Rotkehlchen - Jo Nesbø - E-Book

Rotkehlchen E-Book

Jo Nesbø

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Beschreibung

Als der norwegische Staatsschutz Hinweise auf ein geplantes Attentat auf den Thronfolger erhält, beginnt für Harry Hole ein Alptraum aus Lügen und Verrat. Die Spur der Verdächtigen führt in das dunkelste Kapitel norwegischer Vergangenheit: Eine Gruppe von Nazikollaborateuren hat im Untergrund ihr verhängnisvolles Netz gewoben und Harry sieht sich mit einem mörderischen Filz von Intrigen und Verblendung konfrontiert. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Der Osloer Kriminalbeamte Harry Hole wird auf einen Posten beim Staatsschutz versetzt. Eines Tages erhält seine neue Dienststelle Informationen über eine südafrikanische Spezialwaffe, die nach Norwegen importiert wurde. Harry Hole nimmt sich der Sache an und findet bald heraus, dass der Käufer ein alter Mann sein muss. Alle Spuren weisen in die Vergangenheit, auf eine Gruppe von Kollaborateuren, die während des Zweiten Weltkriegs an der Seite der Nationalsozialisten gekämpft haben. Offenbar haben diese Kräfte ein Attentat auf den norwegischen Thronfolger geplant. Es gibt viele potentielle Täter, alte wie neue Nazis, und Harry Hole muss sich in einen tiefen und beängstigend brodelnden Sumpf begeben, um diesen Fall zu lösen.

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker und gilt in seinem Heimatland Norwegen als das neue Multitalent. Für seinen ersten Kriminalroman Der Fledermausmann wurde er 1997 mit dem Riverton-Preis für den »besten Krimi des Jahres« ausgezeichnet. Mit Rotkehlchen gelang ihm der endgültige Durchbruch.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer Sohn

Jo Nesbø

Rotkehlchen

Kriminalroman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein.de

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2004

10. Auflage 2010

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2003 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

© 2000 Jo Nesbø und H. Aschehoug & Co.

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der norwegischen Originalausgabe: Rødstrupe (H. Aschehoug & Co., Oslo)

ISBN 978-3-548-92066-5

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Titelabbildung: © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund); Shutterstock / © Le Panda (Ausfransung); Getty Images / © Craig Acheson (Rehe)

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

»Aber allmählich fasste er Mut, flog ganz nah hinzu und zog mit seinem Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war.

Aber während er dies tat, fiel ein Tropfen von dem Blute des Gekreuzigten auf die Kehle des Vogels. Der verbreitete sich rasch und färbte alle die kleinen zarten Brustfedern.

Doch der Gekreuzigte öffnete seine Lippen und flüsterte dem Vogel zu:

– Für deine Barmherzigkeit hast du dir nun erworben, nach was die deinen vom ersten Tag der Schöpfung an begehrten.«

Selma Lagerlöf,

Christuslegende

TEIL I

ZU ERDE

Mautstation Alnabru, 1. November 1999

1 Immer wieder flatterte ein grauer Vogel durch Harrys Blickfeld. Er trommelte auf das Lenkrad. Langsame Zeit. Irgendjemand hatte gestern im Fernsehen über die langsame Zeit gesprochen. Das hier war langsame Zeit. Wie am Heiligen Abend, bevor das Christkind kam, oder auf dem elektrischen Stuhl, ehe der Strom eingeschaltet wurde.

Er trommelte noch härter.

Sie hatten auf dem offenen Platz hinter den Kassenhäuschen der Mautstation geparkt. Ellen stellte das Autoradio ein bisschen lauter. Der Reporter sprach mit festlicher, andächtiger Stimme:

»Das Flugzeug landete vor fünfzig Minuten und exakt um 6 Uhr 38 betrat der Präsident norwegischen Boden. Er wurde vom Bürgermeister der Gemeinde Ullensaker willkommen geheißen. Es ist ein schöner Herbsttag hier in Oslo, ein idealer Rahmen für das Gipfeltreffen. Lassen Sie uns noch einmal hören, was der Präsident sagte, als er vor einer halben Stunde mit der Presse zusammentraf.«

Das war die dritte Wiederholung. Harry musste wieder an das stimmliche Durcheinander der Reporterschar denken, die sich gegen die Absperrung drückte. An die Männer in den grauen Anzügen auf der anderen Seite der Barrieren, die nur halbherzig versuchten, nicht wie Secret-Service-Agenten auszusehen. Sie zuckten mit den Schultern, beobachteten die Menschenmenge, überprüften zum zwölften Mal, ob ihr Knopf auch richtig im Ohr saß, beobachteten die Menschen, schoben sich die Sonnenbrillen zurecht, beobachteten die Menschen, ließen ihren Blick ein paar Sekunden lang auf einem Fotografen ruhen, der ein etwas zu langes Teleobjektiv hatte, beobachteten weiter und überprüften zum dreizehnten Mal, ob der Knopf richtig saß. Jemand hieß den Präsidenten auf Englisch willkommen, es wurde still und dann knackte es im Mikrofon.

»First let me say I'm delighted to be here ...«,sagte der Präsident zum vierten Mal in heiserem, breitem Amerikanisch.

»Ich habe gelesen, dass ein bekannter amerikanischer Psychologe der Meinung ist, der Präsident leide an MPS«, sagte Ellen.

»MPS?«

»Multiple Persönlichkeitsstörung. Dr. Jekyll und Mr Hyde. Der Psychologe behauptet, dass seine normale Persönlichkeit nichts von dem anderen, sexbesessenen Wesen wisse, dass es mit all diesen Frauen getrieben hat. Und dass ihn deshalb auch kein Gericht dafür verurteilen könne, unter Eid gelogen zu haben.«

»Is' ja 'n Ding«, sagte Harry und sah zu dem Helikopter auf, der hoch über ihnen in der Luft stand.

Im Radio fragte eine Stimme mit norwegischem Akzent:

»Herr Präsident, das ist der erste Norwegenbesuch eines amtierenden amerikanischen Präsidenten. Was empfinden Sie dabei?« Pause.

»Es ist sehr schön, wieder hierher zu kommen. Und dass die Führungen des Staates Israel und des palästinensischen Volkes sich hier treffen können, erachte ich als noch wichtiger. Es ist der Schlüssel zu ...«

»Erinnern Sie sich an Ihren letzten Besuch in Norwegen, Herr Präsident?«

»Norwegen hat eine wichtige Rolle gespielt.«

Eine Stimme ohne norwegischen Akzent:

»Für wie realistisch halten Sie es als Präsident, dass konkrete Resultate erreicht werden?«

Die Übertragung wurde unterbrochen und durch eine Stimme aus dem Studio fortgesetzt.

»Wir haben es also gehört. Der Präsident ist der Meinung, dass Norwegen eine entscheidende Rolle für ... äh, den Frieden im Nahen Osten innehat. Zum jetzigen Zeitpunkt befindet sich der Präsident auf dem Weg nach ...«

Harry stöhnte und stellte das Radio aus. »Was ist eigentlich mit diesem Land los, Ellen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Punkt 27 passiert«, knackte es im Walkie-Talkie auf dem Armaturenbrett.

Er sah sie an.

»Alle auf dem Posten?«, fragte er. Sie nickte.

»Jetzt dauert's nicht mehr lang«, versicherte er. Sie verdrehte die Augen. Das war das fünfte Mal, dass er das sagte, seit der Konvoi in Gardermoen gestartet war. Von ihrem Platz aus konnten sie die leere Autobahn von der Mautstation bis hinauf nach Trosterud und Furuset überblicken. Das Blaulicht drehte sich gemächlich auf dem Dach. Harry kurbelte die Scheibe hinunter und streckte seine Hand aus dem Fenster, um ein welkes Blatt zu entfernen, das sich unter dem Scheibenwischer verklemmt hatte.

»Ein Rotkehlchen«, sagte Ellen und zeigte nach vorn. »Das ist ein seltener Vogel so spät im Herbst.«

»Wo?«

»Da, auf dem Dach des Kassenhäuschens.«

Harry beugte sich hinunter und sah durch die Windschutzscheibe.

»Aha? Das ist also ein Rotkehlchen?«

»Genau. Aber du kennst wohl kaum den Unterschied zwischen dem da und einer Rotdrossel, oder?«

»Stimmt.« Harry hielt sich die Hand über die Augen. Wurde er langsam kurzsichtig?

»Das ist bei uns ein seltener Vogel, das Rotkehlchen«, sagte Ellen und drehte den Verschluss wieder auf ihre Thermoskanne.

»Aha«, sagte Harry.

»Neunzig Prozent von denen ziehen im Winter nach Süden und nur einige wenige gehen sozusagen das Risiko ein, hier zu bleiben.«

»Soso.«

Es knackte wieder im Funkgerät.

»Posten 62 ans HQ: Zweihundert Meter vor der Abfahrt nach Lørenskog steht ein unbekanntes Auto neben der Straße.«

Eine tiefe Stimme mit Bergener Dialekt antwortete aus dem Hauptquartier:

»Einen Augenblick, 62, das überprüfen wir.«

Stille.

»Habt ihr die Toiletten überprüft?«, fragte Harry und nickte in Richtung der Essotankstelle.

