Roter Nebel - Jakob Melander - E-Book

Roter Nebel E-Book

Jakob Melander

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Beschreibung

Mitten in der heißen Wahlkampfphase wird Kopenhagens Oberbürgermeister Mogens Winther-Sørensen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Einzige Zeugin ist die junge Prostituierte Serafine. Sie leugnet, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, und streitet zudem jeden sexuellen Kontakt mit dem Opfer ab. Und auch bei den Ermittlungen im Umfeld des Politikers stößt Kommissar Lars Winkler auf eine Mauer des Schweigens. Insbesondere die Mutter des Toten versucht, jegliche Nachforschungen in der Vergangenheit ihres Sohnes zu unterbinden. Doch nach und nach kommt Lars Winkler den schrecklichen Ereignissen von damals auf die Spur ...

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Buch

Ausgerechnet mitten in der heißen Wahlkampfphase wird in Kopenhagen der Oberbürgermeister Mogens Winther-Sørensen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die einzige Zeugin ist eine junge Prostituierte, Serafine. Sie leugnet, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, und streitet zudem jeden sexuellen Kontakt mit dem Opfer ab. Ansonsten schweigt sie. Als sie kurz darauf flieht, wird Serafine sofort die Hauptverdächtige. Aber sie bleibt verschwunden …

Während Lars Winkler in der obersten dänischen Gesellschaftsschicht ermittelt, werden nach und nach schreckliche Ereignisse in der Vergangenheit aufgedeckt. Die Spur führt zur Ermordung eines 14-jährigen Mädchens in einem Flüchtlingslager im Jahr 1999. Und über allen schwebt die Frage der Identität von Serafine – wer ist sie, und was hat sie mit dem Fall zu tun?

Autor

Jakob Melander, 1965 geboren, studierte Komparatistik an der Universität Kopenhagen und war jahrelang Gitarrist in mehreren dänischen Rock- und Punkbands. Nach seinem ersten Thriller »Blutwind« folgte »Roter Nebel«, der zweite Band um den Polizisten Lars Winkler.

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Blutwind. Thriller

JAKOB MELANDER

Roter Nebel

Thriller

Aus dem Dänischen

von Ulrich Sonnenberg

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Serafine« bei Rosinante & Co., Kopenhagen.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe August 2015

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Jakob Melander &

Rosinante & Co., Kopenhagen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Published by agreement with the Gyldendal Group Agency

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagmotiv: © Gary Waters/Demurez Cover Arts

Redaktion: Gabriele Zigldrum

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-16158-3

www.goldmann-verlag.de

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Oktober 1999

Nebel liegt über der künstlichen Insel Prøvestenen, Wassertropfen glitzern in der späten Abendluft. Der Duft nach Hackfleisch, Zwiebeln und Tomaten hängt noch zwischen den Gebäuden des Lagers Margretheholm Center. Die Bewohner sind in ihren Zimmern. Es ist still, der Mitarbeiter des Roten Kreuzes hat gerade seine letzte Runde beendet. Bald übernimmt die Nachtwache.

Im Schulgebäude hinter dem Flüchtlingslager wird eine Tür zugeschlagen. Das Echo heller Stimmen zwischen den roten Mauern, sie verschwinden im Nebel. Ein Kind läuft die Treppe des Schulgebäudes hinunter, biegt auf den Weg. Rennt auf die Tür an der Stirnseite des Hauptgebäudes zu.

Der Flur ist leer und dunkel. In keinem der Zimmer brennt noch Licht. Nur ein einzelner schmaler Lichtstreifen unter der Zimmertür direkt am Eingang wirft einen schwachen Schein über den schmutzigen Linoleumfußboden. Das Zimmer, das er sich mit seiner Schwester Afërdita teilt. Auf der Fußmatte stehen ihre blauen Badelatschen neben einem Paar großer Schnürschuhe.

Arbën stellt seine schmutzigen Turnschuhe neben die Flipflops seiner Schwester und schaut den Flur hinunter, bevor er die Klinke herunterdrückt. Leise öffnet er die Tür.

Das Regal mit ihren wenigen Habseligkeiten, der Tisch unter dem Fenster. Die orangefarbene Gardine flattert im Luftzug eines Spalts am Fensterrahmen. Der Boden klebt unter seinen Füßen, die Oberfläche glänzt im Licht der nackten Birne unter der Decke.

Das Geräusch ruhiger Atemzüge eines Menschen.

Auf dem Bett liegen zwei Körper, nackt. Eine zerknüllte Decke wurde ans Fußende geschoben. Die Augen der Schwester sind zur Decke gerichtet. Ein Arm hängt über der Bettkante, die Hand ist halb geöffnet. Rote Blumen springen aus ihrer Brust. Deren dunkle, klebrige Blätter laufen den Arm herunter, über die Hand. Die Finger bilden eine Brücke zu der Pfütze, die sich von den Wunden in der Brust bis zum Boden erstreckt. Eine Schere ist im Fleisch ihres Halses begraben.

Auf ihrer Brust liegt ein ruhiges Gesicht. Die Wangen beben beim Atmen, Nase und Stirn sind blutverschmiert. Arbën lässt die Hand von der Klinke fallen und tritt einen Schritt zurück, wieder auf den Flur.

An einem der Mundwinkel blubbert etwas Rotes. Dann schlägt der Mann die Augen auf, und ihre Blicke treffen sich.

Larva

[Larve (lat. larva ›Gespenst, Maske‹), zur Bezeichnung eines Tieres als Erstes von Linné verwendet, der die Larve als ein maskiertes Insekt ansah), Stadium in der Entwicklung vieler Tiere nach dem Ausbrüten des Eies und vor dem ausgewachsenen Zustand. Larven unterscheiden sich im Aufbau vom ausgewachsenen Tier und haben häufig eine vollkommen andere Ernährungsbiologie …]

Die Große Dänische Enzyklopädie

Montag, der 23. September

1

Frederiksberg Allé am Skt. Thomas Plads. Lars hielt am Bürgersteig neben dem Springbrunnen, direkt vor der Polizeiabsperrung, und stieg aus. Es war Abend, es nieselte. Auf dem Bürgersteig und im Halbkreis der parkenden Autos unter den Linden herrschte ein Chaos aus Neugierigen, Journalisten und Polizei. Die Lichter der Straßenlaternen und die Blitze der Fotografen zitterten und wurden zwischen dem feuchten Straßenbelag und den Unterseiten der gelben Lindenblätter hin und her geworfen. Die ganze Szene schien in einen nervösen, unwirklichen Schein getaucht.

