Rotkäppchen muss weinen - Beate Teresa Hanika - E-Book

Rotkäppchen muss weinen E-Book

Beate Teresa Hanika

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Beschreibung

»Ein Buch, das Mut macht. Mut, sich Wahrheiten zu stellen und sie auszusprechen. Klar, präzise und poetisch.« (Mirjam Pressler in ihrer Laudatio zum Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2007) Es begann, als Lizzy nicht da war. Ihre beste Freundin, die sie sonst immer nach der Klavierstunde zu ihrem Großvater begleitet hat. Doch dann fuhr Lizzy in die Ferien, der Opa brauchte Hilfe und Malvina sollte ihm jeden Tag das Essen bringen ... Es gibt da nichts zu beschönigen: Kindesmissbrauch ist ein unbequemes Thema. Ein Thema, das aufbringt und von allen Medien bedient wird. Doch dieser Roman ist weit mehr als ein Problembuch über Kindesmissbrauch. Er lebt von differenzierten Stimmungen und interessanten Charakteren und wagt einen Blick in die Abgründe menschlichen Zusammenlebens. Er hält ein Plädoyer für die Freundschaft, erzählt von erster Liebe wie von Schneeflockenfedern und vermeidet dabei jegliches Pathos. Virtuos spielt er mit literarischen Mitteln und entzieht sich dabei jeder Vorhersehbarkeit. Und die Autorin entlässt ihre Heldin und den Leser mit der Hoffnung, dass jedes Unglück ein Ende haben kann. So wird die Lektüre zu einem intensiven Erlebnis, das man nicht missen möchte.

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Seitenzahl: 242

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Beate Teresa Hanika

Rotkäppchen muss weinen

Roman

FISCHER E-Books

Fischer Schatzinsel www.fischerschatzinsel.de

Für Flo

Ich heiße Malvina. Am ersten Mai werde ich vierzehn Jahre alt.

Jetzt ist April.

Das sind noch zwei Wochen. Wenn ich vierzehn bin, werde ich einen Freund haben. Ich werde seine Hand halten und in seinen Armen einschlafen. Ich werde auf Partys gehen und tanzen, auch wenn meine Eltern es nicht erlauben. Ich werde immer meine Meinung sagen und wütend werden statt traurig. Ich werde so laut schreien können, dass alle Angst vor mir bekommen und vor mir davonlaufen, wenn ich es will.

Auch meine Eltern, auch mein Opa, alle Leute. Jetzt ist April, und ich bin dreizehn Jahre alt.

Freitag

Es passiert an einem Freitagnachmittag.

Der letzte Freitag vor den Osterferien.

Jeden Freitag muss ich zur Klavierstunde. Und danach zu meinem Opa, weil der in derselben Straße wohnt und Papa dort auf mich wartet. Manchmal wartet auch meine große Schwester Anne auf mich oder mein Bruder Paul, aber der ist sechs Jahre älter als ich und geht schon studieren, deswegen ist er nicht so oft da.

Mama wartet nie auf mich, weil sie Opa nicht leiden kann, erst recht nicht, seit Oma gestorben ist. Seitdem ist er noch unfreundlicher zu ihr, sagt sie, und deshalb kommt sie ihn nicht mehr besuchen.

An diesem letzten Freitag vor den Osterferien bin ich besonders froh, dass die Klavierstunde endlich vorbei ist. Es sind Ferien, es ist nachmittags um drei, die Sonne scheint, und ich zieh mir, während ich über die Straße laufe, den Pulli über den Kopf, nicht weil es so warm ist, sondern weil ich beschließe, dass jetzt Frühling ist. Noch froher wäre ich, wenn Lizzy hier wäre. Lizzy ist meine allerbeste Freundin, und sie holt mich jeden Freitag vom Klavierunterricht ab. Damit ich es nicht so langweilig bei meinem Opa hab. Wir bequatschen dann die neusten Dinge oder machen Hausaufgaben – na ja, meistens quatschen wir und tun so, als würden wir Hausaufgaben machen. Heute ist Lizzy nicht da, weil sie gleich nach der Schule in den Skiurlaub gefahren ist. Sie durfte sogar eine Stunde früher gehen als alle anderen.

Früher hat meine Oma immer die Tür aufgemacht, und am letzten Tag vor den Osterferien hat sie gesagt:

Jetzt fängt die Eiszeit wieder an.

Weil es nämlich nur im Sommer Eis bei meiner Oma gegeben hat. Vanilleeis und Gummibärchen.

