Rotwein-Roulette: ein mörderischer Abgang - S. U. Semmel - E-Book

Rotwein-Roulette: ein mörderischer Abgang E-Book

S. U. Semmel

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Beschreibung

In der oberbayerischen Gemeinde Wamping ist nichts mehr, wie es einmal war. Denn Bürgermeister Alois Bichlmeier organisiert den cleveren PR-Mann Joe Thaler zur Belebung des Tourismus. Dieser hat nicht nur einige illustre Gestalten im Schlepptau, er will den Ort aufmischen. Joes Idee: ein medienstarkes Casting um die erste Krönung einer Rotwein-Königin. Ausgerechnet dort, wo eine Bierbrauer-Familie Vormachtstellung genießt. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. Doch viele Frauen im Ort erkennen ihre Chance. Für den Titel schrecken sie vor keiner Wein- und Schönheitsoffensive zurück. Bald jedoch ereignen sich zusehends unerklärliche Dinge. Und dann auch Mord und Entführung. Für Kommissar Ferdinand Karl Köcherl, genannt FKK, beginnen turbulente Zeiten.

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-606-1

ISBN e-book: 978-3-99130-607-8

Lektorat: Julia Brandner

Umschlagfotos: Jesus Ignacio Murguizu Bacaicoa, Nicemonkey | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitung

Es hatte geregnet. Der Boden war feucht und der kleine blonde Junge in der blauen Trainingsjacke liebte die Fußabdrücke, die er hinterließ in diesem Boden. In diesem sandigen, tonigen Schluff, der es möglich machte, dass der große Zeh durch den Turnschuh einen Abdruck hinterließ. Das gefiel dem Jungen und er stapfte lächelnd, eine Markierung nach der anderen setzend, über diesen ganz besonderen Boden und blickte schmunzelnd zurück. Kann jemand wohl ahnen, wer hier gelaufen ist, fragte er sich. Er verwarf den Gedanken jedoch sogleich und steuerte auf eine Holzbank zu, die er immer sonntags, üblicherweise nach einem üppigen Mahl aufsuchte. Diese Holzbank stand auf einem Hügel. Von dort aus hatte er eine phänomenale Sicht über den ganzen Ort. Und das verlieh dem kleinen Jungen mentale Größe. Er empfand geistige Weite, Freiheit und zugleich Besinnlichkeit. Es ging ihm sehr gut, wenn er auf dieser Bank saß und seine Pläne für die Zukunft schmiedete …

KAPITEL 1

Kommissar in Gefahr

Die beiden Augenpaare fixierten sich gegenseitig. Diese Begegnung kam für beide unerwartet. Ferdinand Karl Köcherl sah sich einem angsteinflößenden Wildschwein gegenüber. Jetzt ist Taktik angesagt, dachte sich Köcherl. Lass ich die Sau in Frieden, lässt sie mich in Ruh!

Dennoch griff er ruhig und vorsichtig an seine rechte Brusttasche. Nichts! Sein Halfter mit der Waffe lag zu Hause. Jetzt hätte er sie, die er so lange nicht gebrauchte, einsetzen können. Dann überraschte ihn das Schwein. Es drehte schlagartig ab und verschwand im Halbdunkel. Köcherl war erleichtert.

Das hätte ins Auge gehen können. Leg dich nie mit einem Wildschwein an. Er wischte sich mit dem linken Unterarm über die Stirn und ging die letzten Meter bis hin zu seiner Haustüre. Und dann das. Den Schlüssel vergessen! Köcherl konnte es nicht fassen. Er hatte in der Nacht nicht einschlafen können und war daraufhin aus seinem Bett gekrochen, um ein bisschen von der frischen Luft zu schnappen. Nun stand er da. Er bahnte sich den Weg nur sehr wenig hoffnungsvoll hinters Haus. Und er musste feststellen, was er bereits ahnte: Die Balkontür war verschlossen. Plötzlich vernahm er lautes Grunzen. Köcherl drehte sich hastig um und sah sich nun einer ganzen Rotte von Wildschweinen gegenüber.

Die Sau hat sich Verstärkung geholt. Er zählte acht angriffslustige Schweine. Keine Waffe! Schweiß auf der Stirn und die verschlossene Tür! Dann die rettende Idee. Der Kommissar schlug die Scheibe zu seiner Balkontüre mit einem heftigen Stoß seines Ellbogens ein und griff beherzt nach innen, um sich die Türe zu öffnen. Gerettet! Das laute Klirren hatte die Wildschweine vertrieben. Durchatmen. Die Scheibe war hin. Ein Loch so groß, dass er nur mit einer einfachen Beuge durchsteigen konnte. Doch Köcherl hatte es satt. Er nahm sein Handy und wählte die eingespeicherte Nummer. Es dauerte, bis jemand abnahm.

„Leimbach, ich bin in Gefahr. Horden von aggressiven Wildschweinen stehen vor meiner Türe. Jetzt reicht’s. Bringen Sie zwei Leute mit und knallen Sie die Biester ab. Gefahr in Verzug“, rief er hinterher und legte auf. Polizeiobermeister Leimbach hatte anfänglich Mühe, diesen Anruf zuzuordnen. Denn es war ungefähr drei Uhr nachts und er befand sich in seiner REM-Traumphase, die ihm eine weit angenehmere Situation bescherte. Dann aber besann er sich der Stimme seines Chefs und wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Denn der Kommissar war in letzter Zeit von umherlungernden Wildschweinen besessen. Schlaftrunken quälte er sich aus seinem Bett und bereitete sich auf seinen Spezialauftrag vor.

Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, nahm Köcherl einen erneuten Anlauf, seinen Schlaf nachzuholen. Nur sehr langsam, aber dennoch zusehends, entschlummerte er.

Wenig später geschah etwas, was er so bald nicht mehr vergessen sollte. Der schlafende Kommissar bemerkte zunächst nichts, dann spürte er den Hauch einer Vibration, die immer stärker wurde. Schließlich wurde er in seinem Bett durch-geschüttelt. Abrupt öffnete er die Augen. Sein Herzschlag hatte monströse Ausmaße. Er sah sich einem Wildschwein-Eber mit gewaltigen Stoßzähnen gegenüber. Es stand auf seinem Bett. Jetzt galt es. Er oder ich!

Köcherl ließ sich geistesgegenwärtig aus dem Bett fallen, griff in seine Nachttischschublade, holte seine Waffe heraus und schoss auf den wilden Eber. Dreimal. Volltreffer. Der Eber zuckte nicht einmal mehr. Ein Blutbad im Bett des Kommissars. Schweißgebadet saß er auf dem Boden. Seine Blicke verrieten Verwirrung, sein Haar schrie nach einer Komplettüberarbeitung.

Er war erschüttert! Dabei hatte er einen dicken Sessel vor die zerbrochene Glastüre geschoben. Dennoch, das Loch war da und der Eber musste ihm durch die Balkontür gefolgt sein. Nur sehr langsam und nachdem er sich ein paarmal verstohlen umgeschaut hatte, verstand er. Er atmete tief durch, zwei- bis dreimal, und erhob sich ächzend und schweren Gemüts. Sein wankender Schritt führte ihn durch die Dunkelheit zu seinem Eichenschrank. Darin war seine bescheidene Bar verborgen. Mit dem Öffnen der Türe gab es nun etwas Licht aus einer Birne von der inneren Schrankdecke. Er griff nach einer Flasche Wacholder und einem kleinen Zinnbecher. Die Schranktüre ließ er, des Lichtes wegen, offen und taumelte vorsichtig zurück zu seinem Bett. Dort saß er nun auf der Kante und nahm den ersten Schluck direkt aus der Flasche. Den Zinnbecher legte er zur Seite. Er setzte die Flasche wieder ab und erhaschte sich im gegenüberliegenden Spiegel. Ein jämmerlicher Anblick! Der 54-jährige Kommissar Köcherl legte sein schütteres Haar mit ein paar Handstrichen zur Seite. Seine Augen wirkten müde und er nahm zum ersten Mal wirklich dunkle Augenringe wahr. Da er den Oberkörper gerade frei hatte, strich er über seinen neuerlichen Bauchansatz. Die Erkenntnis: „Ja, ich muss etwas tun.“

Dann aber schaute er hinter sich. Er hatte soeben in einer schlaflosen Nacht ein Wildschwein in seinem Bett erschossen. „Wie soll man da aussehen?“, resümierte er.

Seine Bilanz der Nacht: wilde Schweine-Attacken, eine eingeschlagene Glastüre, ein blutüberströmter, toter Eber in seinem Bett und ein Puls, der zeitweise durch die Decke schlug. Köcherl beruhigte sich und beschloss, erst einmal ein Wannenbad zu nehmen. Denn, wann immer etwas eskalierte oder ihn zu überfordern drohte, tat er genau das.

