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Diese drei lassen sich nicht unterkriegen - Junie Moon, die den Säureanschlag eines Liebhabers nur knapp überlebte, Arthur mit einem Nervenleiden und Warren im Rollstuhl. Im Krankenhaus lernen sie sich kennen und schmieden einen Plan: Nach ihrer Entlassung wollen sie zusammenziehen, egal was die anderen davon halten mögen. In einem überwucherten, in die Jahre gekommenen Haus, unter den Augen eines bösartigen Nachbarn und der Ohreneule im Feigenbaum, schaffen sie sich ihr eigenes Reich, in dem Selbstmitleid nicht geduldet wird und man gefälligst Schoko-Brownies zu backen hat, wenn man sich fürchtet. Zankend, gnadenlos ehrlich und immer gemeinsam treten sie an, um sich die Welt zurückzuerobern und ein Leben zu führen, an das niemand von ihnen mehr geglaubt hatte.
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Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2021
Die Außenseiter Junie Moon, Arthur und Warren lassen sich nicht unterkriegen. Im Krankenhaus lernen sie sich kennen und beschließen zusammenzuziehen. In einem überwucherten, heruntergekommenen Haus, zankend, gnadenlos ehrlich und immer gemeinsam treten sie an, um sich ein Leben zurückzuerobern, an das niemand von ihnen mehr geglaubt hatte.
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Marjorie Kellogg (1922–2005) war Autorin, Journalistin und Sozialarbeiterin. In der Nachkriegszeit berichtete sie für das Salute Magazine aus Spanien und Frankreich. Zurück in den USA, studierte sie Soziale Arbeit, ihre Erfahrungen in diesem Beruf ließ sie in ihre literarischen Werke einfließen.
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Paula Fox (1923–2017) zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie verfasste Romane, zahlreiche Kinder- und Jugendbücher sowie zwei Memoirs. Für ihre Werke wurde sie u. a. mit dem National Book Award ausgezeichnet.
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Marjorie Kellogg
Sag dass du mich liebst, Junie Moon
Mit einem Vorwort von Paula Fox
Roman
Aus dem Englischen von Gisela Günther
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1968 bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1971 im Rowohlt Verlag.
Die vorliegende Übersetzung wurde anhand der Originalausgabe überarbeitet.
Das Vorwort wurde von Kathrin Razum für diese Ausgabe aus dem Englischen übertragen.
Originaltitel: Tell me that you love me, Junie Moon
© by Marjorie Kellogg 1968
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Gisela Günther bei Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
© des Vorworts by Paula Fox 1984
© by Unionsverlag, Zürich 2022
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Haus – Artokoloro (Alamy Stock Foto); Eule – John Abbott, Natural History Museum, London; Feige - Pierre-Joseph Redouté, New York Public Library
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31144-2
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
SAG DASS DU MICH LIEBST, JUNIE MOON
Paula Fox über Junie Moon1 – Drei Patienten, die sich im Krankenhaus kennengelernt hatten …2 – Junie Moon war schon als Kind zäh gewesen …3 – Irgendein Pfleger hatte zufällig das Gespräch der drei …4 – Warren machte sich daran, Bilder aus Zeitschriften auszuschneiden …5 – Bubbel-de-buh-buh-buh. Bubbel-de-buh-buh-buh6 – Abends war das Krankenhaus so etwas wie eine …7 – Die sogenannten großen Visiten, bei denen eine Menge …8 – Wir müssen ein paar Pläne machen«, sagte Warren …9 – An einem heißen Mittwochnachmittag verließen Warren, Arthur und …10 – Wenn Sidney Wyner zu Hause war, trug er …11 – Niemand wusste genau, womit der Streit angefangen hatte …12 – Die Schwierigkeiten begannen durch Warren, der wie gewöhnlich …13 – Arthurs Zimmer war eigentlich eine Veranda, da die …14 – Arthur erwartete Mario vor dem Laden. Trotz der …15 – Obgleich der Hund noch nicht alt war …16 – Der Hund wartete, und endlich sah er …17 – Weder an diesem noch am nächsten Tag kam …18 – Der Geruch von bratendem Fisch weckte den Hund …19 – Am nächsten Tag konnte man die Nähe des …20 – Beach Boy half ihnen. Er holte den Lieferwagen …21 – Mario erledigte alles Notwendige. Er fuhr Warren und …Mehr über dieses Buch