Seit sie tot ist, gibt es immer Eis, das ganze Jahr über – und komisch, das finde ich sogar ein bisschen traurig. Aber heute bin ich nicht traurig, ich bin bester Laune und läute wie wild an Opas Türglocke, damit jeder gleich weiß, dass ich es bin und dass Ferien sind und dass ich schrecklich gut gelaunt bin.

Opa macht die Tür auf und sagt:

Da ist ja meine Malvina, meine Lieblingsenkeltochter. Ich drück ihm einen Kuss auf die Wange und schlüpfe an ihm vorbei in die Wohnung, die immer nach Wein und altem Käse riecht, weil Opa ab drei Uhr nachmittags Wein trinkt, und manchmal isst er sogar Käse dazu. Widerlichen Käse, den er mir unter die Nase hält und sich halb totlacht, wenn ich angewidert das Gesicht verziehe.

Heute ist etwas anders, aber das merke ich erst, als ich ins Wohnzimmer gehe.

Papa ist nicht da.

Wo ist er?, frage ich.

Opa setzt sich in seinen Sessel und schlägt die Beine übereinander. Er hat sehr lange Beine; er ist über einen Meter neunzig groß – das hab ich von ihm geerbt, sagen alle. Ich bin dreizehn und schon fast einen Meter fünfundsiebzig. Darauf könnte ich verzichten, ich bin immer größer als alle Jungs, und das ist kein Spaß.

Er holt deine Schwester ab, sagt Opa, und ich setze mich etwas unbehaglich in den Sessel ihm gegenüber, weil ich nicht weiß, was ich mit ihm reden soll.

Ich war schon lange nicht mehr mit ihm alleine. Früher war Oma immer da, und Lizzy. Seit Oma tot ist, kümmert Papa sich mehr um Opa, damit er nicht vereinsamt. Sie unterhalten sich miteinander, meistens über den Krieg, wo mein Opa stationiert war und solche Sachen, und Lizzy und ich sitzen dabei und flüstern miteinander und schreiben alberne Dinge auf Zettelchen.

Ich überlege, was ich Opa über den Krieg fragen könnte; mir fällt beim besten Willen nichts ein, und so sage ich gar nichts und hoffe, dass Papa und Anne bald kommen.

Wie alt bist du denn jetzt, Malvina, fragt Opa da, obwohl er genau weiß, dass ich dreizehn bin.

Dreizehn, sag ich und denke weiter über den Krieg nach.

Als ich gerade fragen will, wo er denn stationiert war, nur um irgendetwas zu fragen, obwohl ich das alles natürlich schon weiß, sagt er:

Und hast du denn schon einen Freund? Deine Cousine Maggi hat schon einen, und die ist nur ein halbes Jahr älter als du.

Mir schießt das Blut ins Gesicht, und ich schüttle nur den Kopf. Natürlich hab ich keinen Freund, und wenn, dann würde ich Opa nichts davon erzählen.

Du bist ja schon alt genug, beharrt er, mir kannst du’s ruhig erzählen.

Dabei schaut er mir forschend in die Augen, so als wollte ich ihm etwas verheimlichen.

Ich fühle mich immer unbehaglicher, ich würde gerne verschwinden, aber mir fällt nicht ein, was ich sagen könnte,

ich hab meine Klaviermappe bei der Lehrerin vergessen … aber die Klaviermappe liegt zu meinen Füßen.

Ich hab wirklich keinen Freund, Opa, sag ich deshalb. Das kann ich ja gar nicht glauben, du bist doch so ein hübsches Mädchen, du bist meine hübscheste Enkelin … Dir rennen die Jungen bestimmt hinterher, stimmt’s? Ich schüttle wieder nur den Kopf und sehe an Opas Gesicht vorbei aus dem Fenster, zum Häuserblock gegenüber. Eine Frau schüttelt den Staublappen aus dem Fenster, einen Moment sieht sie genau zu mir herüber, aber das bilde ich mir bloß ein, denn hier drin im Halbdunkel könnte sie mich gar nicht sehen. Sie schlägt das Fenster energisch zu, den Knall kann ich natürlich nicht hören, aber ich höre, wie Opa das Weinglas auf dem Wohnzimmertisch abstellt. Er sagt von sich selbst, dass er ein Schöngeist ist, ich hab nicht wirklich eine Ahnung, was das bedeutet. Ich weiß nur, dass er große deutsche Dichter liest, so wie Goethe und Schiller, und Philosophen, er hat auch eine Menge Schallplatten davon, in allen möglichen Sprachen. Das mit dem Wein hat auch damit zu tun, ein Schöngeist zu sein.

