis

Wir danken dem Übersetzer Volker Klöpsch für die freundliche Abdruckgenehmigung des Gedichts »Früh nahmen wir …« (Kapitel 13) und des Gedichts »Entwächst dem Meer der helle Mond …« (Kapitel 25). Entnommen aus: Der seidene Faden. Gedichte der Tang. Aus dem Chinesischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Volker Klöpsch. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1991.

ISBN 978-3-552-05791-3

© Qiu Xiaolong 2006

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2007/2016

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © Tim McConville/zefa/CORBIS

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

PROLOG

Der anonyme Anruf traf an einem Abend im Mai um Viertel nach eins beim Polizeipräsidium Fuzhou ein.

»Kommen Sie sofort ins Goldrausch. Zimmer 135. Was Sie dort finden schafft es auf die Titelseite der Fujian Bild.«

Wachtmeister Lou Xiangdong, der den Anruf entgegennahm, war der Name dieses Etablissements bekannt. Es war ein sogenanntes Karaoke-Center, das unter dem Deckmantel harmloser Sangesfreuden die sexuellen Bedürfnisse gewisser Beamter und Geschäftsleute befriedigte. Der Anruf übermittelte eine unmißverständliche Botschaft: In dem fraglichen Zimmer ging etwas Skandalöses vor.

Auch das noch. Wachtmeister Lou war müde und schlecht gelaunt. Er hatte sich wegen der Nachtzulage für die Spätschicht gemeldet. Der Junggeselle Mitte Dreißig hatte vor kurzem eine großartige Frau kennengelernt, mit der er am nächsten Morgen Dimsum essen gehen wollte. Die Zulage für eine Woche Spätschicht würde wohl die Kosten decken, die ihre schlanke Gegenwart erfordern würde. Er träumte bereits von goldgelben Dampfkörbchen, in denen winzige Krabbentäschchen und Krebsbällchen lagen. Ihr perlendes Lachen würde die Oberfläche einer Tasse Drachenbrunnentee kräuseln und ihre elegante Hand für ihn das grüne Lotusblatt von dem mit Klebreis gegarten Hühnchen reißen …

Hin und wieder gingen beim Präsidium anonyme Anrufe ein, die sich als falscher Alarm herausstellten. Da die Korruption sich wie eine unkontrollierbare Seuche im ganzen Land ausbreitete und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter klaffte, machten manche Menschen ihrem Frust auf diese Weise Luft. Wenn die Polizei dann pflichtschuldig die einschlägigen Etablissements überprüfte, fand sie die K-Mädels, die angeblich mit Gästen ohne Begleitung sangen, in der Regel so sittsam gekleidet vor, als wären die puritanischen Regeln der Mao-Zeit noch in Kraft. Aber natürlich wußte man nur zu gut, daß ihr Service hinter den geschlossenen Türen der Séparées alles andere als zugeknöpft war.

Lou jedoch bezweifelte, daß es sich bei solchen Anrufen immer um Denunziationen oder Scherze handelte. Es war bekannt, daß derartige Lokalitäten Verbindungen zu hochrangigen Beamten der Stadtverwaltung und damit Zugang zu Insider-Informationen hatten. Das war wohl der Grund, warum dort Polizeirazzien in etwa so effektiv waren wie Wasserschöpfen mit einem Bambuskorb.

Der Wachtmeister beschloß, etwas zu unternehmen. Der Anrufer hatte dringlich geklungen und sogar eine Zimmernummer angegeben. Wie andere Polizeibeamte in niederen Diensträngen machte auch Lou sich Sorgen, weil im »Sozialismus chinesischer Prägung« die Korruption überhandnahm. Er informierte seine Kollegen nicht, sondern steckte eines der Diensthandys ein und machte sich in einem Jeep auf den Weg.