Über Marjorie Kellogg
Über Paula Fox
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Als Marjorie Kellogg und ich uns Anfang der 1940er-Jahre kennenlernten, waren wir noch sehr jung und beide pleite. Etwas, was mein Vater mir erzählt hatte, brachte mich auf eine Idee, wie wir ein bisschen Geld verdienen könnten. Damals quollen die Zeitungsständer in den Süßwarenläden über von True-Story-Magazinen. In diesen Heftchen wurden »wahre« Geschichten über die Freuden und Gefahren der Liebe erzählt. Die Heldinnen waren hübsche, naive junge Frauen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit (als Sekretärin) einen gutaussehenden jungen Mann (ihren Chef) kennenlernten, sich in ihn verliebten, alles gaben und dann herausfanden, dass der Auserwählte bereits verheiratet, todkrank oder einfach ein Schuft war. Klüger und trauriger geworden, gaben die jungen Frauen ihre Ambitionen auf und kehrten in ihre Heimatstadt zurück, wo die wahre Liebe (meistens in Gestalt des Apothekersohns) die ganze Zeit geduldig gewartet hatte. Manchmal, vielleicht um die Geschichten besonders »wahr« zu machen, gerieten die Frauen auch in ernstliche Schwierigkeiten.
Mein Vater hatte mir jedenfalls erzählt, dass diese Geschichten keineswegs von hübschen, naiven jungen Frauen geschrieben wurden, sondern von mittellosen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die ein paar Dollar verdienen wollten. Die Magazine zahlten drei, vier Cent pro Wort; es schien ein einfacher Weg, an Geld zu kommen. Marjorie und ich investierten in einen Stapel dieser Heftchen, lasen sie durch und beschlossen, uns selbst daran zu versuchen. Es sollte nicht sein. Einen groben Plot und eine erste Zeile bekamen wir immer hin: »An einem strahlenden Tag im Oktober fuhr Nora den Riverside Drive entlang, als plötzlich – «, aber wenn wir dann die ein, zwei infrage kommenden Handlungsstränge nach dem Vorbild der gelesenen Heftchen auszuspinnen begannen, wurde das Ganze derart absurd und unanständig, dass wir vor Lachen irgendwann nicht mehr konnten. Ungefähr einen Monat blieben wir dran, dann gaben wir auf.
Wir fanden beide Arbeit und gingen getrennter Wege, doch wir hielten Kontakt und schrieben Jahre später zusammen ein Drehbuch für eine Nachmittagsserie, das sich zu unserer Überraschung tatsächlich verkaufte. Allerdings wollten wir als Autorinnen eigentlich woandershin, und schließlich kamen wir dort auch beide an.
Als 1968 Junie Moon mit ihrem »schrecklich entstellten« Gesicht, das aussah wie ein »mit einem Totenschädel bemalter Halloween-Kürbis«, auf den Plan trat, erregte sie beträchtliches Aufsehen. Sie war weder hübsch noch naiv, sie wusste, dass Liebe etwas Schwieriges ist, schwierig zu finden und schwierig zu geben, und keine ausschließliche Domäne der Gutaussehenden.
Das Leben hat Junie Moon vielfach verwundet. Sie ist an der äußeren Erscheinung anderer Menschen nicht interessiert, weiß von den zerbrechlichen Knochen unter dem Fleisch. Sie weiß, wie, und oft auch warum, andere Menschen leiden, und sie wendet sich von ihnen in ihrem Leid nicht ab. Sie ist großzügig und zugleich resolut, und eben diese Eigenschaften machen sie für alle, mit denen sie in Berührung kommt, besonders anziehend – so anziehend, dass diese Menschen die Versehrungen ihres Gesichts und ihrer Hände bald nicht mehr sehen, während Junie ihrerseits, wie sie selbst anmerkt, schnell vergisst, wie die anderen aussehen, »weil ihre Gefühle das Äußere dieser Männer veränderten, wie die Gezeiten den Sand«.