»Ja, die Tankstelle ist geräumt, Kunden und Angestellte sind weg. Nur der Chef ist noch da. Den haben wir im Büro eingeschlossen.«

»Die Kassenhäuschen auch?«

»Alles überprüft, beruhig dich, Harry. Alles ist streng nach Liste abgecheckt. Tja, die wenigen, die hier bleiben, hoffen auf einen milden Winter, verstehst du? Das kann gut gehen, aber wenn ihre Rechnung nicht aufgeht, sterben sie. Du fragst dich jetzt bestimmt, warum sie dann nicht mit den anderen nach Süden ziehen. Ob die, die hier bleiben, einfach faul sind.«

Harry blickte in den Rückspiegel und sah die Wachen zu beiden Seiten der Eisenbahnbrücke. Sie waren schwarz gekleidet, trugen Helme und hatten eine MP5-Maschinenpistole um den Hals hängen. Sogar von hier aus konnte er erkennen, wie angespannt ihre Körper waren.

»Die Sache ist, wenn es ein milder Winter wird, können sie die besten Brutplätze belegen, ehe die anderen wieder zurückkommen«, sagte Ellen und versuchte, die Thermoskanne wieder in das überfüllte Handschuhfach zurückzuschieben. »Das ist ein kalkuliertes Risiko, verstehst du? Du machst den Big Deal oder gibst den Löffel ab. Das Wagnis eingehen oder nicht. Wenn du es tust, fällst du vielleicht irgendwann nachts steif gefroren von einem Ast und taust erst im nächsten Frühjahr wieder auf. Traust du dich aber nicht, kriegst du womöglich keinen Platz mehr ab, wenn du zurückkommst. Das ist das ewige Dilemma, das man immer mit sich rumträgt.«

»Du hast doch deine schusssichere Weste an, oder?« Harry wandte sich kurz zu Ellen um und sah sie an.

Ellen antwortete nicht, sondern starrte nach vorn auf die Autobahn, während sie langsam den Kopf schüttelte.

»Hast du oder hast du nicht?«

Sie klopfte als Antwort mit ihren Knöcheln auf ihre Brust. »Die leichte?«

Sie nickte.

»Verdammt, Ellen! Ich hab doch den Befehl gegeben, Bleiwesten anzuziehen, nicht dieses Micky-Maus-Zeug!«

»Weißt du, was diese Secret-Service-Leute tragen?«

»Lass mich raten. Leichte Westen?«

»Genau.«

»Und weißt du, was mir scheißegal ist?«

»Lass mich raten. Der Secret Service?«

»Genau.«

Sie lachte und auch Harry musste lächeln. Es knackte wieder im Funk.

»HQ an Posten 62. Der Secret Service sagt, dass es ein Auto von ihnen ist, das an der Abfahrt nach Lørenskog steht.«

»Posten 62, verstanden.«

»Da siehst du es wieder«, sagte Harry und schlug ärgerlich mit der Hand aufs Lenkrad. »Keine Kommunikation. Diese Amis machen doch immer ihr eigenes Ding. Was hat dieses Auto da oben zu schaffen, ohne dass wir es wissen, häh?«

»Soll wohl überprüfen, ob wir unseren Job richtig machen«, vermutete Ellen.

»Wie sie es uns aufgetragen haben.«

»Du hast in jedem Fall das Recht, ein wenig mitzubestimmen, also beklag dich nicht«, sagte sie, »und hör endlich mit diesem Getrommel auf.«

Harry legte seine Finger gehorsam in seinen Schoß. Sie lächelte. Er atmete in einem langen Seufzer aus:

»Jajaja.«

Seine Finger fanden den Schaft seiner Dienstwaffe, einer 38er Smith & Wesson mit sechs Schuss. Im Gürtel hatte er zwei weitere Magazine mit je sechs Schuss. Er tätschelte seinen Revolver in dem sicheren Wissen, dass er zurzeit streng genommen gar nicht befugt war, eine Waffe zu tragen. Vielleicht wurde er wirklich kurzsichtig, denn nach dem vierzigstündigen Kurs im letzten Winter war er durch die Schießprüfung gefallen. Auch wenn so etwas öfter vorkam, war es doch das erste Mal, dass das Harry widerfahren war, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Eigentlich hätte er die Prüfung bloß wiederholen müssen; er war nicht der Einzige, der vier oder fünf Anläufe brauchte, doch Harry hatte das aus irgendeinem Grund immer wieder verschoben.

Wieder knackte es: »Punkt 28 passiert.«

»Das war der vorletzte Punkt im Polizeidistrikt Romerike«, sagte Harry. »Jetzt kommt Karihaugen und dann sind wir dran.«

»Warum können die das nicht so machen wie immer und sagen, wo sich der Konvoi befindet, anstatt diese blöden Nummern anzugeben?«, fragte Ellen vorwurfsvoll.

»Rat doch mal.«

Sie antworteten im Chor: »Secret Service!« und lachten. »Punkt 29 passiert.«

Er sah auf die Uhr.

»Okay, dann sind die in drei Minuten da. Ich geh jetzt auf die Frequenz vom Osloer Polizeidistrikt. Check noch mal alles ab.«

Es knackte und pfiff im Funkempfänger, während Ellen die Augen schloss, um sich auf die Bestätigungen zu konzentrieren, die ihr der Reihe nach gemeldet wurden. Dann steckte sie das Mikrofon wieder zurück. »Alle auf ihren Plätzen und bereit.«

»Danke. Setz deinen Helm auf.«

»Häh? Also wirklich, Harry.«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.«

»Dann du aber auch!«

»Meiner ist zu klein!«

Eine neue Stimme: »Punkt 1 passiert.«

»Verdammt, manchmal bist du einfach so ... unprofessionell.« Ellen drückte sich den Helm auf den Kopf, befestigte den Kinnriemen und streckte dem Innenspiegel die Zunge heraus.

»Ich liebe dich auch«, sagte Harry, während er die Straße vor sich durch das Fernglas beobachtete. »Ich sehe sie.«

Ganz oben auf der Steigung bei Karihaugen blinkte Metall auf. Harry sah bis jetzt nur den ersten Wagen des Konvois, doch er kannte die Reihenfolge: sechs Motorräder mit besonders geschulten Polizisten der norwegischen Escortabteilung, zwei norwegische Begleitfahrzeuge, dann ein Wagen vom Secret Service, gefolgt von zwei exakt gleichen Cadillac Fleetwood Limousinen, Spezialwagen des Secret Service, die beide aus den USA eingeflogen worden waren. In einem davon saß der Präsident. In welchem, war geheim. Vielleicht sitzt er auch in beiden, dachte Harry. Einen für Jekyll und einen für Hyde. Dann kamen die größeren Wagen: Krankenwagen, Kommunikationsfahrzeug und noch mehr Secret-Service-Wagen.

»Alles scheint ruhig zu sein«, bemerkte Harry. Er bewegte sein Fernglas langsam von rechts nach links. Die Luft flimmerte über dem Asphalt, obgleich es ein kühler Novembermorgen war.

Ellen konnte den Umriss des ersten Wagens erkennen. In einer halben Minute sollten sie die Mautstation passiert haben, womit die Hälfte ihres Jobs erledigt wäre. Und in zwei Tagen, wenn dieselben Autos die Mautstation in umgekehrter Richtung erneut passiert hatten, konnten Harry und sie ihre gewohnte Polizeiarbeit wieder aufnehmen. Ihr waren die Toten im Morddezernat lieber, als um drei Uhr nachts aufzustehen und dann mit einem übel gelaunten Harry, dem seine Verantwortung schwer zu schaffen machte, in einem kalten Volvo zu sitzen.

Abgesehen von Harrys gleichmäßigem Atem war es vollkommen still im Auto. Sie überprüfte, ob die Statusanzeigen beider Funkempfänger leuchteten. Die Autokolonne hatte jetzt beinahe die Senke erreicht. Sie nahm sich vor, nach dem Job ins Torst zu gehen und sich volllaufen zu lassen. Dort gab es einen Typen, mit dem sie neulich geflirtet hatte; er hatte schwarze Locken und braune, fast gefährliche Augen. Er war mager und hatte so einen bohemeartigen, intellektuellen Touch. Vielleicht ...

»Was zum Teuf...«

Harry hatte sich bereits das Mikrofon geschnappt. »Im dritten Kassenhäuschen von links steht jemand. Kann mir einer diese Person identifizieren?«

Das Funkgerät antwortete mit knisterndem Schweigen, während Ellens Blick die Reihe der Kassenhäuschen absuchte. Da! Hinter dem braunen Glas erkannte sie den Rücken eines Mannes – kaum vierzig, fünfzig Meter vor ihnen. Im Gegenlicht zeichnete sich sein Profil deutlich ab. Ebenso der kurze Lauf mit dem Zielfernrohr, der über seine Schulter hinausragte.

»Eine Waffe!«, rief sie. »Er hat eine Maschinenpistole!«

»Scheiße!« Harry trat die Autotür auf, packte mit beiden Händen den Rand des Autodaches und schwang sich nach draußen. Ellen starrte auf die Wagenkolonne. Sie war vielleicht noch hundert Meter entfernt. Harry steckte seinen Kopf ins Auto.

»Das ist keiner von uns, aber es kann einer vom Secret Service sein«, sagte er. »Ruf das HQ an.« Er hielt den Revolver bereits in der Hand.

»Harry ...«

»Sofort! Und drück die Hupe, wenn sie sagen, dass es einer von denen ist.«

Harry rannte auf das Kassenhäuschen zu. Der Gewehrlauf sah aus wie der Lauf einer Uzi. Die raue Morgenluft brannte in den Lungen.

»Polizei!«, schrie Harry. »Police!«

Keine Reaktion, das dicke Glas sollte den Verkehrslärm von draußen abhalten. Der Mann hatte seinen Kopf jetzt in Richtung Kolonne gedreht und Harry konnte die dunkle Ray-Ban-Sonnenbrille erkennen. Secret Service. Oder jemand, der wie einer vom Secret Service aussehen wollte.