»Es heißt, der Kopf sei nahezu …« Eine Frau nahm die Zigarette aus dem Mund, als Lars aus dem Wagen stieg, und lief auf ihn zu. Ungefähr vierzig. Das Haar mit einem Tuch hochgebunden. »Hallo, Lars, warten Sie …«

Er gestikulierte abwehrend, zeigte einem uniformierten Kollegen seine Polizeimarke und wurde hinter die Absperrungen gelassen. Ein Pressefotograf kletterte auf einen Baum, der nahe am Gebäude stand.

Lars ging durch das gewölbte Portal in den Hausflur der Hausnummer 28. Die zahlreichen Polizisten wiesen ihm den Weg.

Die breite Eichenholztür in zweiten Stock stand offen und ließ eine kleinere Vorhalle erkennen. Schachbrettartige Bodenfliesen, Mäntel, Hutablage, Schuhe. Eine schmale Tür führte rechts zu einer Gästetoilette mit einer altmodischen Schnur als Abzug. Alles war geschmackvoll, aber bereits etwas in die Jahre gekommen. Altes Geld, Frederiksberg-Aristokratie. Kirsten Winther-Sørensen, Chefin eines eigenen Designerlabels, und Mogens Winther-Sørensen, Kopenhagens Oberbürgermeister, langjähriges Mitglied der sozialliberalen Partei Radikale Venstre und Sohn der Parteivorsitzenden und Wirtschaftsministerin Merethe Winther-Sørensen.

Lars hatte versucht, sich an die wenigen Fakten zu erinnern, die er über den Oberbürgermeister im Kopf hatte, als er zum Tatort fuhr. Mogens Winther-Sørensen war seit mehr als zehn Jahren Oberbürgermeister, und soweit Lars sich erinnern konnte, war seine Zeit im Amt von einem blassen Pragmatismus geprägt. Die Zusammenarbeit der Hauptstadt mit der Regierung in Christiansborg verlief geschäftsmäßig und ohne größere Auseinandersetzungen, egal ob es sich um eine bürgerliche oder um eine sozialdemokratische Landesregierung handelte. Über den Mann selbst wusste er allerdings nichts. Er konnte sich kaum entsinnen, wie der Oberbürgermeister überhaupt aussah. Über Kirsten Winther-Sørensens Designerklamotten hatte Elena mal geredet, als sie noch verheiratet gewesen waren. Das war alles.

Hätte er sich möglicherweise mehr für Politik interessieren sollen? Oder für seine Frau? Dafür war es allerdings zu spät. Elena hatte ihn verlassen und war im Frühjahr bei Ulrik eingezogen.

Lars durchquerte die Halle und ging direkt in die Küche, in der ein Polizeifotograf arbeitete.

Ein Mann Anfang vierzig mit den ersten Anzeichen von grauen Strähnen in seinem dunklen Haar lag ausgestreckt auf dem Küchenboden und starrte mit einer Mischung aus Überraschung und Schmerz an die Decke. Die Hose war über die Knöchel gezogen. Der Unterleib war verdreht, eine Hüfte lag auf dem Boden. Die dunklen, runzligen Geschlechtsteile hingen über dem bleichen Oberschenkel. Der Kopf war vom Körper beinahe ganz abgetrennt. Eine Lache aus geronnenem Blut hatte sich über den Boden verteilt, bis hin zu den Küchenschränken. Ein einzelner langer Blutspritzer zog sich über die Unterschränke, den Küchentisch und eine offene Pizzaschachtel, in der noch drei, vier Dreiecke lagen, bis an die Decke. Peperoni, registrierte Lars, er hatte noch nicht zu Abend gegessen. Allan Raben, seit acht Jahren Lars’ Kollege in der Abteilung für Gewaltkriminalität, hockte mit einem Maßband auf den Knien am Küchentisch, er schwitzte. Es gab verschiedene Fußspuren am Rand der Blutlache, nahe der Leiche. Eine davon, vermutlich von Stöckelschuhen, die in der Masse herumgetrippelt waren, verschwand links. Aus dem Raum nebenan erklang ein leises Jammern.

»Hallo, Lars.« Bint gab ihm die Hand. Das dunkle Gesicht war zur Hälfte unter einer Mundbinde und einem Haarnetz verborgen, aber Lars meinte trotzdem hinter dem weißen Stoff den wissenschaftlichen Assistenten des Rechtsmedizinischen Instituts zu erkennen.

Lars nickte, trat zurück. Machte Platz. Wallid Bints Chef Frelsén beugte sich über die Leiche. Sein Haarnetz steckte in der Gesäßtasche seines Overalls. Das bleiche Haar stand ihm störrisch vom Kopf ab. Der Rechtsmediziner hatte bereits einige kahle Stellen. Wieso war ihm das nicht schon früher aufgefallen?

»Frelsén!«, grüßte er. »Was haben wir?«

Der Rechtsmediziner richtete sich auf, befreite seine Fingerspitzen von den Latexhandschuhen.

»Er kam zur Vordertür herein, hat sie aufgebrochen. Das Opfer war mitten in einer amourösen Verrichtung.« Frelsén zeigte auf die offene Hose. »Ein einzelner Hieb mit einem scharfen, schweren Gegenstand. Es ist mit sehr viel Kraft zugeschlagen worden. Der Kopf wurde beinahe vom Körper getrennt, aber das siehst du ja.« Frelsén blinzelte. »Ein Nachbar aus dem dritten Stock kam mit ein paar Freunden nach Hause. Sie waren in der Stadt gewesen und stutzten über die offene Tür. Er hat geklopft und den Kopf hereingesteckt. Er hat den Täter gerade noch durch die Küchentür verschwinden sehen.«

Frelsén zeigte mit dem Zeigefinger über der Schulter auf die Tür, hinter der das leise Jammern zu hören war.