Mit dieser Geschichte, die so schlicht beginnt – »Drei Patienten, die sich im Krankenhaus kennengelernt hatten, beschlossen eines Tages, nach ihrer Entlassung zusammenzuleben« –, erinnert Marjorie Kellogg uns an die leicht in Vergessenheit geratenen Freuden, ja den überraschenden Zauber ganz gewöhnlicher Geschehnisse und Dinge – Limonade und Schoko-Brownies im entscheidenden Augenblick, den Strand und das Meer zu riechen und zu spüren, das geheimnisvolle, unwägbare Verhalten eines klugen Hundes, die heilende Wirkung gegenseitiger Anteilnahme, die Freiheit, draußen unter freiem Himmel zu schlafen, das aberwitzige Vergnügen vertrauter Streitereien mit alten Freunden, ein »heruntergekommenes Häuschen unter einem dräuenden Baum«, in dessen eines Fenster Heckenrosen hineingewachsen sind.
Die Patienten, »drei Monster, eines davon weiblich«, verwirklichen ihr Vorhaben, zusammenzuziehen, und wie einer von ihnen, der querschnittsgelähmte Warren, anmerkt: »Es sind schon schlechtere Pläne auf dieser Welt gemacht worden.«
Wie die meisten Pläne geht auch dieser nicht ganz auf. Aber solange alles gut läuft, wird das Leben der drei von Junie Moons bestimmendem Wesenszug erhellt: ihrem sonnigen Gemüt. Es ist eine Sonnigkeit in rauer Landschaft, sie kommt überraschend, ein Vogel, der auf dem Ast eines verdorrten Baumes singt, doch Sonnigkeit ist es, und es ist Gesang. Die Geschichte von Junie und Warren sowie von Arthur, der an einer fortschreitenden neurologischen Erkrankung leidet, erinnert mich an andere Geschichten – J. D. Salingers Der Fänger im Roggen und Carson McCullers’ Frankie, um nur zwei zu nennen –, die es vermögen, in einem tieferen Sinn zu uns zu sprechen und uns den Weg zu weisen.
Junie und ihre Freunde sind Außenseiter. Sie wurden von Krankheiten oder ihren Mitmenschen beschädigt, und das sieht man ihnen an. Die meisten von uns hingegen können ihre Wunden und nicht eingestandenen Geheimnisse verbergen, oder wir können uns zu Gruppen zusammentun und behaupten, nicht wir seien Außenseiter, sondern alle anderen.
Gerade für junge Menschen, die der Verwirrung, der Ungewissheit und den zahlreichen Kränkungen des Erwachsenwerdens ausgesetzt sind, kann dieses Buch, glaube ich, besonders fesselnd und tröstlich sein, ja vielleicht kann es sogar helfen, den schmerzhaften Konflikt zwischen dem Wunsch, anders zu sein, und dem schrecklichen Verdacht, man sei womöglich zu anders, etwas zu entschärfen.
Wie sehr habe ich mich als junges Mädchen danach gesehnt, so wie alle anderen zu sein und in dieser vermeintlichen Anonymität zu versinken! Aber wer waren, wer sind »alle anderen«?
Marjorie Kellogg erzählt uns, wer drei dieser anderen sind – wer sie sind, wie sie sind, wie sie versuchen, zusammenzuleben und sich liebevoll einander anzunehmen. Nachsichtig gegenüber menschlicher Schwäche und darauf vertrauend, dass Menschen imstande sind, auf humane Weise zu überleben, erzählt sie ihre Geschichte und zeigt so auf, dass andere Menschen nur unterschiedliche Ausformungen eines unentrinnbaren Einen sind – der Person, die jeder und jede von uns ist und die alle anderen ebenfalls sind.
Drei Patienten, die sich im Krankenhaus kennengelernt hatten, beschlossen eines Tages, nach ihrer Entlassung zusammenzuleben. Sie schmiedeten diesen Plan, weil keiner von ihnen so etwas wie ein Zuhause hatte.
Obwohl die drei sich oft stritten und wie es schien wenig gemeinsam hatten, hielten sie einander doch in einem überraschenden Gleichgewicht, etwa wie die drei Kugeln, die das Pfandleihhaus kennzeichnen.