KAPITEL 2

Ein Traumpaar

Zur beinahe gleichen Zeit.

Es waren genau 56 Eier von freilaufenden, glücklichen Hühnern, die der 55-jährige Dirk Berger am frühen Morgen um 4:45 Uhr in seinem Fahrradkorb an der Lenkstange transportierte. Von der Burgkirche schlug es zur Viertelstunde. Seine Route führte ihn durch die asphaltierte Stiegelgasse. Er liebte es, rasant unterwegs zu sein. Er mochte am Vorabend vielleicht ein Glas zu viel getrunken haben und es fehlte ihm sicher auch an Achtsamkeit, doch damit konnte er nun wirklich nicht rechnen.

„Herrje!?“, rief er verblüfft ins Morgengrau hinein und im Nu schoss ihm das Adrenalin in die Adern, als er direkt auf diese ihm gänzlich unbekannte Erscheinung zuschoss. Er bremste dabei seinen Zweirad-Boliden derart heftig ab, dass es ihm das Hinterrad wegriss und es ihn geradewegs in die Büsche an der Hauswand schleuderte. Von 56 Eiern überlebten genau 14. Dirk riss die Augen auf und sah, was ihm eben noch als ein unwirkliches Etwas erscheinen musste, aber offensichtlich Realität war. Elvi!

„Wer oder was ist das?“, brüllte es in ihm.

Elvi, 36, athletisch schlank, blond, nackt! Nackt? Jawohl! Nicht immer, aber zu diesem Zeitpunkt. Mit einer vergoldeten Messingkrone auf dem Kopf und einer halben Flasche Rotwein in der rechten Hand, schlenderte sie sichtlich apathisch und murmelnd über die Asphaltsteine. Und Dirk schien der Einzige, dem diese Begegnung so widerfuhr. Doch dann hörte Dirk, was Elvi zumindest im ersten Moment nicht hören wollte.

„Elvi, blöde Kuh! Komm wieder hoch“, hallte es durch die Gasse. Am aufgerissenen Fenster des Schlafzimmers im zweiten Stock des Altstadthauses stand Joe in seinen Shorts und schrie. „Du machst dich lächerlich und mich dazu. Elvi!“ Joe wurde hektisch, er setzt seine dunkle, dicke Hornbrille auf und rannte in seinen rotweiß gestreiften Boxershorts die kleine Holztreppe von der zweiten Etage hinunter auf die Straße, stolperte dabei in der Toreinfahrt über die roten Spitzenpumps der Querulantin und fluchte unentwegt vor sich hin, bis er schließlich Elvi erreichte. Er brüllte auf sie ein: „Schau dich an, du rennst nackt durch die Altstadt, wenn dich jemand sieht!?“

Doch Elvi reagierte nicht, sie wankte unentwegt, verstört voran. Ihre Augen waren mit dunklem Lidschatten verschmiert, weit offen und dennoch schläfrig. Sie wirkte wie in Trance. Und dann war es so weit! Sie sackte urplötzlich in sich zusammen. Geistesgegenwärtig konnte Joe sie auffangen und ließ sie beinahe lautlos in seine Arme sinken. Er schaute sich vorsichtig um, entdeckte den in den Büschen liegenden Dirk, lächelte ihn verlegen an, nahm von ihm aber keine weitere Notiz. Dann stemmte er die etwa 59 Kilo schwere blonde Frau über die linke Schulter und schleppte sie, Hintern voraus, zurück ins Haus.

„Eiermann“ Dirk wusste nicht, ob er grinsen oder fluchen sollte. Er konnte die Situation zu dieser Sekunde nicht wirklich beurteilen. Er starrte den beiden einen Moment lang hinterher, erhob sich, schüttelte sich zwei-, dreimal und griff sein leicht verbeultes Rad. Dann stutzte er sich zurecht und legte die 14 Eier, die ihm blieben, zurück in den Korb. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg.

Mit einem anspruchsvollen Gewicht über der Schulter kämpfte sich Joe über die Asphaltsteine und erreichte schließlich den Innenhof des Hauses. Dort sammelte er mit einer flinken und geschickt ausgeführten Bewegung noch eben den einsamen roten Schuh, über den er gestolpert war, mit der freien Hand auf. Nun sah er sich allerdings vor der Herausforderung der Holztreppe in den zweiten Stock. Er zögerte nur einen winzigen Augenblick und sagte sich: „Wofür habe ich trainiert?!“

Joe, 48 Jahre alt und durchaus sportlich. Wie anders konnte er es sonst wagen, dieses blonde 60-Kilo-Paket die 32 Stufen herauf und zurück ins Schlafzimmer zu schleppen? Er selbst gab sein Alter gerne mit 38 Jahren an, die wenigsten glaubten es und mindestens genauso wenige Menschen kannten sein wahres Alter. Eine Marotte, mit der er spielte. Joe hieß eigentlich Johannes Thaler und war ein Mann der Werbung. Ideenreichtum sein Zuhause. Sein Motto: Ideen – Lass sie geschehen. Ein Macher! So zumindest sah er sich selbst sehr gerne. Und er wusste, dass er in der Branche auch optisch überzeugen musste. Schon deshalb trug er stets stilvoll italienische Markenware, Shorts ebenso wie Maßanzüge der Marke Dino! Seine schwarze Hornbrille entsprang der Optik vieler alter Hollywood-Größen wie Cary Grant, William Holden, Groucho Marx und Woody Allen. Die Psychoanalyse stufte Männer mit großen dunklen Hornbrillen als humorvoll, intellektuell und potent ein. Zumindest wollten die Genannten genau so wirken. Und genau das wollte auch Joe, der sich selbstbewusst als einen der Werbeexperten schlechthin bezeichnete. Seine größte Werbekampagne machte ihn damals weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Dabei ging es um eine Matratze, die per Knopfdruck weich, mittel oder hart zum Schlafen lud. Entscheidend aber war, dass die Matratze mit einem zweiten Knopf auf Single- oder Doppelbett gestellt werden konnte. Und dann war da schließlich seine Präsentation. Im Werbespot tauchte eben diese Elvi auf, die er soeben rücklings nackt über der Schulter trug. Denn Elvi flatterte im offenherzigen Negligé in Zeitlupe von allen Seiten sanft in die Matratze. Ihr Blick war damals der wohl bekannteste Schlafzimmerblick aller Zeiten. Ihre großen Augen, ihr Markenzeichen, gerne garniert mit aufgeklebten dunklen Wimpern, überzeugten seit jeher das andere Geschlecht. Die Männer kauften reihenweise die Matratze. Das machte Elvi und nicht zuletzt die Matratze überregional bekannt und Joe ein bisschen reich. Aber was war ein bisschen, wenn man ein bisschen mehr davon ausgab? Und das war eines von Joes Problemen. Er lebte gerne auf großem Fuß und war damit stets zu haben für den nächsten Job, die klingende Münze und offen für alles, was kam.

Doch zunächst einmal hatte er Elvi an der Backe, oder besser gesagt über der Schulter. Er setzte sie, oben angekommen, vor den großen Schafzimmerspiegel und sagte: „Elvi, was siehst du? Eine gutaussehende blonde, sportliche Frau, mit wunderbaren großen blauen Augen? Nein! Du kommst daher wie ein Junkie. Damals hast du alle begeistert. So rollt dir kein 80-Jähriger im Rollstuhl mehr hinterher. Elvi, du bist doch meine Prinzessin!“

„Ich wollte die Königin sein“, schluchzte Elvi und entfachte darauf ein stimmgewaltiges Heulkonzert par excellence, wie es in Hollywood nicht besser hätte inszeniert werden können. Violinen und Piano hätten mit starken Moll-Tönen untermalt.

„Ja“, sagte Joe, „Da ist ein bisschen was schiefgelaufen.“ Und er zeigte durchaus verständnisvolle Ansätze. „Aber in meiner nächsten großen Kampagne bring ich dich noch einmal ganz nach oben, versprochen!“

In der Regie einer TV-Show hätte man auf diese Aussage per Knopfdruck eine Fanfare eingespielt. Nicht, dass sie genau das nicht zum ersten Mal gehört hätte. Egal! Elvi war leichtgläubig, verliebt und planlos. So hellte sich ihre Miene entschieden auf und Joe erntete einen von schräg unten und von Herzen kommenden aufgerichteten dankbaren Blick der „Prinzessin“, die doch so gerne daran glauben mochte, was ihr dieser große Mann des Marketings schon ein paar Mal versprochen hatte. Und ja, es lag ihr bisweilen auf der Zunge: Schwätzer! Doch seine im Rheinland lebende Mutter, die ihm in allen Lebenslagen auch heute noch mit Rat und Tat zur Seite stand, hätte vehement dagegengehalten: „Der Bub kümmert sich. Und der Joe macht das schon. Das war immer so!“

Nicht alle hätten ins gleiche Horn geblasen. Doch eines stimmte: Joe war stets ein Mann der Tat, der so ziemlich alles versuchte, um auf der Karriereleiter eine weitere Stufe zu nehmen und dabei durchaus seine Erfolge aufzuweisen hatte. Aber genauso erfolgreich auch immer wieder auf die Schnauze fiel. Frei nach Frank Sinatra, einem seiner musikalischen Idole: He has been a puppet, a pauper, a pirate, a poet, a pawn and a king – That’s life!

