Rückkehr zur Menschlichkeit - Dalai Lama - E-Book

Rückkehr zur Menschlichkeit E-Book

Dalai Lama

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Beschreibung

Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Terrorismus, Finanzkrise - wir sind weit davon entfernt, glücklich zu sein. Die Weltgemeinschaft steht vor enormen Problemen, und obwohl wir näher zusammengerückt sind als jemals zuvor, scheinen wir sie nicht meistern zu können. Denn erst wenn ein neues Wertesystem gefunden ist, auf das sich alle Völker und Religionen dieser Erde einigen können, werden wir friedliche und erfolgreiche Lösungen finden. Der Dalai Lama entwirft ein Wertesystem, das über alle Religionen hinweg funktioniert und sich nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch von jedem von uns im Alltag umsetzen lässt.

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Seitenzahl: 247

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Seine Heiligkeit

DER XIV. DALAI LAMA

RÜCKKEHR ZUR MENSCHLICHKEIT

NEUE WERTE IN EINER GLOBALISIERTEN WELT

Aus dem Englischen von Waltraud Götting

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.

Titel der englischen Originalausgabe: »Beyond Religion: Ethics for a Whole World«

Für die Originalausgabe: Copyright © by Tenzin Gyatso, the Fourteenth Dalai Lama of Tibet, 2011

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Dr. Anita Krätzer Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Umschlagmotiv: © shutterstock/nagib E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-1020-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

INHALT

VorwortEinleitungTEIL I · EINE NEUE SÄKULARE ETHIK1 Den Säkularismus neu durchdenken2 Unser gemeinsames Menschsein3 Das Streben nach Glück4 Mitgefühl, die Grundlage des Wohlergehens5 Mitgefühl und die Frage der Gerechtigkeit6 Die Rolle des Urteilsvermögens7 Ethik in unserer gemeinsamen WeltTEIL II · SCHULUNG DES HERZENS DURCH GEISTIGES TRAININGEinleitung: Bei sich selbst beginnen8 Ethische Achtsamkeit im täglichen Leben9 Der Umgang mit destruktiven Gefühlen10 Die Entwicklung grundlegender innerer Werte11 Meditation als geistige WeiterentwicklungSchlussbemerkung

VORWORT

Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Glück, von dem gleichen, noch um ein paar weitere Personen verstärkten Team unterstützt zu werden, mit dem ich bereits beim Buch der Menschlichkeit zusammengearbeitet habe. Ich möchte daher den beteiligten Mitarbeitern meines Privatbüros für ihr großes Engagement, meinem langjährigen Übersetzer Thupten Jinpa Langri für seine unschätzbare Hilfe sowie Alexander Norman und seinem Partner George FitzHerbert für ihre redaktionelle Sorgfalt danken.

Ich hoffe von Herzen, mit dem, was ich hier geschrieben habe, einen Beitrag – und sei er auch noch so klein – dazu leisten zu können, eine von mehr Mitgefühl geprägte, friedlichere Welt zu schaffen. Natürlich werden wir die Welt nicht über Nacht verändern. Und wir werden sie auch nicht mit einem schmalen Büchlein wie dem vorliegenden ändern. Die Veränderung kann sich nur schrittweise durch ein wachsendes Bewusstsein einstellen, und das Bewusstsein wird durch Bildung entstehen. Wenn die Leserin oder der Leser in diesem Buch irgendetwas Nützliches findet, hat sich unsere Mühe gelohnt. Wer allerdings nichts dergleichen findet, sollte keine Hemmungen haben, es aus der Hand zu legen.

Dharamsala

Juni 2011

EINLEITUNG

Ich bin jetzt ein alter Mann. Geboren wurde ich 1935 in einem kleinen Dorf im Nordosten Tibets. Aus Gründen, die nicht meinem Einfluss unterliegen, habe ich den größten Teil meines Erwachsenenlebens als staatenloser Flüchtling in Indien zugebracht, das seit über fünfzig Jahren meine zweite Heimat ist. Ich bezeichne mich oft scherzhaft als Indiens Gast mit der längsten Verweildauer. Ebenso wie andere Menschen in meinem Alter habe ich viele der dramatischen Ereignisse miterlebt, welche die Welt, in der wir leben, geformt haben. Seit Ende der 1960er Jahre bin ich auch viel in der Welt herumgekommen und hatte die Ehre, Menschen unterschiedlichster Herkunft kennenzulernen – nicht nur Präsidenten und Premierminister, Könige, Königinnen und die Oberhäupter aller Weltreligionen, sondern auch unzählige Durchschnittsmenschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Wenn ich auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicke, sehe ich viel Grund zur Freude. Dank des medizinischen Fortschritts wurden tödliche Krankheiten besiegt. Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit und haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung bekommen. Wir haben eine UN-Menschenrechtscharta, und das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Rechte hat ungemein zugenommen. Das hatte zur Folge, dass sich der Gedanke der Freiheit und der Demokratie in der Welt weiter verbreitet hat, und es wächst die Erkenntnis, dass die Menschheit ein zusammengehöriges Ganzes ist. Auch die Bedeutung einer intakten Umwelt wird uns zunehmend bewusst. In vielerlei Hinsicht waren die letzten fünfzig Jahre eine Zeit des Fortschritts und der positiven Veränderungen.