Einer der drei Patienten hieß Warren. Im Alter von siebzehn Jahren, als er mit einem Freund auf Kaninchenjagd ging, war er von einem Schuss, der sich plötzlich aus dem Gewehr des Freundes löste, in die Wirbelsäule getroffen worden. Seitdem war er querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt.
Arthur, der zweite Patient, hatte ein progressives Nervenleiden, das zu diagnostizieren noch niemandem gelungen war. Seiner Schätzung nach hatte man ihn bisher sechstausendundzwölfmal aufgefordert, mit dem Zeigefinger seine Nase zu berühren, und er konnte die Laborergebnisse seiner Untersuchungen aus den letzten fünf Jahren auswendig hersagen, für den Fall, dass die Ärzte alle Einzelheiten zu hören wünschten. Arthur hatte einen schwankenden Gang, und die Hände umflatterten sein Gesicht wie Schmetterlinge.
Der dritte Patient war eine Frau namens Junie Moon. So hieß sie tatsächlich. Ein Psychopath hatte sie eines Nachts in einer dunklen Gasse halb totgeschlagen und dann mit Säure übergossen. Eine Reihe abstoßender Entstellungen war die Folge.
Die Idee, sich zusammenzutun, stammte von Warren. Er war fett und träge, und der Gedanke, allein zu leben und für sich selbst sorgen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Er bestimmte gern über die Zeit und das Tun anderer Leute und gefiel sich darin, wunderbare Zukunftsvisionen zu entwerfen.
»Freunde«, sagte er eines Abends, nachdem die Medikamente für die Nacht verteilt worden waren, »ich habe eine Lösung für unser gemeinsames Dilemma gefunden.« Junie Moon, die mit Arthur in einer Ecke des Korridors saß und Dame spielte, wandte Warren ihr verunstaltetes Gesicht zu und sah ihn finster an.
»Mit den verschiedenen kleinen Unterstützungen, die wir da und dort bekommen werden«, fuhr Warren fort, während Arthur versehentlich zwei Damesteine vom Tisch stieß, »könnten wir bestimmt ganz gut leben.« Er hob die Damesteine auf und klopfte Arthur auf die Schulter. »Was haltet ihr davon?«
»Mit mir will kein Mensch leben«, sagte Junie Moon, »also schlag dir den Quatsch aus dem Kopf.«
»Ich finde die Idee widerwärtig«, erklärte Arthur, und seine Hand flatterte in der Luft.
Dann beugten er und Junie Moon sich tief über das Damebrett, als wollten sie sich dadurch von Warrens verrücktem Vorschlag distanzieren.
»Tut bloß nicht so, als ob irgendwo irgendwer auf euch wartet.« Warren streckte sich in seinem Rollstuhl nach vorn, sodass seine Augen in gleicher Höhe mit den ihren waren. »Ihr wisst nämlich beide nicht, wohin.« Er zwinkerte Junie Moon mit einem lüsternen Grinsen zu. »Du wirst in einem Heim für alte Damen landen, und was sich bei denen tut, das muss ich dir wohl nicht ausmalen.«
»Ist immerhin besser als nichts«, versetzte sie. Unter Mühen verzerrte sich ihr narbiger Mund zu einem Lachen. Warren war an ihr Gesicht noch nicht recht gewöhnt, aber er mochte ihre Schlagfertigkeit.
»Trotzdem, ich bin besser als ein Dutzend alte Damen«, sagte er, »und zuverlässiger bin ich auch.«
»Blödsinn!«, schrie Arthur, und das bewirkte in seinem Körper einen heftigen Krampf, der ihn vom Stuhl zu schleudern drohte. Ganz automatisch legten ihm Junie Moon und Warren eine Hand auf die Schultern, um ihn zu beruhigen.
»Du bist ja manches«, sagte Arthur, als er sich unter Kontrolle hatte, »aber zuverlässig bestimmt nicht.«
»Na, vielleicht ist er doch besser als das Armenhaus«, meinte Junie Moon. »Also lass hören.«
»Gut.« Warren lehnte sich in seinem Rollstuhl wieder zurück und strich mit der Hand über seinen hellblonden Bart. »Jeder kriegt ein eigenes Zimmer. Junie Moon kocht, und Arthur geht einkaufen. Ich sehe schon alles vor mir.«
»Und ich sehe schon, dass du für dich selbst keinerlei Anstrengungen eingeplant hast«, bemerkte Arthur.
