Ruthchen schläft - Kerstin Campbell - E-Book

Ruthchen schläft E-Book

Kerstin Campbell

5,0

Beschreibung

Viel braucht Georg nicht, um glücklich zu sein. Aber ein bisschen was doch. Manchmal fragt er sich, wie aus ihm dieser eigenbrötlerische Vermieter eines in die Jahre gekommenen Berliner Wohnhauses geworden ist. Und warum er allein ist. Eines aber weiß Georg sicher: Was immer in seinem Leben geschehen mag, an seinem Geburtstag wartete der von Frau Lemke gedeckte Tisch auf ihn, auf Frau Lemke ist Verlass. Schon ihr ganzes Leben wohnt sie in dem Haus, das Georg geerbt hat. Doch jetzt soll alles anders werden: Wolfgang, der Sohn von Frau Lemke, will, dass sie zu ihm nach New York zieht. Nur solange ihre Katze Ruthchen noch lebt, darf sie bleiben. Georg ist überzeugt, dass Wolfgang nur an das Geld seiner Mutter will. Als Ruthchen eines Morgens nicht mehr aufwacht, ist es Zeit für Plan B. Was, wenn Ruthchen einfach weiterhin auf dem Sofa schläft, für immer vielleicht? Tierpräparatorin Caro setzt die wahnwitzige Idee in die Tat um – und stellt auch Georgs Leben völlig auf den Kopf. Kerstin Campbell hat einen Roman über Nachbar- und Freundschaft geschrieben, über Familiengeheimnisse und Verantwortung, über das Leben, den Tod und die Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 225

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kerstin Campbell

Ruthchen schläft

Roman

Kampa

Georg hielt die Leiter, an seinem Geburtstag. Sein Blick auf Frau Lemkes Knöchel gerichtet, während sie am Griff des oberen Küchenfensters zog, das sich über den Winter verhakt hatte. Ohne seinen Gegendruck würde die Leiter schwanken, und er sagte Frau Lemke, dass sie vorsichtig sein solle. In ihrem Alter. Sie lächelte ihn von oben an, dieses Lächeln, das besagte, dass sie sehr wohl in der Lage war, ihre Fenster selbst zu öffnen. Seine Befürchtung, dass sie eines Tages stürzen und sich verletzen würde, behielt er dieses Mal für sich. Er wünschte, sie würde auf ihn hören.

Mit einem Ruck zog Frau Lemke das Fenster auf, und in diesem Moment brach ein Sonnenstrahl durch den wolkenverhangenen Märzhimmel, schien auf den Geburtstagstisch, den sie für Georg gedeckt hatte, genauso wie damals, als er mit acht Jahren in den Osterferien zum ersten Mal bei ihr gefeiert hatte, weil seine Eltern keine Zeit für ihn gehabt hatten. Was auch immer in seinem Leben geschah, so dachte er, an seinem Geburtstag wartete der von Frau Lemke gedeckte Tisch auf ihn.

Frau Lemke wandte ihr Gesicht Richtung Sonne, schloss die Augen. »Die ersten Strahlen nach dem Winter sind die schönsten«, sagte sie, und er stimmte ihr zu. Auch er hielt sein Gesicht in die Sonne.

»Georg«, sagte Frau Lemke. Die Art, wie sie das E in seinem Namen betonte, ein kurzes, spitzes E, ließ ihn aufhorchen. »Nächstes Jahr werde ich wahrscheinlich nicht mit dir deinen Geburtstag feiern können«, sagte sie.

Ihr angestrengtes Lächeln und ein Kneifen in seinem Magen sagten ihm, dass es nicht das übliche Flunkern zwischen ihnen war.

»Wolfgang will mich nach New York holen. Er möchte mich bei sich haben, jetzt, wo ich älter werde.«

Wolfgang.

Der auf den Familienfotos im Flur so unschuldig aussah, ein kleiner Junge auf dem Arm seiner Mutter oder auf einem Pony reitend. Georg fragte sich, ob es das Schwarz-Weiß war, das alles fiktionalisierte. Eine glückliche Familie auf Fotopapier, fernab der Wirklichkeit. Wenn man die Fotos genauer betrachtete, und das hatte Georg getan, konnte man Wolfgangs stechenden Blick erkennen, damals schon. Dass seine Augen eng zusammenstanden, verstärkte diesen Eindruck.

Wolfgang bedeutete Ärger, so viel hatte Georg mitbekommen über die Jahre. Er glaubte ihm nicht, dass er sich um seine Mutter kümmern wollte, kein Wort.

