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Pia Recht

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Beschreibung

Ruby ist vierundzwanzig Jahre alt, lebt in einer Kleinstadt in Neu-England und jobbt hinter dem Ticketschalter des Busbahnhofs. Sie lernt Niall kennen, der in einem Eisbärenkostüm und mit Gipsbein in ihr Leben stolpert. Dass Niall ein Geheimnis mit sich herumträgt, wird Ruby schnell klar. Sie finden zusammen und durch Niall begreift sie, dass sie sich endlich ihren eigenen Problemen stellen muss. Gemeinsam machen sich auf die Reise nach Boston und wie es dort weitergehen wird, weiß keiner von Beiden.

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Veröffentlichungsjahr: 2013

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Pia Recht

Ruby und Niall

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

RUBY UND NIALLEinhundertdreizehn!

Seit Ruby am Ticketschalter des Busbahnhofs arbeitete, verging kein Tag, an dem sie sich nicht wünschte, wieder woanders zu sein. In einem anderen Job und in einem anderen Leben. Ihre bevorzugte Schicht war von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends, weil sie dann nicht früh aufstehen musste, es nach der Arbeit aber noch nicht zu spät war, um für ein Bier in die nächste Bar zu wandern. Manchmal tauschte sie die Schicht, aber das geschah selten. Sie kannte die Entfernungen zwischen den Ortschaften aus dem Schlaf und auch die Ticketpreise hatte sie im Kopf. Es war in ihrem Job die einzige Herausforderung, die sich bot. An manchen Abenden war so wenig zu tun, besonders wenn keine Touristen mehr unterwegs waren, dass sie in aller Ruhe ihre Bücher und Zeitschriften lesen, oder mit ihrer Freundin telefonieren konnte. Die Touristen kamen im Sommer und Spätsommer, sehr selten im Winter, denn Winslow war kein Wintersportzentrum. Schnee genug, aber es fehlte an Bergen. „Ich verkaufe nur Tickets, wenn die Leute darauf brennen, von hier wegzukommen“, sagte Ruby, „an die besonders Glücklichen verkaufe ich Einzeltickets.“ Wenn Ethan um acht Uhr auftauchte, packte sie ihre Sachen ein und ging zu Fuß nach Hause. Ein Auto konnte sie sich nicht leisten, im Sommer fuhr sie mit dem Rad, außerdem war in dieser Kleinstadt alles in erreichbarer Nähe. Es war Ende November, sie hatten viel Schnee, und es war eiskalt. Sie würde sich beeilen, nach Hause zu kommen. Ethan riss die Tür des Schalters auf und rief: „Wie lief’s heute?“ Er trug seine Lima-Strickmütze, mit der er wie ein Idiot aussah, weil sie seine Segelohren betonte. „Hundertdreizehn nach Ongoquit“, sagte Ruby und hielt ihm die Victory-Finger unter die Nase, „das müsst ihr erst mal schlagen.“ Sie hatte die einhundertdreizehn Meilen bereits in der Hitliste eingetragen, die rechts neben ihr an der Wand hing, dort, wo sie kein Kunde sehen konnte. Sie veranstalteten diesen kleinen wöchentlichen Wettbewerb, um die Langeweile zu vertreiben. Wer ein Ticket von Winslow zu einem möglichst weit entfernten Zielort verkaufte, war der Gewinner und bekam am Samstagabend, den sie immer gemeinsam verbrachten, alle Getränke umsonst. Sie waren zu dritt, Ruby Tucker, Ethan Ashdale und Julianne McFarlane, die Dienstälteste unter ihnen. Julianne riefen sie nur „Mom“, obwohl sie kaum fünf Jahre älter war als die Beiden. Aber sie war verheiratet und hatte drei Kinder zu Hause, deshalb brauchte sie die Schicht während der regulären Schulzeiten. Ihr Mann war auf großen Baustellen im ganzen Land unterwegs und nur selten zu Hause. Ethan zog die Mütze von seinem