Rücken an Rücken - Julia Franck - E-Book
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Julia Franck

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Beschreibung

Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Thomas und Ella wachsen verloren im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Nur Dank glücklicher Umstände hatte die jüdische Kommunistin die Nazizeit überlebt. Danach entschied sich die ebenso leidenschaftliche wie schroffe Frau voller Hoffnung für das sozialistische Deutschland. Doch ihr glühendes Engagement für die Gesellschaft fordert Opfer: die Abkehr vom Einzelnen, die Kälte gegen die Nächsten. Sie erkennt Ellas schutzlose Einsamkeit so wenig wie Thomas' melancholische Sehnsucht. Als 1961 die Mauer errichtet wird und Thomas in die unglückliche Liebe zu Marie flieht, kann niemand die Tragödie aufhalten. Julia Franck erzählt von einer großen Liebe ohne Rückhalt und einer Utopie mit tragischem Ausgang, eine Geschichte, die zum Gesellschaftsroman wird.

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Seitenzahl: 481

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Julia Franck

Rücken an Rücken

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Ella und Thomas wachsen im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Sie erfinden eine eigene Welt aus Aufmerksamkeit und Liebe und wollen einander Gedächtnis sein, doch vor den Zugriffen ihrer Umgebung finden sie keinen Schutz. Käthe, eine kraftvolle und schroffe Frau, vertritt leidenschaftlich die Ideale eines neuen, besseren Deutschlands. Den Preis haben ihre Kinder zu zahlen. Rücken an Rücken. Jeder allein. Im Schatten scheinbarer Liberalität gedeihen Kälte und Gewalt. Während Ella mal in Krankheit flieht und mal trotzig aufbegehrt, versucht Thomas sich zu fügen, aber nur schwer erträgt er die Erniedrigungen, er flüchtet in die Liebe zu Marie. Als 1961 die Mauer errichtet wird, kann niemand die Tragödie aufhalten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Julia Franck, 1970 in Berlin geboren, studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. 1995 gewann sie den Open Mike-Wettbewerb. Seit 1997 erschienen zahlreiche Bücher, darunter »Liebediener« und »Bauchlandung«. 2000 gewann sie in Klagenfurt den 3sat-Preis, 2005 war sie in der Villa Massimo in Rom. Für »Die Mittagsfrau« erhielt sie 2007 den Deutschen Buchpreis. Der Roman wurde von Barbara Albert (Regie) verfilmt und kommt 2023 ins Kino. Zuletzt erschienen »Rücken an Rücken« (2011) und »Welten auseinander« (2021). 2022 erhielt Julia Franck den Schiller-Gedächtnispreis. Ihre Bücher wurden in vierzig Sprachen übersetzt.

Inhalt

Die Karten

Schwanken

Klettern

Schenken

Stehen

Dörren

Entscheiden

Feiern

Dankchoral

Bücken

Dichten

Anfangen

Schlingern

Traum? (Mai 1962)

Sammeln

Lieben

[Hinweis zu Gedicht und Schulaufsatz]

Die Karten

Fallen

Es fällt das Glück

Von diesem zu

Jenem

Herüber

Es fällt

Das Gesicht

Es fällt der Blick

Unter den Tisch und

Hinüber …

Die Spieler

Brüllen

Und Gott

Schweigt

Und lächelt darüber

Nun

Da Kreuz Trumpf ist

Fällt das Glück

Unter den Tisch und

Hinüber

Und Gott

Schweigt

Und lächelt

Gequält

Den Mensch

Von seinem

Kartenleben

In den Kartentod

Still

Unbeugsam

Hinüber

12.August 1961

Schwanken

Das Boot lag im Schilf versteckt; sie hatten es wenige Tage zuvor an der Mole gefunden, es schaukelte auf dem Wasser, der Wind trieb es in die moorige Bucht, zusammen mit Blättern, Zweigen und größeren Ästen, die der Sturm abgebrochen und angeschwemmt hatte. Es war nicht angebunden, offenbar gehörte es niemandem. Im Boot lag ein Riemen, etwas entfernt zwischen den Ästen schwamm ein zweiter.

Über die Treppe zum Hof ließen Thomas und Ella die nötigen Dinge aus dem Haus verschwinden: eine Steppdecke, zwei kleine Töpfe, Kartoffeln, Mohrrüben und einen Kanten Brot. Sie nahmen auch eine Schachtel mit Streichhölzern, etwas Papier und eine leere Weinflasche mit, denn Thomas meinte, sie würden vielleicht eine Flaschenpost schreiben wollen. Zuletzt trugen sie den Gaskocher und eine Taschenlampe durch das Moor, es wurde früh dunkel, Oktober, am Morgen hatte Raureif auf den Halmen und Blättern gelegen. Sie würden frieren.

In den letzten zwei Wochen waren sie allein im Haus gewesen, Käthe arbeitete im Steinbruch. Kurz vor ihrer Abreise war Eduard nach einem Streit verschwunden. Thomas und Ella hatten sich allein versorgt, sie hatten sich Kartoffeln gekocht und Quark mit Wasser, Salz und Schnittlauch verrührt, sie waren zur Schule gegangen, sie waren zehn und elf Jahre alt, sie konnten das. Zu Käthes Rückkehr, am Ende der zwei Wochen, hatten sie nur ein wenig aufräumen wollen, sie hatten das Geschirr abgewaschen, und während Ella noch abtrocknete, hatte Thomas begonnen, den Küchenboden zu schrubben, sie rieben die dunklen Flecken vom Türblatt und polierten die Klinke mit Asche, den Türrahmen wuschen sie mit Seife, den Fußabtreter schlugen sie mit dem Teppichklopfer aus und bürsteten ihn in der Regentonne. Meine Herren, heute sehen Sie mich Klinken abputzen und ich singe ein Lied für jeden.

Lachend hielt sich Thomas immer wieder die Ohren zu, er wollte sie nicht kränken, doch sie traf nur wenige Töne und veränderte die Melodie, wie es ihr einfiel. Der Kronleuchter konnte glänzen, wenn man ihn abrieb. Der Geruch des Messings haftete an den Fingern. Es machte Spaß, sie wollten das Haus so herrichten, wie es noch nie jemand gesehen hatte. Thomas entstaubte die Bücher und Regale mit einem trockenen Tuch, und mit einem feuchten Lappen wischte er nach, er sortierte die Kunstbücher nach Epochen und Größe, die Literatur nach dem Alphabet, die politischen Schriften nach Themen. Mit grollender Stimme, den Feldstecher des verstorbenen Vaters vor Augen, fragte er in die Tiefe des Raumes: Frollein Ella, wünschen Sie eine romantische oder eine abenteuerliche Lektüre aus der schönen Literatur zu leihen? Studieren Sie Trojas Kampf um Helena? Gern fülle ich eine Leihkarte für Sie aus. Ella beachtete ihn nicht, sie lag unter dem Tisch und reinigte mit einem Messer und einem Schwamm die Unterseite, was offensichtlich seit Jahrzehnten niemand getan hatte. Dort klebten hartnäckige Krusten, Spuren von Essen vielleicht, oder Wachs. Das Tischtuch aus italienischem Damast hatte Ella in der Zinkwanne im Garten eingeweicht, es musste gründlich gewaschen werden, Krümel und dunkle Flecken von Saucen und Wein hatten sich über lange Zeit darin eingenistet.

Hätten Ella und Thomas den Hausputz nicht in zwei Tagen bewältigen wollen, es wäre Thomas ein Vergnügen gewesen, Bibliothekar zu spielen; er wollte einen Karteikasten für die Bibliothek und ihre künftigen Nutzer anlegen und Leihkarten für jedes Buch entwerfen. Ella taten die Arme vom ausdauernden Wringen weh, als sie das safrangelbe Tischtuch auf die Leine hängte. Mit einem Zahnstocher und einem Wattebausch bewaffnet kletterte sie dann auf einen Hocker und wollte den Bilderrahmen der sizilianischen Landschaft reinigen. Der kobaltfarbene Himmel leuchtete über dem karstigen Felsen, wo nur Olivenbäume wuchsen. Doch die schimmernde Beschichtung des Rahmens löste sich und verfärbte den Wattebausch dunkel, so dass Ella Angst bekam, sie könnte nicht nur den Schmutz, sondern auch die Farbe ablösen. Selbst den Nähkasten ordnete sie, wickelte Garnrollen auf und Stickfaden um Pappschildchen, sie sortierte die Knöpfe in drei schwarze Schachteln, die Nadeln nach Größe in schmale Briefe. Seit dem Hausmädchen gekündigt worden war, hatte vermutlich niemand mehr außer Ella den Nähkasten benutzt. Sie spielte abwechselnd ihre vornehme Großmutter und deren Näherin, mit gespitztem Mund und der gestelzten Stimme ihrer Großmutter kommentierte Ella die Arbeit, mit deren französischen Worten: Alors, c’est si parfait!

Thomas antwortete im Vorbeigehen: Perfetto. Perfettamente, und sein Ton, bäuerlich und theatralisch, imitierte Käthes Trotz gegen das großbürgerliche Französisch ihrer Mutter.