»Der andere Akteur dieser Geschäftsbeziehung sitzt dort drinnen, zusammen mit Sanne und Lisa.« Dann beugte er sich wieder über die Leiche.

Sanne. Sie war also auch hier. Seit dem Mittsommernachtabend hatte er nicht mehr mit ihr geredet. Ein paar Mal hatte er versucht, sie anzurufen, aber sie hatte nie abgenommen. Und jetzt war sie einen Monat im Urlaub gewesen. Mit Martin.

»Gibt es Hinweise auf ein politisches Motiv?« Lars fummelte an der Zigarettenpackung in seiner Hosentasche. »In weniger als zwei Wochen sind Folketing-Wahlen.« Das hatte selbst er mitbekommen.

Frelsén schnaubte.

»In der Kommunalpolitik? Der dänischen Kommunalpolitik?« Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Ermordeten.

Allan stützte sich auf die Knie und erhob sich schwerfällig. Er fasste sich in den Rücken, als er auf Lars zukam.

»Konnte der Nachbar eine Personenbeschreibung liefern?« Lars fingerte noch immer an dem Zigarettenpäckchen herum.

Allan rollte sein Maßband zusammen und verzog das Gesicht.

»Er hat nicht viel sehen können: Dunkle Hose. Seine Freunde waren draußen im Treppenhaus stehengeblieben. Alle halb besoffen, ihre Zeugenaussagen sind nicht sonderlich ergiebig.«

Lars ließ Allan in der Küche stehen und ging in das angrenzende Zimmer. Auf einem niedrigen Sofa gegenüber von Sanne und Lisa saß eine schmächtige, dunkelhäutige Frau mit dichten, toupierten Haaren und üppigem Make-up. Das dunkle lilafarbene Paillettenkleid war ihr weit den Oberschenkel hinaufgerutscht und entblößte ein paar lange, glatte Beine.

Er setzte sich neben die Frau.

»Lars Winkler, Kopenhagener Polizei.« Dann grüßte er Sanne und Lisa mit einem raschen Nicken. »Was sagt sie?«

»Nicht viel.« Lisa kratzte sich in ihren abstehenden dunklen Haaren. »Sie heißt Serafine Haxhi und ist heute aus Hamburg gekommen.«

Sanne wich seinem Blick aus und schob ihm ein Zugticket zu. »Ankunft Kbh. 16:08 Uhr.« Er wandte sich an die schmale Frau. Hohe Wangenknochen, mandelförmige Augen. Es war beinahe zu viel, fast zu perfekt.

»You’re not his wife, are you?« Lars steckte sich eine Blå Kings in den Mund und bot Serafine auch eine an, während er sich seine Zigarette anzündete.

Die Frau nahm eine Zigarette, ohne ihn anzusehen. Eine Reihe schlecht verheilter Narben zog sich über die Innenseite ihres linken Unterarms. Sie folgte seinem Blick. Dann steckte auch sie die Zigarette in den Mund und legte den Arm auf den Oberschenkel. Sie beugte sich über das Feuerzeug, das er ihr hinhielt, und inhalierte. Schüttelte den Kopf, stieß den Rauch aus und wandte den Blick ab. Lars steckte sein Feuerzeug in die Tasche und nickte in Richtung Küche.

»Was ist passiert?«

Serafine zog an der Zigarette und ließ ihren Blick im Raum herumwandern. Sie zupfte an ihrem Kleidersaum und blickte aus dem Fenster in die Nacht.

»Wir haben auch nichts aus ihr herausbekommen.« Lisa warf mit einer gereizten Bewegung ihren Block auf den Tisch. »Wir wissen nicht einmal, wie sie sich getroffen haben. Aber es gibt wohl keinen Zweifel, dass sie gerade bei einem Blowjob war, als der Mörder hereinkam.«

Blowjob war international, und Serafine reagierte sofort.

»No sex.« Ein Zucken ging durch den schmächtigen Körper. Lars wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

»Aber warum hängt ihm dann die Hose um die Knöchel?«

»He came out from the toilet, when …« Sie brach den Satz ab und drückte die Zigarette mit kurzen, hackenden Bewegungen im Aschenbecher aus. Nahm eine neue Zigarette aus Lars’ Päckchen und ließ sich Feuer geben.

»Your accent. You’re not German. Where do you come from?«

In diesem Moment steckte Allan seinen Kopf zur Tür herein. »Bint und Frelsén sind fertig. Braucht ihr sie noch?« Er sah sich kurz um. »Sonst nehmen sie ihn jetzt mit.«

Lars sah Sanne und Lisa an. Keiner von ihnen protestierte.

»Ist okay. Wir haben genug gesehen. Ist der Fotograf zufrieden?«

Allan nickte.

»Frelsén sagt, die Obduktion findet morgen früh um neun statt. Außerdem steht hier draußen jemand, der gern mit dir reden würde.«

Kim A.’s Erscheinung füllte den Türrahmen aus. Selbst Frelsén sah neben ihm mickrig aus. Lars entschuldigte sich und ging in die Küche, während Frelsén die Sanitäter instruierte, wie sie mit der Leiche umzugehen hätten.

»Kim. Was machst du hier?« Lars ignorierte die ausgestreckte Hand.

»Ich war auf dem Heimweg, als ich es über Funk hörte.« Kim A. ging um einen der Sanitäter herum zur Tür, die zur Küchentreppe führte, und stellte sich auf den Absatz.

Lars folgte ihm.

»Was machst du hier?«, wiederholte er.

Kim A. legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wie du weißt, bin ich jetzt beim PET, beim Geheimdienst. Leibwächter für die Ministerin. Ich dachte mir, sie würde es sicher gern sehen, wenn ich mir das mal anschaue. Wegen der Wahl und so. Schließlich handelt es sich um ihren Sohn.«

Lars stellte sich zwischen die Leiche und Kim A. Die Sanitäter hoben den Ermordeten auf die Bahre, ein Blitzlicht leuchtete auf. Ein großer Mann mit Halbglatze, Metallbrille und Army-Hose stand vornübergebeugt in der Tür zur Halle und ließ seine Kamera eine längere Serie schießen.