Noch zwanzig Meter.

Wie war er in das verschlossene Häuschen gekommen, wenn er keiner von denen war? Verdammt! Harry konnte bereits die Motorräder hören. Er würde das Häuschen nicht mehr erreichen.

Er entsicherte die Waffe und hoffte, die Hupe des Autos möge die morgendliche Stille an diesem Ort auf der gesperrten Autobahn zerreißen, an den er nie, wirklich niemals gewollt hatte. Der Befehl war klar, doch er konnte den Gedanken einfach nicht von sich weisen: leichte Weste, keine Kommunikation. Schieß, es ist nicht dein Fehler. Ob er Familie hat?

Unmittelbar hinter dem Kassenhäuschen kam jetzt die Kolonne zum Vorschein, und das schnell. In zwei Sekunden würde der Cadillac in Höhe der Mautstation sein. Aus dem linken Augenwinkel sah er eine Bewegung – ein kleiner Vogel, der vom Dach aufflog.

Das Wagnis eingehen oder nicht... dieses ewige Dilemma.

Er dachte an den tiefen Halsausschnitt der Weste und senkte den Revolver ein klein wenig. Das Dröhnen der Motorräder war ohrenbetäubend.

Oslo, Dienstag, 5. Oktober 1999

2 »Genau das ist ja der große Betrug«, sagte der kahl geschorene Mann und warf einen Blick auf das Manuskript. Der Kopf, die Augenbrauen, die kräftigen Unterarme, ja sogar seine gewaltigen Hände, die das Rednerpult umklammerten, waren frisch rasiert und sauber. Er beugte sich zum Mikrofon vor.

»Seit 1945 haben die Feinde des Nationalsozialismus das Feld beherrscht und ihre demokratischen und ökonomischen Prinzipien ausgeübt. Als Folge davon hat die Welt seither nicht einen einzigen Sonnenuntergang ohne kriegerische Auseinandersetzungen gesehen. Selbst hier in Europa haben wir Krieg und Völkermord miterleben müssen. In der Dritten Welt hungern und sterben Millionen – und Europa wird von Massenzuwanderung und dem damit verbundenen Chaos bedroht, von der Not und dem Kampf ums Dasein.«

Er hielt inne und sah sich um. Es war mucksmäuschenstill im Saal, nur einer der Zuhörer in den Reihen hinter ihm klatschte leise Beifall. Als er erregt fortfuhr, leuchtete die kleine Lampe unter dem Mikrofon verräterisch auf – der Kassettenrecorder empfing verzerrte Signale.

»Nur wenig trennt auch uns von unbekümmertem Reichtum und dem Tag, an dem wir uns auf uns selbst und auf die Gesellschaft um uns herum verlassen müssen. Ein Krieg, eine ökonomische oder ökologische Katastrophe – und das gesamte Netzwerk aus Regeln und Gesetzen, das uns alle so schnell zu passiven Nutznießern des Sozialstaates werden lässt, ist plötzlich verschwunden. Der letzte große Betrug fand am 9. April 1940 statt, als unsere so genannten nationalen Führungspersonen vor dem Feind davonrannten, um ihre eigene Haut zu retten. Und die staatlichen Goldreserven mitnahmen, um in London ein Leben in Luxus zu finanzieren. Jetzt ist der Feind wieder hier. Und diejenigen, die unsere Interessen verteidigen sollten, betrügen uns erneut. Sie lassen den Feind Moscheen in unserer Mitte errichten, erlauben es ihm, die Alten auszurauben und sein Blut mit dem unserer Frauen zu mischen. Es ist ganz einfach unsere Pflicht, unsere Rasse der Nordmänner zu schützen und diejenigen zu eliminieren, die uns betrügen wollen.«

Er blätterte zur nächsten Seite um, doch ein Räuspern vom Podium vor ihm ließ ihn innehalten und aufblicken.

»Danke, ich glaube, wir haben genug gehört«, sagte der Richter und sah über seine Brille. »Hat die Staatsanwaltschaft noch weitere Fragen an den Angeklagten?«

Die Sonne schien schräg in den Saal Nummer 17 des Osloer Justizgebäudes und verschaffte dem Kahlgeschorenen einen trügerischen Heiligenschein. Er trug ein weißes Hemd mit einem schmalen Schlips, vermutlich auf Anraten seines Anwalts, Johan Krohn, der zurückgelehnt dasaß und einen Stift zwischen Zeigefinger und Mittelfinger auf und ab wippen ließ. Krohn missfiel die ganze Situation. Ihm missfiel die Richtung, die die Befragung seines Klienten, Sverre Olsen, genommen hatte, und dessen offenherzige Programmerklärung. Des Weiteren störte es ihn, dass Olsen sich das Recht herausgenommen hatte, seine Hemdsärmel hochzukrempeln, so dass sowohl der Richter als auch die anderen Anklagevertreter die tätowierten Spinnweben an beiden Ellenbogen und die Hakenkreuze am linken Unterarm erkennen konnten. Der rechte Unterarm war mit einer Reihe altnordischer Symbole verziert, darüber stand in schwarzen gotischen Buchstaben VALKYRIA. Valkyria war der Name einer Gruppierung, die zu dem neonazistischen Milieu der Gegend um Nordstrand gehört hatte. Doch was Johan Krohn am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass irgendetwas schief lief, irgendetwas an dem ganzen Prozess, er wusste nur nicht genau, was.

Der Staatsanwalt, ein kleiner Mann namens Herman Groth, bog das Mikrofon mit seinem kleinen Finger, an dem ein Ring mit dem Symbol der Anwaltsinnung steckte, zu sich herüber.

»Nur noch ein paar abschließende Fragen, Herr Richter.« Seine Stimme klang weich und gedämpft. Die Lampe unter dem Mikrofon leuchtete grün.

»Als Sie am 3. Januar gegen einundzwanzig Uhr Dennis Kebab in der Dronningsgate betraten, geschah dies also mit der klaren Absicht, Ihre Pflicht zur Verteidigung unserer Rasse, von der Sie gesprochen haben, zu erfüllen?«

Johan Krohn warf sich auf das Mikrofon:

»Mein Klient hat doch bereits gesagt, dass es zu einem Streit zwischen ihm und dem vietnamesischen Besitzer gekommen ist.« Rotes Licht. »Er wurde provoziert«, fügte Krohn hinzu. »Es gibt nicht den geringsten Grund, vorsätzliches Handeln anzunehmen.«

Groth schloss seine Augen halb.

»Wenn das stimmt, was Ihr Verteidiger sagt, Olsen, trugen Sie also ganz zufällig einen Baseballschläger mit sich?«

»Zur Selbstverteidigung«, unterbrach ihn Krohn und breitete resignierend die Arme aus:

»Herr Richter, diese Fragen hat mein Mandant doch alle bereits beantwortet.«

Der Richter rieb sich das Kinn, während er den Verteidiger betrachtete. Alle wussten, dass Johan Krohn jr. einer der emporstrebenden Topverteidiger war, und wohl gerade deshalb stimmte ihm der Richter nur widerwillig zu:

»Ich teile die Meinung des Verteidigers. Wenn die Staatsanwaltschaft keine neuen Aspekte vorbringen kann, möchte ich darum bitten, zu einem Ende zu kommen.«

Groth öffnete seine Augen wieder, so dass ein schmaler weißer Streifen oberhalb und unterhalb der Iris zu erkennen war. Er nickte. Dann hob er mit einer müden Bewegung eine Zeitung hoch.

»Das hier ist die Ausgabe des Dagbladet vom 25. Januar. In einem Interview auf Seite acht sagt einer der Gesinnungsgenossen des Angeklagten ...«

»Einspruch ...«, fuhr Krohn dazwischen.

Groth seufzte. »Ich nehme meine Äußerung zurück. Lassen Sie mich also von einer männlichen Person sprechen, die rassistisches Gedankengut zum Ausdruck bringt.«

Der Richter nickte, warf Krohn aber gleichzeitig einen warnenden Blick zu. Groth fuhr fort:

»Dieser Mann sagt in einem Kommentar zu dem Überfall auf Dennis Kebab, wir brauchten noch mehr Rassisten vom Schlage eines Sverre Olsen, um Norwegen zurückzugewinnen. Im Interview wird das Wort Rassist wie eine Ehrenbezeichnung verwendet. Halten Sie sich selbst für einen Rassisten?«

»Ja, ich bin Rassist«, bekannte Olsen, ehe Krohn ihn unterbrechen konnte. »In dem Verständnis, das ich von diesem Wort habe.«

»Und das wäre?«, fragte Groth lächelnd.

Krohn ballte die Fäuste unter dem Tisch und sah zu dem Richter und den beiden Anklagevertretern auf dem Podium hinauf. Diese drei sollten über die Zukunft seines Klienten entscheiden und über den Status, den er selbst während der nächsten Monate im Tostrupkeller innehaben würde. Zwei gewöhnliche Vertreter des Volkes mit dessen gewöhnlichem Rechtsempfinden. »Laienrichter« hatten sie sie früher genannt, doch vielleicht hatten sie herausgefunden, dass das zu sehr nach Inkompetenz klang. Der Schöffe zur Rechten des Richters war ein junger Mann in einem billigen Anzug, der kaum aufzublicken wagte. Die junge, etwas füllige Frau auf der anderen Seite des Richters schien nur so zu tun, als wäre sie bei der Sache, während sie den Kopf in den Nacken legte, damit ihr beginnendes Doppelkinn vom Saal aus nicht zu sehen war. Durchschnittliche Norweger. Was wussten diese über Menschen wie Sverre Olsen? Was wollten sie wissen?