Jedes Zimmer räumten sie auf, Quadratmeter für Quadratmeter, das gesamte Haus, wie es noch nie aufgeräumt worden war. In der Zinkwanne unter der Ulme hatten sie die Gardinen gewaschen und sie im Garten über der Wäscheleine vom Wind trocknen lassen. Mit dem Bügeleisen plätteten sie die Stoffe, Käthe sollte sich die Augen reiben. Dienstmädchen und Diener waren sie, die sich im Duett wohlwollend und voller Bewunderung für ihre Herrschaft aussprachen. Nur einmal änderte sich der Tenor im Gespräch über die Gutsherrin, weil sie erst kürzlich aus Ärger wegen eines stibitzten Glases Apfelkompott die Hand erhoben und dem Dienstmädchen so heftig eine gescheuert hatte, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Diener und Dienstmädchen wogen Güte und Gewalt ihrer Herrin ab, fegten und wischten dabei die Küche. Den Backofen reinigten sie mit einem Schwamm aus feinen Metalldrähten und verwendeten das Scheuerpulver so großzügig, bis keines mehr in der Schachtel war, die Speisekammer räumten sie auf und fanden in einem Korb voll alter Schuhe ein Nest mit neun winzigen, nackten Mäusen. Das weiche Rosa der Tierchen zitterte im Takt des schnellen Herzschlags, sie quiekten und piepsten nicht, dafür waren sie vielleicht zu jung. Thomas hob den Korb hoch, nahm einen Stiefel heraus und beschaute das Nest. Kleine Nacktmolche, seine Stimme war zärtlich, samten. Ella ekelte sich vor den blinden Tieren. Sie wollte sie nicht sehen. In der Regentonne ertränken wollte Ella sie. Thomas nicht. Wenn er die Jungen in den Keller brachte, würde ihre Mausemutter sie nicht mehr finden und sie müssten elend verenden. Also beschloss der Tierforscher, die Maus in eine Falle zu locken, damit er auch sie lebendig in den Keller schaffen könnte. Er legte ein Stück Käse in den tiefen Topf aus Steingut, darüber schob er ein Brett, das nur einen Spalt Öffnung ließ. Schon am Nachmittag fand er die Maus im Topf, er hörte sie im Innern an den Wänden hochspringen, wieder und wieder rutschte sie ab. Thomas brachte den Topf mit der Maus und den Korb mit ihren Jungen über die Verandatreppe in den Garten und von dort bis vor die Tür des Kohlenkellers. Dicht auf den Fersen folgte ihm Ella, die wusste, dass er nicht in den Keller konnte. Er traute sich nicht ins Dunkel. Er hatte Angst. Er ahnte, wie er Ella überzeugen konnte. Holst du die Kohlen, mache ich deine Matheaufgaben. Holst du die Kohlen, bekommst du geräucherte Sprotten. Holst du die Kohlen und bringst sie bis zum Haselstrauch an der Kellertür, trage ich sie nicht nur die Treppe ins Haus hinauf, ich heize die ganze Woche, ich hacke das Holz.

Bitte, sagte Thomas zu ihr, er übergab ihr den Topf und den Korb, du musst sie nur auf den Boden stellen und das Brett wegnehmen, sie werden schon allein rauskommen.

Was bekomme ich?

Eine Geschichte heute Abend.

Aber sie muss lang sein. Und noch was.

Was?

Das reicht nicht.

Ich trag’ deine Schulmappe, die ganze Woche, versprochen, ich mach’ Mathe für dich, und Deutsch auch.

Na gut. Ella stolperte, den Korb in der Hand und den Topf mit gestreckten Armen von sich fernhaltend, die Stufen in den Keller hinab. Unten schlug sie der Länge nach hin. Er hörte das Piepsen der Maus, der Topf war zerbrochen, allein der Korb mit den Jungen war unversehrt neben Ellas Kopf gelandet. Mühsam stand sie auf, die Hose war gerissen, ihre Knie waren wund, die Hände schwarz und aufgeschürft.

Zögerlich setzte Thomas einen Fuß vor den anderen und stakste auf Zehenspitzen ins Dunkel. Schreck und Angst hoben einander nicht auf, es war gewiss die Kälte, die seine Zähne klappern ließ. Auf der letzten Stufe blieb er stehen und reichte ihr die Hand. Das tut mir leid, er legte einen Arm um ihre Schulter. Dann untersuchte er ihre Knie und zog sie die Treppe hinauf und brachte sie in die Wohnung, wo er ihre Wunden wusch und mit einer Jodtinktur bestrich.

Später hatten Ella und Thomas die Teppiche ausgeklopft und die Böden erst gefegt, dann gewischt und nach dem Trocknen mit Wachs eingerieben, gebürstet und zuletzt mit einem Tuch blankgewichst. Stundenlang hatten sie geputzt und waren weit nach Mitternacht erschöpft ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen standen sie früh auf, draußen war es noch dunkel, ohne Frühstück machten sie sich an die Arbeit. Alle Öfen des Hauses heizten sie ein, selbst den Badeofen, es war möglich, dass Käthe nach ihrer Rückkehr ein heißes Bad nehmen wollte, sie scheuerten die Wanne und wischten die Türen ab, sie hängten die frisch gewaschenen Gardinen vor den geputzten Fenstern auf. Mittags legten sie Kohlen nach, als Heizer brachten sie die Ascheeimer zum Müll und reinigten die Tonne von außen, sie harkten das Laub unter der Ulme, zogen die welken Stängel aus den Beeten und fegten die Treppe von der Veranda in den Garten. Mit einem Federbüschel lief Ella durch das Haus und fing die Spinnweben aus den Ecken, auch die Gemälde entstaubte sie mit den Federn. Etwas gluckste in ihr, als sie sich dem Ölbild mit den Kirschblüten im Wannseegarten näherte. Ein Meisterwerk, nannte Käthe dieses Bild, wenn staunende Besucher es betrachteten. Das ehrfürchtige Nicken freute Ella immer. Als sie vor einigen Jahren einmal krank im Bett liegen musste und ihr über Wochen niemand Gesellschaft leistete, hatte sie auf einem Holzbrett mit Ölfarben ihre Familie malen wollen. Es war ihr nicht gelungen: Sie selbst war riesig, größer als die Mutter, schwebte frei im Raum, ihr Bruder sah nach einem Erdgeist aus, die winzigen Zwillinge hingen wie Nagetiere am Busen der Mutter, und die aus der Bluse ragenden Brüste waren alles andere als rosig, – blutrot bläkten sie aus ihrem grünen Hemd. Damals war Ella zwar erst in die Schule gekommen, aber der Anspruch war groß und sie wusste, dass sie dieses Bild ihrer Mutter niemals zeigen könnte. Doch dann war ihr Blick auf die Kirschblüten am Wannsee gefallen und sie hatte nicht widerstehen können, sie war aufgestanden und hatte mit ihrem Pinsel winzige weiße Pünktchen auf der grünen Wiese verteilt. Ein wenig Gelb hatte sie hinzugefügt, sehr zart nur, denn ein Weiß war niemals nur weiß. Und sahen sie bei genauer Betrachtung nicht wie Gänseblümchen aus? Niemandem sollten die weißen Pünktchen auffallen, so dass Ella in den folgenden Jahren immer wieder Kleinigkeiten an dem Bild des großen Meisters veränderte. Heute war keine Zeit dafür. Sie lächelte nur, als sie mit ihrem Federbüschel über die Kirschblüten am Wannsee streichelte. Auf jedem Möbelstück im Haus wischten Thomas und Ella Staub, die Stühle rieben sie mit warmem Seifenwasser ab und ölten sie anschließend ein, so dass ihr Holz honiggolden schimmerte. Einzig Eduards Zimmer blieb unverändert, das Betreten war ihnen streng verboten. Heimlich öffnete Ella die Tür, im Zimmer roch es übel nach fauligem Blumenwasser. Aber eine Vase konnte Ella nicht entdecken. Eduards Abwesenheit reizte sie, Ella musste sein Zimmer betreten, als würde sie etwas suchen, von dem sie nicht wusste, was es war. Leise schlich sie hinein, obwohl niemand in Hörweite war und sie Thomas fern in der Küche wusste. Die Schublade des Schreibtisches war verschlossen. Wie oft hatte Ella schon versucht, diese Schublade zu öffnen? Mit einer Haarspange, mit einer Sicherheitsnadel, mit einem herrenlosen Schlüssel, den sie beim Fegen unter dem Teppich gefunden hatte. War sie es gewesen, die das Furnier rund um das Schloss zerkratzt hatte?

