Roulette Khmer - Tanz der langen Stunden einer kambodschanischen Rachegöttin inmitten eines makabren Kammerspiels - Carl Isangard - E-Book

Roulette Khmer - Tanz der langen Stunden einer kambodschanischen Rachegöttin inmitten eines makabren Kammerspiels E-Book

Carl Isangard

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Beschreibung

Die Sequenz im Prolog dokumentiert die steinzeitkommunistische Hölle der Roten Khmer in einem Dorflager und wie die kleine Shanra ein böses Erwachen erlebt, nachdem man ihre Eltern wie Schlachtvieh in einen Lastwagen gepfercht hat, um sie in eines der zahlreichen grauenvollen Arbeitslager zu verschleppen. Es ist eine Deportation ohne Wiederkehr. Der erste Teil beschreibt in verschiedenen ineinander verknüpften Episoden die gegenwärtige Lebenssituation der inzwischen erwachsenen Shanra, die als Prostituierte in den Bars von Phnom Penh anschafft sowie die folgenschweren Begegnungen zwischen drei aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammenden westlichen Sextouristen, Halunken, parasitären Menschenrechtlern. Diese äußerst lästigen Ausländer empfinden nicht nur Verachtung und Feindseligkeit gegeneinander, sondern auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung, deren Kultur, vor allem gegenüber den Frauen Kambodschas. Der zweite Teil erzählt ausführlich über den beruflichen Werdegang des Ex- UNTAC Blauhelmsoldaten und Brokers Victor, beleuchtet seine dunkle Vergangenheit, schildert anschließend das tragische Ereignis von Shanras ersten Besuch im Tuol Sleng Museum, wo sie eine entsetzliche Entdeckung macht im Zusammenhang mit der früheren Schreckensherrschaft der Khmer Rouge. Außerdem bietet eines der Kapitel vielschichtige, intime Einblicke in ihre Biografie; wie sie sich zum Beispiel mittels intensivem Selbststudium zu einer gebildeten Frau entwickelt hat. Die "blauen Khmer" symbolisieren für Shanra die roten Terrorbrigaden und zugleich die zu Anfang der 1990er Jahre in Kambodscha stationierten Blauhelmsoldaten, die ihre Heimat mit Aids verseuchten. Einer von ihnen war Victor, der eine wesentliche Mitschuld am Tod ihrer Schwester trägt, und der schlussendlich selbst einem teuflischen kambodschanischen Roulette zum Opfer fällt; Shanras gnadenlose Rache, auch auf Geheiß der Seele ihrer verstorbenen Schwester.

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Roulette Khmer - Tanz der langen Stunden einer kambodschanischen Rachegöttin inmitten eines makabren Kammerspiels

Titel SeiteÜber das BuchÜber den AutorProlog: 15. Juni 19771. Teil: 2013 VON AFFEN & PARASITENFeurige Begegnungen in SihanoukvilleShanras Träume IDer geizige MakakeIrgendwo zwischen Kampong Speu und Phnom PenhEine heiße Nacht und ein heißer MorgenEin Jahresverdienst für die Khmer LadyEin Affe auf BesuchShanras Träume II2. Teil: DIE GOTTESANBETERIN & DIE KAKERLAKEAuf dem großen Strom IEine ehemalige HighschoolAuf dem großen Strom IIGeister aus der VergangenheitCiao Châu Dôc!Der weibliche Godzilla und das kalte ParadiesEin blauer Soldat in Phnom PenhAm Ziel seiner TräumeIntermezzo im Walkabout & Retrospektive Siem Reap – Phnom PenhKambodschanisches RouletteEpilogÜber indayi editionTitel - 2

Carl Isangard

Roulette Khmer

Tanz der langen Stunden einer kambodschanischen Rachegöttin inmitten einesKammerspiels

Roman

Besuche uns im Internet:

www.indayi.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage Juni 2019

© indayi edition, Darmstadt

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Lektorat, Umschlaggestaltung und Satz:Birgit Pretzsch

Über das Buch

Die Kambodschanerin Shanra hat in den 1970er Jahren auf unsagbar tragische Weise unter der zerstörerischen Tyrannei der barbarischen Roten Khmer ihre Eltern und ihren Onkel verloren. Heute verdient sich Shanra ihren Lebensunterhalt als Prostituierte und wohnt zusammen mit ihrem Bruder Sarun in einem heruntergekommenen Mietshaus mitten in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Ihre Schwester Rhot ist bereits vor einigen Jahren qualvoll an Aids verstorben, nachdem sie von mehreren Blauhelmsoldaten vergewaltigt worden war. Die meisten Westler, die ihren Weg kreuzen, verkörpern in Shanras Augen sexbesessene, perverse Parasiten, die nur darauf aus sind, ihre Heimat noch hemmungsloser auszubeuten und mit noch mehr Aids zu verseuchen als zuvor, wobei sie schon längst erkannt hat, dass auch die Welt der Fremden beherrscht wird von grenzenloser Gier, Verblendung und Verderbnis.

Immer wieder träumt Shanra von einem himmlischen Dasein als Apsaratänzerin in den heiligen Tempeln von Angkor Wat. Ihr seit der Kindheit sehnlichster Wunsch hat sich leider nie erfüllt. Aber ein anderer Traum geht auf unerwartete Weise in Erfüllung.

Über den Autor

Carl Isangard wurde als Sohn einer deutschen Profitänzerin 1957 in Luzern geboren. Er erlernte den Beruf des Kellners, absolvierte in Zürich eine klassische Gesangsausbildung, war jahrelang Fabrikarbeiter und später in einem Großkonzern als Portier angestellt, wo er intensiv mit dem Schreiben begann. Eines Tages wanderte er nach Thailand aus und versuchte dort zusammen mit seiner damaligen, einheimischen Frau eine Existenz zu gründen. Nach Anbruch der Asienkrise kehrte er allein und völlig abgebrannt wieder in die Schweiz zurück. Seit 1998 ist er vorwiegend als Consulter tätig.

Längere Aufenthalte in den USA (er trat in Las Vegas in einem Casino gelegentlich als Sänger auf), Brasilien, Thailand, Hongkong, Kambodscha und Vietnam dienten dem Autor als Inspiration für seine Short Storys, Satiren, Novellen und Romane.

Ende der 1980er Jahre wurde seine erste Satire in einer Provinzzeitung veröffentlicht. Später folgten diverse Artikel in verschiedenen Regionalzeitungen sowie zwei Beiträge für die Horror Story der Woche in der John Sinclair Serie, dann Prosatexte in satirischer Form. Ende der 1990er Jahre mehrere Tatsachenberichte in der Gazette „Gasseziitig Lozärn“.

2013 der Erzählband „Brauerei Bizarro – Storys und Satiren über Freaks & Furien“ und 2017 der Abenteuerroman „Private Stripper – Die bizarre Story eines Dirty Dancers der 1980er und 1990er Jahre“; beide bei edition winterwork.

Vom Januar 2016 bis Mai 2018 alle vierzehn Tage Publikationen der Fortsetzung seines Tatsachenromans „Ausgewandert und abgebrannt – Rückkehr in die helvetische Kälte“ im deutsch-thailändischen Presseorgan wochenblitz.com unter dem Pseudonym Carl Gemser.

Widmung

Meiner geliebten Mutter Jablonca (1919-1991)
Gewidmet:

Dem Volk des Königreichs von Kambodscha

den Millionen von Opfern der Roten Khmer

den göttlichen Tänzerinnen des Apsara

Beat Richner (1947-2018), „Beatocello“, Pionier und Gründer der Kinderspitäler Kantha Popha in Kambodscha

Vorbemerkung des Autors

Roulette wird in den Kasinos von Poipet, Koh Kong sowie in anderen kambodschanischen Gefilden gespielt. ... aber auch jenseits von Tischen und Rädern; an einem Ort, an dem der Croupier kein anderer als der Teufel ist. Auch er setzt lediglich eine Kugel ein, der er freien Lauf lässt. „Rien ne va plus“, sagt er höllisch grinsend an. Doch bei diesem Roulettespiel kann man auf keine Zahl setzen. Es wird jeweils sowieso nur eine Runde gespielt, und diese verliert der Gambler immer. Und der einzige und ewige Gewinner ist nicht die Bank, sondern der Croupier selbst.

Jeder Gambler kommt an die Reihe und jeder muss abdrücken, ob er will oder nicht. Der Eine mehr, der Andere weniger. Fragt sich nur, wie viele leere Kammern der Eine oder andere noch zur Verfügung hat, bevor er die volle erwischt. Niemand ist gegen die volle Kammer gefeit. Es steckt immer wieder eine neue Kugel in der Trommel des Revolvers. Und manchmal befindet sich besagte volle Kammer sogar außerhalb der Trommel, und dann sind es andere, die den Abzug betätigen. Irgendwann und irgendwo wird immer jemand abdrücken, meistens dann, wenn man es nicht erwartet ...