Acht Zeugen hatten gesehen, wie Sverre Olsen mit einem Baseballschläger unter dem Arm den Kebabstand betreten hatte und damit nach ein paar kurzen Schimpfworten auf den Kopf des Inhabers Ho Dai, eines vierzigjährigen Vietnamesen, eingeschlagen hatte, der 1978 als einer der Boat People nach Norwegen gekommen war. Er war dabei so brutal vorgegangen, dass Ho Dai nie wieder laufen können würde. Als Olsen zu reden begann, war Johan Krohn jr. in Gedanken bereits damit beschäftigt, die Berufung vor der Großen Strafkammer zu formulieren.

»Rassismus«, las Olsen, nachdem er in seinen Papieren gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, »ist ein ewiger Kampf gegen erbliche Krankheiten, Degenerierung und Ausrottung, verbunden mit dem Traum und der Hoffnung auf eine gesündere Gesellschaft mit mehr Lebensqualität. Rassenvermischung ist eine Form des bilateralen Völkermordes. In einer Welt, in der geplant ist, Genbanken zu errichten, um selbst den winzigsten Käfer zu erhalten, wird es allgemein akzeptiert, Menschenrassen miteinander zu vermischen – und damit auszuradieren –, die sich über Jahrtausende entwickelt haben. In einem Artikel der renommierten amerikanischen Zeitschrift American Psychologist aus dem Jahre 1972 warnten fünfzig namhafte amerikanische und europäische Wissenschaftler vor der Verheimlichung der erbtheoretischen Argumentation.«

Olsen hielt inne, ließ seinen Blick durch den Saal Nummer 17 schweifen und hob den rechten Zeigefinger. Er hatte sich dem Staatsanwalt zugewendet, so dass Krohn die bleiche Sieg-Heil-Tätowierung auf dem kahl geschorenen Hautwulst zwischen Hinterkopf und Nacken erkennen konnte, ein stummer Aufschrei und ein grotesker, merkwürdiger Kontrast zu der kühlen Rhetorik. In der Stille, die nun folgte, entnahm Krohn dem Lärm, der vom Flur hereinschallte, dass man im Saal 18 bereits Mittagspause machte. Einige Sekunden vergingen. Krohn erinnerte sich an etwas, was er gelesen hatte, dass nämlich Adolf Hitler bei den Massenaufmärschen oftmals Kunstpausen von bis zu drei Minuten eingelegt haben soll. Als Olsen fortfuhr, klopfte er mit seinen Fingern im Takt, als wollte er den Anwesenden jedes Wort und jeden Satz einhämmern.

»Jeder, der glaubt, dass dort draußen kein Rassenkampf vor sich geht, ist entweder blind oder ein Verräter.«

Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das der Gerichtsdiener vor ihn hingestellt hatte.

Der Staatsanwalt schritt ein.

»Und in diesem Rassenkampf sind Sie und Ihre Anhänger, von denen sich einige hier im Saal befinden, die Einzigen, die das Recht zum Angriff haben?«

Buhrufe ertönten von den Skinheads in den Bankreihen.

»Wir greifen nicht an, wir verteidigen uns«, widersprach Olsen. »Das ist das Recht und die Pflicht aller Rassen.«

Jemand aus dem Saal warf ihm ein paar Worte zu, die Olsen aufnahm und mit einem Lächeln wiedergab.

»Auch ein Rassenfremder kann in Tat und Wahrheit ein rassenbewusster Nationalsozialist sein.«

Gelächter und lauter Beifall von den Zuhörern. Der Richter bat um Ruhe und sah dann den Staatsanwalt fragend an.

»Das war alles«, sagte Groth.

»Hat der Verteidiger noch weitere Fragen?«

Krohn schüttelte den Kopf.

»Dann bitte ich den ersten Zeugen der Staatsanwaltschaft herein.«

Der Staatsanwalt nickte dem Gerichtsdiener zu, der die Tür hinten im Saal öffnete, den Kopf nach draußen steckte und etwas sagte. Das Kratzen eines Stuhlbeines war zu hören, ehe sich die Tür weit öffnete und ein kräftiger Mann den Saal betrat. Krohn registrierte, dass der Mann eine etwas zu kleine Anzugjacke trug, schwarze Jeans und ebenso schwarze Doc-Martens-Stiefel. Der athletische, schlanke Körper hätte auf ein Alter von etwa Anfang dreißig schließen lassen. Doch die rot unterlaufenen Augen mit den hervortretenden Tränensäcken und die blasse Haut mit den dünnen Äderchen deuteten eher in Richtung fünfzig.

»Polizeiobermeister Harry Hole?«, fragte der Richter, als der Mann im Zeugenstand Platz genommen hatte.

»Ja.«

»Den Papieren entnehme ich, dass Ihre Privatadresse nicht angegeben ist?«

»Geheim.« Hole deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ich hatte zu Hause Besuch.«

Erneut ertönten Buhrufe.

»Herr Hole, haben Sie früher schon einmal ausgesagt? Unter Eid, meine ich.«

»Ja.«

Krohns Kopf schnellte nach oben wie bei den Plastikhunden, die einige Autofahrer hinten auf der Hutablage platziert haben. Er begann, fieberhaft seine Dokumente zu durchstöbern.

»Sie arbeiten als Ermittler im Morddezernat«, sagte Groth. »Was haben Sie mit diesem Fall zu tun?«

»Wir sind von falschen Voraussetzungen ausgegangen«, erwiderte Hole.

»Ach ja?«

»Wir haben nicht damit gerechnet, dass Ho Dai überleben würde. Für gewöhnlich ist man mit zertrümmertem Schädel und dem Verlust von Gehirnmasse dazu nicht mehr in der Lage.«

Krohn sah, wie sich die Gesichter der Schöffen unfreiwillig verzogen. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er hatte den Zettel mit den Namen der Schöffen gefunden. Und da war er: der Fehler.

Karl Johans Gate, 5. Oktober 1999

3 »Sie werden sterben.« Die Worten klangen noch immer in den Ohren des alten Mannes, als er auf die Treppe hinaustrat und geblendet von der stechenden Herbstsonne stehen blieb. Während sich seine Pupillen langsam zusammenzogen, hielt er sich am Geländer fest und atmete tief und langsam. Er lauschte der Kakophonie der Autos, Straßenbahnen und piepsenden Ampeln. Und den Stimmen – aufgeregten und fröhlichen Stimmen, die vorbeihasteten. Und der Musik. Hatte er jemals zuvor so viel Musik wahrgenommen? Doch nichts vermochte die Worte zu übertönen, die immer wieder sagten: »Sie werden sterben.«

Wie oft hatte er hier draußen auf der Treppe vor der Praxis von Dr. Buer gestanden? Zweimal jährlich über vierzig Jahre hinweg, das hieß achtzigmal. Achtzig gewöhnliche Tage, genau wie heute, doch niemals zuvor war ihm aufgefallen, wie das Leben auf der Straße pulsierte, welche Dynamik, welch gierige Lebenslust hier herrschten. Es war Oktober, doch es kam ihm wie ein Tag im Mai vor. Der Tag, an dem der Frieden begann. Übertrieb er? Er konnte ihre Stimmen hören, ihre Silhouetten durchs Sonnenlicht schreiten sehen, die Umrisse ihrer Gesichter erkennen, die in einem Glorienschein aus weißem Licht verschwanden.

»Sie werden sterben.«

All das Weiße bekam Farbe und wurde zur Karl Johans Gate. Er stieg die Treppenstufen hinunter, blieb stehen und sah nach rechts und links, als könne er sich nicht entscheiden, in welche Richtung er gehen solle. Er versank in Gedanken. Dann zuckte er zusammen, als hätte ihn jemand aufgeschreckt, und begann in Richtung Schloss zu gehen. Seine Schritte waren zögerlich, der Blick niedergeschlagen und um seine magere Gestalt schlotterte der viel zu große Wollmantel.

»Der Krebs hat sich ausgebreitet«, hatte Dr. Buer gesagt.

»So«, hatte er selbst geantwortet, Buer angesehen und sich gefragt, ob man wohl im Medizinstudium lernte, die Brille abzunehmen, wenn man etwas Ernstes sagen musste, oder ob das nur die kurzsichtigen Ärzte taten, um den Ausdruck in den Augen der Patienten nicht sehen zu müssen. Dr. Konrad Buer sah seinem Vater immer ähnlicher, was wohl an der zunehmend hohen Stirn lag und daran, dass ihm die Tränensäcke unter den Augen etwas von der sorgenvollen Aura seines Vaters verliehen.

»Was heißt das?«, hatte der Alte mit einer Stimme gefragt, die er schon seit über fünfzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Es war der hohle, kehlige Tonfall eines Mannes, dessen Stimmbänder vor Todesangst erzitterten.

»Nun, die Frage ist, ob ...«

»Bitte, Herr Doktor. Ich habe dem Tod schon früher einmal ins Auge geblickt.«

Er hatte seinen Mund geöffnet, Worte gewählt, die seine Stimme stark wirken ließen. So sollte Dr. Buer sie hören. So wollte er sie selbst hören.

Der Blick des Arztes war über den Tisch geschweift, über den abgenutzten Parkettboden und hatte am Fenster Halt gemacht. Er hatte dort einen Moment verweilt, ehe er zurückgekehrt war und den Blick des alten Mannes erwiderte. Seine Hände hatten einen Lappen gefunden, mit dem sie die Brillengläser ausgiebig putzten.