Im Atelier ließen sie alles an seiner Stelle, kein Wachsmodell berührten sie, auch wenn auf den älteren haarige Staubschichten klebten und bei einem die Arme vor Trockenheit und Alter abgebrochen waren. Sie entstaubten keine Gipsfigur, nur sacht strich Ella über die runden Hüften der Liegenden. Niemand hatte ihnen das Anfassen verboten, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass den fragilen Modellen nichts zustoßen durfte und insbesondere Kinder in ihrer Nähe nicht spielen durften, sich hier am besten überhaupt nicht aufhalten sollten. Der Sandsteinbruch in der Tonne unter der Galerie, der feucht aufbewahrte Ton wie auch die kleineren Marmorbrocken auf dem Fensterbrett, alles blieb liegen, wo es war. Nicht einmal den Besen nahmen sie zur Hand und hoben keinen Krümel auf, entfernten keine einzige Spinnwebe. Es dämmerte, als Ella mit müden Beinen in den Garten ging und einen Strauß lila Herbstastern pflückte, dazu brach sie vom Busch kahle Zweige mit leuchtend roten Hagebutten ab.

Thomas kochte eine Linsensuppe, auch wenn er noch nie zuvor eine gemacht hatte und es im Haus kein Buch mit Rezepten gab. Dabei atmete er durch den Mund, denn es kostete ihn Überwindung, den Speck anzubraten. Der Geruch des bratenden Räucherfleischs ließ ihn würgen, er mochte Schweine nicht mehr als Hasen, aber er wollte kein Tier getötet wissen, einzig damit es gegessen würde. Er vermutete, dass Käthe eine Linsensuppe ohne Speck ungenießbar fände. Ella machte sich über seine Mundatmung lustig, wie ein schnappender Fisch sah er aus. Der Speck brutzelte auf dem Feuer, später, in der Suppe, würde er glasig und wabbelig werden. Die Kartoffeln und Möhren schnitt Thomas klein, er hatte Sellerie gekauft, weil ihm Käthes genüssliches Grunzen eingefallen war, das sie allein beim Wort Sellerie von sich gab. Zwei Knoblauchzehen hatte er in den Topf geworfen. Auch das Lorbeerblatt vergaß er nicht, mit einer Nelke piekte er es in die Zwiebel. Eine so gute Linsensuppe würde Käthe noch nie gegessen haben. Ella saß auf der Mehltruhe, ließ ihre Beine baumeln und faltete die gebügelten Servietten, sie beobachtete Thomas beim Kochen, auch sie schnappte nun Luft durch den Mund.

Ich hör’ sie! Ella sprang auf. Aus der Ferne hörten sie helles Knattern, es näherte sich und schallte jetzt im Echo zwischen Haus, Atelier und Schuppen über den Hof. Kein Motorrad machte ein Geräusch wie dieses, Käthes Muckepicke, ihr Klang war unverwechselbar. Ella und Thomas liefen in die Speisekammer, sie schauten aus dem Fenster hinab in den Hof und vergewisserten sich. Da war sie. Auf dem Kopf trug Käthe ihre lederne Pilotenmütze. Sie beugte sich über die Kiste auf dem Gepäckträger und schnallte eine große, etwas unförmige Tasche ab. Erst jetzt traf ihr Hund ein, freudig sprang er an ihr hoch, er hatte sie eingeholt. Die längste Zeit einer Reise fuhr er in der hölzernen Kiste auf dem Gepäckträger mit. Vor Rahnsdorf, im Wald an den Püttbergen, ließ Käthe ihn runter, damit er noch die letzten Kilometer laufen konnte. Hunde und Kinder liebten die hohen Dünen, zu denen sich der Sand am südöstlichen Rande des Berliner Urstromtals aufgetürmt hatte. 1954. Wald bis zum Fließ und zu den Ufern des Müggelsees. Einzelne Häuser, ein dörflicher Stadtteil am Saum Berlins, hohe märkische Kiefern mit rötlichen Stämmen ragten aus den Wipfeln von Eiche, Ahorn und Buche. Käthe fuhr selten ohne ihre Muckepicke aus der Stadt hinaus, aber sie wünschte sich ein Auto, mit dem sie ihre Materialien und Werkzeuge transportieren könnte. Kleinere Skulpturen passten in den Anhänger des Motorrads. Und wenn sie Modelle zum Brennen oder Gießen brachte, musste sie telefonieren und sich entfernte Nachbarn zu Freunden erklären, damit sie deren Auto leihen konnte.

Thomas ging zurück in die Küche, er probierte seine Suppe und verbrannte sich die Zunge. Woher sollte er wissen, ob zu viel Salz daran war? Er mochte Salz. Thomas stellte die Flamme klein. Probier du mal, bat er Ella, doch sie rannte schon vorbei. Aus dem Flur hörten sie ein Klappern, dann das Bellen von Käthes Hund. Thomas folgte Ella hinüber in den Tabaksaal.

Die Pilotenmütze auf dem Kopf, stand Käthe an dem langen Tisch, vor ihr ein Stapel Post: Briefe, Zeitungen, flache Päckchen. Guten Tag, sang Käthe mit hoher Stimme, sie hatte gehört, wie Thomas in den Raum getreten war, doch ihr Blick haftete an einer Zeitung, die sie flüchtig durchblätterte. Wenn sie von einem längeren Aufenthalt im Steinbruch zurückkehrte und selbst wenn sie nach Stunden im Atelier herauf ins Haus kam, konnte sie plötzlich mitten im Satz singen. Die Wangen leicht gerötet, leckte sie ihre Lippen und öffnete, die Hundeleine über dem Arm, ein kleines Kuvert. Sie überflog die Zeilen und wieherte dabei hell. Der Künstlerverband lädt ein! Mit stolzer Geste lehnte sie die Einladung gegen die Blumenvase. Sie musste seufzen. Lange hatte sie auf diese Einladung gewartet. Ungeduldig öffnete sie den nächsten Brief.

Ella setzte sich in einen der beiden tiefen Sessel beim Tisch, sie beobachtete, wie Käthe mit der Pilotenmütze auf dem Kopf ihre Post sichtete.

Thomas hätte Käthe gern umarmt, ihm fiel auf, dass er sie sehr vermisst hatte. Er mochte ihr freudiges Wiehern, es lag ein Begehren darin, ein Frohlocken. Wenn Käthe außer Reichweite war, imitierten Thomas und Ella manchmal unvermittelt ihr Wiehern, während des Schulwegs oder beim Einkaufen, manchmal auch in einer kleinen Runde von Freunden. Thomas überlegte, ob er ihr die Pilotenmütze und die Hundeleine abnehmen sollte, wie man anderen Menschen, die von draußen hereinkamen, Hut und Schirm abnahm. Im falschen Augenblick konnte sie eine solche Geste zudringlich empfinden, waren doch Mütze und Leine schon ein Teil ihrer selbst, die ließ man sich nicht einfach abnehmen und an einen Haken hängen. Er mochte Käthes Geruch nach Leder und Hund. Aber Käthe ging Umarmungen aus dem Weg, es schien, als würde sie in körperlicher Nähe frieren, so sehr presste sie dann ihre Arme an die Seiten, versteifte sich ihr Rücken, schüttelte sie sich. Eine Umarmung musste ihr widerwärtig sein, Thomas hielt das für möglich. Zu den Kindern hatte sie früher oft gesagt: Klammert nicht so. Nur wenn sie in ihrer Nähe waren. Es gab keine Umarmungen, zu keiner Gelegenheit. Auch mit Eduard oder einem anderen Mann hatte Thomas das nie beobachtet. Vielleicht war eine Umarmung in Käthes Augen pure Höflichkeit, Anbiederei, eine Zärtlichkeit, die sie schlicht nicht empfand. Und so blieb Thomas stehen und hoffte, dass sie ihm vielleicht die Hand geben oder ihn wenigstens ansehen würde.

Mit ihrem silbernen Brieföffner schlitzte Käthe einen großen Umschlag auf, sie brachte ein Heft und einen Brief zum Vorschein und begann zu lesen. Ohne aufzublicken, streckte sie seitlich ihre Hand aus, suchte etwas in der Luft. Vielleicht sollte Thomas die Hand ergreifen?

Na komm, sagte sie, komm her. Ihre Hand wedelte, während ihr Blick an dem Brief klebte. Thomas machte einen Schritt auf sie zu, er fragte sich, ob er gemeint sei, ob er ihre Hand fassen oder schütteln solle, noch einen Schritt machte er auf sie zu – doch der Hund kam ihm zuvor. Agotto leckte Käthes Finger ab, er schnappte nach ihrer ausgestreckten Hand, rieb seine Ohren an ihr, auf dass sie seinen Kopf streichelte.

Hast du Hunger, Käthe? Ich habe etwas gekocht, Thomas legte den Kopf schief, sie musste die Linsen schon riechen können.

Käthe nickte, schaute kurz hoch und wieder zurück auf ihre Post, sie nickte weiter, als habe sie vergessen, weshalb. Nachdenklich legte sie den Brief weg und nahm den nächsten Umschlag. Ellaellaella, dir muss der liebe Gott wohl Beine machen. Der Tisch ist ja noch nicht gedeckt.