»Wer hat Sie denn hereingelassen?« Lars rief einen uniformierten Kollegen. »Sorg dafür, dass du seinen Namen bekommst und den seines Arbeitgebers. Und dann fährst du ihn nach Amager, Sundbyvester Plads. Auf den zentralen Busbahnhof.«

»Sie können mich doch nicht so einfach …« Der Fotograf drehte seine Kamera in den Händen, versuchte, weitere Fotos aus der Hüfte zu schießen. Lars stellte sich ihm in den Weg.

»Sie haben gerade meinen Tatort kontaminiert. Ich kann mit Ihnen machen, was ich will. Ab mit ihm!«

»Na los!« Der Kollege streckte einen Arm aus und schob den Fotografen aus der Wohnung. Begleitete ihn die Treppe hinunter. Kim A. lehnte an der Wand, er hatte die Episode verfolgt und grinste.

»Ja, die sind unverfroren.«

Lars schüttelte den Kopf. Der Lärm des protestierenden Fotografen war noch im Treppenhaus zu hören.

»Wie du selbst gesagt hast, bist du ja jetzt beim PET.« Er streckte die Arme aus, versuchte, den ehemaligen Kollegen aus der Wohnung zu schieben. »Ich muss auch dich bitten zu gehen.«

Kim A. deutete mit dem Kopf zu dem Fleck auf dem Boden und den weißen Kreidestrichen, die die Stelle markierten, an der die Leiche gelegen hatte.

»Also habt ihr noch keinen Verdächtigen? Was ist mit der Prostituierten nebenan? Sie muss doch was gesehen haben.«

»Wir gehen jetzt, Kim.« Lars zog ihn aus der Wohnung.

Kim A. verschwand im Treppenhaus. Plötzlich war die große Küche leer. Serafine hatte sich Feuer für eine weitere Zigarette geben lassen. Lisa saß ihr mit ihren Notizen gegenüber. Er hörte Sanne irgendwo in der Wohnung rumoren.

»Serafine.« Lars setzte sich wieder. »Sie kommen jetzt mit. Wir müssen die deutschen Behörden bitten, die Informationen zu bestätigen, die Sie uns gegeben haben. Hat Bint ihre Fingerabdrücke genommen?«

Lisa nickte.

Serafine wandte den Kopf ab, starrte aus dem Fenster. In die Dunkelheit, die sich über die Hausdächer legte.

2

Es hatte aufgehört zu regnen, als Lars und Sanne auf den Skt. Thomas Plads traten. Inzwischen war es 21:30 Uhr geworden. Die Journalisten waren verschwunden – nach Hause oder zurück in ihre Redaktionen, um die Artikel und Reportagen für die Ausgaben des kommenden Tages zu schreiben. Es gab keinerlei Zweifel, mit welchen Schlagzeilen diese Story aufgemacht würde.

Lisa hatte Serafine ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Wenn der Schock sich gelegt hatte, würde man sehen, ob sie von ihr etwas erfuhren.

Lars schloss die Tür zum Treppenhaus und folgte Sanne durch das Portal.

Kirsten Winther-Sørensen, die Ehefrau des Opfers, hatten sie auf ihrem Handy nicht erreicht. Aus den Unterlagen in der Wohnung ging hervor, dass die Familie ein Ferienhaus in Hornbæk hatte. Aber die Mutter des Verstorbenen, Merethe Winther-Sørensen, wohnte in einer Villa am Amicisvej, nicht weit von der Wohnung ihres Sohnes entfernt. Irgendjemand musste der Familie die traurige Botschaft überbringen, obwohl Kim A. vermutlich bereits dort gewesen war. Und morgen früh wartete die Obduktion.

Lars atmete tief durch und streckte sich. Die Luft war feucht und kalt, wirkte aber frisch nach dem ekelerregenden Geruch von Blut und Parfüm in der Wohnung.

Sanne hatte ihr strubbeliges Haar seit dem Sommer wachsen lassen. Er hatte Lust, es zu berühren, wäre gern mit der Hand durchgestrichen. In diesem Moment fiel das Licht einer Straßenlaterne auf ihr Gesicht, und er trat einen Schritt zurück.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

Sanne winkte mit der Hand. Eine Gestalt trat aus dem Schatten unter den Lindenbäumen hervor.

»Sanne, Lars?«

»Ulrik?« Lars knöpfte sich die Jacke zu. Sanne sagte nichts, sie holte die Autoschlüssel aus der Tasche.

»Ekelhafte Geschichte.« Der Stellvertretende Polizeikommissar Ulrik Sommer nickte in Richtung der Fenster in der zweiten Etage. »Und ausgerechnet jetzt. Wir dürfen uns bei dieser Sache nicht einen einzigen Fehler erlauben.«

Lars steckte die Hände in die Taschen. Wann hatten sie sich denn schon mal einen Fehler erlauben dürfen?

»Ich habe den Justizminister informiert, er ruft den Ministerpräsidenten an. Aber ich habe darauf bestanden, dass wir der Mutter des Verstorbenen selbst Bescheid geben.«

»Wir sind sozusagen unterwegs.«

»Gut. Äh … Ich dachte, ich sollte vielleicht mitkommen.«

Ein Taxi fuhr auf der Straße vorbei, weit schneller als die zugelassenen fünfzig Stundenkilometer.

Sanne konzentrierte sich auf den Verkehr. Auf dem Rücksitz lehnte Lars sich zurück und schaute an die Decke des kleinen Fiat 500. Die Lichter auf dem Instrumentenbrett ließen Ulriks Gesicht auf dem Beifahrersitz hohlwangiger erscheinen, als es eigentlich war, seine Haut wirkte eingefallen und grau. Der Stellvertretende Polizeikommissar fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Merethe Winther-Sørensen ist seit über zwanzig Jahren Vorsitzende der sozialliberalen Partei, sie war Ministerin in mehreren Regierungen. Mogens stand seit dem letzten Jahrhundert bereit, ihren Platz einzunehmen. Für die Partei ist es ein ziemlich unglücklicher Zeitpunkt, den er sich für seinen Tod ausgesucht hat.«

»Du meinst wegen der Wahl?«

Ulrik nickte.