Während des ganzen Lebens, von der Wiege bis zur Bahre wird Roulette gespielt, ob in russischer oder in kambodschanischer Form.

... was jedoch keinesfalls bedeutet, dass folgende Begebenheiten sich einzig und allein im heutigen Reich der Khmer abspielen. Auch liegt es mir fern, dem Lesepublikum einen verfälschten Eindruck über das Leben in diesem wunderschönen südostasiatischen Land, in dem vor mehr als vierzig Jahren ein kommunistisches Terror-Regime an die Macht gekommen war und die eigene Bevölkerung dezimiert und deren Kultur teilweise zerstört hatte, zu vermitteln.

Folgende Ereignisse und Schicksale verdeutlichen, welche Einflüsse die einstigen Roten Khmer, ihre Gräuel und ebenso andere Mächte der Vergangenheit auch noch heutzutage auf einzelne Menschen ausüben. Auf schonungslose Art wird auch veranschaulicht, was für Freiheiten und äußerst fragwürdige Privilegien sich viele Barangs (Ausländer), Sextouristen, UNTAC Blauhelmsoldaten sowie Aktivisten von gewissen westlichen, dubiosen und korrupten Hilfsorganisationen gegenüber den asiatischen Völkern und deren Kulturen immer wieder herausnehmen; und dass alles im Namen des Friedens und der Humanität.

Prolog: 15. Juni 1977

Demokratisches Kampuchea –

Ein kleines Dorf mitten in der Provinz Prey Weng

Im düsteren Morgengrauen, beim Anbruch dieses schicksalhaften Tages kommen sie wieder ins Dorf ... Das heisere, aufgeregte Bellen der beiden streunenden, dürren Hunde, sowie das stetig lauter werdende Brummen des heranrollenden Lastwagens hat den Hunderten von Dorfbewohnern ihre Ankunft bereits angekündigt:

Zehn junge Männer, die aus dem mittlerweile angekommenen Laster steigen; mit schlanken, drahtigen Körpern, gekleidet in schwarze Hosen, langärmelige Oberteile, rot-weiß-karierte Kramas und mit grünen Mao Mützen auf den Häuptern. Sie tragen lange Gewehre in ihren Armen. Ihre Gesichter sind dunkelhäutig, ihre Mienen finster wie die Nacht. Das Gebell der beiden Hunde ist inzwischen verklungen. Die Tiere geben nun keinen Laut mehr von sich, ziehen sich mit eingezogenen Schwänzen zurück, als scheinen sie es bereits zu ahnen, wie alle Anwesenden im Dorf.

Die heutige Ankunft der Soldaten in diesem Lager des kleinen Dorfes von der Provinz Prey Weng verkündet, wie jedes Mal, Unheil. Die Soldaten der Roten Khmer marschieren wortlos, mit starren, grimmigen Blicken zwischen Dutzende von Hütten. Ihre aus Autorreifen hergestellten schwarzen Sandalen bahnen sich quietschend den Weg durch den braunen, aufgewühlten Schlamm.

Die hinterlassenen Spuren der Sandalen werden bald wieder weggespült, spätestens vom nächsten Regenfall. Doch die Spuren, welche das Regime von Pol Pot im ganzen Land hinterlässt, vermag kein Regen wegzuspülen. Spuren, die in die Annalen der kambodschanischen Geschichte eingehen werden, als eines der dunkelsten und grausamsten Kapitel der gesamten südostasiatischen Welt.

Es hat die ganze letzte Nacht geregnet. Es herrscht Monsunzeit im Demokratischen Kampuchea.

Die Vegetation des von Verdunstungsschwaden durchzogenen Dschungels, der die hiesige Landschaft umgibt, ist grün und üppig. Das Dasein der hier lebenden Dorfbewohner dagegen ist erfüllt von Schinderei, Trauer, Leid, Hunger, Krankheit, Terror und Tod. Die umherwirbelnden Schwärme, die aus Tausenden von aggressiven, mörderischen Tigermücken bestehen, sind noch die kleinste Plage. In wenigen Stunden wird die Sonne die Bambushütten und die Arbeitsgruben wieder in Backöfen verwandeln. Eine schwere, schwüle Hitze senkt sich dann wie ein bleierner Vorhang über die Landschaft.

Das ganze Dorf ist von der Außenwelt wie hermetisch abgeriegelt. Es gibt keine Zeitung, kein Radio, keine Fernseher, nicht mal Kontakt zu den anderen Dörfern. Die einzigen Nachrichten werden von dem hier zuständigen Vorsteher verlesen. Dieser und seine patrouillierenden Helfer, die ebenso der Armee der Roten Khmer angehören, und so gut wie uneingeschränkte Macht besitzen – sie sind Polizisten, Richter und Henker zugleich – geben den zehn eingetroffenen Soldaten jetzt Anweisungen. In einem Arbeitslager von Ro Leap braucht es mehr Hilfskräfte auf den Reisfeldern. Also rekrutiert man hier über zwanzig Frauen und Männer. Es ist nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass Menschen einfach spurlos verschwinden. Nach der Reisernte im November würden die Auserlesenen alle wieder zurück sein. So die offizielle Verlautbarung. Manchmal verschwinden ganze Familien. Und wenn nur der leiseste Verdacht besteht, dass bei irgendwelchen Leuten kritisch über Politik diskutiert wird oder ein Diebstahl von Nahrungsmittel stattgefunden hat – was hin und wieder vorkommt aufgrund der kärglichen Lebensmittelrationen – werden die Verdächtigen in ein Umerziehungslager gebracht. Auch sie kehren niemals mehr ins Dorflager zurück. Eine Flucht wäre jedoch zu riskant. Denn gerade mal zwei Tage zuvor sind drei Arbeiter erschossen worden. Diese sind gerade damit beschäftigt gewesen, auf einem etwas abgelegenen Feld einen Gemüsegarten anzulegen, als sie dort auf eine von den zahlreichen ausgelegten scharfen Minen traten. Sie verloren ihre Arme und Beine und unmittelbar danach ihr Leben durch die Gewehrkugeln der liquidierenden Soldaten. Ab und zu machen sich die Soldaten ein makabres Vergnügen daraus, ein Dutzend Männer über ein in der Nähe befindliches Minenfeld zu jagen. Vorher schließt man jeweils Wetten ab. Die Wetteinsätze: Spezielle Handfeuerwaffen, Zigaretten und billiger Fusel (Geld war im Demokratischen Kampuchea schon lange abgeschafft). Die totgeweihten Männer tragen dann gut erkennbare Nummern auf ihren Rücken. Es wird auf diejenigen gewettet, die es schaffen, mit ihrem Leben davonzukommen oder auf die anderen, die es nicht schaffen sollen, wobei es jedes Mal drei bis fünf von ihnen erwischt. Dieses teuflische Spiel nennen manche Menschen hier: Roulette Khmer Rouge. Es ist das barbarische Roulette der Roten Khmer.

Vor mehreren mit Stroh bedeckten Bambushütten stehen einige Familien in Reih und Glied. Sie alle tragen die schwarzen Arbeitsanzüge an ihren vor Hunger ausgemergelten Körpern; ihre einzige Kleidung, die sie besitzen dürfen.

Jeder erdenkliche westliche Einfluss bedeutet während den langen, bitteren Tagen und Nächten des tyrannischen Steinzeitkommunismus Frevel und Verrat am kambodschanischen Volk, der weder persönlichen Besitz noch technischen Fortschritt erlaubt.

Der kleinwüchsige, ältere Vorsteher mit dem feisten, vernarbten Gesicht blickt mit ausdruckslosen Augen auf die jetzt ausgewählten Männer und Frauen. Sein leerer Blick verrät, dass er nicht das geringste Mitleid verspürt, genauso wenig wie seine Schergen und die Soldaten. Was zählt, ist allein das gnadenlose Gesetz des Angkar, der Organisation. Eine Organisation; übermächtig und bedrohlich schwebend wie eine gigantische Medusa, deren tödlicher Blick das ganze Land immer mehr zu Schutt und Asche verwandelt.

Nun geht es sehr rasch und erbarmungslos, ähnlich dem Verladen bei einem Viehtransport: Die Aktion der Soldaten dauert keine fünf Minuten, dann sind die von ihnen ausgewählten vierzehn Männer und acht Frauen im Lastwagen verfrachtet.

Der Fahrer startet bereits den Motor. Dann fängt es plötzlich wieder an zu regnen.