»Ich weiß, wie Sie ...«

»Sie wissen gar nichts.« Der Alte hatte sein eigenes trockenes Lachen gehört. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Dr. Buer, aber das kann ich Ihnen wirklich garantieren: Sie wissen nichts.«

Er hatte konstatiert, wie sehr Buer sich über diese Bemerkung wunderte, und gleich darauf war ihm aufgefallen, dass der Wasserhahn am Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand tropfte. Ein neuer Laut, als habe er plötzlich wieder die Wahrnehmungsfähigkeit eines Zwanzigjährigen.

Dann hatte Buer seine Brille wieder aufgesetzt, ein Papier in die Hand genommen, als stünden dort die Worte, die er sagen musste, hatte sich geräuspert und gesagt:

»Sie werden sterben.«

Er blieb bei einer Traube von Menschen stehen und hörte das Klimpern einer Gitarre, begleitet von einer Stimme, die ein Lied sang. Den anderen, die dort standen, kam es sicher alt vor. Er hatte es schon einmal gehört; das mochte gut und gerne ein Vierteljahrhundert her sein, doch ihm kam es so vor, als wäre das gestern gewesen. So war es mit allem – je länger es zurücklag, desto näher und deutlicher erschien es ihm. Er konnte sich jetzt an Begebenheiten erinnern, an die er jahrelang nicht gedacht hatte. Was er früher in seinen Kriegstagebüchern hatte nachlesen müssen, spielte sich jetzt wie ein Film auf seiner Netzhaut ab, sobald er die Augen schloss.

»Ein Jahr sollten Sie aber wohl noch haben.«

Einen Frühling und einen Sommer. Er sah jedes der vergilbten Blätter an den Laubbäumen im Studenterlunden-Park, als habe er neue, stärkere Brillengläser bekommen. 1945 waren es schon die gleichen Bäume gewesen, oder etwa nicht? Doch auf die hatte er an jenem Tag nicht sonderlich geachtet, auf nichts im Besonderen. Die lächelnden Gesichter, die wütenden Mienen, die Rufe, die ihn kaum erreichten, die Tür des Autos, die zugeschlagen wurde – vielleicht hatte er Tränen in den Augen gehabt, denn wenn er an die Flaggen dachte, mit denen die Menschen über die Bürgersteige rannten, dann waren diese rot und irgendwie verschwommen gewesen. Diese Rufe: Der Kronprinz ist wieder da!

Er ging den Hügel zum Schloss empor, wo sich ein paar Menschen versammelt hatten, um den Wachwechsel zu beobachten. Das Echo der Befehle des Wachhabenden und das Klacken der Gewehrkolben und Stiefelabsätze hallten an der blassgelben Fassade wider. Videokameras schnurrten und er fing ein paar deutsche Kommentare auf. Ein junges japanisches Pärchen stand eng umschlungen da und betrachtete leicht belustigt das Schauspiel. Er schloss die Augen, versuchte den Geruch der Uniformen und des Waffenöles wahrzunehmen. Aber hier gab es nichts, was so roch, wie sein Krieg gerochen hatte.

Er öffnete seine Augen wieder. Was wussten sie schon, diese schwarz gekleideten Jüngelchen in Uniform, diese Paradefiguren der Sozialmonarchie, wenn sie ihre symbolischen Handlungen ausführten! Sie waren zu unschuldig, um etwas zu begreifen, und zu jung, um etwas dabei zu fühlen. Erneut musste er an jenen Tag denken, an die jungen, als Soldaten verkleideten Norweger. Man hatte sie Schwedensoldaten genannt. In seinen Augen waren das Zinnsoldaten gewesen, die nicht wussten, wie man eine Uniform trug, und ebenso wenig, wie man einen Kriegsgefangenen behandelte. Sie waren ängstlich und brutal zugleich gewesen. Eine Zigarette im Mundwinkel und die Uniformmütze schief auf dem Kopf, hatten sie sich an ihre neu erworbenen Waffen geklammert und ihre Angst zu betäuben versucht, indem sie den Gefangenen die Gewehrkolben in den Rücken stießen.

»Nazischwein«, hatten sie gerufen, wenn sie zuschlugen, in dem Wissen, man würde sie dafür nicht zur Verantwortung ziehen.

Er holte tief Luft, spürte den warmen Herbsttag, doch da kamen auch schon die Schmerzen. Er taumelte einen Schritt zurück. Wasser in den Lungen. In zwölf Monaten, vielleicht sogar schon eher, würden die Geschwüre und Entzündungen Wasser absondern, das sich in seinen Lungen sammeln würde. Das, hieß es, sei das Schlimmste.

»Sie werden sterben.«

Jetzt kam der Herbst, so voller Kraft, dass diejenigen, die ihm am nächsten standen, unwillkürlich einen Schritt zurücktraten.

Außenministerium, Victoria-Terrasse, 5. Oktober 1999

4 Staatssekretär Bernt Brandhaug schritt über den Flur. Vor dreißig Sekunden hatte er sein Büro verlassen und in weiteren fünfundvierzig würde er den Sitzungssaal erreichen. Er hob seine Schultern in dem Jackett, spürte, dass sie es vollständig ausfüllten und dass sich seine Rückenmuskeln gegen den Stoff spannten. Latissimus dorsi – Langlaufinuskulatur. Er war sechzig Jahre alt, sah aber keinen Tag älter als fünfzig aus. Nicht dass ihn sein Äußeres sehr beschäftigt hätte, doch er war sich bewusst, dass er ein attraktiver Mann war. Und dafür reichten schon das Training, das er liebte, ein paar Besuche im Solarium während des Winters und das kontinuierliche Auszupfen der wenigen grauen Haare in seinen mittlerweile buschig gewordenen Augenbrauen.

»Hei, Lise«, rief er, als er am Kopierer vorbeiging. Die junge Amtsanwärterin zuckte zusammen und konnte ihm gerade noch ein blasses Lächeln zuwerfen, ehe er um die nächste Ecke verschwunden war. Lise hatte vor kurzem ihr Juraexamen abgelegt, sie war die Tochter eines Studienfreundes. Erst vor ein paar Wochen hatte sie hier angefangen. Doch vom ersten Augenblick an war ihr klar gewesen, dass der Staatssekretär, der hochrangigste Angestellte im Auswärtigen Amt, wusste, wer sie war. Wäre sie für ihn zu haben? Wahrscheinlich. Aber es musste nicht sein. Nicht notwendigerweise.

Er hörte das Geräusch der Stimmen, noch ehe er die geöffnete Tür erreichte. Er sah auf die Uhr. Fünfundsiebzig Sekunden. Dann war er drinnen, ließ rasch seinen Blick durch den Sitzungssaal schweifen und konstatierte, dass alle einberufenen Instanzen anwesend waren.

»Sie sind also Bjarne Møller«, rief er und lächelte breit, als er einem hochgewachsenen, dünnen Mann, der neben der Polizeipräsidentin Anne Størksen saß, die Hand entgegenstreckte.

»Sie sind PAC, nicht wahr, Møller? Ich habe gehört, dass Sie bei der Hohnenkollstafette sowohl eine Berg- als auch eine Taletappe gelaufen sind.«

Das war eine von Brandhaugs Methoden. Er verschaffte sich ein paar Informationen, die nicht im Lebenslauf standen, wenn er bestimmte Menschen zum ersten Mal traf. Das machte sie unsicher. Es freute ihn besonders, dass es ihm gelungen war, die Bezeichnung PAC zu benutzen – die interne Abkürzung für Polizeiabteilungschef. Brandhaug setzte sich, zwinkerte seinem alten Freund Kurt Meirik, dem Leiter des polizeilichen Überwachungsdienstes, PÜD, zu und betrachtete dann die anderen, die am Tisch saßen.

Noch wusste niemand, wer den Vorsitz übernehmen sollte, denn es war eine Sitzung, bei der gleichrangige Beamte versammelt waren, die das Polizeipräsidium, den Nachrichtendienst, die Bereitschaftstruppen und das Auswärtige Amt repräsentierten. Das Büro des Ministerpräsidenten hatte die Sitzung einberufen, doch es stand außer Frage, dass die operationelle Verantwortung beim Osloer Polizeidistrikt mit Polizeipräsidentin Anne Størksen und beim Überwachungsdienst, vertreten durch Kurt Meirik, lag. Der Sekretär des Ministerpräsidenten schien die Leitung der Sitzung übernehmen zu wollen.

Brandhaug schloss die Augen und lauschte.

Das Summen der Stimmen ebbte langsam ab, ein Stuhlbein kratzte über den Boden. Papier raschelte, Stifte klickten – bei derart wichtigen Sitzungen kamen die meisten Abteilungschefs in Begleitung eigener Referenten, um eine Unterstützung zu haben, falls der Sitzungsverlauf eine unerwünschte Wendung nahm und man sich mit gegenseitigen Schuldzuweisungen belastete. Jemand räusperte sich, doch das kam von der falschen Seite des Raumes und war darüber hinaus kein Räuspern, mit dem man einen Eröffnungssatz einleitete. Jemand holte Luft, um zu sprechen.

»Lassen Sie uns beginnen«, sagte Brandhaug und öffnete die Augen.

Alle Köpfe wandten sich ihm zu. Es war jedes Mal das Gleiche. Der halb geöffnete Mund des überrumpelten Sekretärs, das schiefe Lächeln von Frau Størksen, die begriffen hatte, was vor sich gegangen war, und die ausdruckslosen Gesichter all der anderen, die keine Ahnung davon hatten, dass der Kampf bereits entschieden war.

»Ich heiße Sie herzlich zur ersten Koordinationssitzung willkommen. Unsere Aufgabe ist es, vier der wichtigsten Männer der Welt nach Norwegen und wieder zurückzubringen, und das in mehr oder minder lebendigem Zustand.«

Höfliches Grinsen allerseits.