Joe entsprang einer rheinhessischen Akrobatenfamilie, die vor allem am Trapez überzeugen konnte. Großvater Otto, genannt Pirat der Lüfte, weil er optisch einem Seeräuber glich, beherrschte den dreifachen Salto lange, bevor klar wurde, dass dieser überhaupt möglich war. Vater Olaf sprang den Salto lediglich zweieinhalbfach und Joe wollte nicht weiter downsizen und nur den zweifachen bieten. Drum ließ er es. Den Übungselan seiner Vorfahren hätte er nicht gehabt, da war er sicher! Akrobatisch war in jedem Fall aber sein Abgang, als er mit 17 Jahren und etwas Geld aus der Abendkasse des Zirkus Husini und einem Fahrrad des gleichen Unternehmens den Rhein herunterradelte. Kurze Zeit später ließ er sich in München nieder, färbte seine Haare dunkel und startete die neue Karriere als Dekorateur. Er begeisterte, als er schwarze und weiße Schaufensterpuppen aufstellte, später sogar schwarz-weiße. Joe nahm sich der Umgestaltung des Kaufhauses an und wurde schließlich Geschäftsführer des gleichen Warenhauses. Doch er erkannte schnell, dass er zu anderem berufen war. So spielte Joe in kleineren Filmrollen, wurde Kinobetreiber, Immobilienmakler. Er war sogar knapp davor, ein Casino zu eröffnen, wenn ihm die Bank im letzten Moment nicht einen Strich durch seine eigene haarsträubende Finanzierung gemacht hätte! Eine Zeit lang konnte er sich mit einem Patent zur Herstellung von Spanplatten über Wasser halten, bis er dieses verkaufte. Er machte zudem Furore als Glückskeksautor, hatte dort zeitweise sogar zwei Germanistikstudenten beschäftigt. Einen überregionalen Namen machte sich Joe, als er eine vielbeachtete Demonstration organisierte. Gegen Erdbeben und Lebertran! Niemand konnte damit wirklich etwas anfangen, doch der Aufmarsch der 38 Teilnehmer wurde registriert. Auch in Presse und TV. Und er versuchte sich als Schlagersänger, woher seine Kontakte rührten, auf die er noch zurückgreifen sollte. Schließlich gründete er eine Werbeagentur, die den einen oder anderen bekannten Slogan positionierte. Unvergessen seine Lippenstiftwerbung für die Marke ROSAMUND: „bezaubernd und gesund.“ Gesund deshalb, weil die Farbe des Stiftes einen hohen, nie nachgewiesenen Anteil an Vitamin C versprach. Für Furore sorgte auch eine dermatologisch nur sehr oberflächlich getestete Hautcreme, für die er mit wahren Wundern warb.

„Falten haben die Alten“, hieß es. „Mit FETE zur Nofretete!“

FETE hieß die angepriesene Faltencreme, sie sollte Inhaltsstoffe enthalten, die, aus den Tiefen des ewigen Polareis im Norden gewonnen, einen Kühleffekt der Zellen erwirken sollte und welche die Haut so straffe, dass man sie sehr sparsam auftragen könne. Die hohe Wirksamkeit der gerühmten Creme setze bereits nach wenigen Tagen ein. Nur leider stellte sich sehr bald heraus, dass die gepriesene Faltencreme in mindestens zwölf von 100 Fällen für einen unschönen Hautausschlag sorgte und die Ausstrahlung der Damen alles andere als der Nofretete glich. Die Werbeagentur war damit Geschichte! Doch Joe ließ nichts unversucht, um zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Die klingende Münze aber war ihm stets weit wertvoller. Im besten Falle ging das eine mit dem anderen einher. Doch der beste Fall? Wann tritt der schon ein? Bei allen Aktivitäten, die Joe an den Tag brachte, eine gewisse Eleganz war ihm nie abzusprechen …

Zurück aber zu Elvis Verlangen, Königin zu werden. Dieser Wunsch hätte durchaus Realität werden können. Denn Joe hatte einen Deal mit einigen Ratsmitgliedern der deutschen Rotweinstadt am Rhein. Hier wurde alljährlich die beliebte und im besten Fall auch attraktive Rotweinkönigin gekürt. Und Elvi sei die geniale Lösung, pries Joe sie an!

„Sie kann saufen, macht was her und hat durch meine Matratzenkampagne hohen Bekanntheitsgrad“, sagte er damals. „Und ihre Reden schreibe ich ihr“, waren Joes Worte.

Die Ratsherren waren nicht vollends überzeugt, konnten dem Blick der Aspirantin ebenso wie den mit Namen versehenen Umschlägen mit jeweils fünf Scheinen für den Zahlungsverkehr jedoch nicht widerstehen. Sie hätten für Elvi gestimmt! Doch was lief schief? Da gab es eben noch die andere Seite. Weit mehr Mitglieder aus dem Gemeinderat waren der Meinung, dass es im Zuge der Gleichberechtigung in diesem Jahr zum ersten Mal einen Rotweinkönig geben sollte. Auch weil die Vertreter der männlichen Schöpfung weit mehr Rotwein vertrügen als die Damenwelt, so die Ansicht der Mitglieder. Eine Meldung aus der konservativen Ecke während der entscheidenden Sitzung sprach sogar davon, dass eine volltrunkene Königin immer noch etwas Anrüchiges habe, während ein König, der etwas über den Durst hinaus trinke, auch heute noch weit mehr akzeptiert werde. Und so gab es plötzlich und zum ersten Mal einen König in der Geschichte der Rotweinstadt. Und genau diese Entscheidung wurde Elvi zum Verhängnis und Joe zur Bürde. Doch die Versöhnung Elvis mit ihrem Förderer und „Hasen“ Joe auf der zuvor angepriesenen Matratze ließ nie lange auf sich warten. Gleich dreimal versöhnte sich die liebende Zweckgemeinschaft. Vor allem Elvi war es, die der Versöhnung jene Leidenschaft zuführte, der sich Johannes Thaler, genannt Joe, nur zu gerne unterwarf. Und so sollte diese Hingebung und Kunst einer verschmähten Königin auch in naher Zukunft eine entscheidende Rolle in der Entscheidungsfindung für neue gemeinsame Aufgaben spielen. „Hasadeur“ Joe war für jegliche Herausforderung gewappnet.

KAPITEL 3

ER

ER öffnete die Schublade des kleinen Sideboards und nahm sich ein mit Tüchern umwickeltes Etwas heraus. Es war eine Smith & Wesson 629 Classic, Kaliber 44 Magnum. Seine alte Waffe. Lange hatte er sie nicht mehr in den Händen gehalten. ER öffnete die Revolvertrommel und schaute zunächst nach, ob die Waffe geladen war. Fehlanzeige! Irgendwo, so wusste ER, lägen noch die Patronen. ER kramte in weiteren Schubladen und stieß auf einen zugeklebten Karton. Da sind sie. Das müssen gut 200 Schuss sein, dachte ER sich. Das sollte reichen für sein Vorhaben. Demnächst wollte ER ein paar Probeschüsse abgeben. ER prüfte die in der Hand liegende Waffe sehr akribisch. Die Revolvertrommel drehte sich geschmeidig. Der Abzugshahn klemmte ein wenig. Doch das war immer so. ER musste seinen Willen lediglich auf den Abzugsfinger übertragen und das würde ER wohl in den Griff bekommen. Lange war die Waffe nicht geölt worden. Hier und da ein paar Tropfen. Den Lauf reinigen. Das hatte ER vor. Er prüfte den Schlagbolzen. Der Hahn übertrug seine Energie beim Vorschnellen einwandfrei auf den Bolzen. Klick und immer wieder Klick.

„Ja, alles perfekt“, sprach ER sich Mut zu. ER drehte sich um, in den Spiegel hinter IHM. ER riskierte einen Blick und sah einen Mann, der entschlossen war. ER spielte ein wenig mit seiner Mimik, blieb dabei sehr ernst, probte den kaltblütigen Blick, war überzeugt von sich selbst und brachte seine Waffe auf Augenhöhe. Klick!

