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Der Tod lauert auf den Klippen.
Rügen in den 1920er Jahren: Krimiautorin Dorothee von Stresow hadert mit den Dämonen ihrer Vergangenheit. Doch viel Zeit zum Grübeln bleibt ihr nicht, denn eine Filmcrew aus Berlin sorgt für Aufregung auf der Urlaubsinsel. Als deren Starlet Vivienne Thanning tot am Fuße einer Klippe aufgefunden wird, bittet Kommissar Breesen um Dorothees Mithilfe. Die Schauspielerin ist nicht die einzige Tote, die das Filmset fordert. Also plant Dorothee, dem Mörder eine Falle zu stellen …
Der zweite Fall für die ungewöhnliche Ermittlerin Dorothee von Stresow.
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2025
Trotz der traumatischen Vergangenheit, die die Insel für sie birgt, hat sich die Kriminalschriftstellerin Dorothee von Stresow entschlossen, auf Rügen zu bleiben. Hier kamen ihre Eltern bei einem verheerenden Brand ums Leben, Dorothee selbst entkam dem Inferno nur knapp. Sie ist überzeugt, dass das Feuer damals das Ergebnis einer Brandstiftung war. Und sie ist entschlossen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Als eine Berliner Filmcrew auf der Urlaubsinsel eintrifft, wird Dorothees Alltag gehörig durcheinandergebracht. Das ganze Team leidet unter dem tyrannischen Produzenten Gideon Topas, dessen Interesse nur dem Starlet Lily di Mario gilt. Genau dieses Starlett wird kurz nach ihrer Ankunft ermordet, und schnell bittet der ratlose Kommissar Breesen die gewitzte Dorothee um Rat. Bei einem Toten bleibt es nicht, also heckt Dorothee einen riskanten Plan aus, um den Mörder zu stellen.
Sylvia Frank ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellerehepaares, das auf der Insel Rügen lebt. Sylvia Vandermeer, geboren 1968, studierte Biologie, Psychologie und Bildende Kunst. Heute ist sie freiberuflich als Schriftstellerin und Malerin tätig. Frank Meierewert, geboren 1967, ist promovierter Ethnologe und seit 2016 als freier Autor tätig.
Im Aufbau Taschenbuch sind von ihnen lieferbar: »Das Haus der Winde«, »Gala und Dalí – Die Unzertrennlichen«, »So long, Marianne – Leonard Cohen und seine große Liebe«, »Rügentod«.
Mehr unter sylviafrank.myportfolio.com
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Sylvia Frank
Rügensünde
Kriminalroman
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Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog — Rügen, 1921
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Danksagung
Impressum
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Rügen, 1921
Schatten.
Lautlos bewegte sich etwas durch die Finsternis.
Bestrebt, jedes Geräusch zu vermeiden.
In einem Haus am Schmachter See in Binz hob Balou, ein Jack Russell Terrier, der bisher reglos auf seinem Platz gelegen hatte, alarmiert den Kopf. Er spitzte die Ohren und sog witternd die Luft ein.
Im Schutz der Nacht hatte sich etwas Unbekanntes bedrohlich nah herangeschlichen. Balou konnte es spüren.
Sein Blick suchte die Terrassentür am anderen Ende des Zimmers, die von einer schweren braunen Gardine verdeckt wurde.
Achtsam setzte sich der Hund auf.
Dann wendete er den Kopf und schaute zu der Frau, die neben ihm im Bett lag und schlief.
Wie jede Nacht hatte sie ihr Gesicht mit einer Paste bestrichen und ihre Augen mit einer schwarzen Binde abgedeckt. Im Haar trug sie Papierwickler, die wie kleine weiße Schmetterlinge aussahen. Der Terrier konnte das süßliche Parfüm der Frau riechen und ihren Atem hören.
Abermals drehte das Tier den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tür. Durch den schmalen Schlitz zwischen den beiden Gardinenschals sickerte Schwärze.
Alles war wieder still.
Doch sein Instinkt verriet ihm, dass das Unsichtbare immer noch da draußen war, dass es nur für einen winzigen Moment innegehalten hatte, um sich neu zu orientieren. Dann würde es seinen unheilvollen Weg fortsetzten.
Balou lief los.
Jeder Schritt auf dem Dielenboden klackte leise.
Rasch schob er die Nase zwischen die Stoffbahnen, bis sein gesamter Körper von der Gardine verschluckt wurde.
Die Frau schlug die Augen auf. Sie benötigte einen Moment, bis sie begriff, wo sie sich befand. Dann lag sie still, starrte in die Finsternis und horchte auf das Geräusch, das sie geweckt hatte.
Kleine Pfoten, die unentwegt gegen die Fensterscheibe schlugen.
Müde drehte sie sich auf die Seite, tastete nach dem Lichtschalter und knipste die Lampe auf dem Nachttisch an.
Sie blinzelte.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte Viertel nach fünf.
Die Frau stöhnte auf und rieb sich mit der Hand über die Augen. Viel zu früh, dachte sie und gähnte herzhaft.
Dabei ließ sie ihren Blick über den Schrank, den Tisch mit den zwei Stühlen und dem Waschtisch mit der Blechkanne in der Schüssel wandern. Im Holzregal an der Wand standen einige Bücher und ein paar weiße englische Keramikhunde.
Dann blieben ihre Augen an der anderen Hälfte des Ehebetts haften. Dort lag ein blaues Kissen, auf dem für gewöhnlich ihr Liebling Balou schlief.
Jetzt war es verlassen.
Eine Kuhle verriet ihr, dass der Terrier bestenfalls einen Teil der Nacht darin verbracht hatte.
Wieder drang das klopfende Geräusch in ihr Ohr.
»Balou! Aus!«, rief die Frau bestimmt.
Das Klopfen hörte auf. Die Gardine teilte sich, und der Hund erschien schwanzwedelnd im Zimmer.
»Komm wieder ins Bett. Komm zu Mutti!«
Der Hund folgte, sprang aufs Bett und setzte sich auf das Kissen.