»Am Montag, dem 1. November, werden PLO-Chef Jassir Arafat, der israelische Ministerpräsident Ehud Barak und der russische Präsident Wladimir Putin kommen und last but not least wird in genau fünfundzwanzig Tagen um exakt 6 Uhr 15 die Airforce One mit dem amerikanischen Präsidenten an Bord auf dem Osloer Flughafen Gardermoen landen.«

Brandhaug ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. Seine Augen blieben auf dem Neuen haften, Bjarne Møller.

»Sofern es dann nicht zu nebelig ist«, sagte er, erntete Gelächter und bemerkte zu seiner Genugtuung, dass Møller einen Augenblick lang seine Nervosität vergaß und mitlachte. Brandhaug lächelte zurück und zeigte seine kräftigen Zähne, die nach der letzten kosmetischen Behandlung beim Zahnarzt noch ein wenig weißer leuchteten.

»Wir wissen noch nicht genau, wie viele eintreffen werden«, fuhr Brandhaug fort. »In Australien wurde der Präsident von zweitausend Menschen begleitet, in Kopenhagen waren es siebzehnhundert.«

Gemurmel an den Tischen.

»Nach meiner Erfahrung sollten wir aber realistischerweise von etwa siebenhundert ausgehen.«

Brandhaug sagte das im sicheren Wissen, dass seine »Vermutung« bald bestätigt werden würde, da er erst vor einer Stunde ein Fax mit der Liste der siebenhundertzwölf Teilnehmer bekommen hatte.

»Manch einer von Ihnen fragt sich sicher, wozu der Präsident so viele Menschen auf einem zweitägigen Gipfeltreffen benötigt. Die Antwort ist einfach Wir haben es hier mit der guten alten Rhetorik der Macht zu tun. Siebenhundert, wenn diese Zahl stimmt, ist genau die Anzahl Männer, die Kaiser Friedrich III. mit sich führte, als er im Jahre 1468 nach Rom zum Papst zog, um diesem klar zu machen, wer der mächtigste Mann auf Erden sei.«

Noch mehr Gelächter. Brandhaug zwinkerte Anne Størksen zu. Den Satz hatte er in der Aftenposten gefunden. Er klatschte in die Hände.

»Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie wenig Zeit zwei Monate sind, und so werden wir uns von nun an jeden Tag um zehn Uhr hier zu unseren täglichen Koordinationssitzungen zusammenfinden. Bis diese vier Männer unseren Zuständigkeitsbereich wieder verlassen haben, gilt es, alles andere zurückzustellen. Urlaub oder andere Abwesenheiten stehen nicht zur Debatte. Ebenso Krankmeldungen. Gibt es Fragen, ehe wir fortfahren?«

»Nun, ich glaube ...«, begann der Sekretär des Staatsministers. »Depressionen eingeschlossen«, unterbrach ihn Brandhaug, und Bjarne Møller lachte unfreiwillig laut.

»Nun, wie ...«, versuchte er es erneut.

»Bitte, Meirik«, rief Brandhaug.

»Was?«

PÜD-Chef Kurt Meirik hob seinen blanken Schädel und blickte zu Brandhaug hinüber.

»Sie wollten etwas über Ihre Einschätzung möglicher Bedrohungen sagen?«, fragte Brandhaug.

»Ach so, ja«, sagte Meirik, »ich habe Kopien anfertigen lassen.«

Meirik stammte aus Trømso und sprach eine merkwürdige Mischung seines angestammten Dialekts mit dem Hochnorwegischen. Er nickte der Frau zu, die neben ihm saß. Brandhaug ließ seinen Blick auf ihr ruhen. Sie war ungeschminkt und hatte ihre kurzen braunen Haare mit einer unkleidsamen Spange nach oben gesteckt. Auch ihre Kleidung war betont schlicht. Doch obgleich sie ihr Gesicht in diese übertrieben seriösen Falten gelegt hatte, die er so oft bei Businessfrauen beobachtet hatte – wohl aus Angst, sonst nicht ernst genommen zu werden –, gefiel ihm, was er sah. Ihre Augen waren braun und freundlich und ihre hohen Wangenknochen gaben ihr ein fast aristokratisches Aussehen.

Er hatte sie zuvor schon einmal gesehen, doch diese Frisur war neu. Wie war noch mal ihr Name – er hatte biblisch geklungen –, Rakel? Vielleicht war sie gerade geschieden, die neue Frisur konnte ein Hinweis darauf sein. Sie beugte sich zu der Aktentasche hinunter, die zwischen ihr und Meirik stand, und Brandhaugs Blick wanderte automatisch zu dem Ausschnitt ihrer Bluse; doch es waren zu viele Knöpfe geschlossen, um etwas zu offenbaren. Ob sie Kinder im schulpflichtigen Alter hatte? Ob sie etwas dagegen hätte, sich tagsüber in einem im Zentrum gelegenen Hotel einzumieten? Ob ihr Macht einen besonderen Kick gab?

»Geben Sie uns einfach einen kurzen mündlichen Kommentar, Meirik«, verlangte Brandhaug.

»Ja, gut.«

»Ich möchte nur kurz noch etwas anmerken ...«, warf der Sekretär des Ministerpräsidenten dazwischen.

»Lassen wir Meirik erst ausreden, und dann darfst du so viel reden, wie du willst, Bjørn.«

Es war das erste Mal, dass Brandhaug den Vornamen des Sekretärs benutzt hatte.

»Das PÜD erachtet die Gefahr für ein Attentat oder einen anderen Anschlag als gegeben«, erklärte Meirik.

Brandhaug musste lächeln. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass auch die Polizeipräsidentin dieser Meinung war. Ein kluges Mädchen, Juraexamen und dann eine makellose bürokratische Karriere. Vielleicht sollte er sie und ihren Mann einmal zum Forellenessen nach Hause einladen. Brandhaug und seine Frau wohnten in Nordberg direkt am Wald in einer geräumigen Massivholzvilla. Man konnte sich direkt vor der Garage die Skier anschnallen. Bernt Brandhaug liebte diese Villa. Seine Frau fand sie zu düster; sie sagte immer, all das dunkle Holz drücke ihr aufs Gemüt, sie habe Angst vor der Dunkelheit. Und auch den Wald rundherum mochte sie nicht. Doch ja, eine Einladung zum Essen. Solide Holzbalken und selbst gefangene Forellen. Das wären die richtigen Signale.

»Ich möchte Sie daran erinnern, dass vier amerikanische Präsidenten durch Attentate ums Leben gekommen sind. Abraham Lincoln 1865, James Garfield 1881, John F. Kennedy 1963 und ...«

Er wandte sich der Frau mit den hohen Wangenknochen zu, die den Namen mit den Lippen formte.

»Ach ja, William McKinley ...«

»1901«, sagte Brandhaug, lächelte verbindlich und sah auf die Uhr.

»Genau. Doch es hat über die Jahre noch viel mehr Anschläge gegeben. Sowohl Harry Truman als auch Gerald Ford und Ronald Reagan waren zu ihren Amtszeiten Ziele von Attentätern.«

Brandhaug räusperte sich: »Du vergisst, dass auch auf den derzeitigen Präsidenten vor einigen Jahren geschossen worden ist, beziehungsweise auf sein Haus.«

»Das ist richtig. Doch diese Vorfälle rechnen wir gar nicht mit, das würde sonst viel werden. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass es in den letzten zwanzig Jahren keinen amerikanischen Präsidenten gegeben hat, auf den nicht in seiner Amtszeit mindestens zehn Attentate geplant worden sind; nur wurden die potentiellen Attentäter jeweils geschnappt und der Presse keine Mitteilung davon gemacht.«

»Warum nicht?«

Der Polizeiabteilungschef Bjarne Møller glaubte, die Frage nur gedacht zu haben, und war ebenso überrascht wie die anderen, seine Stimme zu hören. Er schluckte, als er bemerkte, dass sich ihm alle zuwandten, und versuchte, sich weiterhin auf Meirik zu konzentrieren. Doch ohne es zu wollen, wanderte sein Blick zu Brandhaug. Der Staatssekretär zwinkerte ihm beruhigend zu.

»Nun, wie Sie wissen, ist es üblich, vereitelte Attentate vor der Presse geheim zu halten«, sagte Meirik und nahm seine Brille ab. Sie ähnelte der Brille von Horst Tappert, ein Modell aus einem Versandhauskatalog, das dunkler wurde, wenn man in die Sonne kam.

»Seitdem man begriffen hat, dass Attentate mindestens ebenso ansteckend sind wie Selbstmorde. Außerdem ist es in unserer Branche üblich, die Arbeitsmethoden nicht offen zu legen.«

»Welche Pläne gibt es für die Bewachung?«, unterbrach ihn der Sekretär.

Die Frau mit den hohen Wangenknochen reichte Meirik einen Zettel, der wieder die Brille aufsetzte und zu lesen begann.

»Am Donnerstag kommen acht Männer vom Secret Service. Dann beginnen wir, die Hotels abzuchecken, die Reiseroute und all die Leute zu überprüfen, die sich in der Nähe des Präsidenten aufhalten werden, und außerdem die norwegischen Polizisten zu schulen, die zum Einsatz kommen sollen. Wir werden zusätzliche Kräfte aus Romerike, Asker und Bwrum anfordern.«

»Und wo sollen die eingesetzt werden?«, fragte der Sekretär.