Frau Lemke, immer noch auf der Leiter, nickte Georg zu. Er wusste, was sie ihm sagen wollte: Mach dir keine Sorgen, alles in Ordnung. Obwohl nichts in Ordnung war.

»Seit Debbies Auszug gibt es genug Platz in seiner Wohnung, hat Wolfgang gesagt.«

»Schön.«

Georgs Magen hatte sich zusammengezogen. Dabei sollte dieser, sein 46. Geburtstag, fröhlicher werden als der im Jahr davor. Er hatte zu seinem Ehrentag ein Hemd unter die Kapuzenjacke gezogen und trug die neuen roten Turnschuhe, die er sich gegönnt hatte und die er bereits in Grün und in einem knalligen Blau besaß. Am Abend würde er sich mit seinem Freund Kai in einer Kneipe treffen. Alles hatte Georg geplant, damit es ein guter Geburtstag werden würde, der zweite ohne Linda, genau 557 Tage nachdem sie mit nichts außer einer kleinen Tasche seine Wohnung verlassen hatte.

Frau Lemke griff die Holme der Leiter und setzte einen Fuß nach dem anderen nach unten. Eine Mischung aus Rosenwasser und Haarspray zog an ihm vorbei, versetzte ihn zurück in die Zeit, als er ein kleiner Junge war, zu Besuch bei seinem Opa in Berlin, und morgens nur darauf wartete, bis er endlich die drei Stockwerke zu Frau Lemke hinuntergehen durfte.

Sicher mit beiden Beinen auf dem Boden angekommen, richtete Frau Lemke die Schleife ihrer elfenbeinfarbenen Seidenbluse, steckte eine Haarsträhne zurück an ihren Platz und strich ihre Stoffhose glatt. Er musste lächeln. Eine geborene von Bülow, die immer auf ihre Kleidung bedacht war.

»Dann mache ich mal Kaffee«, sagte Frau Lemke.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Georg, wohl wissend, dass sie es nicht leiden konnte, wenn ihr jemand in der Küche in die Quere kam.

Sie winkte ab. Georg stellte die Leiter in die Abstellkammer, am liebsten hätte er sie ganz aus der Wohnung geschafft, und setzte sich zu Ruthchen auf das rote Sofa, das Frau Lemke in die Küche gestellt hatte, weil sie hier lieber saß als in ihrem Wohnzimmer. Es war das Sofa ihrer Eltern, auf dem man nur sehr gerade sitzen konnte und bei dem man deutlich die Sprungfedern spürte. Er beobachtete Frau Lemke, wie sie leise mit dem Papierfilter schimpfte, ihn erst öffnen konnte, nachdem sie ihren Zeigefinger befeuchtet hatte, und sich dann auf die Zehenspitzen stellte, um den Filter in die Kaffeemaschine einzulegen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Frau Lemke nicht mehr hier, in seinem Haus, drei Etagen unter ihm lebte.

Ruthchen drehte ein Ohr in seine Richtung, er streichelte sie. Seit ein paar Wochen begrüßte sie ihn kaum noch, schlief sehr viel. Vergangene Woche hatte er sie zum Tierarzt gebracht, obwohl der Geruch nach eitrigen Infektionen, wie er ihn sich vorstellte, ihn immer aufstoßen ließ. Der Tierarzt konnte nichts feststellen, meinte, Ruthchen sei eben eine alte Dame.

»Gutes Mädchen«, sagte Georg. Ihr weiches Fell erinnerte ihn daran, wie Linda und er die Katze nach einer Clubnacht in einem Hauseingang gefunden hatten, abgemagert, ein handgroßes Fellknäuel. Sie hatten sie zu Frau Lemke gebracht, weil sie dachten, sie wäre einsam in ihrer großen Wohnung. Sie hatten die Katze Tiger-Lily genannt, wegen ihres gestreiften Fells, aber Frau Lemke nannte sie sofort Ruthchen, nach einer Freundin aus Kindertagen. Die Aufregung, als Ruthchen einmal einen Vogel auf dem Balkon gefangen und in die Wohnung gebracht hatte. Frau Lemke war außer sich gewesen, Georg hatte das totgebissene Tier nicht anfassen können, weil er sich vor toten Tieren ekelte und sie im Übrigen auch nicht aß. Es war schließlich Linda gewesen, die den Vogel aufgehoben und im Hinterhof begraben hatte.