Ella blieb in dem riesigen Sessel sitzen, wie ein drapiertes Püppchen war sie darin versunken. Sie hatte ihr kariertes Festtagskleid angezogen und den Spitzenkragen umgelegt. Nur wenige Male hatte sie das Kleid getragen, die Großmutter hatte es ihr vor zwei Jahren aus London mitgebracht, nun waren die Ärmel etwas kurz, die Handgelenke leuchteten daraus hervor. Ellas Haare waren glattgebürstet, selbst die Schuhe hatte sie noch so geputzt, bis sie glänzten – nicht nur ihre, auch alle anderen, die sie im Schuhregal in der Kammer gefunden hatte. Mit den Fingern kratzte Ella lautlos über den grünen Samt der Armlehne. Ungern stand sie aus dem Sessel auf. Den sorgsam gewundenen Blumenstrauß zwischen sich und Käthe, die noch immer nicht die letzten Umschläge geöffnet hatte, beim Lesen hin und wieder den Kopf schüttelte und ein zustimmendes oder ablehnendes Geräusch von sich gab, hoffte Ella auf einen Blick, eine noch so winzige Bemerkung.

Was ist? Käthe hob jetzt den Kopf und sah Ella fordernd an, beweg’ dich.

Keine Aufmerksamkeit für das Kleid, keine für das Haar. Umständlich erhob sich Ella, ihr linkes Bein war eingeschlafen und so humpelte sie, als sie Thomas in die Küche folgte. In der Küche brauchten Thomas und sie sich nur anzusehen, der Blick enthielt die wachsende Spannung, das ungeduldige Warten, es könnte jeden Augenblick so weit sein: Käthes Blick musste nicht auf die Blumen fallen, nicht auf das Festtagskleid und die blitzenden Fensterscheiben, gewiss aber würde der Geruch der gewienerten Böden in ihrer Nase kitzeln, Käthe würde die aufgeräumten Regale entdecken. Und erst der Geschmack des Selleries zusammen mit Speck und Linsen im Mund. Sie würde staunen. Ella trug eine Karaffe Leitungswasser und drei Gläser in den Tabaksaal.

Mach mal einer das Fenster auf, Ella, das hält hier keiner aus. Wollt ihr das Haus zur Schwitzhütte machen? Was ist das für eine Verschwendung. Wir heizen im Oktober nicht den Garten, verstanden?

Nur kurz blickte Käthe Ella vorwurfsvoll an. Sie goss sich ein Glas mit Wasser ein und leerte es in einem Zug. Käthes Wangen waren gerötet, mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn, jetzt studierte sie aufmerksam den Absender eines Briefes. Unschlüssig schüttelte Ella den Kopf. Vielleicht hatten sie mit dem Heizen übertrieben.

Zurück in der Küche rollte Ella die zur halben Größe gefalteten Servietten ein und schob silberne Ringe darüber. Mit rotem Buntstift malte sie ein Herz auf einen Zettel, darin zwei ineinander verschlungene kleinere Herzen. Sie wickelte die Botschaft in die grün-weiße Serviette, die Käthe gern benutzte.

Im Garten war noch Petersilie, Thomas zeigte Ella die blaue Schale. So gerade und sauber sie es konnte, schnitt Ella einige Scheiben von dem Brotlaib, legte sie in einen Korb und schlug das Tuch darüber. Sie schütteten die Suppe in eine festliche Terrine. Thomas trug die dampfende Schüssel, Ella nahm das Tablett mit den Tellern und Löffeln, dem Brot und den Servietten.

Das ist nicht zum Aushalten! Wir sind doch nicht bei Krethi und Plethi!

Käthe telefonierte, als Ella mit dem Ellenbogen die Tür zum Tabaksaal öffnete, auf den Händen balancierte sie das Tablett. Sie deckten den Tisch. Thomas schöpfte die Suppe auf die Teller. Sie warteten. Das Telefongespräch im angrenzenden Zimmer dauerte länger. Durch die große Flügeltür konnten sie Käthe sehen, wie sie an ihrer Kommode stand und wild gestikulierte, es ging wohl um irgendeinen Beschluss ihres Verbandes. Während am anderen Ende der Leitung jemand versuchte, ihr etwas zu erklären, zeichnete Käthe mit Kohle auf der Rückseite eines großen Briefumschlags. Nein, einverstanden war Käthe nicht, sie fuchtelte mit der Kohle in der Luft, das habe ich schon gesagt, unter keinen Umständen. So eine Idee muss Hand und Fuß haben. Nach einer Weile legte Käthe auf und kam zum Tisch. Ist Eduard hier mal aufgetaucht?

Thomas und Ella schüttelten den Kopf. Eduard meldete sich bei den Kindern nicht an oder ab. Selten grüßte er sie, und wenn, war es wie ein Gruß zu Fremden, deren höfliche Erwiderung er trotzig einforderte. Befanden sie sich zur selben Zeit im Haus, gehörten sie wie Möbel oder Haustiere zum Inventar, mal bemerkte er sie, mal nicht. Ellas Schuhe gefielen ihm manchmal, manchmal ihr Kleid. Es war durchaus möglich, dass er in den letzten zwei Wochen hier gewesen war, vielleicht vormittags, aber gesehen hatten sie ihn nicht.

Kein einziges Mal? Käthe setzte sich und rollte ihre Serviette aus, die Herzbotschaft segelte unbeachtet auf den Boden, sie steckte sich die Serviette oben in den Pullover, wie ein Lätzchen, und stieß ihren Löffel in den Teller. Kann denn nicht mal jemand die Suppe heiß machen?

Das haben wir, Thomas beobachtete Käthe, sie schlürfte, kaute und schluckte. Sie ist auf dem Teller kalt geworden.

Käthe schaufelte einen Löffel nach dem anderen in den Mund. Und Salat gibt’s nicht, nein? Sie schaute von Ella zu Thomas und wieder zurück zu Ella. Was ist, worauf wartet ihr, warum esst ihr nicht?

Guten Appetit, murmelte Ella.

Wohl bekomm’s, sagte Thomas, Salat gab’s keinen, tut mir leid.

Und im Garten, da wächst doch noch Löwenzahn? Habt ihr gar keinen Salat gegessen, als ich weg war?

Thomas schüttelte den Kopf.

Ella sagte: Doch, wir haben Löwenzahn gegessen. Und Mohrrüben.

Käthe räusperte sich, sie kratzte den letzten Rest Suppe vom Teller und nahm sich aus der Terrine nach. Ach, herrlich, da drin ist sie wenigstens lauwarm.

Schweigend aßen Thomas und Ella, sie blinzelten sich zu. Unter dem Tisch berührte Ella mit ihrem Fuß Thomas’ Schienbein, Thomas trat sanft zurück, ein Lächeln um den Mundwinkel. Es konnte nicht lange dauern, und Käthe würde das saubere Tischtuch bemerken, die gebügelten Vorhänge im Nebenzimmer, sie würde trotz Linsen und Sellerie das Wachs riechen und ihr Blick würde auf den glänzenden Boden gleiten, ihr würde der saubere Teppich auffallen. Sie könnte hinausschauen, Richtung Garten, auf die Tür zur Veranda, in deren Scheiben sich vor der Dunkelheit das elektrische Licht spiegelte. Da es dort keine Vorhänge gab, musste Käthe das Spiegeln und Funkeln der Scheiben bemerken.

Was ist denn das? Mit einer ruckartigen Kinnbewegung wies Käthe auf die Blumen, die neben der Terrine standen. Ein Löffel Linsen verschwand in ihrem Mund. Was soll das? Käthe schaute von Ella zu Thomas und wieder zurück zu Ella. Jetzt wurde Käthe aufmerksam, endlich schaute sie sich um. Sprecht ihr nicht mehr? Sie haute leicht mit der Faust auf den Tisch.

War das Wut in ihren Augen? Machte sie einen Spaß und würde im nächsten Augenblick lachen? Thomas und Ella sahen Käthe erwartungsvoll an. Ella musste jetzt lächeln, über das ganze Gesicht, endlich entdeckte Käthe den Zauber ihrer Wichtel.

Die habt ihr doch im Garten gepflückt? Was ist, hat es euch die Sprache verschlagen? Käthe warf ihren Löffel in den geleerten Teller, es schepperte, wieder haute sie mit der Faust auf den Tisch, und klirrte.

Kein Blick wurde mehr getauscht. Eine unbestimmte Zeit hörte Ella nur das leise Knacken im Ofen, ihr Lächeln war verschwunden, in die Glut gefallen, es kribbelte in ihrem Bauch, doch sie konnte nicht atmen, gebannt lag ihr Blick auf der Tischdecke, die sie heute Vormittag von der Leine genommen und gebügelt hatte. Agotto schob winselnd seine Schnauze auf den Tisch.

Wie oft habe ich gesagt, Blumen werden nicht im Garten gepflückt? Zumindest ihr sollt dort keine pflücken! Agotto winselte erbärmlich, er fiepte.

Es ist Herbst, Ellas Stimme versagte.

Die Blumen verwelken jetzt sowieso. Und wenn sie nicht welken, erfrieren sie bald in der Nacht. Es war nicht leicht, Ella zu verteidigen, trotzdem versuchte Thomas es immer wieder. Sie war das ältere Kind, alle Schuld traf zuerst sie, er war das jüngere, Käthe liebte ihn, dessen war er sich sicher.