Gleichzeitig gibt es ungeachtet der großen Fortschritte in sehr vielen Bereichen immer noch großes Leid, und es türmen sich weiterhin gewaltige Schwierigkeiten und Probleme vor der Menschheit auf. Während die Menschen in den reicheren Ländern der Welt ein von hohem Konsum geprägtes Leben führen, können unzählige Millionen nicht einmal ihre elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges in den Hintergrund getreten, aber immer noch leiden viele Menschen unter den tragischen Folgen bewaffneter Konflikte. In vielen Teilen der Welt haben Menschen zudem mit Umweltproblemen zu kämpfen, die ihren Lebensunterhalt bedrohen oder noch schlimmere Konsequenzen für sie haben, während sich andere in einem Umfeld der Ungleichheit, Korruption und Ungerechtigkeit behaupten müssen.

Nöte dieser Art sind nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt. Auch die reichen Industrienationen sehen sich mit Problemen konfrontiert, zu denen weitverbreitete gesellschaftliche Probleme wie Alkoholismus, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt und der Zerfall der Familie gehören. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Kinder, um deren Bildung und Erziehung und darum, was die Zukunft für sie bereithält. Zu alledem müssen wir erkennen, dass wir mit unserer Lebensweise unseren Planeten möglicherweise unwiderruflich zerstören, und auch das ist eine Bedrohung, die weitere Ängste erzeugt. Und all die Belastungen unserer Zeit führen dazu, dass wir unter Stress, Angstgefühlen und Depressionen leiden und zunehmend vereinsamen. Die Folge ist, dass die Menschen, wohin ich auch komme, klagen. Sogar ich selbst ertappe mich manchmal dabei, dass ich klage!

Fest steht, dass in der Art, wie wir Menschen an die Dinge herangehen, irgendetwas Entscheidendes fehlt. Aber was ist es, das uns fehlt? Das grundlegende Problem besteht meiner Ansicht nach darin, dass wir den äußeren, materiellen Aspekten des Lebens in jeder Hinsicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, während wir die ethischen, inneren Werte vernachlässigen.

Mit inneren Werten meine ich die Qualitäten, die wir alle bei anderen schätzen und die in uns angelegt sind, weil wir durch unsere biologische Natur zu den Tieren gehören, die nur in einem Umfeld der Fürsorge, Zuneigung und Warmherzigkeit – mit einem Wort: des Mitgefühls – überleben und gedeihen können. Das Wesen des Mitgefühls besteht in dem Wunsch, das Leid anderer zu lindern und ihr Wohlergehen zu fördern. Das ist der spirituelle Grundsatz, aus dem alle anderen positiven inneren Werte hervorgehen. Wir alle schätzen an anderen Eigenschaften wie Güte, Geduld, Toleranz, Versöhnlichkeit und Großzügigkeit, und im gleichen Maße sind uns alle Anzeichen von Habgier, Bosheit, Hass und Engstirnigkeit zuwider. Wenn wir also die positiven inneren Qualitäten des menschlichen Herzens fördern, die unserer Grundveranlagung zum Mitgefühl entspringen, und lernen, gegen unsere destruktiveren Neigungen anzukämpfen, wird dies jedermanns Zustimmung finden. Und die Ersten, die von einer solchen Stärkung unserer inneren Werte profitieren, sind zweifellos wir selbst. Wenn wir gleichgültig sind gegenüber unserem Innenleben, tun wir dies auf eigene Gefahr, denn ein großer Teil der gravierendsten Probleme, mit denen wir in der heutigen Welt konfrontiert sind, ist das Ergebnis dieser Gleichgültigkeit.

Vor kurzem war ich in Orissa, einem Bundesstaat im Osten Indiens. Die Armut, die in diesem Teil des Subkontinents vor allem unter den Stammesvölkern herrscht, hat in den vergangenen Jahren zunehmend zu Konflikten und Unruhen geführt. Bei einem Treffen mit einem Parlamentsmitglied aus der Region habe ich das Thema angesprochen. Ich erfuhr, dass es bereits Gesetze zum Schutz der Stammesvölker sowie eine Reihe finanziell gut ausgestatteter Regierungsprogramme zur Verbesserung ihrer Lebenssituation gibt. Das Problem, so sagte mein Gesprächspartner, sei aber, dass die von der Regierung zur Verfügung gestellten Mittel diejenigen, für die sie bestimmt seien, nicht erreichen. Wenn solche Hilfsprojekte durch die Unfähigkeit, Korruption und Verantwortungslosigkeit derer, die sie leiten sollen, unterlaufen werden, sind sie nutzlos.