»Hat Ruthchen heute gegessen?«, fragte er.

»Nicht viel. Ich glaube, wir müssen ihr einfach mehr anbieten.«

Kaffeeduft erfüllte den Raum, auf dem Tisch wartete der Schokoladenkuchen, den Frau Lemke immer an seinem Geburtstag buk. Das Meißner Porzellan, das sie nur zu besonderen Anlässen aus dem Wohnzimmer holte. Er hatte sich vorgenommen, den Tag freudig zu begehen, doch er musste sich eingestehen, während er mit seinen neuen roten Turnschuhen in Frau Lemkes Küche saß, dass nichts in seinem Leben funktioniert hatte. Seine Freundin befand sich auf der anderen Seite des Erdballs, in Australien, und er wusste nicht, wann sie zurückkehren würde. Seinen Job beim Radio hatte er hingeschmissen, keine Karriere, keine Kinder, der Freundeskreis über die Jahre in Kleinfamilien entschwunden. Ihm blieb das Berliner Haus, das sein Großvater ihm vererbt hatte, und seine wichtigste Mieterin, Frau Lemke. Die ihn verlassen würde. Und ihre altersschwache Katze.

Ruthchen setzte sich auf, streckte sich und legte sich in sicherer Entfernung von ihm wieder hin. Er checkte seine Mails, keine Nachricht von Linda. Seit fünf Monaten hatte sie ihm nicht mehr geantwortet, nachdem er ihr zuletzt mehrmals am Tag geschrieben hatte, um aus ihr herauszubekommen, wann sie nach Hause kommen würde. Erst später, als sie weiter schwieg, hatte er verstanden, dass sie Zeit brauchte.

Eine Nachricht von Kai: Sorry, Hannah-Luna ist krank, ich kann heute Abend nicht. Morgen okay? Happy Birthday.

Der Tag entwickelte sich zu einem der trübseligsten Geburtstage, die er je erlebt hatte. Fast noch schlimmer als der im vergangenen Jahr, als sich zumindest alle Mühe gegeben hatten, ihn aufzumuntern.

Frau Lemke zündete die Kerzen an, klatschte in die Hände, rief: »Dann wollen wir mal.«

Ruthchen wandte ihnen den Rücken zu, drehte die Ohren aber in ihre Richtung. Er wartete, dass Frau Lemke den Kuchen anschnitt und die Stücke auf die Teller verteilte, mit einem Klacks Sahne an der Seite.

»Alles Gute, mein lieber Georg.«

Die Schokolade schmolz in seinem Mund, das Süße und leicht Bittere zugleich. Er nahm einen Löffel Sahne nach, wie zum Neutralisieren, hatte aber Probleme, den Bissen hinunterzuschlucken.

»Wollen Sie wirklich hier weg? Und wann?«

Frau Lemke rührte in ihrer Tasse, zog die rechte Augenbraue über die Mitte der Stirn, wie nur sie es konnte.

»Ich habe Wolfgang gesagt, dass Ruthchen zu alt ist für den Umzug. Aber wenn sie mal nicht mehr ist«, beide blickten auf die schlafende Katze, »dann ziehe ich zu ihm nach New York.«

»Und Ihre Wohnung wollen Sie aufgeben?«

Sie strich eine Falte in der Tischdecke glatt. »Noch lebt Ruthchen.«

Das Haus und Frau Lemke waren für ihn untrennbar miteinander verbunden. Ihr Vater hatte es gebaut, sie war hier geboren, hatte immer in dieser Wohnung gelebt. Später zwang ihre finanzielle Situation sie dazu, das Haus zu verkaufen. Sein Opa hatte es gekauft, und jetzt kümmerte sich Georg darum – und um sie. Das war seine Aufgabe.

Seine erste Begegnung mit Frau Lemke war noch vor seiner Einschulung gewesen. Er erinnerte sich, wie er sich auf der Treppe im Hausflur zufällig genau vor ihre Tür gesetzt hatte, weil er sich nicht weiter hinuntergewagt hatte und gleichzeitig nicht zurück in die Wohnung gehen wollte, in der sich sein Opa und seine Eltern gegenseitig anschrien. Keiner hatte bemerkt, dass er sich hinausgeschlichen hatte, weil die Stimmen so laut gewesen waren und seine Mutter begonnen hatte, Türen zu knallen und Gegenstände zu werfen, wie immer, wenn sie wütend war. Er erinnerte sich an die Scherben der geblümten Tassen, die er so mochte, auf dem Holzboden, doch er erinnerte sich nicht, worüber sie gestritten hatten, nur, dass er auf der Treppe gesessen und gewartet hatte, dass ihn jemand zurückholte, wenn sie bemerkten, dass er fehlte. Aber niemand war gekommen, er hatte gefroren, und die Zeit war ihm endlos lang erschienen. Schwere Schritte auf der Treppe und ein Schnaufen, er hatte sich an die Wand gedrückt. Noch heute sah er Frau Lemkes Lachen vor sich, als sie die Treppe heraufgekommen war, ihre funkelnden Augen.