Die rote Flüssigkeit kreist noch träge im Glas, ich würde sonst was drum geben, wenn mir nur ein Themenwechsel einfallen würde, doch ich rutsche nervös auf der Kante des Sessels herum.

Willst du denn nicht wissen, wie es ist, mit den Jungs?, sagt Opa und kommt mit einem Mal ganz nah an mein Gesicht, er muss selbst bis an die Kante seines Sessels rutschen, aber nervös ist er nicht, er ist ganz ruhig und legt seine alten Hände auf meine Knie.

Sie sind wie Leder, selbst durch meine Jeans kann ich das Leder spüren, die trockenen Finger, die dicken, blauen Adern. Und ich rieche den Rotwein in seinem Atem, Rotwein und etwas Saures, das ist, glaub ich, der Geruch des Alters, zumindest weiß ich keine andere Erklärung.

Ich schüttle wiederum nur den Kopf. Die Uhr hinter meinen Ohren tickt. Ich kann Kinder im Hof schreien hören. Sonst ist es ganz still.

Du weißt, dass du meine Lieblingsenkeltochter bist, sagt Opa zu meinem Mund, ich will nicht, dass dir die Jungens wehtun.

Ich versuche nicht zu atmen, meine Beine kribbeln, als müsste ich loslaufen, ich nicke, weil mir nichts Besseres einfällt, und starre auf seine Hände, die meine Knie festhalten.

Dann streicht er mir über den Kopf, fasst mein Haar im Nacken zusammen; es ist hellbraun und ringelt sich an den Spitzen.

Wie schön du bist, sagt er. Du siehst der Oma so ähnlich.

Ich weiß nicht, warum ich mich nicht bewege.

Auch als er mich küsst, schnell und hart auf den Mund, halt ich ganz still.

Wie aus Stein spüre ich seine alten Lippen auf meine prallen, dabei stößt er das Glas um. Der Wein läuft über den Tisch und tropft auf den Boden. Im selben Moment klingelt es an der Tür.

Es sind Anne und Papa.

 

Anne ist siebzehn. Sie hat blonde, lange Haare und unheimlich viele Sommersprossen in ihrem blassen Gesicht. Sie geht in die zwölfte Klasse Gymnasium und hält sich für etwas Besseres. Bei der Fahrt nach Hause sitzt sie vorne im Auto. Sie sitzt immer vorne. Und sie hört immer Musik auf ihrem iPod. Dabei hält sie die Augen geschlossen, schwarz umrandete Augen, die ich gruselig finde, und nickt mit dem Kopf zum Takt der Musik. Normalerweise stupse ich sie von hinten an. Ich bohre meine spitzen Knie in den Sitz und bring sie damit in Rage, meine Rache, weil sie mich nie vorne sitzen lässt. Aber heute hab ich keine Lust dazu.

Ich sehe meinem Vater von hinten beim Autofahren zu, er hat eine kreisrunde Glatze, die in der Sonne wie poliert aussieht, und einen Schnauzbart; von dem sehe ich allerdings nur eine Spitze, weil ich ja hinten sitze. Meistens reden wir die ganze Fahrt über nicht miteinander, es dauert sowieso nur zehn Minuten, man könnte genauso gut mit dem Rad fahren. Ich schau dann aus dem Fenster und stelle mir vor, ich hätte ein Pferd am Zügel, das ich trainieren muss. Es läuft neben dem Auto her, und der Grasstreifen neben der Straße ist die Rennbahn, ich sporne mein Pferd an, es heißt Mary-Lou und läuft wie der Wind – ein albernes Spiel für eine Dreizehnjährige, aber ich erzähle es auch keinem, und so ist das schon in Ordnung.

Heute hab ich nicht mal dazu Lust.

Ich rutsche in die Lücke zwischen den zwei Vordersitzen, obwohl Papa das nicht leiden kann.

Opa hat mich heute geküsst, sag ich, oder ich höre mich das sagen.

Ich will nicht, dass er mich noch mal küsst.

Papa sagt gar nichts.

Einen Moment lang glaube ich, er hat mich nicht gehört.

Dann spür ich, wie er mich im Rückspiegel ansieht. Ganz kurz, dann schaut er wieder auf die Straße.

Ich lasse mich in den Sitz zurückfallen und bohr meiner Schwester die Knie in den Rücken.