Nicht frech werden. Wenn ich sage, es werden keine Blumen im Garten gepflückt, dann rupft ihr sie gefälligst nicht hinter meinem Rücken ab! Verstanden? Käthe nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Man kann euch keine zwei Wochen alleinlassen!

Thomas und Ella trauten sich kaum, die Köpfe zu senken, noch sie zu heben, unter dem Tisch berührten sich ihre Füße.

Käthe leerte ihr Glas und schlug die Zeitung auf, die sie vor dem Essen neben sich auf den Stuhl gelegt hatte. Ihr macht den Abwasch, ich will dann noch runter ins Atelier. Einer von euch geht mit dem Hund.

Schweigen, eine Minute, zwei Minuten. Sollten das Käthes abschließende Worte sein? Ella knallte ihren Löffel in den Teller, dass es spritzte. Und die Zwillinge, Käthe, wann holst du die ab? Nur zu gut wusste Ella, dass Käthe ungern an die Zwillinge erinnert wurde. Die Zwillinge störten. Sie konnten sich nicht allein versorgen, mit ihren drei Jahren, konnten noch nicht allein bleiben, während Thomas und Ella in der Schule waren. Also brachte Käthe sie in den Wochen ihrer Abwesenheit meist auf die Halbinsel Werder bei Potsdam, dort gab es ein zuverlässiges Heim.

Die Zwillinge werden morgen gebracht, Familie Winter bringt sie, Käthe blieb hinter ihrer Zeitung versteckt, während sie das sagte, sie hatte weder auf Ellas scheppernden Löffel reagiert, noch beeindruckte sie die Frage nach den Zwillingen. Mit dem Ärmel wischte sich Thomas über die Augen, geräuschlos.

Ella und Thomas blickten auf ihre halbvollen Teller, sie mussten aufessen, um einem Donnerwetter vorzubeugen. Auf Thomas’ Teller blieben nur die Speckstückchen liegen, die er an den Rand sortiert hatte. Ohne dass Käthe es bemerkte, schob er sie auf Ellas Teller. Ella liebte Speck, wenn es nach ihr ginge, würde sie nichts anderes essen, keine Linsen, kein Petersilienblatt, Speck allein.

Schweigend räumten Ella und Thomas den Tisch ab, Ella wusch das Geschirr, Thomas trocknete ab. Sie fanden keine Worte füreinander.

Die Türen klapperten und Käthe marschierte durch die Küche geradewegs die Treppe hinunter in ihr Atelier.

Zu zweit gingen sie mit dem Hund an den Fließ, der Wald begann gleich auf der anderen Seite des Baches. Nebel stand zwischen den Bäumen, sie sprachen nicht.

Ehe die Kinder vor dem Schlafen das Licht löschten, öffnete Käthe die Tür zu ihrem Zimmer und sagte: Die ganze Hintertreppe steht voll Flaschen. Hatte ich euch nicht gesagt, dass ihr die wegbringen sollt? Macht das morgen.

Die Tür wurde geschlossen, Thomas löschte das Licht. Aus dem Flur konnte man durch die Tür hindurch das Pendel der Standuhr hören, der Gong setzte ein und schlug die volle Stunde, Thomas zählte leise mit, zehn Schläge.

Wir hauen ab, flüsterte Ella ins Dunkel.

Wohin?

Egal.

Sie wird uns suchen.

Ich freue mich darauf. Sie wird uns vermissen, vielleicht denkt sie, wir wären tot.

Wann?

Bestimmt liegt das Boot noch im Schilf. Stell dir vor, unsere Spuren gehen bis zum Wasser und dann verschwinden sie.

Wenn Agotto ihr suchen hilft, wird er jaulend am See stehen. Thomas lag auf dem Bauch, er stützte sein Kinn in die Hände und runzelte die Augenbrauen. Ella merkte, dass ihm keine Schadenfreude gelang, er empfand Mitleid, schon jetzt. Seine Wehrlosigkeit ärgerte sie.

Das geschieht ihr recht.

Wann?

Morgen, nach der Schule bringen wir unsere Sachen dorthin. Wir müssen uns was zu essen mitnehmen.

Erfrieren will ich nicht.

Eine Weile lagen sie still im Dunkel des Zimmers, jeder auf seinem Bett.

Wie lange bleiben wir weg? Thomas’ Stimme zitterte. Gewiss wollte er Käthe nicht erschrecken. Die Vorstellung, dass sie sich sorgen könnte, gefiel ihm nicht. Er knotete einen Zipfel des Taschentuchs um seinen Finger.

Spätestens zum Abendessen wird sie uns vermissen. Wir bleiben bis Mitternacht auf dem Wasser.

Es kann sein, dass wir ihr Rufen vom Ufer her hören, wenn sie uns sucht.

Hoffentlich. Vielleicht. Vielleicht sucht sie nicht am See, vielleicht geht sie erst zu den Nachbarn und fragt, wer uns gesehen hat.

 

Schuhe und Strümpfe hatten sie am Ufer ausgezogen. Die Strümpfe in die Schuhe gesteckt, die Hosen hochgekrempelt, waren sie durch das eisige Wasser zum Boot gewatet, um die letzten Sachen im Bug und unter der Bank zu verstauen. Das Schilf schnitt Thomas in die Waden, er biss die Zähne zusammen und ging einige Schritte zurück, nahm Ella den Kocher und den Korb mit den Nahrungsmitteln ab. Zuletzt trug Ella die Schuhe zum Boot, sie waren schlammig vom Morast. Ein Handtuch hatten sie vergessen, also trockneten sie die eisigen Füße dürftig mit der Steppdecke. Das Anziehen der Strümpfe dauerte, das Boot schaukelte und die Strümpfe klebten an den feuchten und kalten Füßen, klamm waren auch die Schuhe.

Fertig? Thomas wartete, bis Ella ihren zweiten Schuh anhatte, ehe er den Riemen ins schwarze Wasser stach. Noch konnte er Grund fühlen. Er stieß das Boot hinaus. Das Blatt des zweiten Ruders war gebrochen, eine Hälfte fehlte, das Holz war morsch. Thomas steckte beide Riemen in die Dollen und ruderte gleichmäßig, Ella sang. Das dunkle Blau des Abends senkte sich in den Nebel.

Wohin?

Ella schüttelte den Kopf, sie fröstelte. Woher sollte sie wissen, wie die fernen Ufer beschaffen waren und was hinter ihnen lag. Also antwortete sie: Einfach raus.

Thomas ruderte. Leise, ins Wasser gedrückt, verlor ich den Traum, verrückt … Oft hatte Thomas die Zeilen seines jüngsten Gedichtes umgeformt, ergänzt, gelöscht, Aalquappenglück, steht im Wasser, am Stein, und ist nimmer mein. Ella dachte sich die Melodie dazu aus und summte im Rhythmus seiner Worte. Sie trampelte dabei mit den Füßen auf den Boden des Bootes, in der Hoffnung, dass sie warm würden. Auf dem See war es stockfinster, sie konnten kein Licht, kein Ufer mehr erkennen.

Mein Magen knurrt. Ella robbte auf allen vieren und suchte unter der Bank nach dem Korb mit dem Essen. Das Brot war nass und kalt. Weiches Brot? Sie riss ein Stück ab, probierte es. Gar nicht so schlecht. Sie bot ihrem Bruder etwas an, aber der mochte keins, weil er rudern und nicht frieren wollte. Das Brot kaute sie so lange, bis es süß in ihrem Mund schmeckte. Zwei Mohrrüben wusch sie im See, indem sie sie ins Wasser hielt und mit den Fingern abrieb. Thomas wollte keine, also aß Ella beide. Sie trampelte noch etwas mit den Füßen, aber es nutzte nichts, die Nacht auf dem See war unerbittlich. Ella legte sich auf den Boden des Bootes, wickelte die Decke um sich und versuchte die Kälte zu vergessen. Das Plätschern des Ruderns machte sie schläfrig. Sie wälzte sich von der einen Seite zur anderen, sie hatte die Beine so eng wie möglich angewinkelt, die Knie am Kinn, die Arme um die Beine geschlungen. Doch die Feuchtigkeit hatte allen Stoff durchdrungen, kalt zog es an Ellas Rücken und eisig waren ihre Füße. Spürte sie noch die Zehen? Käthe würde sich wundern, in Panik geraten, sie würde suchen. Zuerst würde sie das Fehlen der Steppdecke bemerken. Ella träumte und wusste, dass es bloß ein Traum war, als sie Käthe durch das Moor rennen sah, laut rufend, Thomas! Ella! Die Kälte erstickte ihr Rufen. Die Wellen wuchsen, schlugen immer lauter, sie türmten sich auf, platzten an das Ufer, krachten gegen die Steine der Mole, gegen das Holz des Bootes. Schlief Ella oder wachte sie? Plötzlich hörte sie kein Rudern mehr, sie schreckte auf, hob den Kopf und konnte in der Finsternis nichts erkennen.

Thomas?