Unter den mehreren Hundert Bewohnern gibt es nur sehr wenige Babys. Die meisten sterben bereits ein paar Tage nach ihrer Geburt. Es ist kein Wunder, denn der Großteil der Mütter ist überarbeitet und unterernährt. Nur außergewöhnlich zähe Naturen können in dieser kambodschanischen Vorhölle gedeihen (die eigentliche Hölle ist das abscheuliche Reich der zahlreichen Arbeitslager, in denen jeweils Männer und Frauen getrennt untergebracht werden). Daher leben hier auch sehr wenige Kleinkinder. Eines davon ist die zweieinhalbjährige Shanra, das jüngste von drei Kindern einer der Familien. Das kleine Mädchen mit der niedlichen Stupsnase, den auffallend großen, traurigen Augen und den zerzausten, verfilzten Haaren ist soeben aufgewacht. Es hat noch nicht mitbekommen, was an diesem Morgen hier im Dorf vorgegangen ist.

Mit verschlafener Miene erhebt Shanra sich etwas unbeholfen von der Reisstrohmatratze im Inneren der spartanisch eingerichteten Bambushütte. Das abgemagerte Mädchen erinnert an ein nur aus Haut und Knochen bestehendes Püppchen. Jetzt vernimmt die kleine Shanra das verzweifelte Schluchzen ihrer Tante und die wimmernden Stimmen ihrer beiden Geschwister von draußen. Als Shanra mit müden Gliedern zum Ausgang der Hütte schlurft, erblickt sie mit großem Schrecken die vor Angst und Panik verzerrten Gesichter ihres fünfjährigen Bruders Sarun und ihrer siebenjährigen Schwester Rhot. Dann hört sie das immer leiser werdende Brummen eines wegfahrenden Lastwagens und gleichzeitig Rhot mit resigniertem Ton in ihrer erschütterten Stimme: „Die Soldaten haben unsere Mama und unseren Papa mitgenommen!“

Shanra hat noch nicht realisiert, dass sich ihre Eltern nun in dem wegfahrenden Laster befinden, wie zusammengepferchtes Schlachtvieh, mit den Soldaten und den anderen zwanzig Männern und Frauen. Das Brummen des Lasters ist jetzt nur noch weit entfernt zu vernehmen. Schließlich verstummt es. Außer dem Plätschern des Monsunregens auf den Hüttendächern und schlammigen Wegen ist minutenlang nichts zu hören.

„Macht euch keine allzu großen Sorgen: In ein paar Monaten, nach der Reisernte sind Mama und Papa wieder zurück“, versucht Onkel They die restlichen Familienmitglieder zu beruhigen. Doch sein wissender, qualvoller Blick spricht eine andere Sprache ... Tante Eang und die beiden Geschwister haben es verstanden. Nur die kleine Shanra weiß es noch nicht: Sie alle würden die Eltern nie mehr wiedersehen …

1. Teil: 2013 VON AFFEN & PARASITEN

Feurige Begegnungen in Sihanoukville

Sie wusste nichts. Sie hatte keinen Verstand. Aber sie besaß ihren Instinkt. Und Letzterer würde sie niemals in die Irre führen oder im Stich lassen.

Der tagelange Regen hatte sie immer näher und näher an den Strand getrieben. Und auch immer näher an ihr noch ahnungsloses Opfer …

Fabio, der fünfzigjährige Italiener aus Mailand mit den schwarzen, grau melierten Haaren und der aufgesetzten Ray Ban Sonnenbrille schwamm mit gemächlichen Zügen im Meer. Der Südländer war heute Morgen der einzige schwimmende Tourist. Das hatte seinen Grund ...

Er blickte hinauf zum Horizont. Grauweiße Wolken hingen wie zerrissene Säcke vom Himmel. Ein Gebilde erinnerte von der Form her an einen Walfisch, dem die Schwanzflosse fehlte. „Moby Dick über Sihanouk-Melville, mal was anderes“, bemerkte er scherzhaft. Amüsiert dachte er an seinen verrückten Traum von letzter Nacht: Ein junger Elefant war plötzlich in seinem Hotelzimmer erschienen. Nachdem dieser ein paar Runden gedreht hatte, brunzte er munter umhertrampelnd, mit ein paar Trompetenstößen begleitend auf den Boden. Aber Elefanten bringen eben Glück; besonders hier in Südostasien. Also, wenn das kein gutes Zeichen war ...

Fabio hatte sich heute, wie an jedem Morgen, Gel in seine Haare geschmiert und gut zehn Minuten gebraucht, um sich vor dem Spiegel seine Frisur zurecht zu klopfen. Während er schwamm, achtete er pedantisch darauf, dass sie nicht nass wurde. Es gehörte ebenfalls zu seinen festen Gewohnheiten, jeweils vor dem Schlafengehen ein Haarnetz aufzusetzen. Wer heutzutage etwas auf sich hielt, der war eben eitel.

Er vollführte jetzt lässige Kraulbewegungen. „Was bin ich doch für ein toller Hecht!“

Der Strand lag etwa fünfzig Meter entfernt. Dort erblickte er den auf einem Liegestuhl sitzenden alten, fetten Franzosen, der ihn ebenfalls an einen Walfisch erinnerte. Fabio setzte sein typisches Pepsodentgrinsen auf. Verächtlich murmelte er vor sich hin: „Sieh mal an, der französische Mongo; lässt sich seine Wampe in der Sonne bräunen ... und er ist bereits wieder am Fressen.“

Das Wasser war relativ kühl. Die letzten drei Tage hatte es vermehrte Male ziemlich stark geregnet; eher ungewöhnlich für die hier jetzt herrschende heiße Jahreszeit. Nichtsdestoweniger genoss Fabio diese Erfrischung. Er blickte auf seine brandneue Omega mit dem azurblauen Zifferblatt und den silbernen Zeigern: kurz nach neun Uhr vormittags. Die Moby Dick-Wolke hatte sich mittlerweile aufgelöst. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich der zweibeinige Walfisch auf dem Liegestuhl ebenso in Luft auflösen können. In diesem Augenblick fiel ihm auf, wie hastig der Franzose in seiner Tasche herumnestelte, worauf etwas zum Vorschein kam, dass aussah wie eine Filmkamera.

Sihanoukville an der kambodschanischen Küste entsprach nicht gerade Fabios Vorstellung von Erholung und Entspannung. Alles erschien ihm zu provinziell, obwohl der beliebte Badeort mittlerweile immer mehr von Touristen bevölkert wurde. Für den Italiener allerdings war das ganze Land im Gegensatz zu Thailand den Tourismus betreffend immer noch rückständig. Für die zahlreichen aufdringlichen und zum Teil verkrüppelten Bettler empfand er nicht das geringste Mitleid. Und das ständige Affentheater um die Geldscheine ging ihm auf die Nerven. Wies eine Dollarnote einen kleinen Riss auf, wurde diese von den meisten einheimischen Verkäufern und Händlern nicht mehr akzeptiert. Was ihm ebenfalls auf die Nerven ging, waren die Dutzend Karaoke Bars, die ganz in der Nähe des Hotels Aqua Resort lagen, in dem er logierte. Diese verbreiteten jeweils während der ganzen Nacht einen unerträglichen Lärm. Das disharmonische, elende Gejaule fing um achtzehn Uhr an und endete nicht vor sechs Uhr morgens. Aber er würde Sihanoukville ohnehin bald wieder verlassen. Denn Fabio war nicht zum Vergnügen hier gestrandet: Während seines dreimonatigen Aufenthaltes in Phuket war er für ein paar Tage hierhergereist, um mit einem reichen Russen krumme Geschäfte zu tätigen. Der Deal war erfolgreich abgelaufen und er um einhundertfünfzigtausend US-Dollar reicher. Morgen würde er ein Taxi nach Phnom Penh nehmen und von dort mit einer Maschine der Bangkok Airways wieder nach Phuket zurückfliegen. Toy, seine thailändische, junge und hübsche Verlobte würde ihn am Flughafen abholen. Die Hochzeit war für den nächsten Monat geplant. „Mamma Mia! Was für ein rauschendes Hochzeitsfest wird das geben!“, freute er sich. Gestern hatte er seiner Verlobten zweitausend Dollar per Western Union überwiesen. „Du sollst mir doch kein Geld schicken“, so ihre Worte am Handy. Wie bescheiden sie war, die Gute!

Er kannte sie seit vier Jahren und er war immer noch trunken vor Leidenschaft, von Toys Sex-Appeal, trunken von ihrer aufregenden, begehrenswerten Weiblichkeit; die Weiblichkeit einer graziösen aber starken Frau, deren Zorn gelegentlich so gewaltig sein konnte wie der eines wütenden Wasserbüffels. Doch holte Fabio sie stets wieder herunter von ihrem Feuerbüffel, auf seine einfühlsame und humorvolle Weise.