KAPITEL 4

Wamping

In der bayrischen Gemeinde Wamping unterhalb des Weißwurst-Äquators und nahe dem Watzmann hörte man an diesem so schönen Spätsommerabend, wie so oft, die Krüge und Gläser klingen. Im von den Bürgern so hoch geschätzten und allseits beliebten idyllischen Biergarten Zur Wilden Sau ging es meist weniger namensgerecht wild zu, eher gesittet, aber fröhlich, fast immer feucht fröhlich.

Doch an diesem Abend war es anders. Nicht, was das feuchte Arrangement betraf, es war die Fröhlichkeit, die fehlte. Zumindest an Tisch 6, dem Stammtisch der Stammtische. Denn Bürgermeister Alois Bichlmeier hatte es satt, sich immer wieder von seinen Stammtischfreunden und Nachbarn anpöbeln zu lassen. Er rammte seinen Krug auf den ovalen Eichentisch!

„Baggage, saublede! Sakezement Kruzifix noamal! Wo warts denn ihr, als mer stundenlang diskutiert ham letzte Wochen?“

Mit so viel Wut im Bauch hatten die anwesenden Herren dann doch nicht gerechnet.

„Jetzt beruhig dich doch, Alois“, erwiderte Josef. Und Alois fand zurück zur deutschen Sprache.

„Ach, ich lass mir jedes Jahr etwas einfallen und ihr kommt daher und dann heißt es: Das war nix! Ich habe die Schnauze bis oben hin voll.“ Er zog sich einen ordentlichen Schluck in die Kehle.

Am Stammtisch verweilten nebst Bürgermeister die Machinger-Brüder Josef und Fred, die ortsansässigen Bierbrauer, die mit der Marke Almenbräu Vormachtstellung in der Region genossen. Anton, der etwas schüchterne Tourismus-Experte, von dem man sich fragte, warum ausgerechnet er Experte in einem Kommunikationsbereich sein sollte. Und der alte Peter, von dem niemand so recht wusste, wie alt er eigentlich wirklich war. 85 standen im Raum, 90 wurden auch schon geboten. Sein Markenzeichen war die Pfeife, auf der er stets selig herumkaute. Sein stechender, beobachtender Blick ließ immer vermuten, dass sich da etwas hinter seinen buschigen Augenbrauen zusammenbraute und er gleich einhaken würde. Aber das passierte nur selten. Wenn er etwas sagte, hatte es meist Hand und Fuß, was man von den anderen am Tisch nicht immer behaupten konnte.

Doch warum rastete Bürgermeister Alois Bichlmeier derart aus? Der Grund: In der Gemeinde Wamping gab es seit vielen Jahren Probleme. Der Schnee blieb schon lange aus, damit die Wintertouristen fern und auch im Sommer waren andere Gemeinden weit pfiffiger. Denn dort gab es längst Sommerrodelbahnen, Promi-Almen, traditionelle Musik- und Schützenfeste, die die Massen begeisterten. Und genau das fehlte in Wamping! Wenige Touristen, wenig Umsatz und noch weniger Vertrauen der Bürger, dass sich das jemals ändern könnte. All dies sorgte für den Sturz des letzten Bürgermeisters Max Mockenhaupt.

Doch dann kam Bichlmeier, Alois Bichlmeier. Der 58-jährige wuchtige Vertreter des bayrischen Lebensstils, dessen Vorfahren seit Jahrhunderten den Ort entscheidend prägten und der sich seinen stattlichen Vorbau unterhalb des Brustmuskels in den letzten 20 Jahren redlich erarbeitet hatte. Er war vor vier Jahren angetreten, um das zu ändern. Im Jahr 1 nach Mockenhaupt passierte zunächst allerdings nichts! Aber da hatte der neue hoffnungsvolle Bürgermeister und Hoffnungsträger der Gemeinde auch gerade mal wenige Monate Zeit gehabt, etwas auf die Beine zu stellen. Dies konnte man vergeben!

Im Jahr 2 nach Mockenhaupt sollte die Weltmeisterschaft im Bratwurstdrehen und -braten in Wamping ausgetragen werden. Neben den hiesigen Metzgern hatten sich einige polnische und tschechische Bräter gemeldet. Die Österreicher sagten jedoch ab. Keiner wusste, warum! Von einer waschechten Weltmeisterschaft konnte also gar keine Rede sein, denn die Österreicher waren gute Bräter.

Und dann war da noch das Wetter. Schlecht, einfach nur schlecht! Ja, schlechter konnte es nicht sein. Sturm und sintflutartige Regenfälle waren nicht nur angekündigt. Sie waren da! Einen Ersatz-Austragungsort gab es nicht. Eine Halle? Fehlanzeige! So etwas hatte Wamping nicht. Keine Presse, keine Touristen! Nochmal vergeben!

Im Jahr 2 nach Mockenhaupt stand die heimische Blaskapelle im Mittelpunkt der geplanten Großveranstaltung. 52 Bläser sollten drei Tage blasen, was das Zeug hielt. Doch die Veranstaltung musste abgeblasen werden. Unglücklicherweise hatte ein Virus seinen Weg von einem Bläser zum anderen gefunden. Die Luft, die eigentlich in Horn und Tuba hätte geblasen werden sollen, verließ nun bei den meisten Bläsern ihren Weg rücklings in die Schüssel! Auch wenn Bichlmeier dafür nun wirklich nichts konnte, die Kritiker erwachten! Dennoch, ein weiteres Mal vergeben!

Im Jahr 3 nach Mockenhaupt glaubte Bichlmeier nun, den richtigen Weg für seine Gemeinde Wamping gefunden zu haben. Mit großer Überzeugungskraft brachte er die Ratsmitglieder auf seine Seite. Für Furore, Presse und Touristen sollte folgender Plan sorgen: die Heiligsprechung der Jungfrau Hermine aus dem Hummelweg! Ein Prozedere, das drei Tage hätte dauern sollen. Geplant waren Aufmärsche der Gläubigen mit meterhohen Kreuzen! Neben Festgelagen und Fahrgeschäften aber überzeugte vor allem das Konzept Freibier für alle! Dies hätte nicht nur hunderte Touristen gelockt, auch die Bierbrauer-Brüder Josef und Fred Machinger, in diesem Fall die ersten Unterstützer des Bürgermeisters, waren Feuer und Flamme für das Vorhaben. Sie hätten ihren edlen Gerstensaft sehr gerne unter die Bevölkerung gebracht. Die Kosten für viele 1.000 Liter Bier hätte die Ortsgemeinde übernommen.

Was für ein Schachzug! So dachten damals alle! Die Touristen wären in Scharen angereist und Ort und Bier in aller Munde!

Wenn da der Papst nicht gewesen wäre. Denn dieser hätte die auserwählte Hermine aus Wamping heiligsprechen müssen. Das tat er aber nicht. Seine um ihn gescharten Bischöfe sagten: „Non meritava di essere sacra!“

Heißt: Sie habe es nicht verdient, heiliggesprochen zu werden. Denn man habe eindeutige Erkenntnisse, dass die Hermine aus der Hummelgasse, die im 18. Jahrhundert für Wunder gesorgt haben solle, erstens keine Jungfrau gewesen sei und zweitens auch die Wunder eher in der horizontalen Ebene vollbracht habe. Viele Herren hatten damals von einem Wunder gesprochen, welches ihnen in der Hummelgasse widerfahren sei. Und diese Schilderungen reichten bis in die heutige Zeit. Die vielen niedergeschriebenen Erscheinungen der Wampinger Herrenwelt wurden also gewissermaßen fehlinterpretiert. Und so wurden die zahlreichen Eingaben der Ortsgemeinde über die Diözese zwecks Heiligsprechung der Hermine abgeschmettert! Für Bürgermeister Bichlmeier eine erneute Niederlage. Nicht mehr vergeben!

Und so konnten nun alle nachvollziehen, warum Alois Bichlmeier derart frustriert in Bedrängnis geriet. Er wusste, jetzt musste etwas geschehen! Die Stammtischbesetzung diskutierte lautstark. Die Machinger-Brüder und Eigentümer des Almenbräu forderten seit Jahren „ein stinknormales gewaltiges Bierfest.“ Man müsse nur den richtigen Zeitpunkt finden, dann, wenn eben die anderen Nachbargemeinden gerade keines veranstalteten, so Josef, der ältere der beiden Brüder.