Sie hörte nur die Wellen.

Thomas?

Ella wurde übel, sie tastete um sich, die Decke, das Holz des Bootes. Thomas!

Was ist? Thomas klang heiser, er musste eingeschlafen sein.

Warum antwortest du nicht?

Ich antworte ja.

Mir … Ich … Ella tastete hinauf zum Rand des Bootes, sie spürte, wie ihr Magen sich umdrehte, unabwendbar, sie kniete und beugte sich über den Rand des Bootes, der plötzliche Schmerz ließ sie sich aufbäumen, sie spuckte aus.

Was machst du?

Ella kotzte. Sie wollte etwas sagen, aber sie musste kotzen und sich dabei am Rand des schaukelnden Bootes festhalten. Jetzt spürte sie Thomas’ Hand auf ihrem Rücken.

Kann ich dir helfen?

Ella schüttelte den Kopf, Thomas würde sie in der Finsternis nicht sehen können. Ella schob ihren Arm über den Bootsrand, hielt die Hand ins eisige Wasser, rieb ihre Finger aneinander und krümmte sie zu einer Schale. Das Seewasser schmeckte gut, süß und sanft, die eisige Kälte betäubte ihren Hals, linderte den sauren Geschmack.

Thomas hatte seinen Arm um Ellas Schultern gelegt.

Wie spät ist es? Sie drehte sich zu ihm um, noch immer schwankte alles, ihr war schwindelig, aber das Würgen war weg. Sie hatte kalten Schweiß auf der Stirn, am Rücken.

Warte, Thomas kroch über den Boden, er suchte etwas, Ella hörte das matte Fauchen eines Streichholzes. Zu feucht, Thomas gab nicht auf, er rieb jedes Streichholz mehrmals, ehe das Köpfchen blank war, ein drittes, ein viertes, bis endlich eine kleine Flamme zu sehen war. Die Kerze brannte nur schwach und Thomas musste die Flamme mit der Hand schützen, damit der Wind sie nicht gleich löschte. Halb vier. Er hielt seine Armbanduhr ans Ohr.

Der Schwindel überwältigte Ella, sie schloss die Augen. Als Wasserwaage stellte sie sich ihr Gehirn in seiner Schale vor, wo es auf- und abschwamm. Blau leuchtete ihr Gehirn, es sprühte winzige Blasen, die fein knackten, ehe sie leise aufplatzten. An ihren Händen spürte sie, wie Thomas ihr die wollenen Handschuhe anzog. Gefroren waren sie, steif und kalt. Es dauerte, weil Ella die Finger kaum bewegen konnte. Dann entfernte er sich, und Ella hörte ein Rumpeln. Er hob ihr Bein hoch, die Decke, das Boot schaukelte, offenbar suchte er etwas unter den Bänken. Sie wollte ihn fragen, konnte aber nicht sprechen. Ihre Zunge lag schwer und sauer im Mund. Als es wieder ruhiger war, blinzelte sie. Im Schein der Kerze, die Thomas in ein Weckglas gestellt hatte, sah sie, dass er sich den Gaskocher zwischen die Knie geklemmt hatte. Er versuchte die Flamme zu zünden.

Die Patrone ist leer.

Oder feucht, dachte Ella.

Ich glaube nicht, dass Feuchtigkeit für das Gas schlimm ist, was soll sie dem Gas anhaben? Es ist alle.

Mir egal, wollte Ella sagen, doch sie konnte nicht. Vielleicht musste sie sich noch einmal übergeben, auch wenn ihr Magen leer war.

Thomas kratzte mit dem Nagel über die Patrone. Er roch daran. Es war gewiss nur der Geruch verbrannten Horns, den das Streichholz an seinem Nagel hinterlassen hatte.

Wie lange wollten sie hier noch auf dem Wasser bleiben? Ellas Nase lief, das Taschentuch, das sie mit den Fingerspitzen in ihrer Hosentasche fühlte, war ein nasser Klumpen. Ella nahm alle Kraft zusammen, sie wollte ihre rauen Lippen öffnen, den Mund bewegen, die Zunge heben. Lass uns zurück, ich kann nicht mehr.

Thomas nickte, er schaute auf seinen Kompass. Nimmst du ihn, ich rudere? Er reichte Ella die kleine Schatulle.

Was glaubst du, wo wir sind?

Thomas sah sich um, kein Ufer war zu sehen, er legte den Kopf in den Nacken, weder Mond noch Sterne, nichts als Finsternis. Keine Ahnung. Er ruderte schneller. Wenn wir uns Nordnordost halten, müssten wir ans richtige Ufer gelangen.

Ein Wind kam auf, die Böe löschte die Kerze. Ella brauchte keinen Kompass, um zu wissen, wo Norden war. Sie schloss die Augen. Ab und an sagte sie Backbord, denn der Wind trieb sie zu weit nach Osten. Eine Ente schnatterte, eine zweite, man hörte ihre Flügel schlagen.

Sie konnte keinen Zeh einzeln bewegen, die Beine angezogen, saß Ella halb unter der klammen Decke, halb lag sie, den Kopf auf den Rand des Bootes gelegt, ein offenes Auge, das andere geschlossen. Vorsicht! Im Wasser war eine kleine Boje erkennbar. Ella reckte den Hals, noch immer konnte sie kein Ufer sehen, langsam, hier müssen irgendwo die Reusen sein.

Entschlossen hob Thomas einen Riemen aus dem Wasser, hielt ihn in der Luft, weil er sicher war, an ein Netz gekommen zu sein. Dann setzte er wieder ein. Thomas ruderte, es gab keinen ruhigeren, keinen besseren Bootsmann als ihn.

Bald darauf entdeckten sie die ersten Pfähle, die aus dem Wasser ragten. Ihre Markierung und die Anordnung der Reusen kam Thomas bekannt vor. Er sagte etwas, das Ella Mut machen sollte, aber sie konnte nicht einmal genau verstehen, was es war. Ella und die Kälte waren so sehr eins geworden, dass sie kaum noch etwas spürte, weder die Kälte noch sich selbst.

Sie ruderten nach Norden, aus dem Dunkel hoben sich Schatten, Nebel zog in Schwaden vorüber, gab für kurze Augenblicke die Sicht frei, in Umrissen zeichnete sich das Ufer ab, Bäume vielleicht, ein längerer Steg, an den beiden Trauerweiden und den schwachen Laternen erkannten sie jetzt Rahnsdorf. In der Ferne entdeckte Ella ein rotes Licht, ein grünes glomm auf, dort musste der kleine Hafen sein. Sie hielten sich westlich und ruderten an den ersten Häusern und am Hafen entlang. Die Bootshäuser erkannten sie, in einem hatten sie während des Sommers häufig gespielt, das Boot von Michael, mit dem sie zur Schule gingen, lag dort. Sie hatten sich ein Segel gebaut, in Käthes Atelier hatten sie ein großes Laken in warmes, flüssiges Wachs getaucht, es getrocknet und genäht, und segeln geübt, solange es hielt. Doch in dieser Frühe heute war keine Menschenseele zu sehen. Ella beobachtete die weißen Wolken ihres Atems; solange da Wolken waren, konnte sie noch nicht erfroren sein. Erst an der steinernen Mole legten sie an und vertäuten das Boot. Es war fast halb fünf, noch längst keine Spur von Dämmerung.

Thomas kletterte aus dem Boot. Er hielt es fest und so dicht an den Steinen, dass Ella sich über die Brüstung aus dem Boot wälzte, sie kugelte mehr, als dass sie stieg. Ihre Finger konnte sie nicht krümmen, sie sahen in den Wollhandschuhen wie Puppenhände aus, starr und leblos. Ella kroch auf den Knien, auf dem Bauch, mit etwas Kraft auf den Ellenbogen, mit beiden Armen zog sie sich an den Steinen empor. Sie konnte kaum gehen, eisige Klumpen waren ihre Füße, taub, selbst die Kniegelenke spürte sie nicht, sie knickte ein. Mit dem Ellenbogen schlug sie auf, ihre linke Hüfte stieß auf Stein, ein Schuh flog davon. Sie fing sich mit der steifen Hand, kippte zur Seite und saß auf den Steinen.

Thomas eilte zu ihr. Geht’s? Mühsam zog er ihr die Handschuhe ab, er griff ihre Hände, rieb sie zwischen seinen, und gemeinsam rieben sie Ellas Knie, sie hob die Beine, um in der Luft Rad zu fahren. Thomas hockte sich etwas tiefer neben Ella und rubbelte ihre Waden. Sie stöhnte, biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Dumpf schlug ihr Körper auf, ihre Schulter spürte sie kaum.

Ella! Thomas rüttelte an ihr. Ella! Er hatte sich über sie gebeugt und hauchte sie mit seinem dampfenden Atem an, der bis zu ihr schon wieder abgekühlt war. Was ist? Ella, sag was! Ella rührte sich nicht, still hielt sie, so still sie konnte. Es würde nicht lange dauern und er würde weinen vor Verzweiflung, ihr kleiner Bruder. Er hämmerte und rubbelte ihren Bauch, ihre Brust, er beugte sich zu ihrer Nase, gleich würde er sie beatmen wollen. Seine Stimme war Angst, Ella.