In diesen vier Jahren hatte er Toy niemals betrogen, selbst während der monatelangen Aufenthalte nicht, die er allein in seiner italienischen Heimat verbrachte. Fabio schlief nie mit anderen Frauen, wenn er in einer Beziehung lebte, auch früher nicht, als er noch verheiratet gewesen war. Einige seiner Freunde betrachteten ihn als monogamen Trottel, wenn sie es auch nicht mit Worten ausdrückten. Aber das war ihm scheißegal. Andere Frauen übten keinerlei Reize auf ihn aus. Es hatte auch nichts damit zu tun, dass ihn möglicherweise ein schlechtes Gewissen befallen hätte, wäre er jemals fremdgegangen. Nein, seine Natur entsprach schlicht und einfach nicht der eines Fremdgängers. Er vermochte nur erotische Gefühle für eine Frau zu empfinden, wenn er in diese auch verliebt war und sie in ihn (oder er zumindest glaubte, dass dies tatsächlich auf Gegenseitigkeit beruhte). Fabio sah sich auch nie irgendwelche Pornomagazine- oder -filme im Internet an. Darstellungen von fremden, kopulierenden Personen, die dann dabei meistens noch schamlos übertrieben, erregten ihn in keiner Weise. Fabio stand auf ganz normalen Blümchensex. In dieser Hinsicht hatte er eben eine konservative Einstellung.

Drei Jahre nach seiner Scheidung hatte er immer noch kein einziges Verhältnis oder auch nur ein Techtelmechtel mit dem schönen Geschlecht gehabt. Seine Kumpels in Mailand, alles notorische Puffgänger, machten sich die allergrößten Sorgen um ihn. Sie befürchteten schon, Fabio hätte inzwischen der holden Weiblichkeit abgeschworen und stattdessen homosexuelle Neigungen entwickelt. Sie mussten jede erdenkliche Überredungskunst anwenden, um ihn einmal in ein Bordell zu lotsen, in dem sie Stammkunden waren.

Also ging Fabio mit, eigentlich nur aus purer Neugierde, denn ein derartiges Etablissement bedeutete für ihn reines Neuland. Für neunzig Euro Fressen und Saufen, alles und so viel du willst. Fabio kippte einen Cuba Libre nach dem anderen, stopfte sich den Wanst voll, während er gelangweilt die circa dreißig anwesenden Damen begutachtete, von denen die meisten aus Russland stammten. Die sind ja alle splitternackt! Wo bleibt denn da der Reiz? ... Viele sind 60% made in Russia und 40% made in Silicon Valley. Gar nicht meine Welt ... aber was kostet denn so ein Aufhupf? ... Was, ich hab’ mich wohl verhört: 120 Euro für eine halbe Stunde bumsen??? ... Dio mio! 120 Eier soll ich blechen, um ein beschissenes halbes Schäferstündchen lang einen weiblichen Roboter aus dem Ostblock zu poppen? Ihr seid so was von bescheuert, Jungs! Da vergeht einem schon bei diesen unverschämten Puffpreisen die Lust. Nicht mit mir ... Auf Kommando abspritzen, denn die Uhr läuft und der nächste Freier wartet schon. Sind wir da im Militär oder was? Ich bin doch nicht blöd! Fabio bestellte gleich ein Taxi, fuhr anschließend nach Hause und war in besagtem Bordell nie wieder gesehen.

„Ob Toy dir wohl treu ist während deiner sporadischen Abwesenheit? Hat sie vielleicht nicht noch zusätzliche andere Geliebte?“, pflegten ihn seine mailändischen Freunde oftmals zu fragen. Leider waren sie nicht die Einzigen, welche ihm diese unangenehmen Fragen stellten, die somit giftige, quälende Zweifel in ihm wachriefen. Und weil bekanntlich die schleichenden, gefräßigen Dämonen der Eifersucht niemals schliefen, machten diese auch vor ihm nicht Halt. Doch ließ er diese lästigen Quälgeister nie zu nahe an sich ran. Schließlich gelang es ihm immer, diese wieder zu verscheuchen. Und, wofür sich jetzt noch unnötige Sorgen machen? Denn Fabio hatte finanziell mehr oder weniger ausgesorgt, was für ihn bedeutete, dass er seiner italienischen Heimat bald definitiv den Rücken kehren würde, um für immer mit seiner Toy zusammen zu sein und mit ihr seinen Lebensabend in ihrer Heimat zu verbringen.

Die glitzernde Wasseroberfläche des Meeres blendete ihn für einen Augenblick. Umhertreibende Algen streiften seine Beine und etwas Glitschiges seinen rechten Oberarm. Er erschrak bis ins Mark, als er die Feuerqualle von der Größe eines Tellers entdeckte. Sein Pepsodentgrinsen war ihm schlagartig vergangen. Doch es war bereits zu spät … Er hatte das Gefühl, als ob man seinen Arm mit Salzsäure überschüttete. Der Schmerz explodierte gleich einer Napalmbombe. Fabio schrie wie am Spieß. Ein paar einheimische junge Männer am Strand wurden auf die Szene aufmerksam und rannten wie der Blitz ins Wasser, in Richtung des Schwerverletzten.

Henri, der siebenundsechzigjährige korpulente Franzose hatte das Schauspiel von Anfang an auf seiner Handycam festgehalten. Völlig begeistert saß er circa fünfzig Meter vom Geschehen entfernt gemütlich in seinem Liegestuhl. In seiner Linken hielt er eine große, gegrillte Garnele, biss davon ab, während er mit der Rechten die Kamera mit weit ausgerichtetem Zoom umfasste.

„Ich hab’ es doch geahnt. Wie leichtsinnig dieser arrogante, schmierige Spaghettifresser ist. Haben ihn nicht noch vorher die Angestellten vom Hotel und ein paar Einheimische hier vom Strand davor gewarnt, wegen der vom Regen angetriebenen Quallen im Meer baden zu gehen?“, bemerkte er kauend.

Ein Sanitätstrupp war inzwischen aufgetaucht, um den verätzten Italiener in eine der nächstliegenden Kliniken zu transportieren.

Henri schwenkte jetzt die Kamera herum, grinste hämisch in die Linse, spuckte lässig ein Stück Garnelenschale aus und kommentierte: „Da seht ihr’s, Freunde. Da hat sich einer im Meer verbrannt. Er liebt ja Meeresfrüchte über alles. Da kommt echte Schadenfreude auf. Ich scheiß’ mich noch ein vor lauter Begeisterung. Hähähäh!“ Noch heute Abend würde er das Videofilmchen auf YouTube stellen und später in seiner Facebook-Chronik teilen.

Phuket und die kleine Thai Mieze mussten wohl noch ein bisschen auf den heißen Italiano warten. Letzterer hatte jetzt mehr als genug Feuer, sprich Nesselgift, intus.

Phuket. Das war einmal, wie Henri sehr wohl von früher wusste, ein wahres Paradies gewesen, in den 1970er und 1980er Jahren. Mittlerweile hatte Scaramanga, der Gegenspieler von James Bond, seinen goldenen Colt dort längst begraben und somit auch die einstige Idylle von Krabi und Pee Pee Islands. Scheiß Patong Beach mit seiner verruchten Szene und den geldgeilen Bierbarschlampen! Der Badeort war mittlerweile fast so abgefuckt wie Pattaya. Alles nur noch auf Abriss. Als er sich in Phuket das letzte Mal vor ungefähr zwei Jahren für drei Tage aufgehalten hatte, hatte er von einem Restaurant aus einen thailändischen Touristenbus vorbeifahren gesehen. ‘Land of Smile’ stand mit riesigen Lettern drauf. Der Slogan konnte ihm nur noch ein müdes Lächeln abringen. Dieser Bus hielt schon lange nicht mehr in diesem Land.