Zufrieden löschte sie das Licht.
Dann wartete sie einen Augenblick. Lauschte.
Nichts mehr.
Kein Klopfen, kein anderer Laut.
Zufrieden beschloss sie, dem Schlaf eine zweite Chance zu geben. Ihr blieb noch genügend Zeit. Die Pressekonferenz war erst für den Nachmittag angesetzt.
Rasch schüttelte sie das Kopfkissen auf, zog die Zudecke zu sich heran und schloss die Augen.
Da begann das Klopfen erneut.
Anfänglich versuchte sie, es zu ignorieren. Dann stülpte sie sich das Kissen über die Ohren. Doch das Geräusch verstummte nicht, sondern nahm noch an Intensität zu.
»Balou!«, schrie die Frau wütend. »Verdammt noch mal.«
Aufgebracht warf sie die Decke zur Seite, richtete sich auf und fuhr mit den Füßen in die Pantoffeln. Ihr nachtblauer Kimono hing wie gewohnt über dem Bettgestell am Fußende. Nachtblau war ihre Lieblingsfarbe. Und Rot, aber ein feuriges Rot musste es sein. Sie nahm den Kimono und schlüpfte hinein.
Während sie den Gürtel vor dem Bauch zu einer Schleife band, ging sie erzürnt auf das Terrassenfenster zu. Eine Ausbuchtung in der Gardine verriet ihr, wo der Terrier steckte.
Mit einem Ruck riss sie den Stoff zur Seite.
Balou stand auf den Hinterbeinen und trommelte mit den Vorderpfoten gegen die Glasscheibe. Als das Tier sie bemerkte, begann es laut zu winseln.
Die Frau stemmte die Hände in die Seite. »Balou, hör auf, so einen Lärm zu machen. Weißt du, wie spät es ist?«
Einen Augenblick lang ließ der Hund von seinem Tun ab, kam auf sie zu, umkreiste sie bellend und lief sofort wieder zur Glastür zurück.
Sogleich stand er wieder auf den Hinterbeinen und schlug unablässig gegen die Scheibe.
Nachdenklich betrachtete sie den Hund. Sie betreute Balou schon einige Jahre, doch so ein Verhalten hatte er bisher noch nie an den Tag gelegt.
Sie spürte plötzlich, wie sich die Unruhe des Tieres auf sie übertrug. »Was hast du denn?«, fragte sie verunsichert und wusste nicht genau, ob sie nur den Hund meinte. »Da ist doch nichts!«, sagte sie stockend und schaute in den Garten.
Sie konnte nur die Silhouetten einiger Büsche erkennen, von denen sie wusste, dass sie auf dieser Seite das Grundstück begrenzten, wo es hinunter zum See ging. Gleich dahinter schloss sich eine Wiese an, auf der zur Freude von Balou Bäume standen. Die Rasenfläche endete am Ufer des Sees.
Der Hund zu ihren Füßen gebärdete sich nun wie verrückt.
Vielleicht witterte er Wild? Sie konnte sich vorstellen, dass Rehe aus dem Küstenwald hierherkamen, um auf der Wiese zu äsen. Wenn es so ist, sollte ich sie verscheuchen, dachte sie.
Entschlossen schob sie den Terrier mit dem Fuß zur Seite und öffnete die Terrassentür einen Spalt. Rasch zwängte sich die Frau hindurch und zog die Tür hinter sich zu.
Die Luft war klar und unerwartet kühl an diesem Morgen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich um. Nichts deutete auf unliebsame Besucher hin. Alles befand sich an dem Platz, so, wie sie es gestern verlassen hatte. Die beiden Korbstühle lehnten an einem Tischchen, und der Wäscheständer stand seitlich unter dem Vordach. Die Bluse, die sie noch gewaschen hatte, hing ebenso auf der Leine wie die Söckchen.
Sie machte ein paar Schritte über die schmale Terrasse und trat in den Garten hinaus. Auch hier war weit und breit nichts zu erkennen, was sie in irgendeiner Form beunruhigte.
Abwartend schaute sie über die Wiese, die sich hinter den Büschen erstreckte. Im lichten Grau des anbrechenden Tages konnte sie nur schemenhaft die Konturen der Bäume erkennen.
Da hörte sie ein leises Scharren hinter sich.
Dann hastige Schritte.
Ganz nah.
Ihr Herz blieb beinahe stehen, als sie einen raschen Blick über die Schulter zurückwarf.
Irgendwie war es Balou gelungen, die Terrassentür zu öffnen. Jetzt preschte der Hund in langen Sätzen, den Kopf weit nach vorne gestreckt, direkt auf die Hecke zu.
Die Frau versuchte noch ihm mit einem langen Schritt den Weg abzuschneiden. Doch mit einer geschmeidigen Bewegung zur Seite wich der Hund ihr aus und verschwand zwischen den Büschen.
»Balou! Hierher!«, rief sie ihm nach. »Hierher, sofort!«
Ihre Rufe verhallten ungehört.
»Balou?«
Stille.
Dann vernahm sie in der Ferne ein aufgeregtes Bellen.
Sie lauschte.
Da, wieder sein Bellen.
Der Hund schien in Richtung See gelaufen zu sein.
Erleichtert stellte sie fest, dass nur Balou es war, der bellte.
Manchmal trafen sie auf streunende Hunde, die sich in der Nähe des Grundstücks aufhielten.
Unwillig wischte sich die Frau die Haare aus der Stirn. Die Stoffpantoffeln an ihren Füßen waren inzwischen vom Tau ganz feucht, und sie spürte die Kälte, die in den Zehen zwickte.
»Kleiner Mistköter«, schimpfte sie vor sich hin, während sie ins Haus zurückeilte.
Rasch schnappte sie sich ein Paar Strümpfe und fuhr mit den klammen Füßen hinein. Danach nahm sie einen schweren blauen Mantel und zog ihn über den Kimono. Den Abschluss bildeten ein Paar Gummistiefel. Mit einem Handtuch wischte sie noch schnell die Reste der Nachtcreme von ihrem Gesicht. Als sie dabei ihrem Spiegelbild ansichtig wurde, zögerte sie kurz, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass ihr zu dieser Uhrzeit am See sowieso niemand begegnen würde.
