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In manchen Nächten ist es so unfassbar einfach, jemand anderes zu sein. Zu dem zu werden, was der andere braucht. Im Lärm und Rausch der Nacht verloren zu gehen. Zwei Freunde, ein Verlust und rotes Neonlicht.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Du weißt nicht, wann du das letzte Mal so wütend warst.
So müde, so genervt, so unglaublich von der Welt angekotzt. Niemand versteht dich, schon lange nicht mehr. Alle reden nur noch Scheiße. Jeder fühlt sich erleuchtet und so unfassbar geil. Das Leben ist eine einzige Party, auf der sich jeder hart selbst feiert. #gönnung.
Du kannst es nicht mehr hören. Du kannst sie nicht mehr hören. Diese Selbstverliebtheit. Diese Egomanie. Manchmal weißt du nicht, ob es an der Welt liegt - oder an dir selbst. Bist vielleicht du das Problem? Sind nicht deine ganzen Mitmenschen Dummschwätzer, sondern du? Wobei, du sagst ja nie was. Und jemand, der seinen Mund hält, kann auch keine Scheiße quatschen. Einfache Faustregel.
Besonders Ankes Neuer nervt dich. Redet den meisten Mist, macht aus jeder kleinen Nummer ein übertriebenes Spektakel und kennt jeden und alles. Er studiert Jura, was er auch jedem, der es wissen will, und vor allem auch jedem, der es nicht wissen will, mindestens dreimal am Abend brühwarm erzählt. Sein Studium ist ja ach so schwer. Nur die Besten der Besten und haste nicht gehört. Dabei hat der Typ nur ein paar lausige Stunden Uni am Tag und bekommt von Mama und Papa sein überteuertes WG-Zimmer bezahlt. Beste Lage, coole Mitbewohner. Ankes Neuer hat noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet, will dir aber ständig das Leben erklären. Nur er hat den Durchblick. Nur er kann dies, nur er kann das. Rhabarber-Rhabarber. Er trifft sich aus Prinzip nur mit Frauen, die im Berghain tanzen können. Sagt deiner Meinung nach schon alles. Der Kerl lebt in seiner eigenen Welt.
Aber so einer passt zu Anke. Nicht, dass du eifersüchtig bist. Klar, du hattest mal eine Weile was mit ihr, aber ey. Das Leben geht weiter. Sie wollte zu viel - du zu wenig. Außerdem ist Anke auch gar nicht mehr dein Typ. Sie war mal witzig und spontan, jetzt hat sie eine Instagram-Karriere am Start und braucht für das perfekte Foto mindestens neunzig Versuche. Ein Selfie mit ihr ist anstrengender als ein verdammter Triathlon. Außerdem ignoriert sie dich meistens, da sie viel zu sehr damit beschäftigt ist ihrem neuen Jura-Macker am Hals rumzulutschen. Mal ernsthaft, wie alt sind die? Zwölf? Scheinbar hat ihnen noch niemand gesagt, dass Knutschflecke ab Mitte zwanzig lächerlich sind.
Das ständige Geknutsche nervt dich, aber du sagst nichts. Du sagst nie irgendwas, denn Faustregeln sind nicht ohne Grund da. Wer nichts sagt, kann auch keine Scheiße reden. Du nippst gelangweilt an deinem Bier, als wäre es irgendein sauteurer Cocktail auf einer öden Strandparty. Die Bar ist wie immer voll und laut und die Musik kaum zu hören, so viel belangloses BLA-BLA-BLA hängt in der Luft. Alle reden. Niemand hört zu.
Ankes Neuer ist müde. Endlich. Er verabschiedet sich dramatisch, weil er ja noch so viel für die Uni machen muss. Weil sein Studium ja ach so hart und würg und kotz ist. Du würdest diesem Kerl so verflucht gerne in seine neunmalkluge Fresse treten. Anke folgt ihrem Freund nach einem kurzen Tschüsskowski! in die Runde und lässt dich mit einem Haufen Menschen zurück, von denen du die meisten nicht kennst. Nicht wirklich. Der alte Kreis ist längst zerbrochen und anstatt der einst mal vertrauten Gesichter aus dem Kiez sitzen hier jetzt Erasmus-Studenten aus England, Frankreich und aus anderen Ecken der Welt. Die Franzosen reden meist Französisch und ignorieren alle, der Engländer ist ganz witzig und hat coole Kartentricks auf Lager. Niemand kennt den jeweils anderen, aber für ein paar super coole Party-Fotos reicht es aus.