Mann, lass das, du kleines Biest, faucht sie, ohne sich die iPod-Stöpsel aus den Ohren zu ziehen, und zwickt mich ins Bein, so fest sie kann.

Ich würde am liebsten heulen.

 

Nach dem Abendessen nehme ich mein Rad und verschwinde.

Meine Mutter mag es nicht, wenn ich abends mit dem Rad alleine unterwegs bin, weil ja so viel passieren kann. Sie hat immer Angst um mich, das sagt sie jedenfalls, aber ich hab schon seit langem die Vermutung, dass ihr einfach langweilig ist, wenn ich nicht daheim bin. Sie sagt, es gehört sich nicht für ein Mädchen, alleine Rad zu fahren. Deswegen lüge ich sie an und sage, dass meine beste Freundin Lizzy mitkommt, obwohl ich genau weiß, dass Lizzy schon heute Nachmittag in die Skiferien gefahren ist.

Ich lüge ziemlich oft, weil meine Mutter so schwierig ist.

Ich lüge, um sie zu beruhigen, und manchmal verschweige ich auch Dinge, damit sie sich nicht aufregt, denn wenn sie sich aufregt, bekommt sie Migräne, und das bedeutet, dass man im abgedunkelten Haus herumschleichen muss, vorsichtig, damit man kein Geräusch macht.

Heute gehe ich also mit Lizzy Rad fahren.

Sie sieht mich trotzdem strafend und irgendwie verletzt an, weil ich nicht zu Hause bleibe.

Aber um halb acht bist du wieder hier!, schreit sie.

Ich tu so, als hätte ich nichts gehört, und radle einfach weiter.

Ich bin gerne allein.

Ich werde zur Villa fahren.

Ein altes, unbewohntes Haus, in dem wir früher gespielt haben. Jetzt sind wir zu alt dazu. Zum Spielen. Ich bin die Einzige, die noch zur Villa geht, und ich bin sogar oft dort. Sie steht abseits von der letzten Straße der Neubausiedlung, zwischen Apfel- und Birnbäumen, man muss durch eine Lücke im Zaun kriechen und dann durch hüfthohes Gras waten.

Ich fahr, so schnell ich kann, bis ich Seitenstechen kriege. Die Sonne steht schon tief und wirft meinen Schatten schräg vor mir her. Meine Beine sind viel zu lang für das Rad, ich bin dünn wie ein Fohlen, ich werde wohl niemals einen Busen bekommen.

Durch die Neubausiedlung geht es bergauf, ich stemme mich in die Pedale, das Rad ist schrecklich alt, mein Bruder ist damit schon gefahren. Die Gangschaltung ist kaputt, und als ich oben bin, brennt meine Lunge. Hier beginnt der Feldweg, und ich hab Zeit zum Verschnaufen. Die Villa duckt sich hinter den Bäumen wie ein altes, schlafendes Tier. Ich lass mich die letzten Windungen des Weges hinabrollen.

Ich krieche durch die Lücke im Zaun und stapfe durch das vom Winter verdorrte Gras.

Letztes Jahr haben Lizzy und ich die Villa gegen die Jungs von der Neubausiedlung verteidigt. Ich hab mich sogar mit einem von ihnen geprügelt. Er war der Größte von allen und mindestens zwei Jahre älter als wir.

Wie viel Angst ich vor ihm hatte! Wir hatten die Haustür verbarrikadiert und uns mit den Schultern dagegengelehnt.

Die kriegen sie nie auf, hat Lizzy gesagt und sich das dunkle Haar aus den Augen gestrichen.

Niemals!

Er hat sie einfach eingetreten. Dann ging alles ganz schnell. Er wollte uns zurückdrängen, damit die anderen Jungs hinter ihm hineinkonnten. Sie drängelten durch das Loch, und er, der Anführer, schubste mich, da wurde ich wütend – nein, ich war vorher schon wütend gewesen. Mit einem Mal holte ich aus und schlug ihm ins Gesicht, mit der Faust, so wie mein Bruder es mir immer gezeigt hatte.

Malvina, sagt er nämlich immer, die Mädels schlagen verkehrt zu, sie schlagen mit der weichen Seite der Faust, dann packt er meine Hand und formt sie zur Faust, siehst du so, sagt er und schlägt sich die untere Seite der Faust gegen die Brust, das tut gar nicht weh. Du musst mit den Knöcheln zuschlagen, mit den Fingerknöcheln, und das Handgelenk muss gerade und fest sein, damit du nicht abknickst …

Genauso hab ich dann zugeschlagen.