Fünf Minuten später verließ sie das Haus, die Hundeleine in der Hand.
Während sie mit eiligem Schritt die Wiese überquerte, verfärbte sich bereits der Himmel. Immer wieder blieb sie stehen, rief nach dem Hund und lauschte mit angehaltenem Atem.
Aber kein Laut drang an ihr Ohr.
Weder ein Bellen noch irgendein anderes Geräusch, das ihr verriet, was unten am Ufer des Sees vor sich ging.
Nur gespenstische Stille umgab sie und Nebelschleier, die in der Luft hingen.
Wo war Balou?
Panik drohte sie zu erfassen.
Ich fürchte mich doch nicht vor dem bisschen Nebel, dachte sie trotzig und hastete weiter. Unter ihren Schuhsohlen knirschte Sand, als sie endlich den See erreichte.
Sie erblickte Schilf nahe am Ufer. Das Rohr stand dicht, und kurz überlegte sie, ob der Hund eventuell seinem Jagdinstinkt gefolgt war und eine Fährte aufgenommen hatte.
Schnell verwarf sie den Gedanken wieder.
Stattdessen beschloss sie, der Wasserkante zu folgen.
Aber in welche Richtung?
»Balou?« Der Ruf verlor sich in der Dämmerung.
Sie wollte gerade weitergehen, als sie ein Winseln vernahm. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.
War der Hund verletzt? Warum kam er nicht zu ihr?
»Balou, wo bist du, Schatz?«
Wieder nur ein Winseln als Antwort. Diesmal etwas lauter.
Suchend sah die Frau sich um.
Dann entdeckte sie ihn. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass der Hund unverletzt im Gras saß, teilweise von einem Holzpfosten verdeckt, der vor ihm in der Erde steckte.
»Balou, du Ausreißer, was machst du denn?«
Die Frau bemühte sich, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, während sie mit der Leine in der Hand die letzten Schritte auf den Hund zuging.
Sie war im Begriff, sich zu bücken, um den Hund anzuleinen, als sie mitten in der Bewegung innehielt.
Unverändert saß Balou vor ihr. Aber er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Unentwegt schaute er in eine bestimmte Richtung.
Sie folgte seinem Blick, und jetzt sah auch sie es. Etwas, das sie sofort hätte bemerken müssen, als sie sich dem Tier genähert hatte.
Der Holzpfosten war Teil eines stabilen Rahmens, der offenbar am Ufer des Sees errichtet worden war, um daran Fischernetze zu trocknen. Doch das aufgespannte Netz war nicht wie erwartet leer.
Unwillkürlich stieß sie einen Schrei aus. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Impuls davonzulaufen, zu unterdrücken.
Als Balou neben ihr leise zu knurren begann, zwang sie sich, mit weit aufgerissenen Augen den Toten zu betrachten, der vor ihr kopfüber in den Maschen hing.
Denn dass der Mann tot war, stand für sie außer Zweifel.
Alles an ihm wirkte steif und kalt.
Plötzlich drang ein Geräusch an ihr Ohr.
Sofort fing Balou an zu bellen.
Sie erstarrte, traute sich nicht, sich umzusehen.
War der Mörder noch in der Nähe?
Auf einmal kam es ihr unsinnig vor, weiter neben dem Toten auszuharren. Stattdessen solltest du die Polizei holen, ging es ihr durch den Kopf.
Hastig leinte sie den Hund an und zog ihn heftig hinter sich her.
Sie eilte über die Wiese davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Was auch immer geschieht, es wird schon nicht so schlimm werden, dachte Dorothee und schob entschlossen den Zweig eines Ginsterbusches zur Seite. Schnell trat sie durch die entstandene Lücke und blieb hinter dem Gebüsch stehen, wo sie erneut die Augen beschattete und ihren Blick aufmerksam über das Gelände schweifen ließ.
Gestern Abend, kurz nachdem die Möbelpacker die Wohnung verlassen hatten, lief sie schweigend durch die Zimmer und hatte ihr neues Zuhause betrachtet. Hinterher konnte sie nicht sagen, ob es der Anblick der Möbel, der Geruch von Salz und Meer in der Luft oder einfach nur ein unbestimmtes Gefühl waren, das sie an etwas erinnerte, das so weit zurücklag.
Ihr Leben auf Gut Stresow.
Überraschend stellte sie fest, dass in ihr der Wunsch erwachte, dem Gut einen Besuch abzustatten. In der Nacht hatte sie nicht besonders gut geschlafen, und heute Morgen brach sie sofort nach dem Frühstück auf, aus Sorge, sie könnte es sich noch einmal anders überlegen. Bei der Abfahrt spürte sie ein kaltes Angstgefühl in der Magengrube, sie fröstelte und war nach jeder Kurve ein wenig langsamer geworden.
Auf dem Weg hierher hatte sie sich einmal verfahren, aber dann schließlich doch die alte Toreinfahrt zwischen den beiden Findlingen entdeckt. Das ehemalige Gutshaus zu finden erwies sich als wesentlich schwieriger. Überall auf der Fläche wuchsen junge Bäume, bedeckt mit frischem Laub, was die Sicht behinderte. Büsche versperrten den Weg, und Schlingpflanzen überwucherten den Boden. Wie schnell sich die Natur alles zurückgeholt hat, dachte Dorothee. Von dem einst gepflegten Park war nichts mehr übrig.
Sie stolperte über Feldsteine, die aus der kargen Erde ragten, blieb mit ihrem Rocksaum an herabgestürzten Ästen hängen, und ihre Schuhe versanken in einer Schicht verrotteten Herbstlaubs.
Dorothee wischte sich die Haare aus der Stirn, blieb stehen und begann, sich um die eigene Achse zu drehen. Ihr Blut rauschte in den Ohren.
Ansonsten war es still.
Verdammt, dachte sie, hier irgendwo muss das Haus doch gestanden haben!