Früher war das Lächeln der meisten Einheimischen an den Touristenorten mehr oder weniger echt gewesen. Heutzutage hingegen war es nur noch erzwungen, aufgesetzt. Ein Lächeln, das wie eine Maske aus einem chinesischen Theater wirkte. Sie schienen es ja alle nicht mehr nötig zu haben, denn der Farang’sche Massentourist gehörte schon längst zur Tages- und Nachtordnung; das ganze Jahr über. Auf eine undefinierbare Art und Weise merkte man es den Thais an, dass sie nie derart gelitten hatten wie die Bevölkerung hierzulande in Kambodscha oder die in Vietnam, Laos, Myanmar. Ja, im Vergleich zu den Letzteren waren die Thais geradezu verwöhnt. Es lag bereits eine Ewigkeit zurück, seit sie den letzten richtigen Krieg geführt hatten. Sie hatten nie das Inferno der Roten Khmer erlebt. Und es würde wohl keine zwei Generationen mehr dauern, bis der größte Teil der jungen Bevölkerung vollkommen verwestlicht war. Das ehemalige Siam war endgültig passé. Was war heutzutage noch ‘Amazing’ an Thailand? Vielleicht die siebzehn Millionen Touristen jährlich (in diesem Jahr würden es sogar bis zu dreißig sein)? Die Langstreckenflüge in den mit Passagieren vollgestopften Fliegern wurden von Jahr zu Jahr ohnehin immer strapaziöser. Und dieser von Zehntausenden von Menschen vollgeschissene Flughafen Suvarnabhumi in Bangkok wurde von Jahr zu Jahr weitläufiger und chaotischer. Kein Vergleich mehr zum Don Muang Airport. Nachdem man jeweils die Passkontrolle – vor der man nicht selten noch bis zu vierzig Minuten Wartezeit in Kauf nehmen musste – und die Personenkontrolle passiert hatte, sollte man am besten die Wanderschuhe anziehen, weil man dann das zweifelhafte Vergnügen hatte, einen endlos langen Weg bis zum entsprechenden Abflug Gate zu marschieren, damit die zahlreichen Duty Free Shops umsatzmäßig auch ja nicht zu kurz kamen. Die Zigaretten wurden dort tonnenweise angeboten und verkauft, aber die Smoking-Lounges konnte man praktisch an einer Hand abzählen, wobei diese kilometerweit voneinander entfernt lagen. In der Hauptstadt Thailands herrschte praktisch in jedem Hotel Rauchverbot in den Zimmern, selbst in den billigsten, miesesten Herbergen. Das alles in einer der schlimmsten smogverpesteten urbanen Dreckschleudern, die auf dieser Welt existierte. Noch weitaus schlimmer als Paris, Henris Heimatstadt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man Rauchverbote auch an den Stränden sowie in den Bars verhängte.

Er hatte Bangkok schon immer gehasst, bereits als er das erste Mal in den Siebzigern thailändischen Boden betreten hatte. Allein der Verkehr in der Stadt der Engel war eine einzige Katastrophe. Und in diesem Land herrschten seit geraumer Zeit äußerst gefährliche Zustände, welche sich von Woche zu Woche nur noch verschlimmerten; vor allem in der Hauptstadt. Militär-Putsch, Demonstrationen, die in Gewalt und Tod ausarteten und nicht zuletzt die kürzlichen Bombenanschläge. Die Militärjunta hatte inzwischen die Macht übernommen. In vielen Regionen des Landes war vor Kurzem eine Ausgangssperre zwischen 22.00 und 5.00 Uhr verhängt worden. Die Touristen mussten sich jetzt warm anziehen, trotz der tropischen Hitze. Ja, da verging einem gründlich der siamesische Müßiggang! Und mal ganz zu schweigen von den zahlreichen buddhistischen Feiertagen, an denen öffentlich kein Alkohol ausgeschenkt und verkauft werden durfte. Und was das einst so schillernde Nachtleben anbetraf, selbst ohne Ausgangssperre: Um Mitternacht und spätestens um zwei Uhr in der Früh war es bereits zappenduster; dann hatten praktisch alle Restaurants und Lokale dichtgemacht. Da konnte man seine beschissenen Ferien doch genauso gut in arabischen Ländern verbringen, mit ihren Attentaten, Bombenanschlägen, Vorschriften und Verboten. Oder man blieb am besten gleich zu Hause in Paris, nur hagelte es ja dort von Zeit zu Zeit ebenfalls Bomben sowie Kugeln, wie erst kürzlich geschehen. Die thailändische Regierung förderte neuerdings den seriösen Öko- und Familientourismus; es ging darum, den Sextourismus einzudämmen. Ein sauberes Siam für die Zukunft sollte nun entstehen! Dabei verdiente man an der landesweiten Prostitution seit Jahrhunderten Milliarden von Dollar. Doch das würde in der Zukunft wohl auch nicht anders sein. Und dann diese komischen, sprich komplizierten, Aufenthalts- und Visabestimmungen. Hier in Kambodscha erhielt man für zweihundertfünfzig Dollar problemlos ein Jahresvisum. Basta!

Er schwor sich, das nächste Mal mit den Singapore Airlines hierher nach Kambodscha zu fliegen, mit Stopover in Singapur, und von dort aus direkt nach Phnom Penh.

Thailand? Dieses Land konnte ihm gestohlen bleiben; oder dort bleiben, wo der Pfeffer wächst. Jedes Arschloch reiste heutzutage dorthin.

Apropos Arschloch:

Henri hatte sich am Tag zuvor mit diesem Fabio verkracht. Vor knapp einer Woche hatte er den Italiener aus Mailand eines Abends an der Bar vom Hotel Aqua Resort getroffen, nicht weit vom Ochheuteal Beach. Beide logierten im selben Hotel und pflegten sich in Englisch zu unterhalten. Als Henri an jenem Abend an der Hotelbar Fabio erzählte, dass er die Börsenkurse am TV verfolge, fing der Italiener hämisch an zu lachen:

„Hahaha. Die Kurse auf dem laufenden Band sind doch nie aktuell. Die Kurse auf dem Ticker haben eine Verzögerung von ungefähr fünfzehn Minuten. Und in dieser kurzen Zeit kann an der Börse viel passieren. Wenn du wirklich auf dem Laufenden sein willst, musst du über eine entsprechende on-line Trading-Plattform verfügen. Capito?“

„Ich weiß, aber im Internet benutze ich nur YouTube, Facebook und Skype.“

„Mit diesen Portalen kannst du aber an der Aktienbörse keinen Blumentopf gewinnen. Glaub mir, denn ich war früher selber jahrelang Trader“, belehrte ihn Fabio.

Henri winkte ab: „Ach was, ich habe mit Google Aktien schon beträchtliche Gewinne eingefahren. Außerdem handle ich auch mit Future Kontrakten, momentan im Goldmarkt.“

„Über welchen Broker handelst du denn?“, wollte der Italiener wissen.

„Mit einer Brokerfirma in Siem Reap, hier in Kambodscha“, antwortete der Franzose.

Fabio fing wieder an zu lachen und zeigte dabei seine perlweißen Beißerchen. „Hahaha! Wie bist du denn auf diese Brokerbude gestoßen, hier im Fernen Osten?“

„Als ich im Januar dieses Jahres das letzte Mal hier in Kambodscha war, sah ich ein Inserat in der Phnom Penh Guide. Ich hab mir zuerst die bildgewaltige und sehr übersichtliche Homepage angesehen, dann die Firma kontaktiert, und die rieten mir, gleich ein Brokerkonto zu eröffnen und in den momentan lukrativen Goldmarkt einzusteigen“, erklärte Henri.

„Mit einer eindrucksvoll gestalteten Homepage kann heutzutage jeder dahergelaufene Hobbytrader einen guten Eindruck schinden; das besagt so gut wie gar nichts. Und ehrlich gesagt, von einem richtigen Rohstoffbroker in Kambodscha oder in ganz Südostasien habe ich bisher auch noch nie etwas gehört. Ich denke, du stehst eher mit einem Vermittler in Kontakt. Wie viel Kommission zahlst du denn dort für den einzelnen Kontrakt?“

„Hundertfünfundzwanzig Dollar Round-Turn.“

Fabio stieß einen Pfeiflaut aus.

„Na siehst du! Also DOCH ein Vermittler. Bei einem lizenzierten Broker würdest du niemals so viel für einen Kontrakt bezahlen; höchstens um die zwölf Dollar. Dieser Vermittler platziert lediglich deine Positionen über einen Broker, entweder in England oder in den USA. Diese Vermittler oder Consultingfirmen verdienen selbst einen Haufen Geld an ihren Kunden anhand deren Kommissionen, die sie einheimsen. Am Anfang lassen sie dich ein bisschen gewinnen, damit du quasi auf den Geschmack kommst, eben Blut geleckt hast. Danach überreden sie dich, einen weiteren Betrag auf dein Konto zu überweisen. Mit Sprüchen wie: ‘Wir haben jetzt einen super Markt’ machen sie dich erst richtig geldgeil. Irgendwann, wenn dein Konto fast auf null ist, und um deine Verluste wettzumachen, zahlst du nochmals auf dein Konto ein. Reinstes Kasino. Da kannst du genauso gut Roulette spielen.“

„Quatsch! Ich habe die Kontrolle. Schließlich läuft das Konto auf meinen Namen.“

„Ja sicher, aber du hast keine Kontrolle über den Markt. Niemand hat das. Wenn du selber über eine Plattform handelst, könntest du deine Positionen wenigstens selbst beobachten und verfolgen, somit das Risiko auf ein Minimum reduzieren, müsstest erst noch viel weniger Spesen bezahlen und am Anfang mit nur kleineren Beträgen in den Markt einsteigen, dein eingesetztes Kapital abziehen und mit dem Gewinn weitermachen, oder umgekehrt“, riet Fabio.