»Niemand weiß, was diese Geschichte für den Wahlkampf bedeutet. Wohin wenden sich die Wähler? Was auch passieren wird, Merethe Winther-Sørensen hat mehr als einen Grund, den Tod ihres Sohnes zu beweinen. Also seid bitte ein wenig diskret, ja? Beide.«

Sanne bog auf den Amicisvej. In den Fenstern der Parterrewohnung im Haus Nr. 17 brannte Licht.

»Unsere Freunde von der Presse waren offenbar bereits so freundlich, bei ihr zu klingeln.« Ulrik stieg aus. Lars und Sanne folgten.

»Könnte auch Kim A. gewesen sein.« Sanne schloss den Wagen ab. »Er war am Tatort und hat mit Lars geredet.«

Ulrik sah ihn an. Lars nickte links hinüber. Ein Stück weiter stand eine Gestalt an ein Auto gelehnt und beobachtete sie. Es hätte sich durchaus um Kim A. handeln können.

Merethe Winther-Sørensen öffnete ihnen persönlich. Sie mussten nichts sagen. Die Augen waren trüb, sie konnte ein ständiges Blinzeln nicht unterdrücken. Das lockige weiße Haar stand wie Zuckerwatte um ihren kleinen Kopf.

»Kommen Sie herein.« Die Wirtschaftsministerin führte sie durch die Halle in einen langen Flur. Das lavendelfarbene Kostüm passte schlecht zu ihrem stämmigen, kleinen Körper.

In einem Wohnzimmer mit schweren Möbeln saß, direkt unter dem Licht der Deckenlampe, ein kleiner, vertrockneter Mann mit Hosenträgern an einem runden Tisch, auf dem ein enormes Puzzlespiel lag. Er blickte nicht auf, als sie eintraten. Starrte nur auf das Puzzleteil in seiner Hand. Er drehte und wendete es und versuchte, die passende Stelle zu finden.

»Mein Beileid wegen Ihres Sohns.« Ulrik blieb vor Mogens Winther-Sørensens Vater stehen, der jetzt aufblickte und ins Licht blinzelte.

»Ich habe keinen Sohn.« Dann wandte er sich wieder dem Puzzle zu.

Ulrik warf Sanne und Lars einen kurzen Blick zu. Merethe Winther-Sørensen zog einen Sessel heran.

»Mein Mann legt immer Puzzle, wenn er aufgeregt ist.« Sie setzte sich und überließ ihnen das großgeblümte Sofa.

Es wurde still. Irgendwo im Haus tickte eine Uhr.

»Hat diese Prostituierte meinen Sohn ermordet?« Die Ministerin wandte sich an Ulrik.

»Ein Zeuge hat den Täter gesehen.« Sanne erklärte, wie der Täter über die Küchentreppe entkommen war.

»Ich wurde von einer Journalistin geweckt, von … Augenblick …« Merethe Winther-Sørensen zog einen kleinen Block aus der Tasche und hielt die Lesebrille vor die Augen. »Vom Ekstra Bladet. Sie sagte, es handele sich um einen Sexualmord?«

Ulrik rieb sich die Stirn.

»Wir wissen noch nicht sehr viel. Aber ich fürchte, es könnte morgen und in den nächsten Tagen unangenehm werden. Ich schlage vor, Sie stellen Ihr Telefon ab und lassen die Partei eine Presseerklärung verschicken.«

»Kommt gar nicht in Frage. Ich kann doch nicht mitten im Wahlkampf verschwinden!« Merethe Winther-Sørensen sah ihn empört an. »Halten Sie eine Pressekonferenz ab? Ich wünsche, daran teilzunehmen.«

»Das ist noch nicht …«

»Darüber will ich jetzt überhaupt nicht diskutieren. Ich gehe davon aus, dass Sie alles tun, was in Ihrer Macht steht, um den Mörder meines Sohnes zu verhaften.«

»Das sind meine Kollegen Lars Winkler und Sanne Bissen, die die Ermittlungen leiten.« Ulrik legte eine Hand auf Sannes Schulter und nickte Lars zu. »Sanne?«

Sanne richtete sich im Sofa auf.

»Die gesamte Umgebung wird durchsucht, sämtliche Nachbarn werden befragt. Die Leiche, äh, Mogens, wird morgen obduziert.«

Lars sah aus dem Fenster, während Sanne referierte. Der Leibwächter des PET – vielleicht handelte es sich um Kim A., vielleicht aber auch nicht – stand noch immer an sein Auto gelehnt. Merethe Winther-Sørensen beugte sich vor.

»Was diese Pressekonferenz angeht …«

Lars unterbrach die Ministerin, schaute dabei aber weiterhin aus dem Fenster. Der PET-Mann rührte sich nicht von der Stelle.

»Haben Sie eventuell eine Telefonnummer, unter der wir Ihre Schwiegertochter erreichen können? Oder vielleicht Ihre Enkelin? Wir müssen mit ihnen reden.«

Merethe Winther-Sørensen zog die Augenbrauen zusammen. Dann schrieb sie eine Nummer auf ihren Block, riss das Blatt ab und gab es Sanne.

»Das ist die Nummer von Sarah, meiner Enkelin. Sie sind in unserem Ferienhaus in Hornbæk. Bitte tun Sie mir den Gefallen und warten Sie noch ein paar Stunden, bevor Sie anrufen. Es ist sicher besser, wenn ich es ihnen erzähle.« Merethe Winther-Sørensen unterbrach sich und hielt eine Hand vor den Mund, als würde sie die Fassung verlieren.

»Wir müssen jetzt auch …« Ulrik stand auf.

Merethe Winther-Sørensen erhob sich ebenfalls.