Dieses Beispiel zeigt deutlich: Selbst wenn ein System auf gesunden Füßen steht, hängt seine Leistungsfähigkeit davon ab, wie es umgesetzt wird. Letztlich können alle Systeme, Gesetze und Maßnahmen nur so wirkungsvoll sein wie die Menschen, die für ihre Umsetzung verantwortlich sind. Wenn ein gutes System aufgrund mangelnder persönlicher Integrität missbraucht wird, kann es leicht mehr Schaden als Nutzen stiften. Das ist eine allgemeine Wahrheit, die für alle Bereiche des menschlichen Tuns gilt, selbst für die Religion. Auch sie kann, wenn sie missbraucht wird, zu einer Quelle des Streits und der Spaltung werden, obwohl ihr sicher die Möglichkeit innewohnt, den Menschen dabei zu helfen, ein sinnvolles und glückliches Leben zu führen. Gleiches gilt für den Handel und die Finanzen: Auch wenn die Systeme selbst gesund sein mögen, werden ihre Vorteile unterminiert, wenn sie von skrupellosen Menschen benutzt werden, deren Denken und Tun von Eigennutz und Habgier bestimmt sind. Leider können wir dies in vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten, sogar im internationalen Sport, wo Korruption oft das fundamentale Prinzip des Fair Play gefährdet.

Natürlich sind sich viele scharfsichtige Menschen dieser Probleme bewusst und versuchen in ihrem eigenen beruflichen Umfeld ernsthaft dagegen anzugehen. Politiker, Beamte, Anwälte, Pädagogen, Umweltschützer, Aktivisten und andere – Menschen aus allen erdenklichen Bereichen – engagieren sich bereits in diesem Sinne. Tatsache ist jedoch, dass wir, so positiv diese Bemühungen auch sein mögen, unsere Probleme nicht allein dadurch lösen werden, dass wir neue Gesetze und Vorschriften erlassen. Letztendlich sind unsere Probleme auf der individuellen Ebene angesiedelt. Wenn es den Menschen an Werten und Integrität fehlt, reicht das beste Regel- und Gesetzeswerk nicht aus. Solange sich das Hauptinteresse der Menschen auf materielle Werte richtet, wird es Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Intoleranz und Habgier – alles äußere Zeichen einer Vernachlässigung der inneren Werte – geben.

Was also sollen wir tun? Wo sollen wir Hilfe suchen? Die Wissenschaft hat bisher bei allem Nutzen, den sie für die materielle Welt gebracht hat, noch keine wissenschaftliche Basis für die Entwicklung der Grundlagen persönlicher Integrität geliefert, also für die elementaren inneren Werte, die wir an anderen schätzen und die in uns selbst zu fördern wir gut beraten wären. Vielleicht sollten wir die inneren Werte in der Religion suchen, wie es die Menschen jahrtausendelang getan haben? Sicher, die Religion hat in der Vergangenheit Millionen Menschen geholfen, hilft heute noch Millionen und wird dies auch in der Zukunft tun. Aber so hilfreich sie als moralische Orientierungshilfe und als Sinnstiftungsmoment für uns auch sein mag – in der säkularen Welt von heute reicht die Religion als ethische Grundlage nicht mehr aus. Einer der Gründe hierfür ist, dass viele Menschen keiner bestimmten Religion mehr anhängen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Menschen im Zeitalter der Globalisierung und in multikulturellen Gesellschaften immer stärker miteinander vernetzt sind und eine in einer bestimmten Religion verwurzelte Ethik nicht für alle eine Bedeutung hat, sondern nur einige von uns anspricht.

Früher, als die Völker noch relativ isoliert voneinander waren – wie wir Tibeter beispielsweise, die wir viele Jahrhunderte lang einigermaßen glücklich hinter unserer Wand aus Bergen lebten –, war es kein Problem, dass die einzelnen Gemeinschaften ihre jeweils eigenen, religiös begründeten ethischen Einstellungen vertraten. Doch keine auf der Basis einer Religion entwickelte Antwort auf das Problem der Vernachlässigung unserer inneren Werte kann heute für alle gelten, und deshalb ist solch eine Basis nicht mehr angemessen. Was wir heute brauchen, ist eine ethische Grundlage, die sich nicht auf Glaubenssysteme bezieht und daher sowohl für religiöse als auch für nichtreligiöse Menschen annehmbar ist: eine säkulare Ethik.