»Da braucht aber jemand eine heiße Schokolade«, hatte sie nur gesagt.

Er hatte genickt und sich die Tränen weggewischt, die herausgekommen waren, obwohl er es ihnen verboten hatte, weil er wusste, dass sein Vater sich über ihn lustig machen und ihn beschimpfen würde. Frau Lemke hatte ihre Wohnungstür geöffnet, die beiden prall gefüllten Einkaufstaschen hochgehoben, und sie waren hineingegangen.

Er wusste nicht mehr, wer ihn später abgeholt hatte, ob seine Eltern ihn getadelt hatten. Manchmal war er sich auch nicht sicher, ob es wirklich seine Erinnerungen waren oder ob sie sich aus Frau Lemkes Erzählungen zusammengesetzt hatten, die mit »Weißt du noch, als ich dich damals auf der Treppe gefunden habe« begannen. Aber er wusste sicher, dass sie seitdem Freunde gewesen waren, dass er sich immer zu ihr flüchten konnte, dass sie mit seinen Tränen umgehen konnte. Er war ein weinerlicher Junge gewesen, dagegen hatte er nichts machen können.

Sie hatte ihm beigebracht, die Spinnen in der Wohnung zu akzeptieren, ihr konnte er all die kleinen Hirngespinste erzählen, die er sonst niemandem anvertraute. Als er dachte, dass ihm jemand im Badezimmer auflauerte, und er deshalb nicht auf Toilette gehen konnte, meinte Frau Lemke, sie gehe mal hinein und spreche mit demjenigen.

Dann kam sie zurück und sagte zu einer imaginären Person: »So, jetzt sag Georg, was wir besprochen haben, dass du ihn in Ruhe lässt.« Und nach einer kurzen Pause sagte sie: »Das hast du sehr gut gemacht, jetzt kannst du dir einen Keks aus dem Küchenschrank nehmen, aber nur einen«, und gab Georg ein Zeichen, dass er schnell ins Badezimmer gehen solle.

So war das mit Frau Lemke gewesen. Er hatte nie verstanden, warum diese milde, witzige Frau einen Sohn hatte, der immer wütend auf seine Mutter zu sein schien, dem sie, soweit Georg das mitbekommen hatte, nie etwas recht machen konnte.

Georg blickte auf den restlichen Kuchen auf seinem Teller, der Geschmack schien für alle Zeiten verdorben. Frau Lemke betupfte sich den Mund mit der Serviette, zwinkerte Georg zu und gab ihm noch ein Stück. Er zerteilte den Kuchen, schob die Stücke hin und her, er war nicht bereit für Veränderungen. Die schlafende Katze musste so lange wie möglich leben, das war das Geburtstagsgeschenk, das er von Ruthchen erwartete, dafür, dass er sie damals hierhergebracht hatte.

»Könntest du morgen ein wenig Katzenfutter besorgen? Viele verschiedene Sorten, damit Ruthchen eine Auswahl hat? Sie ist so wählerisch geworden«, sagte Frau Lemke, und er nickte.

Wie immer, wenn Georg bei Frau Lemke klingelte, dauerte es eine Weile, bis sie den langen Flur heruntergegangen war und die Tür öffnete. Zwischendurch blieb sie an der Garderobe stehen, um ihre Frisur zu überprüfen, das wusste er. Meist nahm sie das Haarspray aus der barocken Kommode und sprühte kurz nach. Auch jetzt roch er es, als sie ihm die Tür öffnete, und er sah gleich, dass etwas nicht stimmte. Frau Lemkes Bluse war falsch geknöpft, zum ersten Mal, seit er sie kannte, war sie nicht tadellos gekleidet.

»Da bist du ja. Was hast du mitgebracht?«

Ihre Stimme klang brüchig, ihr Lächeln eine Bewegung des Mundes, die sich nicht in ihren Augen widerspiegelte.