Ihr Blick blieb an einer Baumgruppe hängen.
Drei Birken, die dicht beieinanderstanden.
Sie schluckte. Dieser Anblick weckte eine Erinnerung in ihr. Wenn sie auf ihrem Stuhl im Speisezimmer gesessen hatte und aus dem Fenster schaute, hatte sie direkt auf diese Bäume geblickt.
Sie wendete den Kopf.
Dann musste das Gutshaus einige Meter weiter dort drüben gestanden haben. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Kam es ihr nur so vor, oder war die Vegetation an der besagten Stelle weniger dicht als ringsherum?
Entschlossen ging sie weiter, immer die Baumgruppe im Blick behaltend.
Dann wich der federnde Waldboden unter ihren Sohlen plötzlich etwas Hartem. Sie hielt inne, hob den Fuß und trat fest zu. Deutlich spürte sie den Widerstand.
Dorothee hob einen Ast auf und begann, energisch über den Boden zu kratzen. Die Erdkrume war nicht dick, nur ein paar Finger breit, und schnell stieß sie auf Stein. Sie hockte sich hin und wischte mit der Hand den losen Dreck beiseite. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.
Unter dem Sand war eine Fliese zum Vorschein gekommen.
Ungläubig strich sie mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche. Deutlich ließ sich das Muster erkennen. Es gehörte zum ehemaligen Hausflur. Die breite rote Borte, die stilisierten grünen Weinblätter. Ihre Mutter hatte diese Fliesen eigens aus Italien kommen lassen. Sie erinnerte sich noch, dass der Vater sie gefragt hatte, ob es auf Rügen keine Fliesen gäbe.
Die Mutter hatte ihr zugezwinkert und dann geantwortet: Nicht solche, die die Sonne in sich haben – wohlwissend, dass der Vater ihr nie einen Wunsch abschlagen würde. Es waren gute und glückliche Tage gewesen, in denen Dorothee sich sicher gefühlt hatte, von der Gewissheit getragen, dass es immer so sein würde.
Dorothee biss die Zähne zusammen. Der Anblick der Fliese trieb ihr die Tränen in die Augen.
Alles war so schön und friedlich gewesen – bis zu der Nacht, in der das Gutshaus ihrer Eltern abgebrannt war. Der Preis, den sie dabei hatte zahlen müssen, war unsagbar hoch gewesen. Ihre Eltern waren in dem Feuer ums Leben gekommen. Innerhalb von Minuten war Dorothee zu einer mittellosen Waise geworden, die in den Folgejahren von der Schwester ihres Vaters und deren Mann in Berlin aufgezogen worden war.
Dorothee wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen.
Heute, mit Abstand, konnte sie sagen, dass Greta und Thilo von Berwangen alles unternommen hatten, um den grausamen Schmerz ihres Verlustes zu lindern. Tante und Onkel, die selbst kinderlos geblieben waren, liebten sie wie eine eigene Tochter und boten ihr ein neues Heim. Später förderten sie ihre Neigung zum Schreiben und ermöglichten ihr ein Studium. Es waren gütige, liebe Menschen … und trotzdem hatte Dorothee auch vor ihnen ihre Verlobung mit Maximilian von Blanckenburg geheim gehalten. Ein junger Offizier, den sie auf einer Matinee im Haus ihres Onkels getroffen und der sie in ihren Vorstellungen, Kriminalautorin zu werden, bestärkt hatte. Sie hatte ihn geliebt und gewusst, dass er ihre Gefühle erwiderte. Nach dem Krieg hatten sie heiraten wollen, aber erneut hatte das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen. Seit der Schlacht an der Somme galt Maximilian von Blanckenburg als verschollen.
Von da an hatte sie sich zurückgezogen, hielt sich still im Hintergrund und fürchtete, dass sie zu schwach war, um weiterzukämpfen.
Dorothee stellte ihre Trauer nicht zur Schau, auch wenn sie unter ihrem Kummer litt. Sie achtete nur darauf, dass sie weiter atmete, die Vorlesungen besuchte und zu den Prüfungen antrat.
Ihre einzige Zuflucht bot das Schreiben, und schlussendlich war es die Flucht in ihre eigenen Geschichten, die sie am Leben hielt. Ganz unerwartet war eine von ihnen als Fortsetzungsroman in einer Zeitung veröffentlicht worden. Mit Erfolg, und irgendwann hatte ein Verlag ihr ein Angebot gemacht.
Dorothee riss ihren Blick von der Fliese los, erhob sich langsam und klopfte den Staub von ihrem Kleid.
Und dann hatte sie die Anfrage ihrer ehemaligen Schule erreicht. Man bat sie, in ihrer alten Heimat eine Rede auf einem Festakt zu halten.
Sie hatte die Einladung angenommen.
Eine Entscheidung, die ihr Leben verändert hatte.
Dorothee überlegte einen Moment.
Vielleicht war es nur ein Zufall gewesen, dass sie ihre ehemalige Schulfreundin Margarethe von Klippholm wiedergetroffen hatte, die ihr im Vertrauen erzählt hatte, dass der Brand auf Gut Stresow vor sechzehn Jahren ein geplanter Mordanschlag auf ihre Familie gewesen war und dass es dafür Beweise gab. Doch dann war Margarethe erschossen worden, und die Beweise waren weiter im Dunkeln geblieben. Genauso wie der Mord an Margarethes ehemaligem Kindermädchen. Gerda hatte Margarethe und deren zwei Geschwister nach Dorothees Wegzug nach Berlin betreut. Offenbar hatte sie etwas gewusst, das niemand erfahren sollte.
Dorothee richtete ihren Blick auf den Horizont, wo sich dunkel der Wald erhob.