Auf der Bühne in der großen Eingangshalle des Goldrausch tanzte vor einer Chorus-line aus Bikinimädchen eine in durchsichtige weiße Schleier gehüllte, gertenschlanke Tänzerin barfuß zu einer verspielten Melodie; sie schien einem der Wandgemälde mit den fliegenden Göttinnen in Dunhuang entstiegen. Neben der Bühne warteten aufgereiht die K-Mädels in schwarzen Mini-Slips und Plastiksandaletten. Eine von ihnen stand auf, hastete auf Lou zu und streckte ihm ihre dünnen, bleichen, an Hühnchenflügel erinnernden Arme entgegen. Er kam sich vor wie in einer Bordellszene aus einem alten Film. Hinter den Türen der Séparées, die von einem spärlich beleuchteten Korridor abgingen, meinte er, vielstimmiges Keuchen und Stöhnen zu vernehmen. In der Lobby schwänzelten zwei oder drei Kunden um die K-Mädels her-um und verhandelten dabei mit dem muskulösen Nachtportier, der einen traditionellen chinesischen Anzug in Schwarz trug.

Lou wandte sich ebenfalls an den Nachtportier, der, durch Rauchwolken hindurchgrinsend, sofort mit dem Verkaufsgespräch begann.

»Mein Name ist Pang. Wir freuen uns, Ihnen unsere Dienste anbieten zu dürfen. Einmal das Zifferblatt umrunden kostet hundert Yuan. Aber für einen reichen und erfolgreichen Mann wie Sie, ist das bei weitem nicht genug. Mein Vorschlag wären drei Runden. Das beinhaltet allerdings nicht die Gebühr für den Stich. Für eine ganze Nacht gibt es Rabatt. Die Einzelheiten können Sie mit dem Mädchen Ihrer Wahl besprechen. Da hätten wir beispielsweise Meimei, ein so hübsches und talentiertes Kind. Ihr Spiel entlockt der Jadeflöte herzzerreißende Lieder.«

Das Zifferblatt umrunden bedeutete wohl eine ganze Stunde, vermutete Lou. Was mit »dem Stich« oder dem »Spiel auf der Jadeflöte« gemeint war, war nicht schwer zu erraten. Er zog seinen Polizeiausweis.

»Bringen Sie mich in Zimmer 135.«

Pang sah ihn an wie ein aufgeschreckter Schlafwandler und begann sofort mit einer wortreichen Tirade, um den Polizisten davon zu überzeugen, daß dort niemand sei. Schließlich standen sie vor der fraglichen Tür. Sie war verschlossen, kein Licht drang nach außen. Auf Lous Drängen hin öffnete der Nachtportier mit einem Zweitschlüssel, stieß die Tür auf und knipste die Deckenbeleuchtung an.

Sie erhellte eine makabre Szene. Auf dem Sofabett lagen zwei nackte Körper, ihre Beine waren ineinander verschlungen wie die Stränge einer fritierten Teigstange. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haupthaar und langen, behaarten Gliedmaßen und ein junges, mageres, kaum entwickeltes Mädchen von höchstens siebzehn oder achtzehn Jahren. Sie hatte schwach ausgebildete Brüste und einen breiten Streifen schwarzes Schamhaar. Im Raum stank es nach Sex und anderen verdächtigen Dingen. Die beiden befanden sich offenbar im Tiefschlaf. Das grelle Licht weckte sie nicht.

Selbst als Lou den Mann an der Schulter rüttelte, zeigte er keine Reaktion. Als er sich zu ihm hinabbeugte, stellte er mit Entsetzen fest, daß der Mann tot war. Das Mädchen schlief mit einem lüsternen Lächeln auf den Lippen weiter, ihre rechte Hand ruhte auf dem kalten Bauch des Mannes.

Dann machte Lou eine weitere verblüffende Entdeckung. Bei dem Toten handelte es sich um Inspektor Hua Ting, den Leiter der Sonderkommission des Polizeipräsidiums Fuzhou. Instinktiv griff Lou nach einer Decke und verhüllte den Leichnam, dann zog er ihm ein Augenlid hoch. Darunter starrte ihn ein blutunterlaufenes Auge an, das eine unmißverständliche Botschaft übermittelte. Die Cornea war noch nicht völlig verschleiert, was seine Vermutung bestätigte, daß der Tod erst vor kurzem eingetreten war. Anschließend sammelte Lou Huas am Boden verstreute Kleidungsstücke auf. In einer der Hosentaschen spürte er etwas Hartes, eine Packung Zigaretten der Marke Fliegendes Pferd.