„Ich arbeite immer mit Stopp-Loss-Order wie bei den Aktien.“

„Was für ein Stopp wird bei dir denn im Goldmarkt eingesetzt?“

„Einen 20-Dollar-Punktestopp.“

„Okay. Nur ist der Stopp-Loss zwecklos, wenn der Markt mal einbricht. Außerdem läufst du noch Gefahr, nachschusspflichtig zu werden, wenn dein Konto nicht mehr gedeckt ist. Aber das hat dir dein ‘kambodschanischer Broker’ bestimmt nicht gesagt oder wie hoch die verschiedenen Margen in den betreffenden Märkten sind, stimmt’s? Du hast wirklich keine Ahnung. Aus welchem Land stammt der Vermittler denn überhaupt? Es dürfte wohl kaum ein Einheimischer sein.“

„Ursprünglich aus Bulgarien.“

„Porco Dio! Das sind bekanntlich die gnadenlosesten Abzocker. Na, dann noch weiterhin viel Erfolg.“

„Ach hör doch auf. Ich weiß schon selbst, was ich mit meinem Geld mache, Mann!“, brauste Henri auf.

„Langfristig verlieren die meisten. Ich habe mehr als genug Erfahrung. Diese dubiose Ostblockfirma zockt dich doch nur ab. Aber vertrau nur weiterhin diesen falschen Fuffzigern, es ist ja dein Geld“, meinte Fabio gleichgültig.

Henris gute Laune war an diesem Abend dahin. Dieser selbstgefällige Klugscheißer und Lackaffe aus Milano, was wusste der denn schon!

Am Nachmittag, es war der Tag vor Fabios heißer Begegnung mit der Qualle im Meer, hatten sich die beiden erneut an der Hotelbar getroffen. Der Italiener strahlte förmlich vor Freude über sein gelungenes Geschäft mit dem Russen.

„Übermorgen geht’s wieder zurück. Meine kleine, süße Toy holt mich bei meiner Ankunft am Flughafen von Phuket ab. Meine treue Lotusblume. Mi Amore!“

„Ja, ja. Schwärm du nur“, bemerkte Henri gehässig.

„Das magst du mir wohl nicht gönnen, was?“, wunderte sich Fabio.

„Aber natürlich. Mit fünfzig war ich auch mal so blauäugig wie du. Aber das war vor fast zwanzig Jahren. Auch einmal als Bierbarbesitzer, zusammen mit einer siamesischen, ehemaligen Barfliege in Pattaya. Und mit der Szene in Phuket habe ich ebenso meine Erfahrungen“, wusste der Franzose zu berichten.

„Meine Toy arbeitet nicht in einer Bierbar. Die ist absolut seriös. Sie besitzt zusammen mit ihrer älteren Schwester einen Thai-Massage Salon, traditionelle Thai Massage, also kein Body-to-Body-Service mit ‘Happy End’, capito? Und nicht am Patong Beach, sondern außerhalb in einer nahegelegenen Provinz. Sie geht mit mir zusammen sowieso nie ins Rotlichtmilieu.“

„Dafür wird sie schon ihre Gründe haben“, brummte Henri wissend und nahm einen Schluck aus seiner San Miguel-Bierflasche.

Fabio bedachte den Franzosen mit einem finsteren Blick: „Wie meinst du das?“

„Na ja, vielleicht hast du ja Glück mit deiner Lotusblume aus Phuket. Aber das mit ‘seriös’ kommt mir nur allzu bekannt vor. ‘Seriös’ und ‘unseriös’ überschneiden sich. Du bist bestimmt fast dreißig Jahre älter als sie. Wenn es nicht deine Kohle ist, dann nenne mir nur einen einzigen Grund, WARUM sie wohl mit dir zusammen ist. Vielleicht, weil du etwas Besonderes bist? Sorry, aber wie ein Adonis siehst du auch nicht gerade aus. Auch bist du nicht George Clooney oder Brad Pitt. Du bist also alles andere als ein Ladykiller, sondern nur ein ausländischer Kunde, ein Tourist, ein Farang, ein ‘Customer’ eben, und du kannst sicher nicht mal Thai sprechen. Das heißt, du verstehst sicherlich kaum ein Wort, wenn deine Freundin zusammen mit ihren Verwandten, Freunden und anderen Einheimischen über dich tuschelt, während sie dir immer wieder zwischendurch zulächelt. Weißt du, im Land des Lächelns sind die Frauen verdammt raffiniert. Die sind genauso verschlagen und undurchschaubar wie die Russenweiber. Du besitzt keinen blassen Schimmer, was deine Kleine jeweils während deiner Abwesenheit in ihrer Heimat treibt. Diese Frauen wissen, wie man sich organisiert. Das ist bei den zweibeinigen Khmer Katzen hierzulande nicht anders. Im vorigen Monat war’s vielleicht ein Engländer, in diesem Monat du, und im nächsten Monat ist’s womöglich ein Deutscher oder auch ein Landsmann von dir. Also neben dir existiert immer noch ein zweiter, ein dritter oder sogar ein vierter Sugardaddy. Sie erzählen jedem Kunden denselben Schmarrn. Natürlich laden sie dich auch nach Hause ein, in die Provinz. In den Kreis ihrer Familie. Diese versichert dir, du wärst der erste und der einzige Farang auf Besuch, um einen Eindruck von Seriosität zu erwecken. In Wahrheit geht’ s nur ums Geld. Um DEIN Geld. Und wie willst du wissen, ob sie nicht noch einen jungen thailändischen Boyfriend hat, den sie mit dem Geld von ihren Farangs finanziert? Ist alles schon da gewesen ...“

Fabios gute Laune war spätestens jetzt verflogen.

„Ich habe ihr noch nie Geld geschickt oder gegeben wie die meisten anderen dummen Westler. Meine Verlobte sagt immer: ‘I don’t want your money’ ...“