Die Müdigkeit von Jahren war plötzlich von ihr abgefallen. Es war ihr so vorgekommen, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht und hätte ihre Erschöpfung wie eine alte Haut einfach abgestreift, als sie begonnen hatte, sich in die Ermittlungsarbeit von Kommissar Breesen einzumischen. Und dann hatte im Beisein ihres alten Freundes Albert, der der Sohn des Verwalters ihres Vaters gewesen war und der nun als Tierarzt auf Rügen arbeitete, ein als Kellner verkleideter Unbekannter ihr eine Schachtel übergeben, welche die Halskette ihrer Mutter enthalten hatte. Ein Schmuckstück, von dem Dorothee bisher angenommen hatte, dass es zusammen mit all den anderen Habseligkeiten ihrer Eltern ein Opfer der Flammen geworden war.
Sie stemmte die Hände in die Seiten und holte ein paar Mal tief Luft.
Bei den Gedanken spürte sie Bitterkeit in sich sowie Furcht und mühsam unterdrückten Zorn. Mochte das Feuer auch längst erloschen sein und die Asche erkaltet – für sie war dieser Brand noch immer nicht vorbei. Dorothee hatte keine Ahnung, wer in welcher Weise darin verstrickt war, welche Rolle ihre Eltern in all dem gespielt hatten. Die beiden waren wichtige Figuren in der Partie, hatte Margarethe kurz vor ihrem Tod gesagt.
Dorothee stieß einen Seufzer aus. Je länger sie über ihre Mutter und ihren Vater nachdachte, desto größer wurden ihre Zweifel, ob sie die Personen waren, für die sie ihre Eltern immer gehalten hatte.
Wer waren sie wirklich gewesen?
Und wer hatte ein Interesse daran gehabt, sie, Margarethe und Gerda umzubringen? Worin waren sie alle verstrickt gewesen, dass jemand sogar bereit war, zu töten, um dieses Geheimnis weiterhin zu bewahren?
Der Schrei eines Turmfalken riss Dorothee aus den Gedanken und brachte sie in die Gegenwart zurück. Kurz sah sie zu der schwebenden Silhouette hinauf. Die Sonne stand inzwischen hoch, es musste Mittag sein.
Du musst los, ermahnte sie sich. Du hast Henry versprochen, pünktlich zu sein.
Ein letztes Mal fanden ihre Augen das Stückchen Fliese, über das der Wind bereits eine dünne Schicht Sand geweht hatte.
Kommissar Gustav Breesen stand im Flur seiner Wohnung in Stralsund vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Heute, an seinem freien Tag hatte er Alma versprochen, sie nach dem Frühstück zum Einkaufen zu begleiten. Sie wollte zum Herrenausstatter, um für Richard, den Jüngsten ihrer drei Kinder, einen Anzug zu kaufen. Alma meinte, es sei höchste Zeit, in drei Wochen habe der Junge schließlich Konfirmation.
Breesen hatte ihr zugestimmt, verbunden mit dem Hintergedanken, nach dem Einkauf in eines der Restaurants am Alten Markt Essen zu gehen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Richard ihn beim Binden der Krawatte aufmerksam beobachtete.
Langsam schob Breesen den Knoten unter den Hemdkragen und strich den Stoff glatt.
»Hast du gut aufgepasst?«
Der Junge nickte.
»Jetzt du.«
Richard legte zögerlich die beiden Enden übereinander, aber schnell verhedderte er sich und ließ ratlos die Hände sinken.
»Das macht nichts«, beruhigte Breesen ihn, während er das Wirrwarr geschickt auflöste. »Wie alles im Leben erfordert es nur ein bisschen Übung.« Dann stellte er sich hinter Richard, so dass sie sich beide im Spiegel sehen konnten. »Ich zeige es dir noch mal.« Langsam band Breesen die Krawatte seines Sohnes. »Siehst du, so ist der Knoten perfekt.« Ihre Blicke trafen sich. »Bis zur Konfirmation kannst du es selbst.«
Da klingelte das Telefon.
Instinktiv schaute Breesen auf seine Armbanduhr. Kurz vor halb acht. Sicher galt der Anruf seiner Frau, doch er nahm den Hörer ab.
»Ja, bitte.«
»Ein Gespräch für Gustav Breesen«, meldete sich die Dame aus der Vermittlung.
Er stöhnte leise auf. Aber noch hatte er die Hoffnung, dass nichts geschehen war, das ihn zwingen würde, ihr gemeinsames Vorhaben zu verschieben.
»Am Apparat«, sagte er.
»Ein Anruf aus der Polizeidirektion.«
Augenblicklich verflog seine Hoffnung.
»Ich verbinde Sie.«
In der Leitung rauschte es kurz. Dann hörte er ein Knacken.
»Kommissar Breesen?« In der schnarrenden Stimme schwang ein offizieller Unterton mit. »Polizeirat von Rathenow hier.«
Breesen legte die Stirn in Falten.
Es war in der Polizeiinspektion kein Geheimnis, dass er von Rathenow nicht sonderlich mochte. Obwohl sie beinahe im selben Alter waren, konnten sein Vorgesetzter und er unterschiedlicher nicht sein. Während er sich eher als einen gemütlichen Kerl beschreiben würde, mit kräftigem Körperbau und gutem Essen und Bier nie abgeneigt, gehörte von Rathenow zu der Sorte kleiner hagerer Männer, denen eine ständige Unruhe anhaftete und die von steter Geltungssucht getrieben wurden. Breesen konnte das gerötete Gesicht von Rathenows, das von einem akribisch in Fasson gebrachten Vollbart gerahmt wurde, deutlich vor sich sehen, die kleinen flinken Augen auf ein Stück Papier gerichtet, wobei der Schein der Schreibtischlampe von seiner Glatze reflektiert wurde.
Trotzdem spürte Breesen, wie er gegen seinen Willen unruhig wurde. »Guten Morgen, Herr Polizeirat.«
»Kein guter Morgen, Breesen.«, schnarrte es aus dem Hörer. »Auf Rügen gab es letzte Nacht einen Vorfall, der in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«
Breesen räusperte sich. »Worum handelt es sich?«
»Ein männlicher Toter.«
»Ist er ertrunken?«
»Wie kommen Sie darauf, dass er ertrunken sein könnte?«
Breesen klemmte den Hörer hinter das Ohr, drehte sich um zur Garderobe und zog sein Notizbuch aus der Manteltasche.