Kopf, präsentierte sein frisch blondiertes Haar und warf seinen Wollmantel in die Ecke. Er wohnte in einer WG mit drei anderen Kerlen zusammen, was Ruby jeden Samstag, wenn sie zusammen saufen gingen, zu der Frage veranlasste, ob er auch schwul sei, aber in den ganzen drei Jahren, seit sie im Busbahnhof arbeitete, hatte Ethan sich jedes Mal um eine Antwort gedrückt. Er rückte einfach nicht damit heraus. Seine Schicht ging nur bis ein Uhr morgens, dann wurde der Schalter geschlossen, pünktlich nachdem der letzte Bus aus Skowhegan angekommen war. Nach ihm kamen nur noch die Putzfrauen von der anderen Seite der Grenze, die schnell durch die Schalterhalle gingen, Boden und Sitzbänke reinigten und Abfalleimer leerten. Früher hätte man in der Schalterhalle übernachten können, in den Zeiten, als diese noch nicht abgeschlossen wurde, aber dort hatten sich Nacht für Nacht die Obdachlosen versammelt und der Stadtrat hatte beschlossen, dem ein Ende zu machen. Sollten sich Touristen hier hin verirren, sollten sie nicht von den Pennern verscheucht werden. Samstags übernahm der Bezirksleiter Richard Golightly den Schalter, und sonntags bekamen Reisende nur einfache Karten direkt bei den Busfahrern. Golightly war Anfang fünfzig und seine Frau war nach zwanzig Jahren Ehe mit einem Sommertouristen aus Florida durchgebrannt. Nach dem ersten Schock hatte er behauptet, er würde sie spätestens nach drei Monaten zurückbringen, weil sie ihm auf die Nerven ging, aber Ethan hatte gemeint, er würde sie eher in Florida den Krokodilen vorwerfen, als die lange Reise auf sich zu nehmen. „Alligatoren“, hatte Ruby korrigiert. Als Chef war Richard Golightly erträglich, er überprüfte die Abrechnungen und achtete darauf, dass niemand hinter dem Schalter rauchte, er hörte sich Beschwerden an, die es nur selten gab und organisierte nette kleine Weihnachtsfeiern. Die samstäglichen Trinkgelage waren ihm ein Dorn im Auge, aber dagegen konnte er nichts tun, denn sie lagen außerhalb der Arbeitszeit. „Wer hat dir das Haar gefärbt?“, fragte Ruby. Sie packte ihr Taschenbuch in die Manteltasche, hüpfte einmal auf der Stelle, um zu hören, ob sie ihr Schlüsselbund eingesteckt hatte. Ethan packte seinen Hintern auf den Bürostuhl, drehte sich einmal um die eigene Achse und erklärte: „Das war der Mexikaner. Er wollte was ausprobieren und ich brauchte einen neuen Haarschnitt. Gefällt’s dir?“ Der Mexikaner war Friseur und hatte offensichtlich kein Vertrauen in die eigene Handwerkskunst. Er probierte alles erst mal an seinen Mitbewohnern aus, bevor er an seinen Kunden herumschnippelte. „Zieh dir die Mütze drüber“, sagte Ruby. Sie winkte zum Abschied, lief durch die menschenleere Vorhalle und über den Busparkplatz. Dort standen noch zwei Überlandbusse, einer nach Bangor und einer nach New Hampshire. Sie winkte zu den Fahrern hinüber. Im 24-Stunden-Supermarkt kaufte sie ein paar Lebensmittel, stand bei den Drogerieartikeln und überlegte, sich Blondierungscreme zu kaufen, um Ethan zu ärgern. Sie würde es vermutlich bereuen, ihr naturrotes Haar zu färben, aber es würde Ethan grün anlaufen lassen. Allerdings konnte er immer noch behaupten „Ich hatte die Farbe zuerst“ und deshalb legte sie die Creme zurück ins Regal. Das Geld legte sie besser in Kaffee an. An der Kasse wartete sie, bis die Schlafmütze von Kassiererin endlich den Schlüssel wieder gefunden hatte, und entdeckte dabei neben dem aktuellen Kinoprogramm in Norway das Plakat einer Kuriositäten-Wanderausstellung. Auf dem Plakat waren die gezeichneten Wunder abgebildet, die