„Hähähä! Mon Dieu! Das sagen ALLE. Das ist ihre Masche. Das ist genau derselbe ausgeleierte Spruch wie: ‘Thai Männer sind alle schlecht. Ich will nie mehr einen Thai Mann.’ Unterhalten aber in den meisten Fällen einen einheimischen, jungen Lover. Einer der typischen Standardsprüche, den sie ebenso draufhaben, ist: ‘Ich arbeite erst seit einer Woche an der Bar.’ Damit sie eben keinen verdorbenen Eindruck erwecken. Dabei schaffen sie schon jahrelang an. Ich kenne alle diese abgewichsten Storys, die ganze Palette in- und auswendig. Diese Frauen können sehr überzeugende Geschichten erzählen und wissen eben nur zu gut, wie sie ihre ausländischen Liebeskasper an der Stange halten ... Apropos ‘Liebeskasper’: Jean-Pierre, ein sechsundfünfzigjähriger Landsmann und alter Freund besuchte vor etwa eineinhalb Jahren das erste Mal Kambodscha, verknallt sich in Phnom Penh gleich in eine Barschnalle, die mehr als dreißig Jahre jünger ist als er und so gut, wie kein Englisch beherrscht. Sie ist genauso faul, eine Fremdsprache zu erlernen, wie er zu faul ist, ihre Landessprache zu erlernen. Das prachtvolle Pärchen kann sich also nicht mal richtig unterhalten. Im Bett läuft anscheinend auch nicht gerade viel. Also, was haben die beiden schon gemeinsam? Sie hatte übrigens seit einigen Jahren eine Liaison mit einem jungen Khmer Mann, mit dem sie dann Schluss gemacht hat; angeblich ... Den leidenschaftlichen Sex spart sie sich wahrscheinlich für ihren echten Freund auf. Dass sie kurz vor Jean-Pierres erstem Rückflug in seine Heimat auf dem Flughafen Tränen vergossen hat, war für ihn bereits Beweis genug, dass sie ihn aufrichtig liebt ... Nun denn, bereits nach einem Monat entschloss er sich, sie zu heiraten. Ich habe ihn ausdrücklich davor gewarnt. Er jedoch spürte seinen zweiten Frühling. Dabei ist ihm wohl der Verstand in die Lenden gerutscht. Er wurde sehr wütend. Kein Wunder: Aus dem ehemaligen intellektuellen, scharfsinnigen und kreativen Gesellen war ein naiver, hoffnungslos verblendeter Spätpubertierender geworden! Aber Champy, wie ich ihn immer zu nennen pflege, ist eben ein ganz Schneller: Bevor er das erste Mal nach Phnom Penh gekommen war, hatte er eine Woche in einem Luxushotel in Phuket verbracht und dort eine thailändische Masseuse kennengelernt, und mit der hatte er sich doch tatsächlich schon fast verlobt! ‘Endlich habe ich mein Frauchen gefunden. Wir sind uns so nah; vor allem geistig ... Ja, das ist die Frau meines Lebens’, hatte er mir noch schwärmerisch in einer Mail geschrieben. Ich dachte, mich laust der Affe! Und der besagte Affe war eben kein anderer als mein langjähriger Freund. Und wäre er länger in Thailand geblieben, wäre jene Masseuse aus Phuket sicherlich seine Zukünftige gewesen. Nun, kaum zurück aus Kambodscha und wieder in Frankreich, verschuldete er sich noch mehr, pumpte Freunde an, die selber kaum Geld besitzen, um die notwendigen Heiratspapiere zu beschaffen, hängte seine gut bezahlte Stelle als Musiklehrer kurzerhand an den Nagel, um alle paar Wochen hierher nach Kambodscha zu fliegen und die ärmliche Familie seiner Verlobten finanziell zu unterstützen. Eines schönen Tages kam er auf die glorreiche Idee, sich seine Pensionskasse in Höhe von hunderttausend Euro auszahlen zu lassen. Danach investierte er sogleich einen Haufen Geld als Teilhaber in die marode türkische GmbH eines guten Freundes. Champy malte sich schon seine Zukunft aus als Geschäftsführer eines Callcenters in Phnom Penh aus, dass er dort mit seinem Partner zu eröffnen gedachte. Doch der Partner und ‘gute Freund’ zog ihn über den Tisch und seine Callcenter Firma in Istanbul machte schon nach wenigen Monaten Pleite. Aber in seiner Facebook-Chronik präsentierte sich der inzwischen glatzköpfige Champy stolz wie ein erhabener, weiser, buddhistischer Mönch und postete dauernd pseudo-philosophische Sprüche von Dalai-Lama und Joseph Murphy oder mit beseeltem Schmuseblick und riesigen Plüsch- und Kuscheltierchen im Arm. Ich fragte mich: Wer auf dem Foto ist jetzt der menschliche und wer ist der plüschene Popanz? Auf einem Bild streckte er provozierend die Zunge raus: Damit demonstrierte er, dass er bald in seine neue Heimat einwandern würde, wobei ihm seine alte Heimat sowie der Rest der westlichen Welt am Arsch lecken konnte! Die, die ihn nicht verstanden oder kritisierten, nannte er verächtlich ‘Fake Friends’; die sollten alle gefälligst aus seinem Leben verschwinden! Dabei erkannte er dennoch seine wahren falschen, parasitären Freunde nicht. Anstatt zu arbeiten und Geld zu verdienen, vertrödelte er, der übrigens unter ständigem ‘Burn-out’ leidet, lieber seine Zeit in Frankreich mit Songwriting, Esoterik-Kursen, Krafttraining, Privatstunden bei einem Karate-Lehrer und dem Legen von Tarotkarten. Er ist auch felsenfest davon überzeugt, dass sein Name – eben Jean-Pierre – im Buddhistischen ‘Lotusblume’ bedeutet. Sein stetes Motto: Man muss nur positiv denken! Alles ist mental und spirituell! Nur bezieht sich bekanntlich Letzteres nicht auf das Geld: Denn fast ein Jahr lang reiste er regelmäßig, im Schnitt alle sechs Wochen, hierher, kaufte seiner Verlobten ein neues Motorrad, leistete sich eine übertriebene, überteuerte, traditionelle kambodschanische Hochzeit mit all den Zeremonien und dem ganzen dazugehörigen Brimborium, verbrachte den Honeymoon auf Bali, flog fast jedes Mal, wenn er in Kambodscha war, mit seiner jungen Frau nach Phuket, logierte dort mit ihr in Luxushotels mit Swimmingpool. Ein äußerst kostspieliger, müßiggängerischer zweiter Frühling, der sich langsam aber sicher dem Ende zuneigt: Denn er besitzt heute, wie ich vor Kurzem erfahren habe, nur noch einen Bruchteil seines Pensionskassengeldes. Er hat schon seit drei Monaten keinen Flug mehr nach Kambodscha gebucht. Denn dort müsste er jetzt nämlich vorliebnehmen mit Übernachtungen in verkommenen, stinkenden Hinterhofherbergen voller Kakerlaken und mottenzerfressenen Vorhängen und dazu mit Mahlzeiten wie verkochtem, abgestandenem Reis mit Fischköpfen oder Krevettenschwänzen. Dafür malocht er nun in Paris selbst in einem beschissenen Call Center, in dem er für einen miesen Stundenlohn den Leuten am Telefon Abonnements für Schmierblätter, Sprays gegen Matratzenmilben und anderen Müll andreht, während seine junge Frau bereits wieder in derselben Bar anschafft, wo er sie damals kennenlernte. Natürlich bindet sie ihm das nicht auf die Nase, genauso wenig wie ich ihm. Tja, manchmal endet alles wieder dort, wo es angefangen hat. Letzte Woche habe ich die Double-Deuce-Bar, wo sie arbeitet, besucht. Für dreißig Dollar wollte sie mit mir ins Hotel, aber ich lehnte dankend ab.“

Fabio schüttelte gelangweilt den Kopf und meinte: „Weshalb erzählst du mir das alles? Was hat die Geschichte von diesem alternden, schwanzgesteuerten Schwachkopf mit mir zu tun? Und so etwas könnte mir sowieso nie passieren. Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“

„Ach wirklich? Die, die denken, sie seien die Schlausten, sind am Schluss meistens die Dümmsten. Das gilt nicht nur hier für Kambodscha, sondern vor allem für Thailand; ein Paradies für Sextouristennarren, wie du nur einer von vielen bist.“

„Ich bin KEIN Sextourist! Und ich habe dir doch bereits vorhin gesagt: Toy arbeitet NICHT in einer Bar!“, brauste Fabio jetzt auf.

„Ich glaub’ dir’s ja, Mann. Aber wie gesagt, das heißt noch gar nichts. Übrigens habe ich einen Bekannten, auch einen Franzosen, der lebt bereits seit vier Jahren in Phnom Penh, ist mit einer ehemaligen Barlady verheiratet, führt mit ihr zusammen in der Stadt ein Khmer-French Restaurant, und er hätte sich wirklich keine bessere Ehefrau wünschen können: Sie ist eine vorbildliche Mutter von zwei Kindern. Sie spricht zudem hervorragend Französisch ... Wo und wie hast du denn deine Toy kennengelernt?“, wollte Henri wissen.

„An keiner Bar, sondern an einem Strand der Pee Pee Islands. Das war vor mehr als vier Jahren. Sie arbeitete damals dort als Masseuse.“

„Ist ja interessant! Und wie ist sie mit ihrer Schwester zu diesem Massage-Shop gekommen?“

„Sie hatten jahrelang zusammen gespart, was denn sonst“, erklärte Fabio.

„Das hat sie dir natürlich erzählt, aber was sie dir sicher nicht erzählt hat, ist, dass ihnen beim Sparen ganz bestimmt jemand unter die Arme gegriffen hat. Und dieser jemand war sicherlich kein Einheimischer, denn sonst wäre sie wohl kaum mit dir zusammen. Möglicherweise hat kein anderer als DU ihnen den Laden finanziert“, spitzte Henri.

„Für dich sind die meisten Thaifrauen Huren, was!?“

„Red doch keinen Quatsch! Du hast mir vorhin nicht genau zugehört. Und überhaupt hat das Ganze nichts mit der Nationalität zu tun, denn wäre deine Verlobte eine junge Frau in deiner italienischen Heimat, müsstest du diese ebenso finanzieren. Aber Tatsache ist und bleibt: Eine wirklich seriöse Thai lässt sich nicht mit einem Farang ein. Die Thais sind halt immer noch streng verhaftet in ihrem Kastendenken, das in allen gesellschaftlichen Schichten vertreten ist. Sicher, es gibt Ausnahmen, aber die sind wahrlich dünn gesät.“

„Toy kann auf ihren eigenen Füßen stehen. Sie ist sehr bescheiden.“

„Wer’s glaubt, wird selig. Sie wird mit ihren Wünschen schon nicht ewig hinterm Berg halten. Irgendwann wird sie dir ihre Rechnung präsentieren, genauso wie ihre Familie. Die sind alle piepengeil. Das wirst du spätestens dann zu spüren bekommen, wenn’s ums Brautgeld geht. Das dürfte für dich als Farang ziemlich hoch ausfallen. Dann ist da noch die Schwester, der Bruder, der Neffe und so weiter ... Du heiratest schließlich nicht nur eine Frau, sondern eine ganze SIPPE. Und, du BEZAHLST auch für eine ganze Sippe. Das nennt man ‘Familienanschluss’ hier in Südostasien“, wusste Henri.