Schon als junger Polizist hatte er sich angewöhnt, alle Gedanken, Ideen und Fragen zu einem Fall seinem Notizbuch anzuvertrauen. Da die Heftseiten weder Linien noch Karos aufwiesen, folgten auch die Einträge aus schnell hingekritzelten Worten, Zitaten oder Notizen keinem System. Er füllte mit seiner krakeligen Handschrift die Seiten, eine nach der anderen, so, wie er es brauchte, und manchmal malte er zur Erinnerung ein Fragezeichen an den Rand. »Rügen ist eine Insel und vom Meer umgeben«, sagte er indessen. »Es wäre naheliegend.«
Von Rathenows Stimme wurde unwirsch. »Davon steht hier nichts. Der Fundort der Leiche befindet sich in Binz, am Ufer eines rückwärtigen Sees. Ist Ihnen die Gegend bekannt?«
Breesen sog hörbar die Luft ein. Er sah den Schmachter See vor sich. In den Ausmaßen war das Gewässer übersichtlich, wobei zwei Drittel des Ufers von einem Schilfgürtel gesäumt wurden, hinter dem sich dichter Wald erhob.
Er meinte, sich zu erinnern, dass der See nur auf der dem Dorf zugewandten Seite zugänglich war und dass es dort eine Badestelle gab, mit einem Holzsteg, wo weiße Ruderboote für eine Kahnpartie angemietet werden konnten. Weiterhin nutzten die Binzer Fischer einen Teil der Fläche.
»Ja, Herr Polizeirat, diese Gegend ist mir durchaus bekannt.«
»Ausgezeichnet.«
Breesen stellte sich vor, wie sich von Rathenow in diesem Moment genüsslich in seinem Sessel zurücklehnte.
»Ich wünsche, dass Sie unverzüglich die Ermittlungen aufnehmen.«
»Jawohl. Ist Kriminalanwärter Köhler schon verständigt worden?«
»Der ist bereits vor Ort.«
Breesen horchte auf. Seitdem ihm Rügen als Ermittlungsbereich zugeteilt worden war, hegte er den geheimen Wunsch, dass, sollte einmal eine ständige Vertretung der Kriminalpolizei auf der Insel etabliert werden, nur er für diese Stelle in Frage käme. Er hatte sich schlichtweg in die Insel verliebt, in das Meer und die Strände und in das heitere, ungezwungene Leben, das die Ferienorte mit sich brachten.
»Ach ja, Breesen.« Der Polizeirat machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ab sofort steht der Polizei für die Beweisaufnahme ein Arzt auf der Insel zur Verfügung …« Eine kürzere Pause folgte, in der Breesen Papiere rascheln hörte. »… ein Doktor Aurelius Brandt. Finden Sie bei dieser Gelegenheit heraus, was er als Gerichtsmediziner taugt.«
Breesen nickte. »Verstanden, Herr Polizeirat. Ich werde sofort aufbrechen.«
»Guter Mann, tun Sie das. Ich erwarte Ihren Bericht.«
Dann wurde das Gespräch getrennt.
Breesen legte auf.
Kein »Auf Wiedersehen«, kein »Dankeschön« dafür, dass sein freier Tag im Eimer war. Lauter, als er es beabsichtigt hatte, knallte er den Hörer auf die Gabel. »Verdammter Mist«, brummte er.
Die Küchentür wurde geöffnet, und Alma erschien. Fragend sah sie ihn an. »Was ist los, Gustav?«
»Ich muss nach Rügen. Eine Mordermittlung.« Er brach ab und sah, wie Alma anklagend die Hände hob.
»Aber es ist dein freier Tag.«
»Ich weiß.«
»Können die dich nicht einmal in Ruhe lassen? Warum immer du? Wir wollten zusammen einkaufen gehen. Richard ist auch dein Junge, Gustav. Immer bleibt alles an mir hängen …«
Er sah, wie seine Ehefrau wütend wurde. »Und jedes Mal schicken sie dich auf diese Insel. Andere Polizisten, die bedeutend jünger sind als du, machen Karriere in Stralsund und verbringen die Abende mit ihren Familien. Aber nicht du! Du bist auf Rügen! Dabei müsstest du mit deinen Dienstjahren und deiner Diensterfahrung schon lange einen leitenden Posten hier in der Stadt bei der Polizei bekleiden. Woran liegt das?«
Breesen antwortete nicht. Er hatte weder eine Ausrede noch eine Erklärung parat.
Alma wartete.
Als die Stille unerträglich zu werden drohte, drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand kopfschüttelnd in der Küche.
Na wunderbar! Breesen ballte die Fäuste. Jetzt war er wieder der Buhmann. Verdrossen starrte er auf den verlassenen Türrahmen.
Dann riss er sich abrupt von dem Anblick los, stopfte das Notizbuch zurück in die Manteltasche und griff nach den Wagenschlüsseln.
••••
Kurz vor halb elf rollte Breesen die Bahnhofstraße hinunter und bog hinter dem Restaurant »Binzer Bierstuben« nach links ab, wo er einer befestigten Straße folgte, die parallel zum Flüsschen Albeck verlief und von dem er wusste, dass sie zum Schmachter See führte.
Das Ende der Straße markierte eine Barriere, die wohl verhindern sollte, dass Fahrzeuge unerlaubt bis an das Seeufer gelangten.
Der Kommissar stellte den Wagen im Innenhof der Pension »Seefrieden« ab, der sich als eine quadratische, frisch gemähte Rasenfläche entpuppte, auf der er noch zwei andere Fahrzeuge erblickte.
Köhler ist schon da, ging es ihm durch den Kopf. Das andere Automobil kannte er nicht.
Dann lief er los.
Breesen umrundete die Absperrung und sah sich um.