Er hielt seinen Rucksack hoch: »Huhn in Aspik, Kaninchen in Gelee, Schlemmerfilet, zehn verschiedene Dosen, für Ruthchen nur das Beste.«

Jede Diele knarzte auf ihre Weise, als sie in kleinen Schritten darüberliefen, Georg darum bemüht, Frau Lemke nicht zu überholen. Die vielen Türen, die vom Flur abgingen, waren verschlossen, für ihn seit jeher ein Rätsel, was sich dahinter verbarg. Er kannte nur die Küche und die gute Stube, in der Frau Lemkes Mann bis zu seinem Ableben Zeitung lesend und schweigend in einem Ohrensessel gesessen hatte. Manchmal erhaschte Georg einen Blick in das Schlafzimmer, wenn Frau Lemke etwas herausholte. Als er die Küche betrat, sah er die Katze zusammengerollt auf dem Sofa schlafen, wie immer.

»Ruthchen, wach auf, Georg hat dir etwas Feines mitgebracht.«

Georg ließ Frau Lemke die Dose öffnen, er ekelte sich vor Katzenfutter und wollte es nicht berühren. Mehrmals rutschte Frau Lemke mit dem Daumen von der Lasche ab, bevor es ihr gelang, den Deckel abzuziehen, und der Verwesungsgeruch, so bezeichnete es Georg, sich verbreitete. Er zog sein T-Shirt über die Nase. Frau Lemke löffelte den Inhalt in eine kleine Schüssel und hielt sie Ruthchen vor die Schnauze.

»Schau, Georg hat dir Huhn mitgebracht«, sagte Frau Lemke. »In Aspik.«

Ruthchen schaute nicht auf, bewegte sich nicht. Eine Fliege surrte vor Georgs Augen, er schlug nach ihr.

»Sie ist so schwierig geworden mit dem Essen«, sagte Frau Lemke. Die Katze reagierte nicht. Auch nicht, als Frau Lemke ihren Kopf streichelte.

»Sie muss sich mal richtig ausschlafen, dann geht es schon wieder.« Frau Lemke stellte die Schüssel neben Ruthchen auf das Sofa.

Die Fliege landete auf Georgs Hand, ihre Beinchen kitzelten auf seiner Haut. Als er die Fliege vertrieb, drehte sie zwei Kreise unter der Lampe, flog weiter und landete auf der Spitze von Ruthchens Ohr.

Kein Zucken, keine Bewegung.

Georg schaute Frau Lemke an, die seinem Blick auswich. Sie drehte sich weg, sank in sich zusammen, wischte mit dem Geschirrtuch über das glänzende Spülbecken. Der Kuchen stand unter einer Tortenhaube auf dem Tisch, alles war wie gestern, und doch hatte der Tag seine Unschuld verloren. Ruthchen hatte ihr Versprechen nicht gehalten, nichts würde so sein, wie es war. Er atmete mit einem tiefen Seufzer aus, sagte: »Ach, Ruthchen, was machst du nur.«

Er setzte sich zu der Katze. Drei Mal musste er Anlauf nehmen, während Frau Lemke immerzu wischte, erst dann konnte Georg sich überwinden, Ruthchen mit den Fingerkuppen zwischen den Ohren zu berühren. Er streichelte ihren Kopf, über die Ohren, die ganz kalt waren. Die Katze bewegte sich nicht. Ihr Körper war hart. Der Tod hatte sich Ruthchen im Schlaf geschnappt, als er und Frau Lemke dachten, dass sie noch Zeit hätten, und Georg hoffte, dass New York bis in alle Ewigkeiten aufgeschoben wurde.

Frau Lemke drehte sich zu ihm um, sie sah aus, als wäre sie in eine Sturmböe geraten. Das Make-up um die Augen verschmiert, die Haare zerzaust, und auf einmal sah sie aus wie 84 Jahre, während er davor immer zu ihr gesagt hatte: »Frau Lemke, Sie sind ein Jungbrunnen.« Worauf sie gelacht hatte.

Mit Blicken verständigten sie sich darüber, was jetzt geschehen würde. Dass sie Ruthchen beerdigen, Frau Lemkes Wohnung, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, ausräumen und in Kisten packen würden. Dass Frau Lemke nach New York fliegen und in der Stadt, in einem Land, dessen Sprache sie kaum sprach, mit ihrem Sohn und ihren Enkelkindern, die ihr fremd waren, die letzten Jahre ihres Lebens verbringen würde. In diesem Moment dachte Georg: So nicht, so haben wir nicht gewettet. Und da sie beide den Tod nicht thematisiert hatten, war er auch nicht da, und deshalb sagte er:

»Ich glaube, Ruthchen muss zum Arzt.«

Sie fuhr sich durch die Haare. Der Versuch, ihre Frisur zu ordnen, brachte sie noch mehr durcheinander.