»Welcher Mensch, der bei Verstand ist, wird uns denn eine Wohnung vermieten?«, fragte Junie Moon. »Drei Monster, eines davon weiblich.«
»Das wird telefonisch erledigt«, antwortete Warren. »Wir sagen einfach, wir hätten zu viel zu tun und könnten daher nicht persönlich erscheinen.«
»Aber der Vermieter schmeißt uns doch raus, sowie er uns zu Gesicht bekommt«, wandte Junie Moon ein.
»Kann er nicht«, sagte Arthur. »Wir gehören drei verschiedenen Minderheitsgruppen an und genießen Mieterschutz.« Damit hatte sich Arthur bereits für den Plan ausgesprochen. Junie Moon gab nicht so schnell nach.
»Es ist schon schlimm genug, euch beide hier im Krankenhaus jeden Tag zu sehen«, sagte sie. »Und da soll ich auch noch mit euch zusammenleben?«
Die Männer starteten unverzüglich einen Gegenangriff.
»Du bist auch nicht gerade eine Augenweide«, erwiderte Warren.
»Und wahrscheinlich hast du viele unangenehme Angewohnheiten, von denen wir nichts wissen und die wir in Kauf nehmen müssen, wenn wir erst mal einen gemeinsamen Beschluss gefasst haben«, fügte Arthur hinzu.
»Reden wir lieber nicht von Augenweiden«, sagte Junie Moon zu Warren. »Es könnte nämlich sein, dass du uns den Rang abläufst.«
Arthur, sensibler als Warren, hörte aus Junie Moons Stimme heraus, dass sie tief gekränkt war. Ihr entstelltes Gesicht machte es für andere fast unmöglich, zu erkennen, was sie empfand.
»Eine Augenweide ist wohl keiner von uns«, meinte er.
»Aber ein paar Vorzüge haben wir doch aufzuweisen, denke ich.« Er wandte sich hastig ab, damit die beiden anderen nicht sahen, wie er vor Scham über das Eigenlob errötete.
»Nun, was wird denn hier ausgeknobelt?«, fragte Miss Oxford, die dünne, argwöhnische Oberschwester.
»Nichts Besonderes, wir überlegen nur, wie wir Sie am besten um die Ecke bringen«, antwortete Warren munter. Miss Oxford hastete weiter und blickte dabei misstrauisch und ängstlich über die Schulter zurück.
Jetzt war auch Juni Moon so weit, dass sie Warrens Vorschlag zustimmte. »Ich weiß, wie wir Miss Oxford auf unsere Seite bringen können«, sagte sie, »bevor wir von hier verschwinden und einen eigenen Hausstand gründen.«
So war die Übereinkunft der drei zustande gekommen.
Junie Moon war schon als Kind zäh gewesen, und noch zäher war sie als junge Frau. Statt zu gehen, galoppierte sie förmlich durch die Gegend, und um ihren Mangel an Schönheit auszugleichen, riss sie Witze. Bis sie fünfundzwanzig war, hatte niemand sie heiraten wollen, dann aber fanden sich die Bewerber in hellen Scharen ein: Männer, die im Beruf versagt hatten oder die ebenso unattraktiv waren wie sie selber oder die sich vor irgendetwas drücken wollten. Die meisten schielten und kamen aus Oklahoma oder aus Tacoma, Washington. Junie Moon wies sie alle ab. Ihre Mutter, die sehnlichst wünschte, dass Junie Moon heiraten und das Elternhaus verlassen möge, pflegte den Freiern nachzusehen, wenn sie abzogen, und betrübt zu sagen: »An dem da habe ich aber nun wirklich nichts Unebenes entdecken können.«
Gelegentlich ging Junie Moon mit dem einen oder anderen aus, an den Strand oder ins Autokino, aber sie konnte den säuerlichen Geruch dieser Männer nicht leiden und auch nicht die Art, wie sie sich schon nach zehn Minuten für befugt hielten, Juni Moons Beine zu befühlen. Nach einiger Zeit verzichtete sie auf das Ausgehen – das heißt, bis sie Jesse kennenlernte. Jesse trug speckige schwarze Hosen und ein fliederfarbenes Trikothemd. Er roch, als besäße er keine andere Kleidung, aber im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte er einen gewissen Stil. Er saß bescheiden auf dem Rand der Couch, sah Junie Moons Eltern offen an, wenn sie etwas sagten, und manchmal sprach er zu ihr in einem Ton, dass es sie im Rückgrat kribbelte. Er schien über alles Mögliche Bescheid zu wissen, nur seine Herkunft, seine Mutter und etwaige Geschwister erwähnte er niemals.