Schnell entdeckte er die hochaufgeschossene, schlaksige Gestalt seines Assistenten, Kommissaranwärter Köhler, der neben einem Holzgestell stand, über das eine Reuse zum Trocknen ausgebreitet war, und fotografierte. Seit Kurzem verfügte die Polizeistation über einen kleinen tragbaren Fotoapparat der Firma Leica, der ihnen die Arbeit bei der Sicherung von Spuren wesentlich erleichterte. Dank der Fotos konnten sie sich später selbst die kleinsten Details immer wieder vor Augen führen, und Breesen wusste, wie sehr es bei den Ermittlungen auf Details ankam.
Sein Blick blieb an einem zweiten Mann haften, der hinter der Reuse auf der Erde hockte und einen sehr konzentrierten Eindruck auf ihn machte. Das muss der Arzt sein, dachte er.
Wie war noch mal sein Name? Rasch blätterte er in seinem Notizbuch. Da stand es zum Glück: Doktor Aurelius Brandt.
Er wollte sich kein vorschnelles Urteil erlauben, aber insgeheim hoffte er, dass der neuartige Ansatz, einen Mediziner zu Rate zu ziehen, ähnlich positive Effekte hervorbrachte wie der Einsatz der Leica.
Als Köhler ihn bemerkte, machte er ein letztes Foto und kam auf ihn zu.
Die beiden Männer begrüßten sich. Kurz blickten sie sich in die Augen.
»Moin, Herr Kommissar. Schön, Sie wiederzusehen.«
Breesen merkte, dass Köhlers Freude aufrichtig war.
»Guten Morgen. Bitte setzen Sie mich ins Bild.«
Mit einer schwachen Bewegung des Kinns wies der Assistent auf einen aus rohen, geteerten Brettern gezimmerten Schuppen, der auf einem Sockel aus Feldsteinen unweit des Seeufers stand. In seinem Windschatten harrten schweigend ein weiterer Gendarm und eine Frau mit einem Hund aus, die immer wieder ungeduldig auf ihre Armbanduhr schaute.
»Die Frau da ist Sandra Kamke«, erklärte Köhler. »Sie wohnt neben der Villa Seerose und hat den Toten heute Morgen gefunden und uns informiert. Ihre persönlichen Daten und eine erste Aussage habe ich aufgenommen.«
»Gut. Die Frau soll sich noch einen Moment gedulden.« Breesen setzte sich wieder in Bewegung, Köhler wich ihm nicht von der Seite.
Sie liefen auf ein hölzernes Gestell zu, an dem eine Fischreuse zum Trocknen aufgehängt war. Das Gras stand an dieser Stelle hoch, und die Halme bogen sich leicht im Wind. Breesen sah, wie sich ein schlanker, groß gewachsener Mann in einem braunen Dreiteiler aus dem Gras erhob und sich die Hände mit einem Tuch zu säubern begann.
»Ist das Doktor Brandt?«
Köhler sah ihn überrascht von der Seite an. »Sie wissen von dem Arzt?«
Breesen ließ die Frage unbeantwortet.
»Er erschien vor ungefähr zwanzig Minuten«, fuhr Köhler fort. »Ich habe ihn zum Fundort geführt. Seitdem untersucht er den Leichnam.«
Der Kommissar nickte. »Sagen Sie ihm, ich möchte in zwei Minuten mit ihm sprechen.«
Dann schritt er vorsichtig auf den Toten zu. Der Mann lag auf dem Bauch in der Reuse, die Arme ausgestreckt, als hätte er einen letzten Versuch unternommen, sich, während er fiel, an den Maschen festzuhalten.
Breesen ging in die Hocke.
Der Kopf des Toten lag auf der Seite. Die Gesichtshälfte, die ihm zugewandt war, wirkte unverletzt. Doch schnell fiel Breesen der Streifen Blut auf, der quer über den Hals verlief.
Er beugte sich weiter vor.
Der Tote hatte eine tiefe Wunde am Hinterkopf, wenige Zentimeter oberhalb der Halswirbelsäule. Um die Wunde hatte sich eine breite Kruste geronnenen Blutes gebildet. Beiläufig bemerkte der Kommissar, dass sich auch viel Blut im Anzugskragen unter dem Kopf des Toten angesammelt hatte.
Breesen richtete sich wieder auf. Dabei fiel sein Blick auf ein Fernglas, das einen halben Meter neben dem Kopf des Toten lag.
Einen Moment lang ließ er den Anblick auf sich wirken, dann drehte er sich weg.
Köhler und Doktor Brandt erwarteten ihn.
»Kommissar Breesen«, stellte er sich vor. »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Was können Sie mir zu dem Toten sagen?«
»Sie wissen, dass das, was ich Ihnen jetzt sage, nur eine erste, vorläufige Einschätzung sein kann«, entgegnete der Doktor, während er die silberne Nickelbrille mit dem Zeigefinger zurück auf die Nase schob.
Breesen zückte sein Notizbuch.
»Zeitpunkt für den Eintritt des Todes zwischen drei und fünf Uhr am heutigen Tag. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass das Opfer gestolpert oder gestürzt ist. Keine Abschürfungen an den Händen oder im Gesicht. Genauso wenig finden sich Indizien für eine Herzattacke, einen Schlaganfall oder ein anderes körperliches Gebrechen.
Für mich steht fest, dass der Mann von hinten mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen wurde, wobei der Schlag mit hohem Kraftaufwand vollzogen wurde.«
»Was könnte Ihrer Meinung nach die Tatwaffe gewesen sein?«, fragte Breesen.
Brandts Blick wanderte zwischen der Wunde und Breesen hin und her. »Vermutlich ein faustgroßer Stein. Es könnte aber auch einer dieser neuartigen Totschläger oder ähnliches gewesen sein.«
»Haben Sie etwas gefunden, das uns hilft, den Toten zu identifizieren?«
Wieder suchten Brandts Augen den Leichnam. »Auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Keine Papiere, keine Geldbörse, keine Schlüssel. Der Anzug stammt von einem Schneider aus Berlin. Kein nennenswerter Tascheninhalt.« Brandt unterbrach sich und reichte Breesen eine Visitenkarte. »Nur das hier. Die Karte ist wahrscheinlich durch das Loch in der Innentasche in den Saum der Jacke gerutscht.«
Breesen warf einen schnellen Blick auf das Stück Papier.