Und der Junge hielt sich die Hand vors Gesicht, die Nase, die blutete wie verrückt, es pulsierte und spritzte alles voll, den Boden, mein T-Shirt, meine nackten Arme. Die Jungs sahen zu, dass sie wieder durch das Loch nach draußen kamen.

Seitdem ist die Tür der Villa eingetreten und unser Streit beendet.

Sie kamen nicht wieder, den ganzen Sommer lang nicht.

Den Rest des Sommers haben wir uns gelangweilt.

 

Ich komme das erste Mal dieses Jahr hierher.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass man die Villa im Winter in Ruhe lässt. Im Winter komme ich nicht mal in die Nähe der Neubausiedlung.

Alles ist, wie wir es zurückgelassen haben. Die eingetretene Tür hängt in den Angeln. Auf den Holzdielen kann man mit etwas gutem Willen die Blutflecken entdecken. Die unteren Zimmer mag ich nicht besonders. Sie sind wohl irgendwann ausgebrannt. Die Wände sind geschwärzt, eine verbrannte Couch steht in einer Ecke, und alte Zeitschriften sind über die Fußböden verteilt. Frauenzeitschriften von 1990 und sogar Pornos, nichts Schlimmes, nur nackte Frauen, so zerrissen und zerfleddert, dass man sowieso nicht mehr viel erkennt.

Im ersten Stock sind die Zimmer noch in Ordnung. Da ist sogar ein alter Kaminofen, wo man Feuer machen kann, und eine Wohnzimmereinrichtung mit gerahmten Fotos, die wir uns voller Ehrfurcht immer wieder ansehen.

Auf einem Foto ist ein Mann in Uniform. Er sieht furchtbar streng aus. Den nennen wir den bösen Friederich. Uuuuh, hier spukt der böse Friederich … , sagt Lizzy jedes Mal, wenn wir in diesem Zimmer sind, und das jagt uns kalte Schauer über den Rücken.

Den bösen Friederich möchte ich nicht treffen …

Mein Reich ist das Dachzimmer.

Ich klettere die Holzstiege hinauf, die Tauben entdecken mich viel zu spät und flattern erschrocken durch die Löcher zwischen den Dachbalken. Ihre Federn bedecken den Boden wie ein zarter Flaum.

Schhh … schhh … , mach ich, ihr müsst doch keine Angst vor mir haben, ihr kennt mich doch …

Trotzdem ziehen sie sich vor mir zurück, schlagen mit den Flügeln und trippeln nervös auf den Balken hin und her.

Das ganze Zimmer ist leer, bis auf eine riesige Matratze mit Kissen und Decken, die ich eigenhändig hier raufgeschleppt habe, sie liegt unter dem Stück Dach, durch das es nicht durchregnet, in den Balken darüber hängt ein bodenlanger rosa Vorhang, wie bei einem Himmelbett. Den hat Lizzy organisiert. Sie hat jede Menge Kitsch zu Hause, aber hier macht er sich richtig gut.

Jedes Mal, wenn ich wieder hierherkomme, hab ich Angst, dass alles verschwunden ist oder zerstört.

 

Ich lasse mich umfallen, rückwärts, mit geschlossenen Augen in die Kissen, sie riechen nach Heu und Feldmäusen, nach Frühling und alten Federn.

Der Winter ist vorbei.

Auf dem Dachfirst sitzt ein Amselmann und singt vom Abend, dass der Tag gleich vorbei ist und dass die Welt dann gefährlich wird. Ich würde gerne schlafen, am besten für immer, hier in diesen Kissen bleiben und den Tauben und Amseln zuhören, hier, wo mich niemand findet.

Ich öffne die Augen, weil ein Schatten über mein Gesicht streift.

Es ist der Junge.

 

Wir starren uns in die Augen.

Ich hab plötzlich Angst und versuche, so böse wie möglich zu starren.

Was willst du hier, frag ich dann mit einer Stimme, die fest und mutig klingt.

Der Junge zuckt nur mit den Schultern. Er hockt vor mir. Ich kann sehen, dass seine Nase etwas schief ist, und befürchte, dass ich daran schuld bin und dass er jetzt gleich mit mir abrechnet, jetzt, wo wir beide hier alleine sind und niemand mich hören kann.

Er muss viel stärker sein als ich, er ist zwar nicht größer, aber er ist breiter geworden, seit ich ihn damals das letzte Mal gesehen habe. Er hat richtige Muskeln an den Armen, das erkenne ich durch das Sweatshirt.