»Entschuldigen Sie bitte.« Ihr Gesichtsausdruck war wieder vollkommen neutral. »Ich werde Sie hinausbegleiten.«

In der Halle hingen zwei düstere Porträts hagerer Männer mit gequälten Gesichtern. Daneben ein neueres Foto von Merethe Winther-Sørensen in gelben und lila Farben. Alle drei waren in Kopfhöhe an der Wand angebracht, direkt gegenüber der Haustür.

»Das ist mein Vater, Mogens Winther-Sørensen – mein Sohn wurde nach ihm benannt.« Merethe zeigte auf die einzelnen Porträts, während sie sprach. »Und das ist mein Großvater, Holger Winther-Sørensen. Und ich natürlich.« Lars schwitzte. Die Halle war plötzlich sehr eng. Die Ministerin fuhr fort. »Vater war Minister in Hilmar Baunsgaards Regierung, Großvater sowohl in Kampmanns und Krags Kabinetten. Ich hatte gehofft, dass Mogens’ Porträt hier auch eines Tages hängen würde.« Sie zog ihr Jäckchen zurecht. »Ich gehe davon aus, dass Sie mir morgen früh wegen der Pressekonferenz Bescheid geben?«

Lars sah zu, als Ulrik ihr die Hand drückte. Sanne zögerte, versuchte Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie die Hand der Ministerin ergriff. Lars ging, ohne sich zu verabschieden.

»Das ist allerdings eine Dame, die weiß, was sie will.« Sanne knöpfte ihre Jacke zu, trat auf die Straße und schloss den Wagen auf.

»Merethe Winther-Sørensen hat Ministerpräsidenten gelenkt und gestürzt. Du willst sie nicht wirklich zur Feindin haben.« Ulrik sah Lars an. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz.

3

Eine S-Bahn fuhr aus dem Bahnhof. Der Zug beschleunigte, und das Licht der Fenster flimmerte über die Hausfassaden hinter ihm. Lars steckte die Hände in die Taschen, ging hinüber zum Baugelände an der Lundetoftgade, das sich im Laufe des Spätsommers bis zum Folmer Bendtsens Plads ausgebreitet hatte. Ein älterer Opel schoss vorbei und spritzte Wasser von der Fahrbahn auf den Bürgersteig und an sein Hosenbein. Lars fluchte, als er den Bauzaun entlanglief. Bald würden sie dort rund um die Uhr graben und bohren. Und in sechs Jahren wäre er der glückliche Besitzer einer Wohnung mit einer U-Bahnstation direkt vor der Haustür. Aber würde er in sechs Jahren noch hier wohnen? Er hoffte es eigentlich nicht.

Viele Worte hatten sie auf dem Rückweg von Merethe Winther-Sørensen und ihrem sonderbaren Mann nicht gewechselt. Sanne hatte Lars und Ulrik am Skt. Thomas Plads abgesetzt und war nach Hause gefahren. Zu Martin.

Lars bog in die schmale Passage zwischen Bretterzaun und Hausmauer. Ein Betrunkener schwankte aus dem Ring Cafeen und rempelte ihn an, als sie aneinander vorbeigingen.

»He, he, Kumpel, Vorsicht.« Rotgesprenkelte Augen, eine Woche alte Bartstoppeln, nikotingelbe Finger. Ein Dunst aus Bier und Zigaretten legte sich einen Augenblick um Lars, dann wankte der Bursche weiter. Bog um die Ecke zur Nørrebrogade, wobei er vor sich hin brabbelte.

Im zweiten Stock hängte Lars die Jacke an einen Bügel, ging ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ohne Erfolg. Die Augenpartie war geschwollen. Die Knochen schmerzten vor Müdigkeit, der Hunger nagte. Aber er hatte keinen Appetit. Die Blutlache auf dem schachbrettartigen Fußboden legte einen dunklen Schatten über sein Blickfeld. Kaffee? Es war kurz vor Mitternacht, er würde nicht einschlafen können.

Er zog seine Converse aus, ging ins Wohnzimmer und schaltete die Anlage ein. Blätterte sich durch die LP’s bis Bowie. Heroes. Die Nadel auf Neuköln, die Nummer schien ihm aus irgendeinem Grund passend. Er setzte sich aufs Sofa, lehnte sich zurück. Bowies Atem zog sich jammernd durchs Saxophon, während Lars sich eine Blå Kings ansteckte.

Was war das für ein Gefühl gewesen, Sanne wiederzusehen? Sie hatte nie richtig auf das Angebot reagiert, mit ihm nach New York zu gehen, und plötzlich war sie mit Martin in den Urlaub gefahren. Und jetzt – ja, was jetzt? Er betrachtete den Rauch, der an die nikotingelbe Decke stieg. Irgendwer brüllte draußen herum, ein Fenster wurde zugeworfen. Am besten, man vergaß die ganze Geschichte.

Er stand auf. Die lauwarme Verfallsromantik von Neuköln ging über in einen simplen Dialog zwischen Congas und Rhythmusgitarre. Ein Pulsieren, ein Herz, das schlug. The Secret Life of Arabia. Er lebte.

In der Küche stellte er das Wasser an und streifte die Zigarettenasche in der Spüle ab, während er darauf wartete, dass das Wasser kalt wurde. Dann füllte er ein Glas und ging zurück. Marias Zimmer starrte ihn leer an. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie nicht mehr bei ihm wohnte. Wie einsam konnte es in einer Dreizimmerwohnung am Rand von Nørrebro werden?

Jetzt wusste er es.

Lars legte sich auf ihr Bett. Er sog Marias Duft ein, der noch im Überwurf des Bettes hing. Starrte auf die Plakate von jungen Menschen, von denen er nicht ahnte, wer sie waren. Sänger, Schauspieler? Sportstars? Kein Zweifel, dass die Idee gut gewesen war, auf diese Schule in New York zu wechseln – sowohl für Maria wie für ihre Freundin Caroline, die im Sommer vergewaltigt worden war. Jetzt wohnten sie seit zwei Monaten bei Lars’ Vater in Brooklyn. Maria klang glücklich, als Lars das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte, sie hatte über ihre Mitschüler und Lehrer an der St. Ann’s School erzählt. Auch sein Vater versicherte ihm, dass alles gut sei und die Mädchen sich sehr wohl fühlten. Sie zu Hause zu haben war allerdings doch etwas anderes.