»Hauptsächlich beim Personen- und Objektschutz. Da sind die amerikanische Botschaft, das Hotel, in dem die Mitreisenden wohnen, der Wagenpark ...«

»Kurz gesagt, all die Orte, an denen sich der Präsident nicht aufhält?«

»Darum kümmern wir uns vom PÜD selbst. Und der Secret Service ebenfalls.«

»Ich dachte immer, Personenschutz sei nicht gerade deine Lieblingsbeschäftigung, Kurt?«, bemerkte Brandhaug mit einem Grinsen.

Diese Erinnerung zwang Kurt Meirik zu einem angestrengten Lächeln. Während der Osloer Minenkonferenz, 1998, hatte sich das PÜD mit Hinweis auf die von ihm erarbeitete Bedrohungsanalyse, die nur eine geringe Gefahr sah, geweigert, eigenes Schutzpersonal abzustellen. Am zweiten Tag der Konferenz hatte die Ausländerbehörde das Auswärtige Amt darauf aufmerksam gemacht, dass einer der Norweger, der auf Anweisung des PÜD als Chauffeur für die kroatische Delegation arbeitete, bosnischer Muslim war. Er war bereits in den siebziger Jahren nach Norwegen gekommen und seit langem norwegischer Staatsbürger. Doch im Jahre 1993 waren seine Eltern und vier Geschwister von Kroaten bei Mostar in Bosnien-Herzegowina ermordet worden.

Als die Wohnung des Mannes durchsucht wurde, fand man zwei Handgranaten und ein Bekennerschreiben. Die Presse hatte davon natürlich nie Wind bekommen, doch die nachfolgende Untersuchung war bis zur Regierungsebene gegangen, und Kurt Meiriks weitere Karriere hatte so lange am seidenen Faden gehangen, bis Bernt Brandhaug persönlich eingeschritten war. Die Sache war unter den Teppich gekehrt worden, nachdem der Polizist, der den Mann überprüft hatte, von sich aus gekündigt hatte. Brandhaug erinnerte sich nicht mehr an den Namen des Polizisten, doch die Zusammenarbeit mit Meirik war seither reibungslos verlaufen.

»Bjørn!«, rief Meirik und klatschte in die Hände. »Jetzt sind wir gespannt darauf, was du uns sagen wolltest. Bitte.«

Brandhaugs Blick glitt rasch an Meiriks Mitarbeiterin vorbei, doch nicht zu rasch, um nicht zu bemerken, dass sie ihn ansah. Das heißt, sie sah zwar in seine Richtung, doch ihre Augen waren ausdruckslos und abwesend. Er erwog kurz, ihrem Blick standzuhalten, um herauszubekommen, wie sie reagieren würde, wenn sie plötzlich bemerkte, dass er ihren Blick erwiderte, doch er ließ es dann sein. Ihr Name war doch Rakel, oder?

Slottsparken, 5. Oktober 1999

5 »Bist du tot?« Der alte Mann öffnete die Augen und sah den Umriss eines Kopfes über sich, doch das Gesicht verschwand im weißen Glorienschein. War sie das, war sie bereits gekommen, um ihn zu holen?

»Bist du tot?«, wiederholte die helle Stimme.

Er antwortete nicht, denn er wusste nicht, ob seine Augen geöffnet waren oder ob er bloß träumte, oder, wie die Stimme vermutete, tot war.

»Wie heißt du?«

Der Kopf bewegte sich und er sah stattdessen Baumkronen und blauen Himmel. Er hatte geträumt. Etwas aus einem Gedicht. »Deutsche Bomber über uns.« Nordahl Grieg. Über den König, der nach England floh. Seine Pupillen begannen, sich wieder an das Licht zu gewöhnen, und er erinnerte sich daran, dass er sich ins Gras des Schlossparks gesetzt hatte, um auszuruhen. Er musste eingeschlafen sein. Ein kleiner Junge hockte neben ihm und ein paar braune Augen sahen ihn unter einem schwarzen Pony hinweg an.

»Ich heiße Ali«, sagte der Junge.

Ein Pakistanerkind? Der Junge hatte eine merkwürdige Stupsnase. »Ali bedeutet Gott«, sagte der Junge. »Was bedeutet dein Name?«

»Ich heiße Daniel«, antwortete der alte Mann und lächelte. »Das ist ein biblischer Name. Er bedeutet Gott ist mein Richter.«

Der Junge sah ihn an.

»Du bist also Daniel?«

»Ja«, erwiderte der Mann.

Der Junge schaute ihn unverwandt an und der Alte wurde verlegen. Der Kleine glaubte vielleicht, er sei ein Penner, so wie er in seinen Kleidern, den Mantel als Decke über sich, in der Sonne lag.

»Wo ist deine Mutter?«, fragte er, um dem Blick des Jungen zu entgehen.

»Dort.« Der Junge drehte sich um und zeigte nach hinten. Zwei dunkle kräftige Frauen saßen ein Stück von ihm entfernt im Gras. Vier Kinder spielten um sie herum.

»Dann bin ich dein Richter, ja«, sagte der Junge.

»Was?«

»Ali ist Gott, oder? Und Gott ist der Richter von Daniel. Und ich heiße Ali und du heißt ...«

Der Alte hatte seine Hand ausgestreckt und Alis Nase gepackt. Der Junge heulte auf vor Schreck. Er sah, wie sich die Köpfe der beiden Frauen ihm zuwandten und sich eine von ihnen bereits erhob. Dann ließ er die Nase des Jungen los.

»Ist das deine Mutter, Ali?«, fragte er und nickte in Richtung der sich nähernden Frau.

»Mama!«, rief der Junge. »Guck mal, ich bin der Richter über diesen Mann!«

Die Frau rief dem Kind etwas auf Urdu zu. Der Alte lächelte sie an, doch sie wich seinem Blick aus und starrte bloß ihren Sohn an, der schließlich gehorchte und zu ihr hinüberging. Als sie sich umdrehte, huschte der Blick der Frau über ihn, als wäre er unsichtbar. Er hatte Lust, ihr zu erklären, dass er kein Bettler war, sondern mitgeholfen hatte, diese Gesellschaft aufzubauen. Er hatte sein Bestes getan, alles gegeben, bis er nichts mehr zu geben hatte und nur noch Platz machen konnte, beiseite treten, aufgeben. Doch er vermochte es nicht, er war müde und wollte einfach nur nach Hause. Ausruhen und dann weitersehen. Es war an der Zeit, dass einige andere ihre Rechnungen beglichen.

Er hörte nicht, was der kleine Junge ihm nachrief, als er ging.

Polizeipräsidium, Oslo-Grønland, 10. Oktober 1999

6 Ellen Gjelten sah zu dem Mann auf, der zur Tür hereingeplatzt kam. »Guten Morgen, Harry.«

»Verdammt!«

Harry trat gegen den Mülleimer neben seinem Schreibtisch, so dass dieser neben Ellen an die Wand krachte und dann wegrollte, während sich sein Inhalt auf dem Linoleumboden verteilte: zerrissene Berichtsentwürfe (Ekeberg-Mordsache), eine leere Zigarettenpackung (Camel – zollfrei), ein grüner Joghurtbecher, eine Zeitung, eine benutzte Kinokarte (Filmtheater: Fear & Loathing in Las Vegas), ein nicht benutzter Tippschein, eine Bananenschale, ein Musikmagazin (MOJO, Nr. 69, Februar 1999, mit einem Bild von Queen auf dem Cover), eine Colaflasche (Plastik, 0,5 Liter) und ein gelber Post-it-Zettel mit einer Telefonnummer, die anzurufen er eine Zeit lang ernsthaft erwogen hatte.

Ellen sah von ihrem PC auf und begutachtete den Müll auf dem Boden. »Du schmeißt die MOJO-Ausgaben weg, Harry?«, fragte sie.

»Verdammt!«, wiederholte Harry, riss sich die enge Anzugjacke herunter und warf sie quer durch das zwanzig Quadratmeter große Büro, das er sich mit Ellen Gjelten teilte. Die Jacke traf die Garderobe, glitt aber zu Boden.

»Was ist los?«, fragte Ellen und streckte die Hand aus, um den schwankenden Garderobenständer festzuhalten.

»Ich hab das hier in meinem Postfach gefunden.«

Harry wedelte mit einem Dokument herum.

»Sieht aus wie ein Gerichtsurteil.«

»Genau.«

»Die Dennis-Kebab-Sache?«

»Ja.«

»Und?«

»Sie geben Sverre Olsen die Höchststrafe. Dreieinhalb Jahre.«

»Aber dann solltest du doch eigentlich bester Laune sein.«

»Ich war es etwa eine Minute lang. Bis ich das hier gelesen habe.« Harry hielt ein Fax hoch.

»Was ist das?«

»Als Krohn heute Morgen seine Kopie des Urteils erhielt, antwortete er uns mit dem Hinweis, dass er auf Grund eines Verfahrensfehlers Einspruch gegen das Urteil einlegen werde.«

Ellen sah aus, als hätte sie irgendwelche Schmerzen im Mund. »Oje.«

»Er fordert die Aufhebung des Urteils. Es ist nicht zu glauben, aber dieser Krohn packt uns mit einem Verfahrensfehler bei der Vereidigung.«

»Wie das denn?«

Harry stellte sich ans Fenster.

»Die Schöffen müssen nur beim ersten Mal vereidigt werden, doch das muss im Gerichtssaal erfolgen, bevor das Verfahren beginnt. Krohn hat bemerkt, dass die eine Schöffin neu war. Und dass der Richter darauf verzichtet hat, sie im Gerichtssaal zu vereidigen.«

»Das nenn ich Absicherung.«

»Jetzt heißt es im Urteil, der Richter habe die Frau unmittelbar vor Beginn des Verfahrens in seinem Zimmer vereidigt. Er begründet das mit Zeitnot und neuen Verordnungen.«

Harry knüllte das Fax zusammen und warf es in hohem Bogen in Richtung Ellens Papierkorb, den er um einen halben Meter verfehlte.