Diese Aussage mag aus dem Munde eines Mannes, der von klein auf die Mönchskutte getragen hat, seltsam klingen. Aber ich sehe darin keinen Widerspruch. Mein Glaube schreibt mir vor, mich für das Wohlergehen und den Nutzen aller empfindenden Wesen einzusetzen, und ich handele vollkommen in diesem Sinne, wenn ich über meine eigene Religion hinaus auch den Angehörigen anderer Religionen und jenen, die keiner Religion angehören, die Hand reiche.

Ich bin zuversichtlich, dass es möglich und lohnend ist zu versuchen, einen neuen Weg zu einer allgemeingültigen säkularen Ethik zu beschreiten. Diese Zuversicht speist sich aus meiner Überzeugung, dass alle Menschen im Grunde ihres Wesens zu dem neigen oder zu dem streben, was wir als gut empfinden. Was wir auch tun, wir tun es, weil wir glauben, dass es in irgendeiner Weise nützlich ist. Zugleich wissen wir alle die Güte anderer zu schätzen. Wir alle fühlen uns naturgemäß zu den elementaren menschlichen Werten der Liebe und des Mitgefühls hingezogen. Uns allen ist Nächstenliebe angenehmer als Hass gegenüber anderen. Die Großzügigkeit anderer ist uns lieber als ihre Gemeinheit. Und wer von uns würde nicht lieber mit Toleranz, Respekt und Nachsicht behandelt werden als mit Engstirnigkeit, Nichtachtung und Feindseligkeit?

Angesichts dessen bin ich fest davon überzeugt, dass wir über Wege und Mittel verfügen, eine Basis für unsere inneren Werte zu schaffen, die keiner Religion widerspricht, aber auch, und das ist von entscheidender Bedeutung, von keiner Religion abhängig ist. Im Verlauf dieses Buches werde ich Vorschläge für die Entwicklung und Umsetzung eines solchen neuen Ethiksystems machen. Ich hoffe, auf diese Weise zu einem besseren Verständnis der Notwendigkeit einer ethischen Bewusstheit und innerer Werte in unserem Zeitalter des ausufernden Materialismus beitragen zu können.

Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass ich nicht die Absicht habe, moralische Werte zu diktieren. Das würde niemandem nützen. Der Versuch, anderen moralische Grundsätze von außen aufzuzwingen und sie sozusagen auf Befehl vorzuschreiben, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielmehr appelliere ich an jeden Einzelnen von uns, sein eigenes Verständnis von der Bedeutung innerer Werte zu entwickeln. Denn diese inneren Werte bilden den Urgrund, aus dem sich sowohl eine ethisch harmonische Welt als auch der individuelle innere Frieden, die Zuversicht und das Glück, nach dem wir alle streben, speisen. Natürlich können alle großen Weltreligionen mit ihrer Betonung der Liebe, des Mitgefühls, der Geduld, der Toleranz und der Versöhnlichkeit innere Werte fördern, und das tun sie auch. Aber angesichts der Realität unserer heutigen Welt ist es nicht mehr angemessen, die Ethik auf die Religion zu gründen. Darum ist es, glaube ich, an der Zeit, unserem Verständnis von Spiritualität und Ethik einen neuen Weg jenseits der Religion zu eröffnen.

TEIL I

EINE NEUE SÄKULARE ETHIK

1 DEN SÄKULARISMUS NEU DURCHDENKEN

INNERE WERTE IN EINEM ZEITALTER DER WISSENSCHAFT

Ich bin ein Mann der Religion, aber die Religion allein kann nicht all unsere Probleme lösen.

Kürzlich habe ich an einer formellen Eröffnungszeremonie für einen neuen buddhistischen Tempel in Bihar, einem besonders bevölkerungsreichen und armen Bundesstaat im Norden Indiens, teilgenommen. Der Ministerpräsident von Bihar, mit dem ich seit langem befreundet bin, hielt eine schöne Rede, in der er seiner Überzeugung Ausdruck gab, der Staat Bihar werde nun mit Hilfe von Buddhas Segen aufblühen. Als ich an der Reihe war mit einer Rede, meinte ich halb im Scherz, dass Bihar schon vor langer Zeit hätte aufblühen müssen, wenn sein Wohlstand allein vom Segen Buddhas abhängig wäre. Schließlich befinde sich das größte Heiligtum der Buddhisten in Bihar – Bodhgaya, der Ort, an dem der historische Buddha die vollkommene Erleuchtung erlangte. Damit sich die Dinge wirklich verändern, brauchten wir mehr als den Segen Buddhas, so machtvoll er auch sein möge, und mehr als Gebete. Es müsse auch gehandelt werden, und das geschehe nur durch die fähigen Anstrengungen des Ministerpräsidenten und seinesgleichen!