Dennoch drängten sich die Eindrücke des Tages dazwischen. Merethe Winther-Sørensen hatte sich auf erschreckende Weise bemüht, ihren Sohn in die Reihe der großen Politiker der Familie zu hieven, sie hatte Mogens zu einem Teil der Familiendynastie der Winther-Sørensens gemacht. Und nun lagen seine leblosen Gebeine in einem gekühlten Stahlschubfach im Leichenschauhaus am Frederik V’s Vej in Østerbro.

Lars seufzte, schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er konnte ebenso gut schlafen gehen. Heute würde ohnehin nichts mehr passieren.

September 1999

»Das wirst du mir nicht antun, Mogens. Und auch deinem Vater nicht.« Merethe Winther-Sørensen erhebt sich halb aus dem Sessel. Die Berlingske Tidende fällt auf den Boden, verteilt sich über den dicken Teppich. Der Artikel auf der Titelseite über ihre Ernennung zur Wirtschaftsministerin liegt obenauf. Ein großes Farbfoto von Ministerpräsident Poul Nyrop Rasmussen mit ausgebreiteten Armen und der neuen Ministerriege vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten. Neben dem Ministerpräsidenten mit einem leeren Lächeln seine Mutter.

Draußen am Amicisvej erlischt das letzte Tageslicht und legt sich orangerot auf die Dächer am Gl. Kongevej.

Mogens streicht mit der Hand über seine Hose und atmet tief durch. Es wird kein amüsanter Abend.

»Ich habe meinen Entschluss gefasst, Mutter.« Er kämpft, um so ruhig wie möglich zu sprechen.

»Und all die Arbeit, die ich hinter mir habe? Und dein Großvater und dein Urgroßvater? Ist das etwa vollkommen egal?« Merethe Winther-Sørensen setzt sich wieder, lässt den letzten Teil der Zeitung auf den Boden fallen.

Mogens beginnt zu schwitzen. Seine gesamte Kindheit hindurch sind diese dämonischen Porträts des Großvaters und Urgroßvaters in seinem Bewusstsein gewachsen, sie haben ihre düsteren Schwingen ausgebreitet, bis sie in ihrer stummen, strengen Umklammerung seine gesamte Welt erdrückten. Aus dem Schatten dieser Abgötter, die absoluten Gehorsam fordern, wird er sich in diesem Leben nie befreien können. Und doch versucht er gerade das Unmögliche. Seit er ein kleiner Junge war, hat man ihm ein striktes Verantwortungsgefühl für das Familienprojekt eingeimpft: der Griff nach der absoluten politischen Macht. Bei diesem Endziel lauert ständig das schlechte Gewissen, das Bewusstsein, dass alles noch immer ein wenig besser gemacht werden könnte. Und seine Mutter weiß genau, welche Hebel sie umlegen muss. Darin ist sie eine Meisterin.

Aber diesmal, jetzt, will er selbst entscheiden.

»Es geht weder um Großvater noch um Urgroßvater. Oder um dich. Es geht um mich. Was ich will, wie ich mein Leben verbringen möchte. Und Politik, das Stadtparlament …« Er öffnet im Schoß die Handflächen, starrt darauf. »Na ja, das alles interessiert mich nicht.«

»Ach was.« Seine Mutter bringt ihn zum Schweigen. Er kann beinahe hören, wie die Porträts seiner Ahnen vor Verärgerung in der Halle rotieren. »Sag so etwas nicht.«

»Aber es stimmt. Ich eigne mich nicht dazu.«

Merethe Winther-Sørensen hebt ihr Kinn. Der Ton ihrer Stimme erfüllt den Raum.

»Ich habe der Politik mein Leben geweiht.« Ihr Blick fixiert ihn von der Seite. »Was sagt Kirsten dazu?«

Kirsten?

»Es ist ihre Idee. Sie sieht doch, wie wenig Zeit mir für Sarah bleibt.«

Ein Punkt für ihn. Es dauert einige Sekunden, bis sie sich so weit gesammelt hat, dass sie wieder Atem holen kann. Dann zieht sie sich an den Armlehnen hoch und stapft angeschlagen aus dem Wohnzimmer. Ihre Absätze klackern die Treppe hinauf.

Es wird ganz still. Mogens schließt die Augen und legt den Kopf an die Nackenstütze. Es ist nur der halbe Sieg. Er braucht ihre Zustimmung. Der totale Bruch wird zu teuer. Auch für ihn.

Ein Auto fährt langsam die Straße hinunter, das Geräusch von Arnes Puzzlespielteilen auf der Tischplatte verstummt. Als er die Augen aufschlägt, starrt sein Vater ihn an.

»Du musst ihr etwas geben, Junge.«

»Was meinst du?«

Arne dreht sich auf seinem Stuhl um, flüstert. »Mutter kann es nicht zulassen, dass sie das Gesicht verliert. Wenn es eine Budgetverhandlung wäre …«

»Aber wie? Entweder ich bin Mitglied des Stadtparlaments, oder ich bin es nicht. Es gibt keinen Kompromiss, nichts zu verhandeln.«

»Du könntest ihr Zeit geben, sich daran zu gewöhnen. Einen Urlaub. Eine Auszeit. Und dann, nach sechs Monaten – wer weiß? Vielleicht hat sie sich an den Gedanken gewöhnt.«

Mogens lässt die Hand auf ein Sofakissen sinken. Er hatte auf eine Entscheidung gehofft, auf ein Ergebnis. Aber Arne hat recht. Mutter wird nicht nachgeben, nicht jetzt. Und so würde er zumindest herauskommen. Jetzt. Und nur das zählt. Sein neues Leben könnte beginnen.

Wieder sind Schritte auf der Treppe zu hören. Mutter kommt zurück ins Wohnzimmer, füllt es aus. Von einer Wand zur anderen.