»Ja«, sagte Frau Lemke. »Ein paar Tabletten, und dann hat sie wieder Appetit.«

»Haben Sie eine Decke, in die ich Ruthchen einwickeln kann?«

Frau Lemke verschwand ins Nebenzimmer, er kniete sich vor die Katze, hoffte, dass sie spontan die Augen öffnen würde, aber Ruthchen rührte sich nicht.

»Hier ist ihre Schlafdecke«, sagte Frau Lemke, als sie zurückkam. Ihre Augen waren wässrig.

»Perfekt«, sagte er. »Darin wickeln wir sie ein. Dann geht es ihr gut.«

»Ja, dann geht es ihr gut.«

Beide beugten sich über die Katze, Frau Lemkes Atem an seinem Ohr. Er musste sich zusammenreißen und die Katze so anheben, als wäre sie noch am Leben. Überhaupt, er musste sie berühren. Er hielt die Luft an und schob seine Hände unter Ruthchen, ihr Fell fühlte sich immer noch weich an. Er kämpfte gegen den Drang, seine Hände zurückzuziehen. Obwohl sie noch aussah wie Ruthchen, schien sie ihre wesentlichen Züge verloren zu haben, es war etwas Hartes, Grausames an ihr. Es musste schnell gehen, seine Bewegungen sicher sein. Er hob die Katze an und wickelte sie in die Decke, sodass der Kopf herausschaute. Er schluckte, versuchte, die Übelkeit, die in ihm aufstieg, zu ignorieren. Frau Lemke streichelte über die Decke.

»Ruthchen, meine Gute«, sagte sie. »Sie kommt doch gesund wieder, richtig?«

»Absolut, unser Ruthchen, na klar.«

Er drehte sich um, jetzt ging es nur noch darum, schnell hinauszukommen, sie nicht mehr anzuschauen, weder die Katze noch Frau Lemke. Langsam ging er über den Flur, damit sie ihm folgen konnte, hielt die eingewickelte Katze von sich weg wie ein Tablett. Redete vor sich hin, dass sie nur die richtige Medizin brauche und bald wieder Appetit habe.

An der Tür sagte Frau Lemke: »Mach es gut, meine Liebe.«

Georg sah die Fliege nicht, hörte aber, wie sie ihm in den Hausflur und die Treppe hinauf folgte.

Er legte Ruthchen direkt neben der Tür auf den Holzboden, das heißt, er warf sie mehr, als dass er sie legte, rannte ins Badezimmer und wusch sich die Hände, insgesamt drei Mal, mit Seife. Danach setzte er sich Ruthchen gegenüber auf den Boden, beobachtete sie. Er roch an ihr, ohne sie zu berühren, fragte sich, wann die Verwesung einsetzte, verfluchte sich und die Katze. Wenn sie einfach immer so weiterschlafen würde, dachte er.

Neben ihm lagen Lindas Sandalen, an der Garderobe hing ihre schwarze Lederjacke. Er hatte alles so gelassen, wollte den Moment einfrieren, als sie gegangen war, damit sie genau dort weitermachen konnten, wenn Linda zurückkehrte. An den Wänden im Flur ihre Selbstportäts, Lindas Gesicht überdimensional groß in verschiedenen emotionalen Zuständen. Über Ruthchen das Bild, das Linda nach der ersten Fehlgeburt von sich gemalt hatte. Linda wüsste jetzt, was zu tun wäre, dachte er. Sie hatte immer eine Idee, wenn auch oft nicht die Lösung. Er legte eine Hand auf seinen Magen, als könnte er ihn beruhigen, stieß auf. Am Ende hatte Linda nur noch sich selbst gemalt, ihr Gesicht in dunklen Ölfarben, ihren Schmerz vergrößert in den langen Flur gehängt.

Eine Nachricht von Kai. Er schlug vor, dass sie sich am Abend in der Bar neben dem Haus trafen, in dem Kai wohnte. Georg drückte das Anrufzeichen, er musste mit jemandem reden. Kai war einer der Letzten, der sich trotz Familie mit ihm traf, der noch Interesse an ihm hatte, obwohl sein Leben keine Aneinanderreihung von Anekdoten aus der Medienwelt mehr war. Georg beschäftigten jetzt Hausgeldabrechnungen, die Wasserleitungen, die dringend saniert werden mussten, die Erziehung seiner Mieter zur ordentlichen Mülltrennung und zu einem pfleglichen Umgang mit seinem Haus. Damit konnte er bei keinem Kneipengespräch punkten.