„Ach, hör doch auf mit deinem Bierfest“, empörte sich der Bürgermeister. „Genau das machen alle. Was würdet ihr denn anders machen oder besser?“

„Wir könnten mehr Augenmerk aufs Fahrgeschäft legen. Zum Beispiel das weltweit größte Riesenrad aufstellen“, sagte etwas kleinlaut der etwa 15 Jahre jüngere Anton, er war der derzeitige Leiter des Tourismusbüros. „Ich meine, das kommt an!“

Doch er erntete keine Reaktion. Er hatte es kaum ausgesprochen, neigte er seinen Blick verstohlen nach unten. Er wusste, der Bürgermeister war auf 1.000 und seine Vorschläge aus dem Tourismusbüro kamen in letzter Zeit nicht immer an.

„Das größte Riesenrad? Du bist ein Riesen-Hornochse, Anton! Das ist über Jahre längst auf anderen Veranstaltungen verplant“, schnauzte Bichlmeier. „Wir brauchen was ganz Außergewöhnliches, etwas Innovatives“, warf er in die Runde. „Mir fällt schon noch was ein!“ Und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug.

Der jüngere der beiden Machinger-Bierbrauer schien da eine Idee zu haben. Fred, 35, unverheiratet und – wenn es die braufreie Zeit zuließ – auch gerne unterwegs in der Welt.

„Jetzt passt einmal auf, was haltet ihr davon?“, flüsterte er.

„Was wisperst du so?“, fragte sein Bruder Josef.

„Rutscht mal ein bisschen zusammen. Ich erzähle euch was! Ich war doch im letzten Jahr in Australien, wie ihr alle wisst. Unter anderem in Melbourne.“

Fred schob seinen Stimmregler nach unten, nahm einen kräftigen Zug aus seiner Halben, wischte sich den Schaum vom Mund, blickte sich vorsichtig um und erzählte weiter: „Dort gibt’s den größten Puff der südlichen Hemisphäre. Und die sind sogar an der Börse. Wenn das Geschäft gut läuft, steigen die Aktien. Ich habe mich persönlich überzeugt, ein guter Laden, sauber geführt und prächtige, lustvolle Damen! Vielleicht ein bisschen teuer.“

Und damit erhaschte Fred zumindest die Aufmerksamkeit seiner Tischgesellen.

„Und jetzt kommt’s“, sagte er. „Ich möchte kein Bordell im eigentlichen Sinne vorschlagen. Aber warum machen wir das nicht? Wir haben doch die alte Markthalle, da errichten wir den bayrischen Erotikschuppen vom Feinsten. Das größte Eros-Center in der nördlichen Hemisphäre, bei uns in Wamping. Die Mädels alle fesch im Dirndl, elegant und edel. Ganz legal und angemeldet. Und glaubt mir, das sorgt für viel PR, mehr Verkehr, Tourismus und Umsätze! Die Börse lassen wir erst mal außer Acht! Jetzt kommt ihr!“

Schweigen.

Der strafende Blick des alten Peter traf den geistreichen Fred.

Schulterzucken und Unsicherheit in der Runde. Da blies Bichlmeier zur Attacke: „Ich bin von Volltrotteln umgeben! Du hast dich gerade zum Dorfdeppen des Monats katapultiert, gratuliere! Was habt ihr eigentlich alle im Kopf?“ Bichlmeier war außer sich. „Wamping ist und bleibt sauber.“ Er haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Bei uns gilt die Tradition! Die Kirche steht am richtigen Fleck, Nachbarschaft funktioniert, das Bier schmeckt und wenn man von der Steffi in der Dorfgasse absieht, herrscht hier stilvolles Miteinander und absolutes Einvernehmen. Ich mache diesen Ort nicht zu einem oberbayrischen Schandfleck auf der Landkarte!“

Bichlmeier murrte und beruhigte sich nur langsam. Doch Alois Bichlmeier durfte sich diesen Ausbruch und jene Schimpftirade erlauben, waren doch alle am Tisch Vereinten seit vielen Jahren miteinander bestens bekannt, alte Spezeln (gute Freunde), wie sie selbst beteuern würden; alte Bazis (Schlawiner), wie die anderen sagen würden.

„Und jetzt?“, fragte Anton.

„Jetzt überleg ich mir was“, sagte der sichtlich mürrische Alois Bichlmeier, stand auf und verließ den Biergarten. Zurück blieben die verstummten Machinger-Brüder, Anton und der selig auf seiner Pfeife herumkauende Peter.

Bichlmeier wälzte sich die halbe Nacht im Bett umher. Er grübelte, brummelte, schreckte mehrfach auf, um sich dann doch wieder in seine Position der linken Seitenlage zu begeben. Er hatte einmal gehört, dass die rechte Hirnhälfte für Kreativität und Bilder stehe. Diese Hirnhälfte brauchte er jetzt, er wollte sie zumindest in dieser Nacht nicht quetschen. Linke Schulterlage – rechte Hirnhälfte frei! Das war der Plan vom schlummernden Alois. Vom Schlafen war nicht zu sprechen.

„Und vielleicht funktionierte das ja mit der freien Hirnhälfte“, murmelte er schlaftrunken vor sich hin. Grübel, grübel … ihm war übel. Er konnte sich von seiner nächtlichen Gedankeneinheit wohl nicht sehr viel erwarten. Vielleicht sollte ihn eine Kuscheleinheit mit seiner Frau zur Rechten auf andere Gedanken bringen, so dachte er nun. Und musste feststellen, dass diese längst in einem unbeachteten Moment das gemeinsame Nest verlassen hatte. Ein Desaster durch und durch für den Alois!

Alois’ Frau Marlene stand kurz vor der Vollendung des 42. Lebensjahres und war damit 16 Jahre jünger als ihr Beischläfer. Die dunkelhaarige frühere Dorfschönheit begeisterte sich schon mit Anfang 20 für den Tatendrang ihres späteren Mannes. Sie wusste immer: Der Alois wird mal Bürgermeister! Und genau darin sah sie ihre Chance. Ihre eigene Karriere, den Aufstieg von der talentierten Edelfriseurin für Herren bis hin zur Leiterin des Geschäfts der größten Herrenfriseurkette der Region, stellte sie hinten an. Denn dieser Aufstieg wäre ihr beschieden gewesen, hätte sie den Avancen ihres damaligen Chefs und Eigentümers des florierenden Business nachgegeben. Nein, der Alois sollte es sein. Ein stattlicher, erfolgversprechender Mann mit Zielen, die vielleicht bis ins Landratsamt gereicht hätten. Und dafür war sie gerne an seiner Seite. Und er war durchaus sensibel, sinnlich und zuvorkommend. Der Alois hatte seine charmanten Seiten, wenn auch mit einem sanftmütig derben Touch. Eben ein ganzer Kerl. Und das wünschte sich Marlene. So erzählte sie es gerne ihren Freundinnen.

In letzter Zeit allerdings war der Alois unaufmerksam, zerstreut, mürrisch und überhaupt anders. Sie wusste natürlich, dass er Probleme hatte. Er war ja schließlich angetreten, um dem Ort wieder mehr Präsenz in der Öffentlichkeit zu bieten. Und er war bisher daran gescheitert. An diesem Morgen hatte sie ein Frühstück zubereitet, wie es ihr Mann schon lange nicht mehr gesehen hatte. Frische Semmeln, Orangenmarmelade, Eier, Speck, Kaffee und Ingwertee. Den allerdings jubelte sie ihm unter. Denn sie wusste, den mochte er nicht. Doch dieser Morgen war mal wieder ein Versuch wert, dachte sie.

Und schon stand auch der Alois in der Küchentür. Er führte sich mit einem sehr verhaltenen und brummigen „Guten Morgen“ ein.

„Hast du gut geschlafen, Gockelchen?“, erwiderte die strahlende Marlene, die es schaffte, jeden Morgen auszusehen, als wolle sie an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Offenbar nicht, wenn sie ihn so ansah. Sie verwies ihn sogleich auf die Terrasse, wo sie zum Frühstück eingedeckt hatte. Mit Blümchen.

Sofort stand dem Bürgermeister ein Lächeln im Antlitz. Gerührt von so viel Herzlichkeit am Morgen, begann er sogar zu sprechen. Was durchaus zu dieser Zeit, es war 7:10 Uhr, nicht üblich war.

„Marlene, du hast mich im Griff, du schaffst es immer wieder, mich zu erfreuen. Es ist schwer in letzter Zeit, ich bin nur von Trotteln umgeben. Ich muss mir was einfallen lassen, ich steh unter Druck! Es schaut hier alles so herrlich aus und du ja sowieso, mein Engel.“ Dabei gab er ihr einen herzigen Kuss auf die Wange und erhaschte mit einem Blick das dampfende Teeglas. „Aber diesen Ingwertee, sei mir nicht böse, den trink ich nicht.“

Die beiden setzten sich und frühstückten. Marlene ergriff sofort das Wort, denn sie hatte ihrem Alois etwas zu sagen. Sie wusste, von Zeit zu Zeit brauchte er eine Ansprache, um ihn in seinem Handeln zu bestärken. Denn der Mann, der er äußerlich sein mochte, hatte seine weichen, zweifelnden Macken. Sie hatte sich schon überlegt, wie sie es angehen wollte.