Das Mädchen erwachte. In panischer Angst fuhr es hoch, fiel aber gleich wieder zurück und warf den Kopf hin und her, während sich sein nackter Körper wand wie ein Reisfeldaal. Lou mußte den Tatort fotografieren.

»Bewegen Sie sich nicht!« rief er ihr zu und zückte seine Kamera. Sie brach in hysterisches Gelächter aus. Die Bilder wären in der Tat das richtige für die Fujian Bild. Doch so etwas würde er nie tun. Hua war nach seinem Eintritt in den Polizeidienst einer seiner Ausbilder gewesen.

»Beim achtzehnten Höllenkreis, Ratten und Schlangengezücht«, heulte das Mädchen, als befände es sich noch in einem Alptraum. Ihr Blick hatte keinen Fokus. »Alter Dritter, man sollte dir den Schwanz in tausend Stücke hacken. Ein kleiner Schluck, winzig wie eine Träne. Hab ihn nie gesehen. Kenne ihn nicht.«

Aus der war mit Sicherheit nichts Vernünftiges herauszubringen. Er mußte das Revier anrufen. Der Fall war ein echter Skandal. Man würde um Schadensbegrenzung bemüht sein, zumal korrupte Polizisten jetzt sogar schon in Fernsehserien vorkamen. In Zeiten des Goldrauschs schien niemand immun, nicht einmal ein altgedienter Beamter wie Hua. Lou erreichte seinen Vorgesetzten Ren Jiaye trotz der späten Stunde und berichtete. Gegen Ende seiner Ausführungen hielt er plötzlich inne.

»Was ist los?« fragte Ren.

Etwas schien hier in der Tat nicht zu stimmen. Lou fiel plötzlich der Fall ein, an dem Hua zuletzt gearbeitet hatte, laut Volkszeitung war es »Chinas bislang bedeutendster Korruptionsfall«. Die Ermittlungen betrafen Xing Xing, einen hohen Parteikader und Geschäftsmann aus der Provinz Fujian, dessen Schmuggelimperium sich dank seiner guten Beziehungen auf alle Regierungsebenen ausdehnte. Genauer gesagt ermittelte man gegen die darin verstrickten korrupten Beamten, denn Xing selbst hatte das Land wohlweislich verlassen. Aber diese Gedanken teilte Lou seinem Vorgesetzten nicht mit.

Nachdem er das Telefonat beendet hatte, suchte Lou Huas Privatnummer heraus, doch dann zögerte er. Er ging im Zimmer auf und ab, während das Mädchen heulte wie eine Elektroorgel und Pang noch immer dastand wie ein Krieger aus der Terrakotta-Armee.

Zu seiner Überraschung traf bereits nach weniger als zwanzig Minuten eine Gruppe der Inneren Sicherheit unter der Führung von Kommissar Zhu Longhua am Tatort ein. Das Auftauchen der Inneren Sicherheit, die von der Parteiführung bei politisch brisanten Fällen eingesetzt wurde, war insofern gerechtfertigt, als es sich bei dem Opfer um einen Polizisten handelte, der möglicherweise in einen Sexskandal verwickelt war. Dennoch war ihr rasches Eintreffen angesichts der späten Stunde erstaunlich. Die Beamten der Inneren Sicherheit übernahmen sofort das Regiment. Ohne seine Tatortschilderung abzuwarten, schickten sie ihn vor die Tür und begannen das Zimmer zu durchsuchen, die Zeugin zu vernehmen und Fotos zu machen.