Heimlich balle ich meine Hände zu Fäusten, nur für alle Fälle.

Da grinst er.

Ich weiß, wer du bist, sagt er.

Einen Moment setzt mein Herz aus, ich denke, er sagt gleich:

Du bist die, die meine Nase gebrochen hat.

Ich hab deinen Vater in Biologie. Er ist ein richtiges Arschloch.

Er sieht mich nicht an dabei, und darüber bin ich froh, weil ich zusammenzucke, als hätte er mir diesmal ins Gesicht geschlagen.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich müsste meinen Vater verteidigen, aber mir fällt nichts ein. Zudem weiß ich, dass seine Schüler ihn nicht besonders mögen. Er ist sehr streng, nicht nur in der Schule, auch bei uns zu Hause.

Er ist der einzige Lehrer an der Gesamtschule, der seine Schüler nachsitzen lässt, und ich glaube, nicht einmal die anderen Lehrer können ihn besonders gut leiden.

Der Junge steht auf und lehnt sich an die maroden Dachsparren.

Es ist die Seite, die zur Neubausiedlung hinzeigt, beiläufig kramt er eine zerknüllte Zigarettenschachtel aus der Hosentasche.

Willst du eine?, fragt er, wartet die Antwort aber nicht ab, sondern steckt sich selber eine an. Der Rauch zieht durch den Raum wie Nebel, es ärgert mich, weil er meine Tauben stört, die sind ganz nervös und gurren, während sie sich möglichst weit vor ihm zurückziehen.

Ich stehe auf.

Es ist kein besonders gutes Gefühl, unter ihm zu sitzen. Ich trau ihm nicht über den Weg, schließlich hab ich ihn damals vor allen anderen gedemütigt, und er hat meinen Vater in der Schule.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Stimmt es, dass dein Vater früher Boxer war?

Überrascht sehe ich ihn an, wir stehen nebeneinander, in seinem Gesicht spiegelt sich das Abendrot, da fällt mir auf, dass er ganz hübsch ist, die Augenfarbe kann ich nicht erkennen, aber er hat lange, dunkle Wimpern, fast wie ein Mädchen.

Schnell schau ich wieder weg, in dieselbe Richtung wie er, zur Neubausiedlung hin.

Ja, war er mal, sag ich, ist aber schon lange her.

Außerdem war er kein Profiboxer. Aber das sag ich nicht, ist ja auch egal.

Er trainiert immer noch, füge ich hinzu, im Keller hat er einen Boxsack. Jeden Tag macht er das.

Der Junge nickt, als hätte er sich das schon gedacht.

Er hat mal einem Klassenkameraden eine gescheuert. Benni hieß der, der war älter als wir, weil er zweimal durchgefallen ist, und hat gedacht, er ist besonders schlau. Mitten in der Stunde hat er einen Knallfrosch gegen die Tafel geschmissen … Wusch …! Dein Vater wusste genau, wer’s war. Er ging hin, ganz ruhig und dann … peng … voll in die Fresse, ich hab gedacht, der Benni ist hinüber.

Ich schweige betreten. Die Geschichte kannte ich schon; plötzlich finde ich es ziemlich beschissen, wie mein Vater ist.

Zum Kotzen.

Wenn man in drei Sekunden zurückschlägt, dann ist das ein Reflex, das darf man. Ich würde das machen, sagt er und holt aus, als würde er jemandem einen Schwinger verpassen.

Die Tauben stieben erschrocken davon. Für heute haben sie genug, einmal kreisen sie über der Villa, flattern gegeneinander, dann fliegen sie hinüber in die Siedlung. Plötzlich hab ich Angst, dass er mich fragt, ob mein Vater zu Hause genauso ist.

Ich würde gerne sagen, dass er der Liebste auf der Welt ist und nur zu anderen so blöde, aber das stimmt nicht. Das wird mir jetzt klar. Und dass ich ihn nicht anlügen will.

Aber er fragt nicht. Er schnippt den Zigarettenstummel übers Dach, er rollt hinunter bis in die Regenrinne, dort raucht er noch ein paar Sekunden, dann verglüht er. Wohnst du dort drüben?, frag ich, obwohl ich das eigentlich schon weiß.

Mmm, sagt der Junge, im Sonnenpark.

Sehr spöttisch sagt er das.