»Und jetzt?«, fragte Ellen und schoss das Fax in Harrys Bürobereich zurück.

»Das ganze Urteil wird für ungültig erklärt werden und Sverre Olsen wird mindestens anderthalb Jahre lang ein freier Mann sein, bis die Sache wieder vor Gericht kommt. Und wie immer wird dann das Urteil wegen der Belastung des Angeklagten durch die lange Wartezeit et cetera wesentlich milder ausfallen. Mit den acht Monaten Untersuchungshaft, die er ja schon hinter sich hat, ist Sverre Olsen quasi jetzt schon ein freier Mann.«

Harry sprach nicht mit Ellen, sie kannte alle Details. Er redete mit seinem eigenen Spiegelbild im Fenster und sprach die Worte laut aus, um zu hören, ob sie so vielleicht mehr Sinn machten. Dann fuhr er sich mit beiden Händen über seinen verschwitzten Kopf, auf dem noch vor kurzem kurze blonde Haare gesprossen waren. Es gab einen konkreten Grund dafür, dass er auch diese noch abrasiert hatte: Letzte Woche war er wiedererkannt worden. Ein Junge mit schwarzer Strickmütze, Nike-Schuhen und Homey-Hosen, die so groß waren, dass der Schritt zwischen den Knien hing, war zu ihm herübergekommen, während seine Kumpels im Hintergrund kicherten, und hatte ihn gefragt, ob er nicht dieser Bruce-Willis-Typ aus Australien sei. Es lag drei – drei! – Jahre zurück, dass er die Titelseiten der Tageszeitungen geschmückt und sich in TV-Shows mit seinen Geschichten darüber lächerlich gemacht hatte, wie er in Sydney einen Serienmörder zur Strecke gebracht hatte. Harry hatte sich daraufhin sofort alle Haare abrasiert. Ellen hatte ihm vorgeschlagen, sich einen Bart wachsen zu lassen.

»Das Schlimmste ist, dass ich mir, verdammt noch mal, sicher bin, dass dieser Winkeladvokat das Spiel durchschaut hat, noch ehe das Urteil gesprochen wurde, und mit einem einzigen Wort dafür hätte sorgen können, dass die Vereidigung doch noch vor Ort stattfand. Aber der hat bloß dagesessen, sich die Hände gerieben und abgewartet.«

Ellen zuckte mit den Schultern.

»So etwas kommt vor. Gute Arbeit eines Verteidigers. So manches muss auf dem Altar der Rechtssicherheit geopfert werden. Reiß dich zusammen, Harry.«

Sie sagte das mit einer Mischung aus Sarkasmus und Nüchternheit.

Harry legte seine Stirn an das kühle Glas. Noch einer dieser unerwartet warmen Oktobertage. Er fragte sich, wo Ellen, diese frisch gebackene Ermittlerin mit dem blassen, süßen Puppengesicht, dem kleinen Mund und den kugelrunden Augen, dieses Pokerface gelernt hatte. Sie stammte aus gutem Hause und war, wie sie selbst sagte, ein verwöhntes Einzelkind, das sogar auf einem Schweizer Internat gewesen war. Wer weiß, vielleicht bereitete gerade so eine Erziehung optimal auf das raue Leben vor.

Harry legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Dann öffnete er einen Knopf an seinem Hemd.

»Mehr, mehr«, flüsterte Ellen, wobei sie mit Händen und Füßen vorsichtig applaudierte.

»Im Neonazimilieu nennen sie ihn den Batman-Typ.«

»Verstehe, die Baseballkeule – bat.«

»Nicht den Nazi – diesen Anwalt.«

»Echt? Na, das ist ja interessant. Heißt das, dass er schön, reich und total verrückt ist und einen Waschbrettbauch und ein cooles Auto hat?«

Harry lachte. »Du solltest eine eigene TV-Show haben, Ellen. Der heißt so, weil er jedes Mal gewinnt, wenn er einen ihrer Fälle übernimmt. Außerdem ist er verheiratet.«

»Ist das sein einziges Minus?«

»Das – und dass er uns jedes Mal an der Nase herumführt«, erklärte Harry und goss sich einen Becher von Ellens selbst gemischtem Kaffee ein, den sie beim Einzug ins Büro vor fast zwei Jahren mitgebracht hatte. Harrys Gaumen hatte sich so daran gewöhnt, dass ihm das übliche Zeug mittlerweile nicht mehr schmeckte.

»War er Richter am Obersten Gerichtshof?«, fragte sie.

»Noch ehe er vierzig war.«

»Verdient er tausend Kronen?«

»Done.«

Sie lachten und prosteten sich mit den Pappbechern zu. »Könnte ich diese MOJO-Ausgabe haben?«, fragte sie.

»In der Heftmitte sind Bilder von Freddy Mercurys zehn schlimmsten Posen: nackter Oberkörper, Hüfthalter und so weiter, das ganze Programm. Viel Spaß.«

»Ich mag Freddy Mercury – mochte.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht mochte.«

Der kaputte blaue Bürostuhl, der sich schon seit langem mit der niedrigsten Sitzposition zufrieden gab, quietschte vor Protest, als Harry sich gedankenverloren nach hinten lehnte. Er zog einen gelben Zettel mit Ellens Schrift zu sich heran.

»Was ist das?«

»Lies doch. Møller will dich sprechen.«

Harry trabte über den Flur, während er sich den zusammengekniffenen Mund und die zwei tief besorgten Falten vorstellte, die im Gesicht seines Chefs zu sehen sein würden, wenn dieser zu hören bekam, dass Sverre Olsen wieder auf freiem Fuß war.

Am Kopierer hob eine junge rotwangige Frau rasch den Kopf und lächelte Harry zu, als er vorbeiging. Er kam nicht dazu zurückzulächeln. Vermutlich eine der neuen Sekretärinnen. Ihr Parfüm war süß und schwer und irritierte ihn. Er sah auf den Sekundenzeiger seiner Uhr.

Soso, Parfüm begann ihn jetzt also schon zu irritieren. Was war eigentlich mit ihm geschehen? Ellen hatte behauptet, ihm fehle der angeborene Auftrieb, der den meisten Leuten von alleine wieder auf die Beine half. Nach seiner Rückkehr aus Bangkok war er so lange down gewesen, dass er fast die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder hochzukommen. Alles war kalt und dunkel gewesen, alle Eindrücke irgendwie dumpf. Als ob er sich tief unter Wasser befunden hätte. Wenn jemand mit ihm sprach, waren die Worte wie Luftblasen gewesen, die aus den Mündern der Menschen quollen und nach oben ins Nichts entschwanden. So muss es sein, wenn man ertrinkt, hatte er gedacht und gewartet. Dann hatte er es noch einmal geschafft.

Dank Ellen.

Sie war in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr für ihn eingesprungen, wenn er sich außerstande gefühlt hatte zu arbeiten und nach Hause gegangen war. Und sie hatte aufgepasst, dass er nicht in den Bars versackte, hatte ihm befohlen, sich selbst anzuhauchen, wenn er spät zur Arbeit kam, und ihm erklärt, was an welchem Tag zu tun oder zu lassen war. Ein paarmal hatte sie ihn auch wieder nach Hause geschickt. Es hatte seine Zeit gedauert. Und als sie an einem Freitag zum ersten Mal feststellen konnte, dass er eine ganze Woche lang nüchtern zum Dienst erschienen war, hatte sie zufrieden genickt. Zu guter Letzt hatte er sie geradeheraus gefragt, warum sie, die von der Polizeihochschule kam und sogar eine juristische Ausbildung absolviert und bestimmt eine interessante Zukunft vor sich hatte, sich freiwillig diesen Mühlstein um den Hals gebunden hatte. Begriff sie denn nicht, dass er ihrer Karriere eher hinderlich war? Hatte sie Schwierigkeiten, normale Freunde zu finden?

Sie hatte ihn daraufhin mit ernster Miene angesehen und gesagt, dass sie das bloß täte, um von seiner Erfahrung zu profitieren, und dass er der beste Ermittler des ganzen Dezernats sei. Geschwätz, natürlich, aber es schmeichelte ihm dennoch. Außerdem war Ellen derart enthusiastisch und ehrgeizig in ihrer Ermittlungsarbeit, dass es kaum möglich war, sich nicht davon anstecken zu lassen. Im letzten halben Jahr hatte Harry sogar wieder begonnen, richtig gute Arbeit zu leisten. So wie bei Sverre Olsen.

Dort hinten war die Tür von Møller. Harry nickte im Vorbeigehen einem uniformierten Beamten zu, der jedoch so tat, als sähe er ihn nicht.

Als Teilnehmer von Big Brother hätte er sicher schlechte Karten gehabt, schoss es Harry durch den Kopf. Es hätte sicher kaum einen Tag gedauert, bis alle sein schlechtes Karma bemerkt und ihn nach dem ersten Ratschlag nach Hause geschickt hätten. Mein Gott, jetzt begann er tatsächlich schon, die Terminologie dieses Scheißprogramms von TV3 zu übernehmen. So erging es einem, wenn man jeden Abend fünf Stunden vor der Glotze hing. Aber wenn er daheim in der Sofiesgate vor dem Fernseher saß, ging er wenigstens nicht in Schrøders Restaurant.

Er klopfte zweimal unter dem Türschild von Bjarne Møller, PAC.

»Komm rein!«

Harry sah auf die Uhr. Fünfundsiebzig Sekunden.

Møllers Büro, 9. Oktober 1999

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