Damit will ich nicht sagen, dass Gebete nutzlos sind. Ganz und gar nicht: Meiner Meinung nach hat das Beten einen immensen psychologischen Nutzen. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass seine konkrete Wirkung oft nur schwer zu erkennen ist. Wenn es um belastbare, direkte Ergebnisse geht, kann das Gebet beispielsweise nicht mit den Errungenschaften der modernen Wissenschaft Schritt halten. Als ich vor ein paar Jahren erkrankte, war es natürlich tröstlich zu wissen, dass es Menschen gab, die für mich beteten, aber, das muss ich gestehen, noch tröstlicher war es zu wissen, dass das Krankenhaus, in dem ich lag, über die neuesten Geräte zur Behandlung meiner Krankheit verfügte.

Wenn man bedenkt, dass die Menschheit seit etwa zweihundert Jahren die physikalische Welt in immer stärkerem Maße beherrscht, ist es nicht verwunderlich, dass sich manche Leute fragen, ob wir die Religion überhaupt brauchen. Dinge, von denen man in früheren Zeiten nur träumen konnte – die Überwindung von Krankheiten, die Raumfahrt, Computer – sind durch die Wissenschaft Wirklichkeit geworden. Daher ist es kein Wunder, dass viele Menschen ihre ganze Hoffnung auf die Wissenschaft setzen und sogar glauben, Glück sei mit den Mitteln, die uns die materielle Wissenschaft an die Hand gibt, zu erlangen.

Doch während ich verstehe, warum die Wissenschaft den Glauben aus der Perspektive der traditionellen Religion in mancher Hinsicht untergraben hat, sehe ich keinen Grund, warum wissenschaftlicher Fortschritt diese Wirkung auch für das Konzept der inneren oder spirituellen Werte haben sollte. Vielmehr werden diese inneren Werte im Zeitalter der Wissenschaft dringender benötigt als je zuvor.

Um in diesem wissenschaftlichen Zeitalter ein überzeugendes Plädoyer für die Bedeutung innerer Werte und einer ethischen Lebensführung zu halten, wäre es am besten, rein wissenschaftlich zu argumentieren. Auch wenn eine solche Argumentation, die sich ausschließlich auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung stützt, noch nicht möglich ist, bin ich überzeugt, dass sich mit der Zeit immer mehr gesicherte wissenschaftliche Beweise für den Nutzen innerer ethischer Werte herauskristallisieren werden.

Sicher bin ich kein Wissenschaftler, und als ich ein Kind war, gehörte die moderne Wissenschaft nicht zu meinem offiziellen Lehrplan. Aber seit ich im Exil lebe, habe ich sehr vieles nachgeholt. Seit über dreißig Jahren treffe ich mich regelmäßig mit Experten und Forschern aus vielen Wissenschaftsbereichen einschließlich der Physik, der Kosmologie, der Biologie, der Psychologie und neuerdings auch der Neurowissenschaften. In der kontemplativen Tradition aller Religionen wird der Erforschung der inneren Welt der Erfahrung und des Bewusstseins große Bedeutung beigemessen, darum bestand eines meiner Ziele bei diesen Gesprächen unter anderem darin, mehr über das wissenschaftliche Verständnis von Bereichen wie dem Denken, Fühlen und subjektiven Erleben zu erfahren.

Dass diese Themen, die so lange vernachlässigt wurden, in der Wissenschaft und insbesondere in den Neurowissenschaften heute zunehmend an Bedeutung gewinnen, stimmt mich zuversichtlich. Und ich beobachte mit Freude, dass sich die wissenschaftlichen Methoden auf diesen Gebieten dahingehend verändern, dass das bisher geltende Prinzip der objektiven Verifizierbarkeit durch einen Beobachter nun um den Bereich des subjektiven Erlebens erweitert wird. Beispielhaft für diese neue Entwicklung ist der neurophänomenologische Ansatz meines verstorbenen Freundes Francisco Varela.

Darüber hinaus beschäftigt mich seit langem die Frage nach einer wissenschaftlichen Grundlage, auf der sich die Wirkungen der kontemplativen Praktik und der bewussten Entwicklung von Werten wie Mitgefühl, liebender Güte, Achtsamkeit und innerer Ruhe verstehen lassen. Denn wenn sich wissenschaftlich beweisen ließe, dass solche Praktiken sowohl möglich als auch nützlich sind, könnten sie möglicherweise sogar im allgemeinen Bildungssystem verankert und gefördert werden.

Zum Glück haben Evolutionsbiologie, Neurowissenschaften und andere Forschungsgebiete inzwischen eine substanzielle Menge an Ergebnissen vorgelegt, die selbst unter Anlegung strengster wissenschaftlicher Kriterien nahelegen, dass Selbstlosigkeit und Rücksichtnahme auf andere nicht nur in unserem eigenen Interesse, sondern auch gewissermaßen in unserer biologischen Natur angelegt sind. Diese Erkenntnisse, gepaart mit dem, was wir aus persönlicher Erfahrung wissen und was uns unser gesunder Menschenverstand sagt, liefern meiner Ansicht nach überzeugende Argumente dafür, welchen Nutzen es bringt, elementare menschliche Werte zu fördern, die unabhängig von religiösen Grundsätzen oder überhaupt von einem Glauben sind. Und das begrüße ich.