Eines Abends fuhr Jesse mit ihr bis zum Stadtrand und verlangte, sie solle sich hinter einem windschiefen alten Schuppen ausziehen. Das missfiel ihr, und das sagte sie ihm auch, aber daraufhin veränderte sich sein Gesichtsausdruck derart, dass sie erschrocken gehorchte. Sie stand auf dem Stoppelfeld hinter dem Schuppen, die knochigen Beine zusammengepresst, die langen Arme um den Oberkörper geschlungen, während Jesse auf der Erde saß und eine lange Liste von Obszönitäten vom Stapel ließ. Nach ungefähr einer halben Stunde befahl er ihr, sich wieder anzuziehen, und sie fuhren nach Hause.
Junie Moon machte den Fehler, auf der Rückfahrt an den Anblick zu denken, den sie geboten haben musste, als sie so dastand, splitternackt, mit einem jungen Mann zu ihren Füßen, und darüber musste sie lachen. Sie lachte so sehr, dass sie nicht merkte, wie sich Jesses Gesicht zu einer bedrohlichen Grimasse verzog. Sie lachte sogar noch, als er sie aus dem Wagen zerrte. Er schleifte sie in das Gässchen hinter dem A & P und prügelte sie halb zu Tode. Sie blieb lange dort liegen – jedenfalls lange genug, damit er eine Flasche mit Säure holen, zurückkommen und Junie Moon den Rest geben konnte. Das abscheuliche Verbrechen wurde niemals gesühnt, obgleich man in vier Staaten steckbrieflich nach Jesse fahndete.
Danach lag Junie Moon viele Wochen im Krankenhaus. Zuerst gab man ihr ein Einzelzimmer, weil sie zu allem Überfluss auch noch eine Lungenentzündung bekam, an der sie beinahe gestorben wäre. Ihre Augen waren mit Mull verbunden und ebenso die Ohren; den Mund hatte man frei gelassen. Alle, die zu ihr sprachen, beugten sich dicht über diese dunkle Öffnung und schrien, als wären dort ihre Ohren. Sie konnte den Atem der Leute an den Zähnen fühlen, aber die Stimmen waren weit weg, denn sie mussten ja den dicken Filter der Gazeschichten durchdringen. Als Junie Moon so weit wiederhergestellt war, dass sie Nahrung durch den Mund zu sich nehmen konnte, setzte sich zu den Mahlzeiten eine Krankenschwester an ihr Bett und löffelte allerlei Breisorten in sie hinein. Da die Schwestern das nicht gern taten, beeilten sie sich, mit dem Ergebnis, dass es eine Kleckerei gab und sie ärgerlich wurden. Jedes Mal, wenn eine Schwester sagte: »Nun wollen wir aber wie ein braves Mädchen essen«, wünschte sich Junie Moon sehnlichst, ihr eine Ohrfeige zu geben. Dazu war sie jedoch nicht imstande, denn ihr rechter Arm lag wegen eines komplizierten Splitterbruchs in Gips, und der linke war für eine Hautübertragung am Hals fixiert. Nachdem sie dies acht Wochen lang erduldet hatte, wurde sie auf eine andere Station verlegt. Dorthin schickte man Patienten, nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die lernen sollten, sich wieder ins Leben einzuordnen. Junie fand das urkomisch. »Ich war noch nie geordnet«, sagte sie, »und schon gar nicht eingeordnet.«
Warren wurde von einer Gruppe Schriftsteller großgezogen, die sich im Sommer in Provincetown traf und den Winter über in verschiedenen Großstädten wohnte. Ein hübsches sechzehnjähriges Mädchen hatte ihm während der Wirtschaftskrise das Leben geschenkt. Sie war mit ihren Eltern, einem Architekten und einer Biochemikerin, von Boston nach Provincetown übersiedelt. Die Eltern, sehr tolerant gesinnte Menschen, bemühten sich, keine Überraschung zu zeigen, als ihre Tochter von irgendeinem der Schriftsteller schwanger wurde, obwohl sie insgeheim entsetzt