Lou und Pang standen verdattert im Flur. Lou hatte nicht den nötigen Dienstgrad, um sich mit der Inneren Sicherheit anzulegen, auch wenn ihn deren Vorgehen stark irritierte. Sie machten nicht einmal Anstalten, Pang zu vernehmen. Dieser bot Lou eine Zigarette an. Es war eine Camel, eine weitaus teurere Marke als Fliegendes Pferd.

»Sind Sie Inspektor Hua schon einmal begegnet, Pang?«

»Nein, ich arbeite seit drei Jahren hier, aber ich habe ihn nie gesehen.«

»Und das Mädchen?«

»Nini. Die ist nicht regulär bei uns angestellt. Eine Aushilfe ohne K-Lizenz. Sie wissen ja, wir befolgen peinlich genau die Vorschriften.«

Es war absurd, dachte sich Lou, daß K-Mädels eine berufsethische Unterweisung durchlaufen mußten, bevor sie ihre Lizenz bekamen.

»Wann haben Sie heute abend mit der Arbeit begonnen?«

»Gegen acht. Ich wußte wirklich nicht, daß jemand in diesem Zimmer war. Es stand nichts im Belegbuch. Ich kann mir das nur so erklären, daß Nini sich vor Beginn meiner Schicht hier eingeschlichen hat.«

Lou hatte den Eindruck, daß Pang die Wahrheit sagte. Der Nachtportier hatte keinen Grund, die Sache anders darzustellen. Als sie ihre zweite Zigarette beendet hatten, kam Kommissar Zhu kopfschüttelnd heraus.

»Das Mädchen sagt, Hua sei hier Stammkunde gewesen. Er war zwar erst Anfang Fünfzig, hatte aber Probleme mit der Erektion. Deshalb nahm er regelmäßig Tiger-und-Drachen-Pulver, eine aus Südostasien eingeschmuggelte Droge, die auf dem Schwarzmarkt hohe Preise erzielt und ziemlich wirkungsvoll ist. Am früheren Abend hat er angeblich eine halbe Flasche Schnaps getrunken und dann eine doppelte Dosis von diesem Zeug eingeworfen. Sie sagt, sie hätte keine Veränderung an ihm wahrgenommen, außer daß er an diesem Abend zweimal gekommen sei. Danach seien sie beide erschöpft eingeschlafen. Sie hat überhaupt nicht mitgekriegt, was mit dem Mann neben ihr passiert ist.«

Lou war wie vor den Kopf gestoßen. Durch den Türspalt sah er das Mädchen, das hysterisch zitternd am Fußende des Divans saß. Wie hatte die Innere Sicherheit so schnell ein Geständnis aus ihr herausholen können? Zhu ging wieder ins Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.

Lou dachte an die Bemerkungen von Pang, der nun vollkommen verwirrt aussah. Lou nahm eine weitere Zigarette von ihm an. Zweifel stiegen zusammen mit den Rauchspiralen auf. Hua, der Leiter der Sonderkommission, war als verläßlicher Polizist und moralisch integrer Mensch bekannt. Das paßte nicht mit dem leeren, wie von Drogen vernebelten Gesichtsausdruck des Mädchens zusammen. Wenn die Dinge sich so verhielten, wie Zhu sie eben geschildert hatte, dann hätte sich das Mädchen Wachtmeister Lou gegenüber nicht derart hysterisch verhalten müssen.

»Hundert Särge. Womöglich ist das hier der erste«, murmelte Lou unwillkürlich, während er den Zigarettenstummel austrat.

»Särge?« wiederholte Pang völlig verständnislos.

Lou erläuterte seine Äußerung nicht. Weitere düstere Vermutungen überkamen ihn. Huas Kollegen hatten sich über dessen letzten Auftrag Sorgen gemacht. Xing war bekannt als jemand, dessen Arme bis an den Himmel reichten. Nachforschungen über die einflußreichen Beamten anzustellen, die hinter Xing standen, kam einem Stochern im Hornissennest gleich.