ANNÄHERUNG AN DEN SÄKULARISMUS

Dies ist die Grundlage dessen, was ich als »säkulare Ethik« bezeichne. Mir ist bewusst, dass einige Menschen, vor allem einige Christen und Muslime, meinen Gebrauch des Wortes »säkular« als problematisch betrachten. Für manche beinhaltet schon der Begriff eine ablehnende oder gar feindselige Haltung gegenüber der Religion. Sie haben vielleicht den Eindruck, dass ich, indem ich das Wort gebrauche, dafür plädiere, die Religion aus ethischen Systemen oder gar aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu verbannen. Das jedoch liegt mir fern. Mein Verständnis des Wortes »säkular« gründet sich vielmehr auf die Art, wie der Begriff im Allgemeinen in Indien gebraucht wird.

Indien hat heute eine säkulare Verfassung und ist stolz darauf, ein säkulares Land zu sein. Die indische Definition des Wortes »säkular« drückt keine Ablehnung von Religion oder religiösen Menschen aus, sondern sie beinhaltet vielmehr einen tiefen Respekt vor und eine Toleranz gegenüber allen Religionen. Sie schließt eine integrierende, vorurteilslose Haltung ein, die auch Nichtgläubige einbezieht.

Dieses Verständnis von Säkularismus – im Sinne gegenseitiger Toleranz und Achtung sowohl gegenüber allen Religionen als auch gegenüber Nichtgläubigen – entspringt dem besonderen geschichtlichen und kulturellen Hintergrund Indiens. Auf die gleiche Weise leitet sich, wie ich annehme, das westliche Verständnis des Begriffs aus der europäischen Geschichte her. Ich bin kein Historiker und sicher kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich denke, dass mit den rasanten Fortschritten der Wissenschaft in Europa eine immer größere Hinwendung zur Rationalität erfolgte. Und diese Rationalität beinhaltete unter anderem eine Ablehnung dessen, was nun als Aberglaube der Vergangenheit eingestuft wurde. Für viele radikale Denker der damaligen Zeit – und das gilt auch noch heute – beinhaltete die Hinwendung zur Rationalität zwangsläufig die Abkehr vom religiösen Glauben. Die Französische Revolution, in der so viele Ideale der Aufklärung zum Tragen kamen, war mit ihrer religionsfeindlichen Ausprägung beispielhaft für diese Tendenz.

Natürlich kamen in der Ablehnung der Religion auch wichtige gesellschaftskritische Aspekte zum Ausdruck. Religion und Kirche galten nun als konservativ und traditionsverhaftet und wurden mit den alten Regimen und all ihren Fehlern und Schwächen assoziiert. Als Folge dieser historischen Entwicklung haben viele einflussreiche Denker und Reformer des Westens in den vergangenen zwei Jahrhunderten die Religion nicht als einen Weg zur Befreiung des Menschen gesehen, sondern als ein Hindernis, das dem Fortschritt im Wege steht. Vom Marxismus, einer der mächtigsten säkularen Ideologien des 20. Jahrhunderts, wurde die Religion sogar als »Opium fürs Volk« gebrandmarkt. Das hatte schwerwiegende Folgen, denn die kommunistischen Regime unterdrückten in weiten Teilen der Welt die Religion gewaltsam.

Meiner Einschätzung nach ist es ein Ergebnis dieser Geschichte, dass der Säkularismus und die Religion im Westen so oft als unvereinbare Gegensätze angesehen werden und die Verfechter beider Seiten sich ein beträchtliches Maß an Misstrauen und Feindseligkeit entgegenbringen. Während ich jedoch die Auffassung ablehne, die Religion stehe der menschlichen Entwicklung im Wege, finde ich, dass ablehnende Gefühle gegenüber der Religion historisch betrachtet durchaus verständlich sein können. Die Geschichte konfrontiert uns mit der unangenehmen Wahrheit, dass religiöse Institutionen und Anhänger sämtlicher Glaubensgemeinschaften irgendwann andere ausgebeutet haben. Die Religion hat auch nicht selten als Vorwand für Kriege und Unterdrückung gedient. Selbst der Buddhismus mit seiner Lehre von der Gewaltlosigkeit kann diesen Vorwurf nicht gänzlich von sich weisen.