es zu sehen gab: verwachsene Tiere, ob tot oder lebendig ging nicht aus den Zeichnungen hervor, extrem große und kleine Menschen, ein Mann, der angeblich Eisenstangen verbiegen konnte, eine Yeti-Frau, angeblich zwei Meter groß und direkt aus dem Himalaya. „Ach du meine Güte“, sagte Ruby. Sie sah genauer hin und dachte, dass die Yeti-Frau mit ihrer Mutter verblüffende Ähnlichkeit hatte. Das ganze Plakat war furchtbar billig und schlecht gemacht, man konnte sehen, wo die schreiend bunten Texte ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren, aber mit Sicherheit drängelten alle Kinder der Umgebung ihre Eltern, sich diese Dinge ansehen zu wollen. Alles gezeichnet, weil die untereinander die Kostüme tauschen, dachte Ruby, und sie kaufen auf den umliegenden Farmen die fünfbeinigen Kälber und Schildkröten mit zwei Köpfen auf. „Ich hab das Plakat zu spät angeklebt“, sagte die Kassiererin. Sie hatte endlich den Schlüssel gefunden, entsperrte die Kasse und tippte Rubys Einkäufe ein, „die sind schon letzte Woche weitergezogen. Der Chef hat’s hier unter den Tisch gelegt, damit ich es aufhänge und ich habs erst heute beim Aufräumen wiedergefunden. Schade, ich wäre mit meinen Jungs hingegangen.“ „Sie hätten was fürs Leben gelernt“, sagte Ruby. Auf dem Weg nach Hause traf sie nur wenige Passanten, eine alte Frau kam ihr entgegen und wie jedes Mal, wurde sie von ihrem nervigen kleinen Köter verbellt. Der Hund hatte eine Stimme wie eine hochgedrehte Kreissäge und trug ein kariertes Hundejäckchen. Ruby lebte noch immer in ihrer Zwischenlösung; ein möbliertes Zimmer im Haus der Olsons. Das Haus lag in der vernachlässigten Ecke von Winslow, aber die Olsons waren nette Leute und ertrugen es mit Geduld, wenn Ruby mit der Miete in Verzug war. Sie waren Bekannte von Richard Golightly und hatten sie auf seinen Vorschlag hin als Mieterin aufgenommen, als sie damals mit einem Koffer und einer dicken Reisetasche in Winslow angekommen war. Ursprünglich hatte sie in Winslow nur eine Fahrkarte kaufen wollen, aber das „Aushilfe gesucht“ Schild hatte sie überredet, für einige Zeit in dem Nest zu bleiben. Richard hatte sich als guter Chef präsentiert, ihr den Job auf Probe gegeben und das Zimmer vermittelt. Er hatte nie gefragt, wo das verheult aussehende rothaarige Mädchen ursprünglich hingewollt hatte. Ihre Eltern waren in New Jersey in einem Wohnwagenpark gelandet und ihre ältere Schwester Helen hatte sich in Boston niedergelassen. Ruby vermied es, die Familie zu oft zu sehen, sie wollte sich nicht mehr als einmal im Jahr anhören müssen, was zum Teufel sie in einem winzigen Kaff in Maine zu suchen hatte. Ruby, die doch immer etwas klüger und in der Schule besser als ihre Schwester gewesen war. Und nun sehe man sich einmal an, was aus Helen geworden war. Sie hatte es zu etwas gebracht in Boston. Und wo Ruby gelandet war, dieses dumme einfältige Ding. Ihre Eltern hatten keinen blassen Schimmer, was Helen in Boston wirklich tat, ebenso wenig, wie sie etwas von Rubys Leben in Winslow wussten. Sie hatte nicht das Bestreben, es richtigzustellen. In Winslow war sie aus dem Überlandbus gestiegen, wie so viele, aber sie war eine der wenigen gewesen, die geblieben waren. Beim Aussteigen hätte sie sich fast der Länge nach hingelegt, weil sie die letzte Stufe übersehen hatte wegen der dunklen Sonnenbrille. Der Fahrer hatte ihr hinterhergerufen, er würde sie auch bis zur Küste mitnehmen, aber sie hatte dankend abgelehnt. Mrs. Olson hieß Annette mit Vornamen, aber gewöhnlich rief Mr. Olson sie „Weib