„Alois, du bist der Bürgermeister. Du bist der Chef. Doch du brauchst deine Leute. Wenn Ideen von dir kommen, ist das gut so. Doch du musst nicht alles leisten. Minister, Unternehmer, Trainer, alle haben ihre Leute für die Vorarbeit. Diesen Anton in deinem Tourismusbüro, den kannst du getrost in der Pfeife rauchen. Er sollte mir neulich einen besonderen Rundweg für meine Freundin aus Hamburg zusammenstellen. Was da kam, war das Übliche: die Kirche, die Stadtmauer, die Altstadt und der Biergarten zur Wilden Sau. Dann gab er ihr die etwa 20 Jahre alte Broschüre. Das war es! Verstehst du? Nix Neues, keine Ideen, keine Initiative, auch nicht bei kleinsten Herausforderungen. Noch dazu, wenn sie von der Angetrauten des Bürgermeisters kommt. Du brauchst anderes Personal dort. Einen modernen Manager-Typen, jemanden, der alles ganz anders angeht.“

Hier machte sie einen Punkt, denn Alois reagierte mit seinen Blicken. Das war es, was sie ihm schon lange sagen wollte, wohl wissend, dass ihr Mann seine Abende mit Anton, dem Leiter des Tourismusbüros, im Biergarten verbrachte. Alois hatte aufmerksam zugehört, schluckte noch eben seinen Kaffee hinunter und rieb sich mit der flachen Hand durchs Gesicht. Er grämte sich und sagte: „Vielleicht weiß ich jemanden!“

KAPITEL 5

Die Idee

Das offene Audi A5 Cabrio flog über die Landstraßen Rheinhessens, vorbei an Streckenmarkierungen und Weinbergen. Joe und seine Freundin Elvi waren ausgelassen vom Rausch der Geschwindigkeit und lautstarker Musik. Aus den vier Lautsprecherboxen ertönten die Rolling Stones mit Brown Sugar. Joe schaltete herunter und bog rechts in einen Feldweg ein. Doch mit dem Staub, den er auf dem trockenen Untergrund aufwirbelte, hatte er nicht gerechnet. Er bremste ruckartig ab und stoppte direkt neben einem Weinberg voller Silvaner-Trauben. Elvi und Joe husteten sich die Lunge frei.

„Bist du verrückt geworden?“, schrie sie, während Keith Richards zum Gitarrensolo ansetzte. „Wie schaue ich jetzt aus? Ich habe das Kleid frisch angezogen, jetzt bin ich vollkommen eingestaubt!“

„Ich wollte uns ein bisschen Spaß gönnen, da vorn auf dem Hügel, da sind wir ganz allein“, erwiderte Joe. Und schaltete währenddessen die Musik aus.

„Jetzt lass doch die Musik an!“, brüllte Elvi. „Außerdem habe ich jetzt keine Lust mehr, so wie ich ausschaue. Du kannst mich mal!“

Just in dieser Sekunde klingelte das Telefon. Joe hob erwartungsvoll ab und hatte zunächst keine Ahnung, wessen Stimme er hörte. Dann aber: „Alois, alter Fuchs. Ich habe es schon gehört, du hast es zum Bürgermeister geschafft. Was verschafft mir die Ehre?“

Und der Alois berichtete gut drei Minuten am anderen Ende der Leitung. Er brauche einen Manager in seinem Ort, jemanden mit Ideen. Er brauche Presse, Party, Publikum. Aber er wisse nicht, wie und womit und schon deshalb habe er sich an Joe erinnert.

„Joe, du bist der Richtige, um dort etwas auf die Beine zu stellen, ich habe dich damals in diesem Marketingseminar erlebt. Wie du es geschafft hast, dort alle für einen stinknormalen Klappstuhl so zu begeistern, als wäre das die innovativste Erfindung seit Jahrzehnten. Meine Hochachtung. So etwas brauche ich!“

„Einen Klappstuhl?“, scherzte Joe.

„Ja, indirekt schon“, sagte Alois. „Ich brauche diesen Effekt, sagen wir diesen Klappstuhl-Effekt, der am Ende alle begeistert. Was sagst du? Hast du Zeit? Hast du Lust auf diesen Job? Wir geben dir einen Titel. Such dir einen aus!“

Joe überlegte nur einen winzigen Moment, schaute hinüber zu seiner Freundin, die immer noch den Staub aus dem Kleid wischte, zündete seinen geistigen Turbo und hatte dann sofort den Titel parat.

„Was hältst du schlicht von Senior Marketing Director?“

„Du hast wirklich Zeit? Du machst das? Joe, den Titel sollst du haben. Du bist ab sofort der neue Senior Marketing Director von Wamping. Lass uns bitte bald treffen, wir müssen quatschen!“

Alois Bichlmeier war begeistert. Sein Wunschkandidat hatte direkt angebissen.

„Wenn wir uns finanziell einigen können, bin ich dein Mann!“, sagte Joe. Es folgten ein paar billige Scherze über Geld, Erfolg, Affären und das Ende des Telefonats.

Joe schaute Elvi freudestrahlend an, er verharrte einen Moment, dann setzte er seine dunkle Hornbrille ab, kaute ein wenig darauf herum und fühlte etwas Großes auf sich zukommen.

„Elvi, das ist der Wumms, auf den ich gewartet habe. Wir müssen runter nach Oberbayern. Pack deine Sachen zusammen und dann geht’s los!“

Er setzte die Hornbrille wieder auf und startete. Mit dem Cabrio durch die Weinberge, vorbei an Riesling-Trauben, Gewürztraminer, Morio-Muskat und dann die erste rote Traube. Ein ganzer Hang voller Spätburgunder. Und die Vollbremse!

„Elvi!“, schrie er und trommelte auf das Lenkrad, als hätte er die Lösung aller Probleme dieser Welt soeben entdeckt. Doch Elvi schaute hasserfüllt und stinksauer, nachdem sie zum zweiten Mal Staub geschluckt hatte. Sie klopfte überall an sich herum und wollte gerade zur Verbalattacke ansetzen, als Joe weiterredete.

„Jetzt pass auf, schau mich nicht so wütend an. Ich habe es! Bayern, das sind Lederhosen, Brezen, Bier! Wo sind wir hier? Schau dich um. Überall nur Wein.“ Joe sprudelte vor Energie. „Elvi, Wamping wird die erste große Wein-Oase in Oberbayern. Und das Größte: Wir küren eine Weinkönigin dort. Verstehst du? Da gibts nur Bier und wir küren eine Weinkönigin! Hast du es?“

Er schaute sie an, die immer noch zornig und verklärt zugleich versuchte, den Weinberg-Staub aus ihrem geblümten Kleid zu klopfen.

„Sag was“, forderte er sie auf.

„Ja, jetzt sag ich was. Du zahlst mir ein neues Kleid! Weißt du, was ich dafür bezahlt habe? Weißt du, wie lange ich gesucht habe? Weißt du …?“

Doch Joe ließ sie nicht ausreden. Er unterbrach sie barsch: „Weißt du, was wir daraus machen können, aus dieser Aktion? Ich kaufe dir zehn neue Kleider, wenn das klappt.“

Elvis Mimik entspannte sich sichtlich. Joe gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange und startete das Cabrio erneut. Im Radio ertönte Queen mit Don’t Stop Me Now und das schien exakt die richtige Umrahmung für Joes Stimmung. Er war euphorisch, gab Gas und man sah ihm an, dass es hinter der Schädeldecke ratterte. Eine Idee jagte die andere. So war Joe. In seiner Phantasie war er nicht aufzuhalten. Elvi konnte dem Tempo seiner Geistesblitze nicht folgen und schaute ihn erwartungsvoll an. Was hatte sie doch da für einen merkwürdigen Typen an ihrer Seite? Ihr Entschluss: mit Handspiegel und Lippenstift ein paar fehlende Konturen setzen! Ein fataler Handlungsfehler! Denn nur wenige Augenblicke, nachdem sie die Lippen im Beifahrer-Spiegel schmollte, um den Stift darüber gleiten zu lassen, quietschten die Reifen und Joe bremste von 125 km/h runter auf die glatte Null!

Die Ereignisse dieses Moments auf dem Beifahrersitz kamen einem Tobsuchtsmoment gleich. Elvis Stimmung konnte man auf einer Skala von eins bis zehn bei ansteigendem Wutwert nicht finden. Und Joe? Auf 1.000! Nur die Skala war eine andere.