Wenn also – im Westen oder anderswo – die negative Einstellung zur Religion der Sorge um Gerechtigkeit entspringt, muss man sie respektieren. Mehr noch: Wer die Scheinheiligkeit von Religionsvertretern aufzeigt, die den von ihnen selbst proklamierten ethischen Prinzipien zuwiderhandeln, und wer sich gegen Ungerechtigkeiten erhebt, die von religiösen Institutionen und ihren Repräsentanten begangen werden, der stärkt sogar die Tradition selbst und nützt ihr. Bei der Bewertung einer solchen kritischen Einstellung muss man jedoch unterscheiden zwischen der Kritik, die sich gegen die Religion als solche richtet, und jener, die den religiösen Institutionen gilt, denn das können zwei vollkommen verschiedene Dinge sein.

Der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit widerspricht meiner Ansicht nach in keiner Weise irgendwelchen religiösen Grundsätzen, denn im Mittelpunkt aller großen Glaubenslehren steht das Bemühen, die positivsten Charaktereigenschaften des Menschen zu fördern und Werte wie Güte, Mitgefühl, Versöhnlichkeit, Geduld und persönliche Integrität zu nähren und zu stärken.

DER SÄKULARISMUS IN INDIEN

Für mich hat das Wort »säkular« also nichts Beängstigendes. Ich denke dabei vielmehr an die Gründerväter von Indiens säkularer Verfassung, an Menschen wie Bhimrao Ramji Ambedkar oder Rajendra Prasad, den persönlich zu kennen ich die Ehre hatte. Mit ihrem Eintreten für einen säkularen Staat verfolgten sie keineswegs das Ziel, die Religion abschaffen, sondern es war für sie die formelle Anerkennung der religiösen Vielfalt in der indischen Gesellschaft. Mahatma Gandhi, dessen Geist die Verfassung geprägt hat, war selbst ein zutiefst religiöser Mensch. In den Gebetsrunden, die er täglich abhielt, wurden aus allen großen Glaubensrichtungen des Landes Texte gelesen und Lieder gesungen. Bei öffentlichen Feierlichkeiten in Indien wird diese bemerkenswerte Tradition bis zum heutigen Tag gepflegt.

Religiöse Toleranz, wie Gandhi sie verkörpert hat, ist in Indien nichts Neues. Ihre Wurzeln reichen mehr als zweitausend Jahre in die Vergangenheit zurück, wie sich beispielsweise in den Edikten offenbart, die König Ashoka im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Säulen meißeln ließ. Eine dieser Inschriften enthält die Aufforderung, man solle »die Religion eines anderen achten, denn wenn man dies tut, stärkt man die eigene ebenso wie die des anderen«. Auch in der Sanskrit-Literatur offenbart sich eine klassische Kultur, die von einer großen intellektuellen Toleranz und Diskussionsfreude geprägt war. Seit Urzeiten sind viele philosophische Standpunkte in Indien Gegenstand ausführlicher Debatten. Selbst Ansichten, die den materialistischen und atheistischen Strömungen unserer Tage sehr nahekommen, haben in der indischen Geschichte und Kultur ihren ehrenvollen Platz. In den klassischen Schriften sind viele Bezüge zur Charvaka-Schule enthalten, deren Anhänger die Existenz eines Gottes, einer Seele und eines Lebens nach dem Tod verneinten. Obwohl die Ansichten der Charvaka-Schule oft als nihilistisch kritisiert wurden, nahm man deren radikalen Materialismus als philosophischen Standpunkt ernst und bezeichnete ihren Gründer im Allgemeinen als rishi, also als »Weisen«. Charvaka-Anhänger erfuhren darüber hinaus ein gewisses Maß an Respekt und Anerkennung von indischen Herrschern, von denen viele eine außergewöhnliche Toleranz gegenüber anderen religiösen Überzeugungen an den Tag legten. Ein Beispiel hierfür ist der muslimische Großmogul Akbar, der den Dialog mit Hindus, Christen und anderen religiösen Gemeinschaften pflegte.

Ich habe vor einiger Zeit ein erhellendes Gespräch über dieses Thema mit dem ehemaligen Vizepremierminister Indiens, Lal Krishna Advani, geführt. Er begründete die Tatsache, dass die säkulare Demokratie in Indien so erfolgreich gewahrt wird, mit genau dieser langen kulturellen Tradition der Toleranz, der Vielfalt und der Diskussionsbereitschaft. Ich bin sicher, dass er recht hat. Heute gehören die meisten Menschen in Indien dem Hinduismus an, aber andere Religionen sind ebenfalls stark vertreten. In Indien lebt die zweitgrößte muslimische Gemeinde der Welt – eine Tatsache, die im Westen oft übersehen wird. Es leben überdies Millionen von Sikhs und Christen im Land, ebenso wie eine beträchtliche Zahl von Jainisten, Buddhisten, Zoroastriern und Juden. In Indien gibt es zudem so viele ethnische und religiöse Minderheiten, dass man Mühe hätte, sie alle aufzuzählen. Und die verschiedenen Sprachen, die heute in Indien gesprochen werden, gehen in die Hunderte.