“, wenn er sie in dem großen Haus suchte. Die beiden hießen in Winslow nur „die Dänen

“, obwohl sie gebürtig aus Maine waren. Die ganze Stadt war voller seltsamer Spitznamen. Rubys Zimmer lag im ersten Stock, mit dem Blick in den Innenhof, ausgestattet mit einer winzigen Küche und einer Toilette. Die Etagendusche war am Ende des Flures. Sie war jeden Abend dankbar, dass es das erste Zimmer direkt an der Treppe war, so musste sie nicht über den ganzen Flur laufen und sich der Gefahr ausliefern, von den anderen Mitbewohnern abgefangen zu werden, wenn sie nach Hause kam. Es war viertel vor elf, als sie nach Hause kam und sie wollte nur noch eine Kleinigkeit essen und ins Bett gehen. In dem dunklen Zimmer warf sie die Einkäufe auf den Tisch, schaltete den Fernseher ein, statt Licht anzumachen. Im Erdgeschoss des Hauses lag die große Küche, in der Annette Olson das Frühstück für alle vorbereitete, das Speisezimmer und ihre eigenen Räume sowie der Luxus der Pension, eine Waschküche mit Waschmaschine und Wäscheleinen von Wand zu Wand. Die Olsons bestanden allerdings sehr strikt darauf, dass Unterwäsche nicht dort aufgehängt wurde. Manchmal wusch Mrs. Juárez ihre Kinder in der Waschküche und ließ sie dort nackig herumlaufen, bis sie wieder trocken waren. Sie hatte ihren Mann verlassen und lebte mit den Kindern in einem Raum im zweiten Stock. Manchmal hörte es sich so an, als würden die Kinder das ganze Haus bevölkern. Ruby mochte die beiden, ein Junge und ein Mädchen mit dunklen großen Knopfaugen, schwarzem Haar und ständigen Rotznasen. Wenn sie ihnen aus dem Supermarkt Süßigkeiten mitbrachte, waren sie schüchtern und glaubten wahrscheinlich, sie wäre eine Abgesandte des Weihnachtsmannes. Niemand im Haus war in Rubys Alter, aber sie fühlte sich wohl und wäre selbst dann nicht ausgezogen, wenn sie sich eine eigene Wohnung hätte leisten können. Sie brauchte Menschen um sich herum, um sich wie in einer Familie zu fühlen. Alleine in einer Wohnung würde sie zu sehr ins Grübeln kommen. Hundertdreizehn

, dachte sie, nicht schlecht für einen Mittwoch. Mit viel Glück kann ich mir am Samstag so viel Campari Orange reinziehen, bis ich es zum Kotzen nicht mehr aufs Klo schaffe.

Sie stand jeden Morgen um zehn Uhr auf, frühstückte mit den Dänen und einigen der anderen Gäste des Hauses und verließ die Pension eine Stunde später. Im Sommer fuhr sie mit dem Rad, aber während der Wintermonate stand das im Innenhof und wartete geduldig darauf, dass Schnee und Eis verschwanden. Manchmal verbrachte sie die Zeit bis zu ihrem Einsatz an der Fahrkartenfront in der öffentlichen Bücherei, manchmal fuhr sie per Anhalter bis nach Augusta. Gewöhnlich hatte sie eines ihrer Taschenbücher dabei. Sie lieh sich nie Bücher aus, las sie nur in der Bücherei, wo sie sich stundenlang an einen der Tische setzte. Sie hatte immer Angst, sie würde den Abgabetermin vergessen und Strafe zahlen müssen. Blieb sie in Winslow, sah man sie häufig im Café, wo sie einen Kaffee bestellte und Zeitung las, oder sie traf sich mit Mona. In den Wintermonaten gingen sie gerne zum Schlittschuhlaufen auf den zugefrorenen See, dort drehten sie ihre Runden, genoss die eisige Luft und Ruby stellte sich vor, sie sei jemand Berühmtes auf dem Eis. Keine Eiskunstläuferin, sondern die erste Frau, die den Stanley Cup mit ihrer Mannschaft gewann. In der High School war sie überdurchschnittlich gut gewesen, aber diese Maßstäbe konnten in Winslow, Maine, nicht mehr angelegt werden. In Winslow war sie vierundzwanzig Jahre alt, hatte ihr erdbeerfarbenes Haar sehr kurz geschnitten und arbeitete unauffällig hinter dem Schalter des Busbahnhofs. Einige Jungs waren hinter ihr her, sie war einige Monate mit einem Bob und dann mit einem Ray, dann mit einem Johnny zusammen gewesen, aber das war nicht von Bedeutung. Sommergäste kamen und gingen und von einigen kannte sie nicht einmal den Namen. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie noch sagen, welches T-Shirt er getragen hatte, als sie sich kennengelernt hatten. Diesmal verbrachte sie ihren Vormittag bei Mona. Die hatte einen Blumenladen in einer Seitenstraße vor dem Busbahnhof und hatte gerade erst die Thanksgiving-Dekoration aus ihrem Laden verbannt. Der Laden war sehr klein, extrem vollgestopft mit Schnitt- und Topfblumen, Grünpflanzen jeder Art und Ruby wusste, dass Mona auch einige seltene begehrte Pflänzchen auf dem Dachboden anbaute. Mona rauchte es selbst und mit ihren Freunden, aber sie verkaufte es nicht. Deshalb waren sie noch nicht aufgeflogen mit ihrer Privat-Plantage. Ruby betrat den Laden und rief: „Ich hab Kaffee mitgebracht!“Der Eisbär