„Ich habe eine Eingebung, eine Vision! Elvi, hör zu!“

Und er schlug der arg gebeutelten und am ganzen Mund verschmierten Blondine überschwänglich auf den Ober-Schenkel.

„Wir machen ein Casting. Alle Frauen über 16 Jahre in Wamping sollen auflaufen und sich bewerben. Wir suchen die Rotweinkönigin von Wamping. Sie müssen sich herrichten, tanzen, erzählen, was sie über Wein wissen, einen Vortrag halten und natürlich Wein verkosten. Aber jetzt kommt’s, Elvi. In die Jury setzen wir einen Promi. Das ist erstens Anreiz für die Damen, zweitens große PR für den Ort und drittens …“ Er zögerte. „Nun ja, fällt mir schon noch ein. Ich habe auch jemanden im Auge. Was hältst du von Carlos? Carlos, dem Don der Schlagerbranche!“, schwärmte er. „Der alte Charmeur hat die Damen reihenweise überzeugt, in allen Lagen.“

Er stellte ihr die Frage, doch Elvis Antwort war ihm egal. Für ihn war es bereits eine ausgemachte Sache. Elvi konnte seinen flinken Ausführungen in ihrer derzeitigen Stimmungslage ohnehin nicht folgen und hätte ihn vor Wut in Stücke reißen können.

„Und ich glaube …“, so Joe weiter. „Der Carlos kann das auch brauchen! Ja, so machen wir es.“

Ganz allmählich beruhigte er sich, als hätte er diesen verbalen Wasserfall in den Bergen gebraucht, um in ruhigere Fahrwasser zu gelangen. Joe fühlte sich befreit. Er schaute seiner Freundin tief in die Augen. Da saßen nun zwei in der ersten Reihe des Cabrios, deren geistigen Gemüter vollkommen quer lagen. Diese beiden wurden zumindest heute nicht mehr miteinander glücklich.

Aber Joe wusste auch, wie er seine Elvi wieder für sich gewinnen konnte.

„Hör zu“, sagte er. „Ich habe auch an dich gedacht, du wolltest Rotweinkönigin sein. Jetzt wirst du es eben in Oberbayern. Das schaukeln wir. Gib mir dein Lächeln!“ Doch dieser verkniffene bösartige Blick Elvis, der sagen wollte „Jetzt ein Messer und du bist dahin“, sagte Joe alles. Er kannte Elvis Stimmungsphasen. Er startete sein Auto, fuhr gefühlvoll an und der untergehenden Sonne hinter den rheinhessischen Weinbergen entgegen, wohl wissend, dass da ein neues Abenteuer auf ihn wartete.

Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte – und es war wirklich nur eine geschlafene Nacht, denn mit Elvi war zumindest in dieser Nacht nichts mehr anzufangen – schlich sich Joe am frühen Morgen aus dem Bett, machte sich einen Espresso und dann ein paar Notizen. Natürlich hätte er alles in sein Smartphone sprechen oder sofort in den Laptop hacken können. Aber Joe liebte noch immer Stift und Papier. Und so entstanden diese Zeilen:

Alois anrufen und überzeugen!Termine abstimmen!Ute anrufen – Managerin von Carlos!Infos über Wein einholen (Edeltraud?)WeinprobePR-Strategie entwickeln/Konzept schreiben …neuen Anzug kaufen

Ein neuer Anzug, das war ein Steckenpferd von ihm. Zu jedem neuen Job – einen neuen Anzug! Daran wollte er festhalten. Es mag seltsam klingen für einen gerissenen Manager-Typen wie Joe, aber dieser neue Anzug gab ihm Aufbruchstimmung und einen Hauch von Tradition mit auf den Weg ins Ungewisse. Und damit auch wieder etwas, an dem er sich orientieren konnte. Denn außer einer Idee stand bisher nichts. Und Joe wusste noch nicht wirklich, was da auf ihn zukam. Er freute sich und war schon jetzt voller Tatendrang. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass Bürgermeister Alois Bichlmeier seinen Vorschlag, eine Rotweinkönigin in Oberbayern zu küren, ablehnen könnte! Er machte sich einen weiteren Espresso, setzte sich auf das plüschige Sofa und wälzte in seinen Gedanken. Er stellte sich die Frage, was denn wäre, wenn Carlos absagen würde, aber er war sicher, dass dieser ehemalige Megastar der Schlagerbranche das Geld brauchte, denn so gut lief es wohl nicht mehr für ihn, wie er hörte.

Und dann war da ja noch seine Managerin Ute. Sie brachte ihn stets zurück ins Rennen. Also erst einmal abgehakt. Sein nächster Gedanke kreiste um die Welt des Weines. Er war zwar Weintrinker und genoss gerne mal einen schönen Roten, konnte bisweilen einen billigen von einem sehr guten Wein auch unterscheiden. Auch konnte er die Weintrauben einordnen. Zumindest die roten und die weißen. Aber da gab es ja noch mehr. Literatur, Sprüche, Weinlese, Herstellung, Geschmacksnoten, Prämierungen. Er wusste nichts! Und es wurde ihm klar, dass er in der Jury, und da wollte er sitzen, nur überzeugen könne, wenn er diese Strahlkraft eines großen Weinkenners habe.

„Eine ausführliche Weinprobe absolvieren, das wird ein Muss!“ Und nicht nur er, schoss es ihm durch den Kopf, auch Alois Bichlmeier müsse dabei sein und Carlos und seine Managerin Ute und Elvi. Ja, so wollte er es angehen. Außerdem dachte er, das mache die Runde locker und ebne der ganzen Zusammenarbeit einen fruchtbaren Nährboden. Er setzte ein gedankliches Ausrufezeichen, nickte entschlossen mit dem Kopf, schaute auf die Uhr, doch es war zu früh, um den Bürgermeister über seine Pläne zu informieren. Seine Entschlüsse hatte er gefasst und seine Gedanken geordnet.

„So, und jetzt?“ Elvi lag noch in den Federn. Mal sehen, ob er bei ihr wieder Boden gutmachen konnte. Er schlich zurück ins Bett. Gerade wollte er sich sanft und genüsslich von hinten ran kuscheln, als sich Elvi plötzlich umdrehte, ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberlag und ihn, wacher und aufmerksamer, als es ihm in diesem Moment lieb war, mit ihren großen Augen zur Rede stellte.

„Ich soll also Rotweinkönigin werden?“, säuselte sie.

„Äh, ja! Du musst natürlich ins Casting, wie jede andere“, stammelte er überrascht von Elvis Konfrontation.

„Und warum sollte ich ins Casting? Du bist doch der Macher, du machst das also für mich, korrekt?“

„Äh, ja.“ Etwas anderes hätte er nicht sagen können. Doch er schob etwas hinterher: „Elvi, lass uns bitte erst einmal alles in trockene Tücher bringen. Es ist bisher ein Einfall. Es gibt nicht einmal einen Auftrag. Der Plan steht so wenig wie die Stadt Bielefeld. Aber wir schaffen das“, hörte er sich sagen und fühlte sich dabei nicht gerade sehr wohl in seiner Haut. Er verdrehte unbemerkt die Augen, doch Elvi schien überzeugt. Sie begab sich in seine Arme, kuschelte sich hingebungsvoll in der ihr eigenen Art an ihn heran.

„Mein Einsatz, Elvi!“ Sie startete ihre Offensive ohne jede Fanfare und führte ihre Waffen, die Waffen einer Frau zielgerichtet und bewusst zum Einsatz. Ein Einsatz, der sich für sie bisher immer auszahlte.

KAPITEL 6

Carlos

Hochgeschoßen, dürr, drahtig und schlagfertig vermittelte sie jedem Gegenüber Respekt. Ute. Die 44-jährige Managerin von Carlos stürmte mit ihren 1,78 Metern und dem dunklen wedelnden Haarzopf wütend die Treppe der Drei-Sterne-Pension in Düsseldorf nach oben, in die dritte Etage. Zimmer 312, dort lag Carlos noch immer in den Federn. Ungefähr zehnmal hatte sie durchklingeln lassen, aber Carlos ging nicht ans Telefon.

„Unbegreiflich, warum er nicht abnimmt.“

Sie donnerte gegen die Tür und griff dann beherzt zu. Ja, die Tür war offen. Sie stieß die Tür aus dem Schloss und war mit einem Satz im Zimmer, knallte die Tür wieder zu und weckte damit den verstört wirkenden Endfünfziger! Carlos war derart erschrocken, dass er nach einem Gegenstand zur Abwehr greifen wollte und dabei eine Flasche Zinn 40, die neben ihm lag, über die Bettdecke ergoss.