»Ich könnte einen Urlaub akzeptieren. Sechs … drei Monate.« Sie bleibt hinter dem Sessel stehen, steife Finger greifen um die Rückenlehne. Die Haut liegt straff über dem Gesicht, gelblich wie Pergament.

Mogens und Arne tauschen einen Blick aus.

»Sechs Monate Minimum.« Seine Hände zittern.

Mutter verzieht das Gesicht. Dann lacht sie. Er kann bis zu ihren Backenzähnen sehen.

»Und das ausgerechnet jetzt, wo ich wieder zur Ministerin ernannt worden bin. Dass dir das nicht leidtut. Ich hoffe, du weißt, was du tust. Und was du vorhast.«

»Du wirst schon sehen.« Mogens wischt die verschwitzten Handflächen an der Hose ab. Er kann kaum glauben, dass er wirklich so viel erreicht hat.

»Hast du etwa Geheimnisse vor mir? Na ja, ein bisschen Protest muss wohl sein. Und dann kommst du zur Vernunft.« Sie kommt auf ihn zu und tätschelt ihm die Wange.

Mogens schließt die Augen, bekämpft den Drang, den Kopf zurückzuziehen. Schon morgen wird er seinen Stellvertreter anrufen.

Dienstag, der 24. September

4

»Sie ist die letzten drei Stunden die Wände entlanggekrochen.« Der Wachhabende führte Lars durch den Zellengang, die Schlüssel rasselten in seinen fleischigen Händen.

Es war acht Uhr morgens. Lars hatte unruhig geschlafen und geträumt, dass Sanne ihn beschimpfte. Warum hatte er seit dem Sommer nicht angerufen? Er war um fünf Uhr aufgewacht, mit einem Knoten im Bauch vor Wut. Er hatte versucht anzurufen, sie war es doch, die nicht … Er hatte nicht noch einmal einschlafen können, der Wecker um 07:15 Uhr war eine Erlösung gewesen.

Der Wachhabende blieb im Zellengang stehen und suchte nach dem richtigen Schlüssel.

»In den anderen Zellen haben sie kein Auge zumachen können. Und, Herrgott, jetzt hat sie auch noch angefangen, nach Asyl zu brüllen.«

Die durch die schwere Stahltür gedämpften Rufe aus der letzten Zelle in der Reihe klangen wirklich wie »Asyl«; die Stimme war durch einem undefinierbaren Akzent verzerrt.

»Wen du mich fragst, hat sie eine Heidenangst.« Die Schreie aus der Zelle hörten auf, als der Wachhabende den Schlüssel ins Schloss steckte. »Aber sie weigert sich zu sagen, warum.«

Serafine saß in der Ecke auf der abgenutzten Liege und hielt die Arme um ihre angezogenen Knie. Ihr Kopf lehnte an der mit Graffity beschmierten Wand. »Schwanz« stand da in Hunderten von Schreibweisen. Serafine schlug ihre Stirn gegen die Wand. Ein großer blauer Bluterguss zeigte sich direkt unter dem Haaransatz. »Ich will Asyl.«

Lars brachte Serafine in sein Büro und besorgte einen Kaffee und Brötchen. Sie ließ den Käse und die Marmelade liegen, begnügte sich mit Butter.

Lars wartete, bis sie zu Ende gegessen hatte.

»If you want asylum, I can help you apply.« Er schwieg, wartete auf eine Reaktion. Sie schluckte den letzten Rest, sonst nichts. »Aber erst muss ich genau wissen, was gestern passiert ist.« Er nahm ihre Zugfahrkarte und legte sie auf den Tisch. »Sie sind gestern mit dem Zug von Hamburg am Kopenhagener Hauptbahnhof angekommen.« Er drehte das Ticket um und las. »Um 16:08 Uhr. Sie sind ausgestiegen. Und dann?«

Serafine sah ihn direkt an, führte Zeige- und Mittelfinger zum Mund und in einem sanften Bogen wieder weg.

Lars schüttelte den Kopf.

»Sie dürfen hier drin nicht rauchen. Später, okay?«

Serafine wandte den Kopf ab, sah aus dem Fenster. Auf der Scheibe hielten sich noch immer die Streifen des nächtlichen Regens, aber am grauen Himmel tauchten allmählich vereinzelte blaue Flecken auf.

Lars lehnte sich zurück. Die meisten wollten gern reden, ja, hatten geradezu das Bedürfnis danach. Wollten sich von den gewalttätigen Erlebnissen befreien. Selbst brutale Täter verspürten eine enorme Erleichterung, wenn sie erst einmal anfingen zu erzählen. Allerdings gab es auch Kerle, bei denen man das Gefühl hatte, sie wären einer Gehirnwäsche unterzogen worden – Psychopathen, Rocker und Bandenmitglieder, religiöse oder politische Fanatiker. Sie waren eiskalt, aus denen bekam man nichts heraus. Aber nichts deutete darauf hin, dass Serafine eine Psychopathin war oder der Mord an dem Oberbürgermeister einen politischen oder religiösen Hintergrund hatte.

Er klickte mit seinem Kugelschreiber, versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen.

»Die Umgebung des Hauptbahnhofs ist voller Überwachungskameras. Wir finden ohnehin heraus, was Sie unternommen haben. Sie können es ebenso gut gleich erzählen.«

Serafine sah ihn an. Ein blasses Lächeln, dann schüttelte sie den Kopf. Starrte wieder aus dem Fenster.

Lars versuchte es anders.

»Wo sind Sie dem Oberbürgermeister eigentlich begegnet? Dem Ermordeten?«

Serafine kratzte sich an den Narben auf ihrem Unterarm, wandte den Blick nicht vom Fenster ab. Lars legte den Kugelschreiber beiseite und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtischs.

»Hören Sie. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, dann müssen Sie …«

Die Tür ging auf. Jegliche Farbe verschwand aus Serafines Gesicht. Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein …«

»Lars?« Allan wedelte atemlos mit dem Ausdruck einer Mail. »Interpol hat geantwortet.«

Serafine wandte sich ab, starrte wieder auf die Regentropfen an der Scheibe. Lars fluchte innerlich.

ENDE DER LESEPROBE