Karl Forster, Filmproduzent.
Keine weiteren Angaben. Er legte die Visitenkarte in sein Notizbuch.
»Was denken Sie, Doktor, ist das hier der Tatort, oder wurde das Opfer nachträglich hier abgelegt?«
Brandt zögerte mit der Antwort. »Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen. Es gibt keine verschmierten Blutspuren an Grashalmen oder Schleifspuren am Boden. Daher bin ich mir ziemlich sicher, dass die Leiche nicht bewegt wurde. Das heißt aber nicht, dass der Mann zwangsläufig hier starb. Er kann hergetragen worden sein. Immerhin führen zwei Wege an diesen Platz. Die Schmachterseestraße und der Trampelpfad, der am Schilf entlangführt.«
Breesens Stimme verriet Erstaunen. »Welcher Pfad?«
»Na, der dort.« Der Arzt deutete auf einen Bereich links von ihnen, der ohne Weiteres als Wiese hätte durchgehen können, wäre da nicht ein schmaler Sandstreifen zu sehen.
Breesen trat einige Schritte vor und konnte nun den Verlauf des Trampelpfades einsehen. »Und wo endet der Weg?«, fragte er über die Schulter.
Nicht der Arzt, sondern Köhler antwortete. »Soweit ich weiß auf Höhe Wylichstraße.«
»Und was kommt dahinter?«
»Nur noch die Turnhalle mit dem Spielplatz und der Wald.«
Breesen kräuselte die Stirn und drehte sich um. »Doktor, wann denken Sie, werden Sie die restlichen Ergebnisse haben?«
»Heute Abend weiß ich mehr. Rufen Sie mich an, ich habe Ihrem Assistenten meine Nummer gegeben.«
Brandts Einschätzungen fielen knapp und ohne viele Wort aus. Das gefiel Breesen. Keiner, der sich wichtigtat. Und obwohl Brandt zum ersten Mal zu einer polizeilichen Untersuchung gebeten worden war, stellte sich bei Breesen das Gefühl ein, dass der Doktor sehr gewissenhaft und gründlich vorging und dass er dem Urteil des Mediziners vertrauen konnte.
»Danke, Doktor. Wir melden uns.«
Nachdem der Arzt gegangen war, wandte sich Köhler an Breesen. »Was meinen Sie Chef? Keine Geldbörse, keine Papiere, keine Schlüssel – sieht für mich nach einem Raubüberfall aus.«
Breesen stopfte die Hände in die Manteltaschen.
»Könnte sein.« Der Kommissar machte eine Pause. »Oder wir sollen glauben, dass es ein Raubüberfall war. Erklären Sie mir, was macht ein Mann mitten in der Nacht allein hier am Seeufer? Die Musik spielt auf der anderen Seite des Ortes. Und warum trug er ein Fernglas bei sich? Wollte er etwas beobachten? Und wenn ja, was? Es war stockdunkel.«
»Vielleicht ein Spanner«, warf Köhler ein, »der fremde Paare in den erleuchteten Pensionszimmern ausspähte. Vielleicht wurde er dabei entdeckt, und man hat ihm aufgelauert.«
»Um was zu tun? Ihm wütend auf den Kopf zu hauen?« Breesen schüttelte den Kopf. »Köhler, Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Wir halten uns an die Fakten. Was ist mit Fußspuren?«
»Ich habe mich umgesehen. Der Lehmboden ist trotz der Nähe zum See steinhart und völlig ausgetrocknet. Das mag am Wind liegen, aber es gab in den letzten Tagen auch keinen nennenswerten Niederschlag.«
»Also keine Spuren.« Breesen wechselte das Thema. »Ich werde jetzt die Zeugin befragen.«
Er streifte die Frau am Schuppen mit einem kurzen Blick. Er fand, dass sie merkwürdig aussah. Irgendetwas stimmte mit ihren Haaren nicht. Außerdem schien sie sehr gereizt zu sein. Zu ihren Füßen lag ein Hund.
••••
Sandra Kamke empfing den Kommissar mit verkniffener Miene.
Breesen versuchte, so gut es ging, ihre Verärgerung zu ignorieren, indem er sich allein auf ihre Person konzentrierte. Die Frau war nicht besonders groß, dafür etwas untersetzt. Die Haare klebten ihr am Kopf, und Breesen meinte, Reste von Papierwicklern darin zu erkennen, die sich offensichtlich durch die Feuchtigkeit aufgelöst hatten. Sie trug keinerlei Make-up, und ihr Gesicht glänzte fettig. Unter einem Wollmantel schaute ein dunkler Seidenkimono hervor, dessen Saum völlig durchnässt war und der bei jeder Bewegung an den verdreckten Schäften ihrer Gummistiefel rieb. Der Hund war aufgestanden und blinzelte ihn böse von unten an.
»Guten Morgen, ich bin Kommissar Gustav Breesen, Kriminalpolizei Stralsund. Sie haben den Toten gefunden?«
Die Frau funkelte ihn an. »Was ist das hier für ein verfluchter Mist? Haben Sie eine Vorstellung, wie lange ich jetzt hier warte? Volle vier Stunden. Gucken Sie mal, wie ich aussehe!« Breesen hob den Kopf und schaute die Frau wortlos an.
Energisch zog Sandra Kamke den Mantel enger um ihre Hüften und nestelte ein Taschentuch aus der Manteltasche. Dann schnäuzte sie sich geräuschvoll. Mit klammen Fingern steckte sie es wieder ein.
»Also, Sie haben den Toten gefunden?« wiederholte der Kommissar seine Frage mit etwas mehr Schärfe in der Stimme.
Die Frau schluckte. »Genaugenommen hat Balou ihn gefunden. Mein Hund«, fügte sie hinzu. »Er ist heute früh einfach weggelaufen, und ich musste ihn suchen.«
»Tut das ihr Hund häufiger?«
»Was meinen Sie?«
»Weglaufen?«