„Wenn ich mit meiner Frau verheiratet bin und in ihrem Dorf auch wohne, kann ich ihr und der Familie jederzeit auf die Finger schauen. Und wer zahlt, der befiehlt auch.“

„Stimmt, aber das bezieht sich nicht auf Farangs, wie du einer bist. Denn was die Beziehung mit Fremden betrifft, da täuschst du dich gewaltig. Du kennst die thailändische Mentalität, ihre Hintergründe und Methoden nicht. Die sind mit allen Wassern gewaschen. Sie schmieren dir ständig Honig ums Maul und um den Schwanz und das nicht zu knapp. Sie verstehen es, in einem westlichen Mann Gefühle zu erwecken, dass er sich wie im Paradies vorkommt. Dabei servieren sie ihm die Hölle schön auf dem Silbertablett. Und wenn er dies bemerkt, ist es schon zu spät. Selbst wenn diese Frauen mit der westlichen Mentalität bereits vertraut sind: Der Mann, ob Einheimischer oder Farang, kommt bei ihnen erst an dritter Stelle, die zweite nehmen ihre eigenen Kinder ein. Aber an allererster Stelle kommt immer ihre Familie. Das ist nun mal eine unumstößliche Tatsache, an der man nicht vorbeikommt. Sie leben in einer ausgeprägten familiären Hierarchie. Du darfst nicht vergessen, dass die Frauen hier in Südostasien ständig dem Druck ihrer teils verschuldeten Familien ausgesetzt sind und der kann erbarmungslos sein. Selbst eine sogenannte „Seriöse“ mit überdurchschnittlichem Gehalt wird von ihren Familienmitgliedern immer wieder bedrängt, was die finanziellen Angelegenheiten anbetrifft. Ich habe Typen wie dich gekannt, die haben in deinem gelobten Thailand ganze Häuser verloren und das nicht nur an Barfrauen oder Dirnen. Häuser, die sie voll und ganz finanziert, die ihnen jedoch niemals gehört haben. Einundfünfzig Prozent bedeuten für die einheimischen Frauen immer ‘Hundertprozent’ und die restlichen neunundvierzig Prozent bedeuten für den Farang: neunundvierzig Prozent von NICHTS! Ein deutscher Bekannter von mir war mal mit einer thailändischen Hotelmanagerin verheiratet ...“

„Ach komm, hör mal auf mit deinen öden Räubergeschichten!“, fiel ihm Fabio ins Wort. Doch Henri erklärte weiter:

„Du willst die Wahrheit nicht erkennen. Ich habe schon viele wie dich in Thailand angetroffen, die dort alles verloren haben, wie ich selbst einmal. Lies mal die regionalen Nachrichten: In Phuket sowie in Pattaya passieren deswegen wöchentlich Selbstmorde, alle begangen von Farangs. Klar, die europäische Mainstreampresse verschweigt diese Tatsachen; diese Schmieranten schreiben seit Jahrzehnten andauernd über Sextourismus, als ob der in keinem anderen Land existieren würde. Aber wie dem auch sei, du wirst in deinem siamesischen Paradies noch so manche dunkle Stunde erleben, mon ami“, prophezeite Henri.

Der Italiener hatte jetzt sichtlich Mühe, sein wütendes Temperament zu zügeln: „Was du nicht sagst, du Hellseher. Und dein ‘Ami’ bin ich auch nicht. Nur weil du mal in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit diesen Frauen gemacht hast, bedeutet das noch lange nicht, dass dies auch auf mich zutrifft. Du warst damals halt blauäugig. Und jetzt bist du frustriert und zugleich neidisch.“

„Kann durchaus sein. Aber du denkst, du bist ein Oberschlauer, dabei bist du genauso blauäugig wie ich damals.“

„Stronzo!“, fluchte Fabio, warf einen Fünfdollar-Schein für seinen Drink auf die Bartheke und stand auf.

Henri ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen: „Kein Grund gleich persönlich zu werden. Du bist der große Börsenfachmann und ich eben der Fachmann für asiatische Weiber. Hat nicht Hemingway einmal bemerkt, wenn ein Mann ein fremdes Land kennenlernen will, muss er auch die Frauen kennenlernen? Du scheinst die thailändischen Frauen nicht zu kennen, abgesehen von Prostituierten, also kennst du auch das Land nicht. Du bist und bleibst halt ein ewiger Farang.“

„Meine Toy ist KEINE Prostituierte! Und den Hemingway kannst du dir in deinen feisten, verschrumpelten ‘culo’ oder sonst wohin stecken. Am liebsten würde ich dir deine Fresse einschlagen. Du bist doch nichts anderes als ein alter, ausgelaugter, übersättigter französischer Sextourist. Thailand kann dir sexuell nichts mehr bieten. Bekanntlich landen alle deines Schlages, eben die Abgefuckten, hier in Kambodscha. Bestimmt fickst du jetzt zwölfjährige Mädchen, oder noch jüngere ... wer weiß, vielleicht sogar Knaben“, bemerkte Fabio wütend.

„Das könnte ich auch in Thailand, wenn ich das wollte. Aber da liegst du völlig falsch mit deiner Vermutung. Ich stehe nicht aufs Kinderficken. Das ist sowieso abartig. Ich hege keine pädophilen Neigungen. Ich bin auch kein Kinderpornofilmproduzent. Ich hasse Kinder, allein darum könnten sie mich nie erregen. Weißt du, was der Unterschied zwischen dir und mir ist? Dass alles, was du noch vor dir hast, ich schon längst hinter mir habe. Du wirst eines schönen Tages schon noch dahinterkommen. In der Zwischenzeit grüß mir das verlorene und durch und durch verdorbene Paradies Phuket. Good Luck. Ciao Fabio.“

„Vaffanculo! Stronzo!“, rief der Italiener, drehte sich um und war schon dabei, sich zu entfernen.

„Ein Arschloch arbeitet wenigstens jeden Tag, in der Regel. Im Gegensatz zu dir, denn du bist nur der Inhalt!“, entgegnete Henri ihm schlagfertig, während er geräuschvoll einen fahren ließ.

„Und du ein alter, vollgefressener Mops, der ständig pupst. Es stinkt grässlich. Dein Gestank passt perfekt zu diesem Land. Kein Wunder, dass so viele Einheimische hier diese weißen Gesichtsbinden tragen, die Nase und Mund abdecken.“

„Diese Gesichtsbinden werden auch in anderen asiatischen Ländern getragen. Aber ... dann frage ich mich: Wieso bist du denn überhaupt hier in Kambodscha? Um Maulaffen feilzuhalten?“

„Das geht dich gar nichts an. Wie ich inzwischen festgestellt habe, ist die Bevölkerung hier in diesem Land strohdumm. Die leben hier ja alle sowieso noch hinterm Mond. Die sind nicht fähig, eine echte Dollarnote von einer falschen zu unterscheiden. Die meisten Leute hierzulande können nicht mal Englisch sprechen. Keine Bildung. Das sind alles Analphabeten. Die haben keine richtige Kultur. Die wissen gar nichts.“

Nun geriet auch Henri in Wut: „DU weißt nichts, du kleiner faschistischer Farang aus Milano. Wer kann denn die Khmerschrift schreiben und lesen, du oder die Kambodschaner? Hast wohl früher in deiner Schule den Geschichtsunterricht geschwänzt, was? Denn wenn nicht, dann wüsstest du nämlich etwas über die leidvolle Geschichte dieses Landes. Wären die Roten Khmer damals nicht an die Macht gekommen und hätten sie nicht fast alles zerstört mit ihrem grausamen Völkermord, würde es hierzulande wirtschaftlich auch viel fortschrittlicher aussehen, wohl so ähnlich wie heutzutage in deinem über alles geliebten Thailand. Die Khmer und die Thais besitzen mehr Kultur als du jemals haben wirst. Du bist nur ein einfältiger, naiver Bierbarhocker mit einer großen Schnauze und ein wenig Geld in der Tasche! Genauso wie mein ehemaliger Freund Champy, von dem ich dir vorhin erzählt habe. Du hasst Kambodscha, ein Land, dass du nicht kennen willst, aber das ist an und für sich kein Problem. Du liebst Thailand, ein Land, das du ebenso nicht kennst, und genau DAS ist dein Problem!“

„Was du nicht sagst, du Westentaschenphilosoph!“, konterte Fabio.

„So, und was weißt denn DU über die Geschichte von Thailand? ... Wer war zum Beispiel Rama V, was hat er alles für sein Land getan? ... Aus welchem Nachbarland stammten die Krieger, die einst fast ganz Ayuttaya zerstörten?“

„Na sieh mal einer an: der alte, senile und pädophile Sextourist aus Paris scheint ja eine richtige Intelligenzbestie zu sein, erteilt jetzt kostenlos Geschichtsunterricht. Du solltest hier in Kambodscha als Geschichtslehrer tätig sein, aber nicht in einer Schule, das wäre zu gefährlich für die Kinder, sondern am besten in einem Bordell.“