„So eine Scheiße! Verdammt, was ist denn los?“, polterte er, um dann kleinlaut festzustellen: „Ute, du bist es!“

Er rieb sich dabei mit beiden Händen durchs Gesicht, bevor er sein Haupt kräftig schüttelte.

„Was ist los mit dir, frag ich mich“, entgegnete Ute, die in ihrem blauen, mit Blumen besetzten Sommerkleid breitbeinig am Fuße seines Bettes stand, als würde sie jede Sekunde ihren Colt zücken wollen. Den aber hatte sie glücklicherweise nicht dabei. Wer weiß, was passiert wäre? Denn Ute war geladen.

„Schau dich an, du bist nur noch ein jämmerliches Etwas. Dein Konzert gestern Abend war äußerst mittelmäßig und früher hätte ich morgens hier wenigstens ein paar Groupies aus deinem Zimmer gezogen. Aber nicht einmal das läuft. Stattdessen hast du viele Stunden mit diesen Vollpfosten in Nadelstreifen an der Bar verbracht. Du sitzt hier, als wärst du gerade in der Gruft erwacht.“

Utes übliche Beleidigungen. Das sollte für den Anfang reichen. Jetzt wartete sie gespannt, wie immer, auf seine Verteidigungsrede. Carlos lehnte sich zurück, richtete sein leicht verrutschtes dunkles Toupet und begann.

„Mir brummt der Schädel. Was willst du denn? Ich hatte drei Zugaben gestern.“ Langsam kam er in Fahrt. „Wir waren ausverkauft und wenn dieser blöde Bassist nicht den Einstieg im dritten Lied verpasst hätte, wär’s fast perfekt gewesen“, sagte er und wollte den letzten Schluck aus der beinahe vollends ausgelaufenen Flasche nehmen. Doch Ute schnellte nach vorne, schlug ihm die Pulle aus der Hand, die auf dem Fußboden zerschellte, und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Wehrlos und mit leerem Blick nahm Carlos diesen Angriff auf seine freie Entfaltung entgegen. Er hatte eigentlich nichts zu entgegnen. Schon gar nicht morgens um 11:45 Uhr. Und jetzt war Ute wieder am Zug. Nach einer Runde Schimpfen kamen nun die sanften Töne.

„Carlos, mein Goldschwänzchen“, begann ihre verbale Schmuse-Initiative, so durfte nur Ute ihn betiteln, schließlich war sie einmal fünf Jahre mehr als nur die Managerin an seiner Seite gewesen, bis sie seine Eskapaden mit den vielen weiblichen Fans satt hatte. Dennoch blieb sie! Als gute Freundin, Seelsorgerin und Managerin. Und als diese musste sie immer wieder eine neue Taktik auffahren, um ihn in der Spur zu halten. Jetzt packte sie den Grund ihres spontanen Erscheinens aus. „Hör zu, dein alter Freund Joe aus vergangenen Schlagertagen hat mich angerufen. Er hat was wirklich Tolles vor und will dich dabeihaben. Es geht um Casting, er sprach von PR, TV, guten Gagen. Was soll ich mehr sagen. Das klang alles sehr gut. Es geht um eine längere Aktion. Und, bitte schau mir in die Augen, das brauchen wir! Unser Terminkalender ist nicht gerade prall gefüllt. Vertraust du mir bitte? Der Joe hat immer was gerissen, soweit ich das beurteilen kann. Jetzt richte deine Lockenpracht wieder ordentlich her, mach dich frisch und dann reden wir weiter!“

„Gib mir erst mal eine Zigarette“, stammelte Carlos.

„Mit oder ohne Schwein?“ Carlos traut seinen Ohren nicht.

„Bitte?“, fragte er.

„Ja, mit oder ohne Filter ist die Frage“, sagte Ute, die ihre Besserwisserei nicht immer unterdrücken konnte. „Hör zu, ich kläre dich auf: Die Hersteller von Zigarettenfiltern verwenden sehr häufig Hämoglobin, das ist ein Eiweißstoff, der die Schadstoffe aus dem Tabakqualm filtert. Und dieser kommt vom Schweineblut.“ So hatte sie es am frühen Morgen noch gelesen.

„Pfui Deibel, gib mir eine ohne Filter!“ Carlos schüttelte sich, zündete sich eine an und nahm einen tiefen Zug.

„Mach du das mit dem Joe, du hast das alles im Griff. Ich fühle mich noch etwas derangiert.“

„Wenn das alles ist. Ich mache mir manchmal so meine Gedanken um dich, Carlos. Dein Lotterleben zehrt an dir! Aber gut, ich bin jetzt mal wieder deine Managerin und regele das alles. Nächste Woche müssen wir nach Rheinhessen zu einer Weinprobe! Das gehört zu diesem Job, das ist wohl schon ein Teil der Vorbereitung.“

„Eine Weinprobe zur Vorbereitung?“, wunderte sich Carlos. „Aber gut. Das soll mir recht sein.“

Und Ute haute noch einen raus: „Vorbereitung ist der Anker im Meer der Entschlossenheit, compris?“ Sie sprang hoch, forderte ihn mit händischer Geste auf, sich zu beeilen, und verließ sein Zimmer.

Ihre einzigartigen Weisheiten konnten ihn manchmal zur Weißglut bringen. Aber dazu musste es mindestens nachmittags und er wirklich nüchtern sein. Ute hatte ihn im Griff und das tat ihm weitestgehend gut. Zumindest kam er irgendwann einmal zu dieser Überzeugung.

Sie kannten sich schon aus der Zeit seiner großen Erfolge, als er mit „Amore auf der Empore“ einen Hit landete, der in allen deutschsprachigen Ländern auf Platz 1 der Charts landete. Es folgten weitere Hits, die aber nie wieder an diesen Mega-Erfolg anknüpften. Carlos war ein Frauenschwarm. Die weiblichen Fans lagen ihm zu Füßen und des Weiteren auch häufig in seinem Bett. Sie dachten, er käme aus Italien und diese samtweiche Stimme hätte er sich beim Betrachten der Sonnenuntergänge am Golf von Neapel erworben. In Wirklichkeit hieß er Karl Matschinsky und kam aus dem Pfälzer Wald. Doch seine rumänischen Vorfahren legten ihm dieses südländische Aussehen in die Wiege. Davon profitierte er in der Damenwelt. Mit 15 Jahren erkannte er, dass er mit einer Gitarre in der Hand und etwas Schmalz in der Stimme überzeugen konnte. Als „Dino Martino aus der Pfalz“ sorgte er schon in ländlichen Kreisen für Furore. Und so machte er seinen Weg. Er konnte bereits in dieser Zeit mit seinem Talent seine ganze elterliche Familie mit den drei Brüdern, darunter ein Zwillingsbruder, und vier Schwestern bestens finanziell unterstützen. Zeitweise versuchte er es sogar mit seinem Zwillingsbruder Marian im Duo: die Oberpfälzer. Der Erfolg mit tschechischer Volksmusik war mäßig, die Engagements nicht besonders zahlreich. Die Menschen in der Pfalz wollten Carlos und seine Schnulzen. Marian stieg aus und für Carlos kam der große Durchbruch. Er wurde auf einer Bühne in Frankfurt für „höhere Aufgaben“ mit Hitparaden-Potential entdeckt und hatte bereits mit 19 Jahren erste TV-Auftritte.

Der Mega-Erfolg kam mit 25! Seit dieser Zeit gehörte er für die Fans in den goldenen Schlagerhimmel. In seinen 30ern traf er auch Joe. Dieser hatte, nachdem er sich als Schlagersänger versuchte, immerhin zwei Top-Ten-Hits mit dem „König der Straße“ und dem „Blonden Bond!“ Sie traten in einigen Hit- und Schlagerparaden gemeinsam auf und hatten im Anschluss ihrer Shows ausgiebige Trinkgelage und aus dieser Epoche auch einige Männer-Geheimnisse miteinander. Ja, wenn er so recht überlegte, dann freute er sich auf Joe. Das konnte nur wieder frischen Wind in sein Leben bringen. Und Ute hatte recht, wenn sie betonte, dass er optisch entscheidend nachgelassen habe und nicht mehr ihrem geliebten Idol der 90er Jahre entsprach. Ute war stets und oft unbarmherzig ehrlich. Er musste nur in den Spiegel schauen und dann wurde ihm schnell bewusst, dass er trotz einiger kleiner Botox-Unterspritzungen nicht mehr den jugendlichen Schlagerstar geben konnte. Aber mit der blitzeblanken Zahnleiste, die ihm ein strahlendes Weiß bescherte, und seinem Haaraufsatz an der vorderen Schädeldecke wusste er durchaus noch zu überzeugen. So selbstbewusst war er!

KAPITEL 7

Fatale Begegnung