Die Glieder drohten wirklich zu erfrieren, plötzlich ergriff Ella Furcht, dass jeden Augenblick eintreten konnte, was sie ihm vorspielte. Sie sollte jetzt lachen, damit er wüsste, welchen Spaß sie mit ihm machte. Aber ihr Mund gehorchte nicht. Ella liebte es, ihm Angst einzujagen. Sie musste lachen, sie musste, und sie lachte, aus der Tiefe ihres Körpers drang ein glucksendes Geräusch.

Ella! Seine Erleichterung und das Glück, dass sie nicht gestorben war, waren so groß, dass Thomas ihr nicht böse sein konnte. Er umarmte sie.

Hilf mir, Ella konnte nicht laut sprechen, ihre Stimme krächzte, bitte, mach mich warm.

Thomas rieb, so kräftig und schnell er konnte, ihm wurde selbst warm davon. Lächelnd sagte er zu ihr: Deine Lippen sind aus Frost, sie sehen aus, als ob Raureif sie verklebt hat.

Vorsichtig bewegte Ella ihre kalten Lippen übereinander, sie waren rau von gesprungener Haut, sonst nichts. Als sie über Thomas’ Schulter hinwegsah, erkannte sie den Schein von zwei Taschenlampen, deren Licht durch die Nebellöcher fiel, die Kegel wanderten über das Wasser, als suchten sie es ab.

Sie suchen uns!

Nein, nur kurz hatte Thomas den Kopf über die Schulter gedreht und rieb unaufhörlich weiter, das sind die ersten Fischer, die zu den Reusen hinausfahren.

Halt mich, ich will aufstehen. Ella stützte sich auf Thomas.

Im Wald konnten sie kaum die Hand vor Augen sehen, es knackte unter ihren Füßen, sie mussten achtgeben, um nicht zu stolpern. Einmal blieben sie stehen, weil sie ein Rascheln, ein Grunzen, dann mehrhufiges Trappeln hörten. Wildschweine konnten angreifen, man kam ihnen besser nicht zu nahe. Schnaufen. Erst in der Gärtnerei konnten sie schattige Umrisse erkennen, die Schonung mit den kleinen Tannenbäumchen, die Reihen von Sträuchern, und seitlich die kahlen Gerippe der Gewächshäuser. Daran vorbei gelangten sie über die Obstwiese in Käthes Garten. Sie duckten sich unter den Ästen, passten auf, dass sie nicht ausrutschten, modernde Blätter und herbstfaules Gras glitschten unter ihrer frostigen Hülle. Das Haus war dunkel. Sie stiegen die Treppe zur Veranda hinauf, zum Glück war die Tür nicht abgeschlossen. Ein kurzes Bellen von Agotto – dann kam er mit wedelndem Schwanz, begrüßte die beiden Einbrecher und legte sich wieder auf seinen Platz unter der Bank. Im Haus war es still. Nur das Pendel der weißen Standuhr war zu hören. Thomas und Ella schlichen in die Küche, sie wollten Tee kochen. Auf dem Tisch entdeckte Ella einen Zettel mit Käthes vertrauter Schrift: Denkt an die Flaschen auf der Hintertreppe!

Sie bereiteten den Tee zu und gossen ihn in eine Feldflasche. Der warme Tee sollte ihnen über die frühen Morgenstunden helfen. Aus der Kammer nahmen sie die Wärmflasche. Sie achteten darauf, dass die Türen so geschlossen wurden, wie sie sie vorgefunden hatten, und beseitigten alle Spuren ihrer heimlichen Anwesenheit. Selbst die aufgeweichten Blätter des Teesuds nahmen sie in Zeitungspapier eingewickelt mit sich, um sie später am waldigen Ufer wegzuwerfen. Nichts sollte sie verraten. Über die Hintertreppe verließen sie das Haus. Noch war es dunkel. Im Hof öffneten sie leise die Tür des Schuppens, wo oben auf dem Regal eine Gaspatrone lag. Sie würden sich eine Suppe kochen können, im Wald, auf dem Boot, egal wo – sie würden den Tag überstehen. Ihr Verschwinden musste Käthe spätestens am Nachmittag auffallen, sie musste sich fragen, wann sie Ella und Thomas zuletzt gesehen habe. Sie würden vor der Dämmerung das Boot wieder erreichen, ehe jemand sie entdecken, und sie wollten bleiben, bis jemand sie vermissen würde.

Klettern

Seltsam, so eine Stille am Sonntag. Weißt du noch? Thomas dachte an das laute Gezeter, das Gebrüll und Geschrei. Die Stehlampe war zerbrochen und zertreten worden, Geschirr.

Ella nickte und streckte sich auf dem Boden des Baumhauses der Länge nach aus. Ich bin froh, dass er endlich weg ist.

Thomas schob drei Nägel zwischen seine Lippen, so konnte er besser eine Schlaufe in die Schnur knüpfen. Eine erstaunliche Stille, nur die Blätter der Ulme raschelten im Wind, Spätsommer. Am Vormittag waren Ella und Thomas im See baden gegangen, Ellas Haare waren noch feucht. Sie lag auf dem Rücken, hatte ihre Augen geschlossen und bürstete sie sich sorgfältig aus dem Gesicht, rund um ihren Kopf herum lagen sie auf dem Holz, ein Kranz, der Wind wirbelte nur einzelne Haare in die Luft. Wie eine schwarze Sonnenblume sah Ella aus.

Thomas knüpfte eine zweite Schlaufe, nahm einen Nagel aus dem Mund und hob den Hammer auf. Er schlug zu, der Nagel sprang ab.

Au! Ella setzte sich auf, hielt sich beide Augen zu und ächzte: Ich bin blind, Thomas, ich kann nichts mehr sehen.

Thomas schüttelte den Kopf, er ahnte, dass Ella spielte, er kannte sie. Er ließ den Hammer los und presste zugleich die Lippen um die Nägel zusammen, mit seiner Hand berührte er ihre Hände – und siehe da, sie ließ die Hände in den Schoß fallen und lachte ihm entgegen. Reingefallen, reingefallen! Sie legte sich wieder auf den Holzboden und schaute amüsiert zu, wie Thomas den weggesprungenen Nagel suchte.

War er hinunter ins Gras gefallen? Thomas tastete über das Holz, drehte sich in der Hocke, schaute unter seine nackten Fußsohlen, nirgends konnte er den Nagel entdecken. Vorsichtig nahm er einen zweiten aus dem Mund, hielt die Schlaufe und nahm den Hammer zur Hand. Warum Käthe diesen Mann bloß geheiratet hatte? Vielleicht hatte sie die Schmach unehelicher Kinder überwinden wollen, den Makel der Ehelosigkeit loswerden? Öfter sprach sie von Rassenschande, einmal hatte sie zu Ella und ihm gesagt: Dass es euch gibt, war ja der Beweis von Rassenschande. Das Wort klebte an ihr. So ein Gedanke war nach dem Krieg nicht einfach weg. Aber heiraten durfte sie dann, wen sie wollte. Und wer war da noch? Neugierig war Käthe im Jahr nach Kriegsende von ihrem Berg heruntergekommen und hatte die Wahl zum Kreisverband besucht. Wer nicht für den Krieg gewesen sein wollte, hielt scheu Ausschau unter den Kommunisten. Dort hatte sie Eduard zum ersten Mal gesehen. Später hatte er sie in die Landesleitung nach Freiburg befördert und ihr eine Fahrkarte zur Versammlung in die Hand gedrückt. Sie besuchte eine erste kommunistische Zusammenkunft nach dem Krieg. Wohl drei Jahre später waren sie sich nach einer Versammlung nahegekommen. Käthe behauptete, es sei in Freiburg gewesen, kurz vor Weihnachten, bei Minustemperaturen. Schnell musste es gegangen sein. Die winzigen Zwillinge, die mit dem Überleben kämpften, gebar sie ein Jahr später in der Nähe von Berlin. Ihre Eltern sollten ihr jetzt helfen, sie hatte weder Geld noch eine Betreuung für Ella und Thomas. Nur in die Hand konnten Eduard und Käthe sich vor ihrer Abreise ein Wiedersehen versprechen, verloben nannten sie das, denn er war von seiner Frau und Familie noch nicht geschieden. Fühlte sie sich von Leidenden angezogen? Sah sie Eduards Leid so tief wie ihres? Angezogen und abgestoßen. Der sonderbare Glanz seiner brachen Seele hatte sie wohl gereizt. Wer musste denn schon einmal einen Leichenberg über sich ertragen? Zusammengekehrt, gestapelt wie Müll. Die Aufseher waren geflohen, hatten alles stehen und liegen lassen, die Befreier bemühten sich um Ordnung, alles Tote gehörte unter die Erde. Er konnte nicht atmen und nicht schreien. War es nicht Zufall, dass jemand ihn in letzter Minute bemerkt hatte? Da bewegt sich was! An den Ruf erinnerte er sich, er hatte Thomas davon erzählt, ein einziges Mal, nach einem lauten Streit mit Käthe. Da bewegt sich was! hatte er bitter vor sich hingesagt und diese Worte gebraucht, um zu erzählen, woher sie kamen, woher er kam, wer er war. Thomas hatte Mitleid mit ihm empfunden. Es war nur sein Arm, der rausgeguckt hatte, den er mit aller Kraft bewegen wollte, zusammengequetscht von dem menschlichen Gewicht, den Massen, in denen er gewälzt wurde, dem fleischigen und knochigen Gestank von Verwesung rundherum. Das Kehrfahrzeug hielt an, der Motor wurde gedrosselt, kurz vor der Grube. Sie mussten die Leichen voneinander trennen, Knochenbündel einzeln hinabwerfen, bis er befreit war, das Licht ihn blendete, und zwei Arme ihn packten und vom Grubenrand davontrugen. Sprechen konnte er nicht mehr, Monate nicht. Spanienkämpfer, Dachau, das hatte Käthe imponiert. Ein ungewöhnlich armer Held war er. Da saß er monatelang, arbeitsunfähig, und vielleicht hoffte er, dass Käthe einmal Zeit fände für einen Kuss, seine Hand drücken, ihm in die Augen schauen würde. Thomas kannte keinen Menschen, der so beharrlich geschwiegen hatte wie er, stundenlang, tagelang, sein Schweigen hielt immer bis zum nächsten Anlass eines Streites. Es gab nur eine Person, mit der Eduard manchmal flüsternd gesprochen hatte, das war Ella, wenn sie an dem schweigenden Kloß nicht vorbeigegangen, sondern sich geradewegs zu ihm gesetzt hatte. Sie lächelte ihm dann zu, scharwenzelte um ihn herum, bis er mit der Hand auf sein Knie klopfte und sie geschwind der Aufforderung nachkam, auf seinen Schoß zu klettern: Hoppe, hoppe Reiter! Aber seit ein, zwei Jahren mochte Ella seinen Schoß weniger, sie setzte sich nicht mehr freiwillig, lehnte sich nicht mehr wohlig zurück und schnurrte wie eine Katze. Sie mied ihn, wich den Armen aus, die die Hände nach ihr streckten.