Inmitten dieser gewaltigen kulturellen Vielfalt gehört es zum Alltag, dass Hindutempel und muslimische Minarette in den Städten einträchtig nebeneinanderstehen. Selbst in den Dörfern gibt es mehr als nur eine Religionsgemeinschaft. Ich habe kürzlich einen Rumänen kennengelernt, der im Rahmen eines Forschungsprojekts mehrere indische Dörfer besucht hatte. Er erzählte mir von einem vorwiegend muslimischen Dorf in Rajasthan, in dem nur drei hinduistische Familien lebten, und äußerte sich erstaunt darüber, dass diese Familien überhaupt kein Gefühl der Angst oder Sorge hatten. Wahrscheinlich war sein Erstaunen auf die Berichterstattung westlicher Medien zurückzuführen, in der die kommunalen Beziehungen Indiens oft irreführend dargestellt werden. Es hat einige gravierende Fälle lokaler Gewalt in Indien gegeben, aber es ist falsch, sie zu verallgemeinern und auf den gesamten Subkontinent zu übertragen. Abgesehen von solchen einzelnen Zwischenfällen beherbergt Indien trotz seiner großen Vielfalt eine friedliche und harmonische Gesellschaft. Das alte indische Prinzip der Gewaltlosigkeit, ahimsa, wurde offensichtlich von allen Glaubensrichtungen gepflegt und als Grundlage der friedlichen Koexistenz übernommen. Das ist eine große Errungenschaft, an der sich andere Länder der Welt ein Beispiel nehmen können.

TOLERANZ IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

Ich beschreibe mich selbst manchmal als modernen Vermittler des alten indischen Denkens. Zwei der wichtigsten Prinzipien, die mich auf allen meinen Reisen begleiten – die Prinzipien der Gewaltlosigkeit und der Harmonie zwischen den Religionen – gehen auf das klassische kulturelle Erbe Indiens zurück. Auch wenn ich natürlich Tibeter bin, betrachte ich mich in gewisser Hinsicht auch als einen Sohn Indiens. Seit meiner Kindheit waren die klassischen Schriften der indischen Philosophie meine geistige Nahrung. Von der Zeit an, da ich als Sechsjähriger meine Studien als Mönch aufnahm, stammten die meisten Schriften, die ich gelesen und mir eingeprägt habe, von buddhistischen Meistern Indiens, von denen viele an der Universität Nalanda in Zentralindien gelehrt haben. Und vom frühen Erwachsenenalter an war auch meine leibliche Nahrung indisch: Reis und dal (Linsen).

Ich trete also sehr gern für diese indische Auffassung von Säkularismus ein, weil ich der Meinung bin, dass sie für alle Menschen von großem Nutzen sein kann. In unserer vernetzten und globalisierten Welt ist es normal, dass Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen, religiösen Überzeugungen und ethnischen Wurzeln Seite an Seite miteinander leben. Ich finde dies auf meinen Reisen immer wieder beeindruckend, vor allem im Westen. Für viele von uns ist es heute möglich oder sogar wahrscheinlich, dass ihr Nachbar, Arbeitskollege oder Chef eine andere Muttersprache spricht, andere Essgewohnheiten hat und einer anderen Religion angehört als sie selbst.

Es ist darum dringend geboten, dass wir Wege finden, im Geiste gegenseitiger Anerkennung und Achtung miteinander umzugehen. Denn auch wenn viele Menschen Freude daran haben, in einem kosmopolitischen Umfeld zu leben, in dem sie mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Kulturen in Berührung kommen, gibt es zweifellos auch solche, denen es Probleme bereitet, in enger Nachbarschaft mit Leuten zu leben, die nicht ihre Sprache sprechen und nicht ihrem Kulturkreis angehören. Ein solches Zusammenleben kann Gefühle der Unsicherheit, Angst und sogar Ablehnung erzeugen, die im schlimmsten Fall zu offenen Feindseligkeiten und zur Ausgrenzung aufgrund der ethnischen Herkunft, der Nationalität oder der Religionszugehörigkeit führen. Leider sind, wenn wir uns umsehen, solche Spannungen keine Einzelerscheinungen, sondern sie sind vielmehr ziemlich verbreitet. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Spannungen dieser Art mit zunehmender wirtschaftlicher Migration noch zunehmen, ist hoch.

In einer solchen Welt ist es meiner Ansicht nach von höchster Bedeutung, dass wir einen wahrhaft nachhaltigen und universellen Zugang zu Fragen der Ethik, der inneren Werte und der persönlichen Integrität finden – einen Zugang, der geeignet ist, Brücken zwischen den religiösen, kulturellen und ethnischen Unterschieden zu bauen und uns auf einer elementaren menschlichen Ebene anzusprechen. Diese Suche nach einem nachhaltigen, universellen Weg ist für mich die Grundlage für die Entwicklung einer säkularen Ethik.