Das wird jetzt alles noch riesiger, die Bruchbude reißen sie auch bald ab, da kommt ein Supermarkt hin …

Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu.

Jetzt ist mir wirklich übel, als ob mir jemand den Hals zudrückt, und ich spüre die Tränen hinter meinen Augen, die den ganzen Tag schon auf eine Gelegenheit warten.

Eine ungünstigere könnten sie sich nicht aussuchen.

Ich muss los, sag ich und ringe um Fassung, dann dreh ich mich um und haste die Stiege nach unten.

He, schreit er mir nach, wie heißt du denn eigentlich? Aber ich renne schon aus der Villa, ist auch höchste Zeit, weil mir die Tränen jetzt aus den Augen spritzen. Wütende Tränen, die kaum durch den Hals nach oben kommen.

Ich könnte losbrüllen wegen all dieser Ungerechtigkeiten. Der Junge steht da oben, bis ich in der Siedlung verschwinde.

Scheißsiedlung!

Samstag

Als Lizzy und ich die Villa entdeckt haben, hat es die Jungs aus der Siedlung noch gar nicht gegeben. Na ja, gegeben natürlich schon, nur gewohnt haben sie woanders. Da, wo jetzt die Siedlung ist, waren nur Wiesen und Felder und ein kleiner Teich, voll mit Entengrütze. Darin haben wir im Sommer gebadet, es gab einen Steg, man konnte Anlauf nehmen und ins Wasser springen. Wir haben uns an den Händen gehalten dabei und versucht, so weit wie möglich zu springen. Fliegen üben, nannten wir das.

Den Teich haben sie dann zugeschüttet, der nahm zu viel Platz weg, zwei Doppelhaushälften stehen jetzt auf dem Teich, und die Leute in den Doppelhaushälften wissen nicht mal, dass wir früher dort geschwommen sind, Lizzy und ich.

Nachdem der Teich weg war, sind wir zur Villa. Wir haben schwarze Totenköpfe auf weiße Bettlaken gemalt und in die Fenster gehängt, als Zeichen, dass die Villa uns gehört. Uns alleine, und Lizzy hat gesagt, das macht nichts, dass die Piratenflaggen eigentlich anders herum sind. Weiß auf schwarz. Es kommt bloß auf den Versuch an.

In der Not muss man improvisieren, hat sie gesagt. Natürlich haben die Jungs uns ausgelacht, als sie die Flaggen gesehen haben. Mit ihren Rädern haben sie die Villa umkreist, wieder und wieder, und haben miteinander geflüstert, damit wir nicht hören, was sie als Nächstes vorhaben. Dann haben sie Steine durch die Fensterlöcher geworfen und He, ihr Weicheier zu uns raufgebrüllt, und Lizzy und ich haben im Wohnzimmer vom bösen Friederich gesessen und nicht zu atmen gewagt.

Mann, Lizzy, hab ich gesagt, die machen Hackfleisch aus uns, wenn sie uns erwischen.

Die Steine sind neben uns eingeschlagen, keine großen, aber doch so groß, dass es wehtat, wenn man zufällig davon getroffen wurde. Einer hat das Bild vom bösen Friederich zerschlagen, das, auf dem er die Uniform trägt, wo er so grimmig aussieht; das hat so laut geklirrt, da haben sie aufgehört mit Werfen, und Lizzy hat geflüstert: Noch ein Stein, und die können mal sehen, was passiert, wenn sie sich mit uns anlegen.

Sie war nämlich der Meinung, die Jungs seien schuld an der Sache mit dem Teich. Jemand musste ja schuld sein, und die Jungs waren die Ersten, die wir zu fassen bekamen. Einer wohnte sogar in so einer Doppelhaushälfte, ein kleiner, dicker Junge, der immer Kaugummi kaute und damit riesige, apfelgrüne Blasen machen konnte. Dafür sollten sie büßen, dass sie jetzt dort wohnten.

Dann kam der nächste Stein, er traf Lizzy an der Schulter, und da sprangen wir auf und warfen zurück. Alles, was uns in die Hände kam, und als Lizzy einen alten Zinnkrug aus dem Fenster schleuderte, hörten wir sie fluchen und auf die Räder springen. Wir spähten seitlich an unseren Flaggen vorbei, ob sie auch wirklich wegfuhren. Der kleine, dicke Junge hat noch seinen Kaugummi auf meinen Fahrradsattel geklebt, als Rache sozusagen, einen riesigen grünen Klumpen, da kann man heute noch die Reste erkennen. Wir haben gesehen, wie er ihn aus dem Mund geholt hat, und ich hab mir noch gedacht, Gott sei Dank klebt er keinen Popel dahin.