Kai und er hatten früher zusammen Konzertberichte im Radio gemacht, standen auf den Gästelisten sämtlicher Partys der Stadt. Als die neue Generation nachrückte und auf den Sitzungen überwiegend besprochen wurde, warum ein Interview zwanzig Sekunden zu lang war und deshalb der Jingle nicht rechtzeitig abgefahren werden konnte, ihre Konzertkritiken von drei Minuten auf dreißig Sekunden eingestampft worden waren, hatte sich Kai in eine dieser Agenturen an der Spree verzogen, wo er als Creative Director arbeitete, was auch immer das sein sollte. Georg mochte die Atmosphäre in den Agenturen nicht, er wollte auch keine Bücher schreiben, wie andere in seinem Metier. Er fand, er hatte genug Buchstaben in den Bildschirm getippt. Also blieb er beim Radio, und man hatte ihn, weil er zu lange dabei war, um ihn loszuwerden, in die Online-Abteilung abgeschoben, wo er die Internetseite des Senders verwaltete, Beiträge und Interviews zusammenfasste und einstellte. Er musste weiter zu den Sitzungen gehen, die ihn langweilten, um auf dem Laufenden zu bleiben, oder auch, um zu zeigen, dass er noch nicht an seinem Schreibtisch mumifiziert war. Die graue Eminenz in bunten Turnschuhen, damit hatte er sich abgefunden, obwohl seine Haare nur an den Schläfen ergraut waren.

Doch nachdem Linda gegangen war, war nichts mehr okay. Sein beschauliches Leben war sinnlos geworden, er konnte das Büro, die Sitzungen mit den ewigen Selbstdarstellern nicht mehr ertragen. Die Manie, das eben Gesagte erneut in eigenen Worten darbieten zu müssen. Die sich wiederholenden Themen, wie jedes Jahr bei den ersten Minusgraden vorgeschlagen wurde, man müsste mal etwas über obdachlose Jugendliche machen, und die Idee jährlich wie eine gänzlich neue gefeiert wurde. Im Frühjahr ging es um Tipps, wie man den Winterspeck loswurde, aber mit einem völlig neuen Ansatz, wie es hieß. Und im Sommer gab es den großen Check, welches Schwimmbad das beste der Stadt war. Während der Sitzungen verließ Georg immer mindestens ein Mal den Raum, ließ sich kaltes Wasser über die Arme laufen, schaute aus dem Fenster. Wenn er zurückkam, verhandelten seine Kollegen meist noch dasselbe Thema, nur dass andere Bedenken oder, schlimmer, neue Ideen eingeworfen worden waren.

Er wollte nicht mehr über das Internet reden, das man irgendwie in das Radio integrieren müsste, über breaking points und Höreraktionen. Kleine, unsinnige Geschichten, die keinen berührten und keinen interessierten.

Als einer der langjährigen Mieter seines Hauses, Herr Schmitt, in ein Pflegeheim umziehen musste und Georg die Fünf-Zimmer-Wohnung teuer an eine junge Familie vermieten konnte, hatte er eines Tages nicht seine Arme, sondern seinen Kopf unter Wasser gehalten. Er konnte es schaffen, hatte er unter dem kalten Strahl gedacht. Wenn er sich nur etwas einschränkte, käme er finanziell über die Runden. Mit nassen Haaren war er in die Sitzung zurückgekehrt und hatte gesagt, dass er jetzt gehen würde. Und nicht wiederkomme. Das Radikalste und im Nachhinein das Beste, was er jemals getan hatte. Er wusste noch, wie er auf dem Weg nach Hause in einem Imbiss eine Pizza gegessen hatte und wie außergewöhnlich es ihm vorgekommen war, um diese Zeit in der Stadt unterwegs zu sein, während die Kinder in den Schulen und die Erwachsenen in den Büros weggesperrt waren. Er hatte gesehen, wie der Pizzabäcker einer alten Frau mit Rollator die Tür geöffnet hatte, wie sie sich unterhielten, und Georg hatte den Eindruck, dass die Frau jeden Tag zum Mittagessen vorbeikam. Da hatte er gewusst, dass er mehr Menschlichkeit brauchte in seinem Leben. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er, während er seine Pizza kaute, das Gefühl, am Leben teilzunehmen.