Der letzte Streit zwischen Käthe und Eduard hatte Anfang dieses Jahres stattgefunden, 1957, es war im Zimmer neben Ella und Thomas gewesen, sie hatten jedes Wort mithören müssen: Käthe zeterte, sie wollte ins Theater gehen, er sei noch kein einziges Mal mitgekommen, habe kein Interesse an nichts, er hielt ihr vor, sie schmeiße mit ihren Theaterbesuchen das Geld zum Fenster raus. Das Geld zum Fenster raus? Gibt es ein schöneres, ein wichtigeres, ein besseres Fenster als das Theater! Wessen Geld überhaupt? Wer arbeite denn schließlich? In ihrer Empörung wusste Käthe, seine jüngste Lähmungserscheinung in den Armen auszunutzen, vor seinen Augen nahm sie einen Meißel und brach die Schublade seines Schreibtisches auf. Mit bewegungslos schlaffen Armen musste er ihr zusehen. Einen Berg Geld fand sie in seinem Sekretär, über zweitausend Mark, ein ganzes Bündel Scheine. Mit allem hatte Käthe gerechnet, mit Briefen und Bildern, mit Dokumenten und zwielichtigen Souvenirs, auch Geld hatte sie darin vermutet, zwanzig Mark, fünfzig, hundert vielleicht. Aber nicht das. Ella und Thomas schlichen in den Flur und beobachteten unbemerkt durch die offene Tür die Szene. Schnöde Scheine. Die Schnödigkeit wehte Käthe wohl an wie ein Ungeheuer. Sie bewarf Eduard mit den Scheinen, die nicht an ihm haften wollten, die kein schlaffer Arm auffangen konnte, die zu Boden segelten. Außer sich vor Wut schrie sie ihm entgegen, er liege als Invalide auf der faulen Haut, lasse sie seit Jahren allein für die sechsköpfige Familie aufkommen, kümmere sich um nichts, vertreibe die Haushaltshilfen, lasse sie allein arbeiten – jede Mark drehe sie um! Er brüllte, sie solle ihn nicht wie ein unmündiges Kind behandeln. Seinen Schreibtisch habe sie aufgebrochen, sie sei kriminell, mit so einer müsse er unter einem Dach leben. Auch er habe Rechte. Brüllen konnte Käthe so gut wie er, aber sie kläffte, kurz und knapp: kriminell sei vielmehr er. All die Jahre habe sie allein geschuftet und er habe hinter ihrem Rücken Geld gehortet wie ein Verrückter! Was für Geld eigentlich, woher und wofür? Das gehe sie nichts an, er habe ein Recht auf dieses Geld, er habe dafür gearbeitet. Käthe keifte zurück: Gearbeitet, ach ja? Wann und wo er denn in den letzten Jahren gearbeitet habe? Ob er glaube, dass sie nicht wisse, was er mache, faul sein und hin und wieder einen Dienst für die Freunde erledigen!

Jetzt unterbrach er sie, gekämpft und gelitten, das habe er, davon verstehe sie nichts, zischte er, sie solle still sein, sonst würde sie ihn kennenlernen, und nicht nur ihn. Nicht nur ihn? Sie solle sich nicht aufspielen, vom Befreundeten Dienst wisse sie gar nichts. Darauf sie, ob er sie für blöd halte? Befreundeter Dienst? Vielleicht habe er niemals daran gedacht, dass auch sie den Freunden Dienste erweise, aber unentgeltlich, ganz im Gegensatz zu ihm. Kein wahrer Kommunist sei er, sondern ein gieriger alter Lump und Geizkragen, der ihr und den Kindern vorenthalte, was ihnen zustehe. Er jammerte, er sei ein geschädigter Mann, sie erinnere sich vielleicht, wen sie geheiratet habe, und stieß dabei bitterböse Verwünschungen aus. Käthe sagte, sie habe ihn wegen der Zwillinge geheiratet, in der Hoffnung, dass wenigstens die einen Vater hätten – aber dieser Vater betrüge seine eigenen Kinder, ein Gauner sei er, ein elender Halunke, enthalte ihnen Geld vor, dass er klammheimlich über Jahre in seiner Schublade gehortet habe. Schämen solle er sich und zum Teufel scheren, raus, wohin auch immer – nur weg.

Sie legte ihre Kette aus Pfirsichkernen um den Hals, hob einen der Geldscheine auf und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, das Theater begann in einer Stunde.

Und er verschwand. Wenige Wochen später war sein Zimmer leer gewesen.

Thomas schlang die Schnur um einen kleineren Ast und verknotete sie. Das andere Ende der Schnur nahm er auf und webte es in die Dachmatte. Ella hatte sich eine kleine Bank gewünscht, heute Nachmittag würde er sie ihr in das Baumhaus bauen, er wusste schon wo, er würde die tiefe Astgabel dafür nutzen. Aber noch war das Dach nicht windfest.

Ellas Stimme war ungewohnt flach, fast beiläufig klang es: Ich hasse Eduard.

Ausgerechnet. Warum hast du dann immer auf seinem Schoß gesessen?

Hab’ ich nicht.

Doch. Ständig. Mit der Schnur versuchte Thomas das Laubdach ihres Baumhauses zu befestigen. Zweige hatte er ineinandergeflochten, um es stabil zu machen. Ella setzte sich auf und verschränkte ihre Beine im Schneidersitz.

Aus Sehnsucht. Ich hab an unseren Vater gedacht. Und hab’ mir vorgestellt, wie er so war. Auf seinem Schoß saß ich, nicht auf Eduards.

Wirklich? Thomas schüttelte den Kopf, er dachte nicht gern daran. Jeder andere hat dich auf Eduards Schoß gesehen.

Mit beiden Armen schubste Ella Thomas, so dass er gegen den Baumstamm gestoßen wurde. Sei nicht blöd, sie war wütend, du weißt ganz genau, was er gemacht hat.

Thomas senkte die Augen, er wusste es, Ella hatte ihm nicht nur davon erzählt. Er hatte den alten Eduard vor Augen, wie er in seinem großen Sessel saß, wie er an Ellas Arm zog, wenn sie vorbeigehen wollte, damit sie sich auf seinen Schoß setzte. Ellas Kichern, sein Kichern. Thomas sah Eduards Hände auf Ellas Hüften, auf Ellas Beinen, er erinnerte sich, wie Eduard geheimnisvoll grinsend etwas in ihr Ohr flüsterte, von dem Ella ihm erst später verriet, was es war. Thomas hatte es nicht gemocht, wie die beiden zusammengesessen hatten, er hatte Ellas Gesicht nicht gemocht, wenn sie auf seinem Schoß gesessen hatte. Komm spielen, hatte er Ella dann aufgefordert, damit sie von seinem Schoß runterkäme. Einmal hatte Eduard zu Thomas gesagt: Du bist Käthes Liebling, meiner ist Ella.