Die werden sich hüten, hat Lizzy gesagt.

***

Am Samstag stürzt Opa.

Er wollte die Treppe hinunter, zum Altglascontainer, und da ist er gestürzt, sagt er. Weil die Nachbarin, die Frau Bitschek, wieder ihren Kinderwagen im Treppenhaus stehen gelassen hat. Die Frau Bitschek war Opa schon immer ein Dorn im Auge, die kommt nämlich aus Polen und hat fünf kleine Kinder, die immer Radau machen und im Treppenhaus herumspringen, und wenn Opa dann mit ihr reden und ihr sagen will, dass die Kinder Ruhe geben sollen, dann schüttelt sie nur den Kopf und sagt: Nix verstehen! Und Opa glaubt, die versteht ihn sehr genau, die will bloß nicht.

Das ist das Problem mit diesen Leuten, die wollen bloß nicht, sagt er.

Bei dem Sturz hat er sich die Hände aufgeschürft und am Knie verletzt, das Knie, wo er vom Krieg eine Schussverletzung hat, das tut ihm sowieso tagaus, tagein weh, und jetzt kann er es gar nicht mehr bewegen, sondern muss Eisbeutel darauf legen und still halten, sonst fährt ihm der Schmerz durch den ganzen Körper, vom großen Zeh bis in die Haarspitzen.

Was kann ich dafür, dass er hingefallen ist, sag ich. Meine Mutter liegt in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer, und das ist auch gut so, da kann ich ihre Leidensmiene nicht sehen. Neben dem Bett stehen die Medikamente und ein Glas Wasser, alles nur schemenhaft erkennbar. Sie hält meine Hand fest, weil sie weiß, wie unbehaglich mich ihr Zustand macht. Meistens geh ich zu Lizzy, wenn es wieder so weit ist. Ich nehme mein Rad und lege einen Zettel auf den Küchentisch, oft ist sie sauer, wenn sie den Zettel findet, weil ich mich nicht um sie kümmere. Um Lizzys Mutter muss sich niemand kümmern, die hat nie Migräne. Bei Lizzy darf man auch immer laut sein, die Musik so laut hören, wie man will, und wann immer man Lust dazu hat, darf man den ganzen Tag herumschreien. Manchmal, wenn wir zu laut Musik hören und im Zimmer herumspringen, klopft der Nachbar von unten gegen die Decke. Dann hören wir auf damit, und Lizzys Mutter kommt ins Zimmer und legt den Finger an die Lippen. Pause, sagt sie dann, und Lizzy und ich sind so lange still, bis wir fast vor Lachen platzen.

So ist das bei Lizzy.

Malvina, sagt meine Mutter, bitte.

Sie riecht nach Tigerbalsam, den tupft sie sich auf die Schläfen, weil sie sich einbildet, die Kopfschmerzen werden davon besser. Ich finde, davon wird einem erst recht übel. Der Geruch verfolgt mich durch meine ganze Kindheit, ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals anders gerochen hat.

Ich weiß ganz genau, was sie von mir will. Ich soll mich um Opa kümmern, mir will sie den Schwarzen Peter zuschieben, weil sie genau weiß, dass Opa jedes Mal auf ihr herumhackt, wenn sie ihn besucht. Er sagt dann, dass sie schon immer so schwächlich ausgesehen hat und dass sie nie wieder in ihrem Beruf arbeiten wird, wenn sie so weitermacht wie bisher, und dann sagt er, wie alt ist die Malvina jetzt eigentlich, dreizehn? Da hast du ja ganz schön lange Erziehungsurlaub.

Opa kann richtig gemein sein.

Soll ihm doch die Frau Bitschek was zu essen bringen, das war schließlich ihr Kinderwagen, sag ich.

Meine Mutter seufzt leise. Sie weiß genauso gut wie ich, dass Opa wahrscheinlich gar nicht gestürzt ist. Er erfindet solche Dinge, wenn er einsam ist, und seit Oma nicht mehr lebt, ist er ziemlich oft einsam.

Ich geh nicht alleine, sag ich, ich bin sonst nie alleine da.

Sie seufzt wieder und drückt meine Hand.

Gestern warst du doch auch alleine, sagt sie, du musst ja nicht lange bleiben.

Du hast ja nur Kopfschmerzen, weil du selber nicht hinwillst, fahr ich sie an.