Erst kürzlich hatte auch der chinesische Ministerpräsident in einer Presseerklärung die Korruption als Krebsgeschwür bezeichnet, die das System zersetze. »Um diese korrupten Parteifunktionäre zu bekämpfen«, sagte er, »habe ich hundert Särge bereitgestellt. Neunundneunzig für sie und einen für mich.« Und das war nicht nur leeres Gerede gewesen. Bei den vielen »in einem riesigen erdumspannenden Netz verstrickten« Parteibeamten war nicht auszuschließen, daß mit ihnen auch der Ministerpräsident zu Fall käme.

»Haben Sie den letzten Fall von Richter Di im Fernsehen gesehen? Der dunkelhäutige Richter hat seinen eigenen Sarg bis vor den Palast getragen.«

»Richter Di?« wiederholte Pang. »Sie meinen den unbestechlichen Beamten aus der Song-Zeit?«

Mit der Sarg-Metapher hatte der Ministerpräsident vermutlich diese uralte Legende aufgegriffen. In seinem Bemühen, korrupte Beamte zu bestrafen, hatte Richter Di einen Sarg bis vor den Kaiser geschleppt und damit deutlich gemacht, daß er bis zum bitteren Ende kämpfen würde. Nun hatte tausend Jahre später ein ähnliches Unterfangen zu Huas unrühmlichem Ende geführt.

Zhu kam erneut aus dem Zimmer und sagte: »Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Lou. Das war eine lange Nacht für Sie. Hua und Nini werden für die nötigen Tests in die Klinik geschickt, und er wird anschließend in die Leichenhalle überführt. Wenn Sie wollen, können Sie seine Familie benachrichtigen.«

Das war das letzte, was Lou wollte. Hua hinterließ eine alte, kranke Frau. Sein einziger Sohn, den man während der Kulturrevolution als gebildeten Jugendlichen aufs Land geschickt hatte, war dort bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen. Lou fragte sich, ob die alte Dame diesen neuerlichen Schicksalsschlag überleben würde.

»Hua war lange Jahre mein Kollege. Eigentlich sollte ich ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Ich werde mit ins Krankenhaus fahren.«

Es handelte sich um eine Spezialklinik der Armee. Einmal mehr mußte Lou vor der Tür warten und vom Korridor aus zusehen, wie der altgediente Polizist, mit einem weißen Laken bedeckt, von einem Beamten der Inneren Sicherheit hineingerollt wurde. Wieder blieben ihm nur die Zigaretten, von denen er sich eine an der anderen ansteckte. All die Jahre, so rekapitulierte Lou mit einem bitteren Geschmack im Mund, hatte Hua die billigste Marke, Fliegendes Pferd, geraucht. In diesen hochfliegenden Zeiten war das ein klarer Gesichtsverlust, aber Hua war nichts anderes übriggeblieben. Die Arztrechnungen seiner Frau wurden nicht länger von dem inzwischen nahezu bankrotten Staatsbetrieb übernommen, in dem sie früher gearbeitet hatte. Wo hätte Hua das Geld hernehmen sollen, um Stammkunde in einem Karaoke-Club zu sein? Er, mit seiner Schachtel Fliegendes Pferd in der Hosentasche. Lou steckte sich eine weitere Zigarette an.

Dann kamen die ersten Testergebnisse. Die medizinische Untersuchung hatte ergeben, daß das Mädchen früher am Abend Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Der in ihrer Vagina verbliebene Samen stammte von Hua. Dessen Autopsie würde erst am folgenden Tag stattfinden. Der Arzt hielt es für möglich, daß eine Überdosis Tiger-und-Drachen-Pulver zu Herzversagen geführt hatte.

Damit schien der letzte Nagel in den Sarg getrieben. Lou fuhr jedesmal zusammen, wenn sein Mobiltelefon läutete. Alle möglichen Leute innerhalb und außerhalb des Präsidiums baten um Auskunft. Er wunderte sich, wie schnell sich die Nachricht von dem Fall verbreitet hatte. Man war schockiert. Keiner der Anrufer hätte Hua so etwas zugetraut.