Er war sich sicher, dass der Sender froh war, den komischen Online-Typen los zu sein. Jetzt war er ein Typ mit einem Katzenproblem.

»Was geht«, sagte Kai.

»Es ist schwer zu erklären. Ich habe hier eine tote Katze, die nicht tot sein sollte, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Okay«, sagte Kai nach einer kurzen Pause. »Lass sie einäschern.«

»Nein, sie soll nicht weg.«

»Gut.« Georg spürte, dass Kai nach einer Lösung suchte, wie für einen seiner Kunden, immer kreativ um die Ecke gedacht.

»Sie soll einfach nur weiter hier sein, schlafen, irgendwas, aber sie muss zurück auf Frau Lemkes Sofa.«

»Alles klar bei dir, Georg?«

»Nein.«

»Ich muss zurück in mein Meeting, lass uns das heute Abend besprechen, ja?« Georg hörte Kai durch den Hörer lachen. »Lass sie doch ausstopfen«, sagte er noch, bevor er auflegte.

Georg kratzte sich am Kopf. Das konnte die Lösung sein. Ruthchen würde weiter auf dem Sofa schlafen, Frau Lemke würde nicht nach New York ziehen. Sie würden Zeit gewinnen, und er konnte herausfinden, was Wolfgang im Schilde führte.

Georg googelte und telefonierte, und nach einer halben Stunde hatte er jemanden gefunden, der versprach, ihm zu helfen, und bei dem er sofort vorbeikommen konnte. Ein Herr Schürmann. Er packte Ruthchen in eine Tüte und verließ die Wohnung, schaute nicht noch einmal zu Linda auf. Er wollte nicht wissen, was sie über die Sache dachte.

Über dem Tisch mit der Edelstahlplatte, auf den er Ruthchen gelegt hatte, saß eine Eule auf einem Ast und schaute auf sie herunter. Noch nie hatte Georg solch ein Tier aus der Nähe gesehen. Es war größer, als er sich vorgestellt hatte, und strahlte tatsächlich etwas Kluges aus. Ihm schien, als verfolgten die großen gläsernen Augen, wie er Ruthchen aus ihrer Decke wickelte. Neben der Eule, auch über dem Arbeitstisch, breitete ein Raubvogel seine Schwingen aus, seine Fänge packten eine Maus. Es roch nach abgestandener Luft und nach Desinfektionsmittel. Wie Ruthchen jetzt so dalag, sah sie richtig tot aus, fand Georg.

Herr Schürmann wischte seine Finger auf Brusthöhe an der Schürze ab, wo sich Flecken und Streifen zu einem abstrakten Gemälde vereinten, zog Ruthchens Auge auf, sodass der weißbläuliche Augapfel sichtbar wurde. Georg rieb seine Hand an seiner Jeans, allein der Gedanke, dass er Herrn Schürmanns Hand zur Begrüßung berührt hatte …

»Und die Augen brauchen Sie nicht? Wenn Sie Fotos von der Katze hätten, könnten wir sie so präparieren, dass sie sitzt und Sie anschaut, oder springt, so wie der hier.« Herr Schürmann zeigte auf den Luchs hinter sich, der sich scheinbar auf eine Beute stürzte.

»Nein, sie soll genau so, wie sie jetzt liegt, ausgestopft werden, sodass sie quasi auf ihrem Sofa weiterschlafen kann.«

»Wir stopfen nicht aus, wir präparieren«, sagte Herr Schürmann. Alles an ihm wirkte bärig. Er war groß und rund, hatte Hände wie Tatzen, einen dichten Bart und wellige Haare. In den Sprechpausen brummte er »hm«.

Georg stieß auf. All die toten Tiere um ihn. Er hatte außer einem Kaffee am Morgen nichts zu sich genommen. Die Übelkeit hatte sich nicht gelegt, seit er Ruthchen bei Frau Lemke vom Sofa gehoben hatte.

»Wie lange ist sie schon tot? Kann ja noch nicht so lange sein«, sagte Herr Schürmann.

»Gestern Nachmittag hat sie noch gelebt.«

»Gut, dass Sie gleich gekommen sind. Wir nehmen keine Tiere, bei denen der Verwesungsprozess eingesetzt hat.« Er zog an dem Fell. »Ist alles noch ganz fest, sehen Sie?«

Georg wurde heiß.