Lou nahm sogar das Ferngespräch eines gewissen Yu Keji entgegen, der in Polizeikreisen auch Alter Jäger genannt wurde, ein pensionierter Kollege aus Shanghai, der weiterhin dem »nationalen polizeilichen Informationsnetzwerk« angehörte. Der Alte Jäger schien gut über die Ermittlungen in Sachen Xing informiert zu sein, mit denen Hua betraut gewesen war.

»Ich glaube kein Wort von alldem, Wachtmeister Lou. Ich kenne Hua seit zwanzig Jahren. Das muß eine Falle gewesen sein«, erklärte der Alte Jäger. »Haben Sie irgend etwas Verdächtiges gefunden?«

Lou teilte dem alten Mann seine Bedenken mit.

»Diese Typen von der Inneren Sicherheit müssen da selbst die Finger drin haben. Das heutige China ist wie ein Getreidespeicher, der von roten Ratten geplündert wird. Nun hat ein ehrbarer Mann wie Hua versucht, etwas dagegen zu unternehmen, und was ist passiert?«

»Ja, diese korrupten Parteifunktionäre sind wie vollgefressene Ratten. Aber warum rote Ratten?«

»Offiziell sind sie natürlich politisch rot. Solange ihre Bestechlichkeit nicht ans Licht kommt, geben sie sich als Speerspitze im proletarischen Kampf um den Aufbau des Sozialismus aus. Im Grunde aber sind es Ratten, die das Einparteiensystem als den Getreidespeicher sehen, in dem sie sich ungestört mästen können. Und warum? Weil der Speicher ihnen gehört. Niemand außerhalb des Systems kann sie belangen. Denken Sie an den Fall Xing. Schmuggel in so großem Stil bedarf flächendeckender Verbindungen zu Ministerium und Zoll, Polizei und Grenzkontrollorganen und außerdem einer ausgeklügelten Transport- und Verteilungslogistik. Und dieses Netzwerk hat durchweg funktioniert …«

»Da haben Sie recht, Alter Jäger.« Lou erinnerte sich, daß der pensionierte Polizist auch Suzhou-Opernsänger genannt wurde, weil diese Art der Lokaloper für ihre epischen Abschweifungen bekannt war. Der Alte war nicht mehr zu bremsen.

»Während der Qing-Dynastie«, fuhr er fort, »erkannte man die höheren mandschurischen Beamtenränge an den roten Tressen auf ihren Kappen. Wenn einer von ihnen nebenbei Geschäfte machte, nannten ihn die Leute einen Geschäftsmann mit roter Kappe. Das war zur damaligen Zeit ein einschlägiger Begriff, dessen man sich schämte. Heutzutage ist so etwas völlig normal. Derartige Beamte kann man nicht einmal als Geschäftsleute bezeichnen. Sie stehlen und schmuggeln nur noch, so wie Xing und diese Ratten in ihrem Getreidespeicher. Wie kann man einen ehrbaren Polizisten da hineinschicken?«

»Ja, das sollte eine Warnung an alle sein, die ernsthaft in diesem Fall ermitteln wollen«, unterbrach Lou den alten Mann. Schließlich war es ein Ferngespräch.

»Ein weiterer Beamter wurde sinnlos geopfert«, entgegnete der Alte Jäger mit tiefem Seufzer. »Was für ein elender Beruf. Es war ein großer Fehler, meinen Sohn in meine Fußstapfen treten zu lassen.«

»Aber Hauptwachtmeister Yu ist doch sehr erfolgreich – zusammen mit seinem Chef, Oberinspektor Chen«, sagte Lou mit aufrichtiger Bewunderung. »Die beiden sind in Polizeikreisen schon fast eine Legende.«

»Ein Vogel, der den Kopf hervorstreckt, wird abgeschossen. Das hat Laozi schon vor ein paar tausend Jahren gewußt. Heutzutage ist es nicht einfach, ein guter Polizist zu sein, geschweige denn ein bekanntermaßen guter Polizist wie Chen. Ich bin tief betroffen, aber man nennt mich nicht umsonst den Alten Jäger, ein paar dieser verdammten Ratten werde ich um Huas willen erlegen. Sagen Sie Bescheid, wenn ich irgend etwas für ihn tun kann. Und besorgen Sie bitte einen Kranz in meinem Namen. Ich schicke Ihnen das Geld.«

»Das werde ich, und ich halte Sie auf dem laufenden«, versprach Lou. »Ich möchte ja auch meinen Beitrag leisten.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß er das Dimsum mit seiner neuen Freundin verpaßt hatte. Er fragte sich, ob sie ihm wohl verzeihen würde. Er könnte versuchen, ihr alles zu erklären. Doch dann entschied er sich anders. Auch wenn der Alte Jäger das Gegenteil behauptete, es war doch nicht so übel, heutzutage Polizist zu sein. Nur mußte man eben ein schlauer Polizist sein. Hua war das offenbar nicht gewesen. Und Lou war sich nicht sicher, ob er selbst einer war. Wenn seine neue Freundin dies erst einmal begriffen hatte, würde ihre Beziehung ohnehin in sich zusammenfallen wie eine schmutzige Papierserviette im Dimsum-Restaurant.

1

Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium war an einem Mainachmittag in ein gigantisches Wellness Center namens Vögel fliegen, Fische springen eingeladen worden.

Lei Zhenren, der Herausgeber der Shanghaier Morgenpost, hatte prophezeit, dort würden all ihre Sorgen auf angenehmste Weise weggewaschen. »Wieviel Kümmernis kann man ertragen? / So viel wie der Strom an Frühjahrsflut gen Osten führt. Dieses hochmoderne Badehaus ist wirklich einzigartig, eine typische Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung. So etwas findest du nirgendwo sonst auf der Welt.«

Lei wußte, wie er den Oberinspektor mit der poetischen Ader zu überreden hatte; ein paar Zeilen des Dichters Li Yu aus dem zehnten Jahrhundert würden das Ihre tun. Auch der Ausdruck »Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung« war eine einschlägige politische Phrase, die widersprüchliche Konnotationen haben konnte, besonders wenn damit die beispiellosen materialistischen Veränderungen gemeint waren, die derzeit die Stadt Shanghai überrollten. Erst kürzlich hatte Chen in einer englischen Werbebroschüre über dieses Wellness Center folgendes gelesen:

»An den Wochenenden tummeln sich abends circa 2000 Chinesen und mehrere Dutzend Ausländer nackt im Niaofei Yuyao, einem gigantischen Wellness Center, wo die Massen in milchgefüllten Wannen baden, in der ›Feurige-Jade-Sauna‹ schwitzen, sich Filme ansehen oder im Pool schwimmen. Und das alles öffentlich und legal. Nach einer Runde Minigolf (Kleiderzwang), kann man sich (unbekleidet) massieren lassen und eine Außerirdischen-Show genießen (die Zuschauer in Pyjamas, die Darsteller in deutlich weniger als Pyjamas) …«

Chen brauchte ein paar Minuten, um der Umschrift niaofei yuyao die Bedeutung der Schriftzeichen – Vögel fliegen, Fische springen – zuzuordnen. Der Name des Centers leitete sich von einer alten Redeweise ab: Meer so weit, wo Fische springen, Himmel so hoch, wo Vögel fliegen, ein Bild, das für »unbegrenzte Möglichkeiten« stand. Für ein Badehaus war das vielleicht ein wenig pompös, verwies aber auf die Größe und Angebotspalette des Unternehmens. Schließlich antwortete er seinem Gegenüber: »Ein solches Bad mag ja luxuriös sein, Lei, aber ich habe inzwischen auch eine heiße Dusche in meinem Apartment.«

»Und wenn schon, Genosse Oberinspektor. Wenn du deinen Dienstausweis zückst, wird der Badehausbesitzer barfuß herbeieilen und dich willkommen heißen. Selbst ein aufsteigender Parteikader und publizierter Dichter braucht mal eine Entspannungspause. Gesundheit ist das Kapital der sozialistischen Revolution, sagte doch schon der Große Vorsitzende.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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