waren – alle beide. Nachdem die Schriftsteller die Angelegenheit mit dem jungen Mädchen und den Eltern offen und ehrlich besprochen hatten, erklärten sie sich bereit, das Baby zu übernehmen und es reihum zu versorgen. Mithilfe – teils farbiger – Listen und Tabellen stellten sie einen Plan für das Zirkulieren des Kindes auf, damit die Bürde, für Warren zu sorgen, gerecht unter ihnen verteilt wäre. Dieser Plan überlebte jedoch keine zwei Winter, und die Last fiel schließlich Warrens Großmutter und einem jungen Mann namens Guiles zu, der in New York wohnte und in einer Handtaschenfabrik arbeitete. Guiles war der verflossene Freund eines der Schriftsteller. Er nahm das Kind während des Winters auf, obgleich er den größten Teil seines Verdienstes opfern musste, um eine Frau zu engagieren, die tagsüber bei Warren blieb. Abends hastete er von der Arbeit nach Hause, er hatte nun einen Lebensinhalt gefunden. Unter dem einen Arm trug er eine Tüte mit Nahrungsmitteln, unter dem anderen ein Buch aus der Leihbibliothek, das er sich in der Mittagspause geholt hatte. Als Erstes befragte er die Frau immer sehr eingehend nach den Ereignissen des Tages – hatte der Kleine ordentlich gegessen, hatte er sein Nachmittagsschläfchen gehalten? Später fragte er sie ein zweites und auch noch ein drittes Mal aus, um eventuellen Widersprüchen auf die Spur zu kommen. Sein Misstrauen brachte so manche der Frauen dazu, den Job aufzugeben, aber Guiles hatte das Glück, immer wieder eine neue zu finden. Sobald die jeweilige Kinderfrau sich verabschiedet hatte, nahm Guiles den Jungen auf den Arm und ließ ihn auf seiner Hüfte reiten, während er für sie beide das Essen kochte. Er fand heraus, dass Warren sehr gern Eiernudeln aß, Tunfisch, Limonen und getoastete Korinthenbrötchen, und hin und wieder gab es auch Erdbeerspeise mit Aprikosen. Nach dem Essen nahm Guiles das Kind auf den Schoß und las ihm vor. Ehe Warren drei Jahre alt war, hatte er bereits das meiste von Melville gehört, auch einiges von Hemingway, Dorothy Parker, Sinclair Lewis, außerdem einzelne Passagen von James Joyce und, nicht zu vergessen, The Conquest of Mexico. Morgens badete ihn Guiles zu den Klängen der einzigen Schallplatte, die er besaß: das Divertissement von Ibert. Offensichtlich gefiel Warren diese Musik, denn er lachte und patschte mit den Fäusten auf das Badewasser.
Jedes Jahr am vierten Juli, dem Nationalfeiertag, brachte Guiles das Kind nach Boston und lieferte es bei Warrens Großmutter, der Biochemikerin, ab. Anfang September, nach dem Labor Day, kehrte Warren zu Guiles zurück, braungebrannt und gesund, aber recht ernst aussehend.
Als Warren sieben war, wurde Guiles von einem Lieferwagen überfahren und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Glücklicherweise hing über dem Spülbecken in Guiles’ Küche ein Zettel, der besagte, man solle im Fall eines Unglücks Warrens Großmutter benachrichtigen. Die Ärmste kam am nächsten Tag und nahm Warren mit zu sich nach Boston. Etwa zehn Monate lang schlich er blass und bedrückt umher, dann aber ging es ihm langsam besser. Die Großmutter sprach oft von Guiles und wollte dem Jungen einreden, Guiles wäre sein Vater gewesen. Sie schilderte ihn auch bedeutend stärker und interessanter, als er in Wirklichkeit gewesen war. Warren wusste, dass das so nicht stimmte, aber er hatte seine eigenen Gründe, Guiles zu lieben, und widersprach der Großmutter nicht. Es gelang ihm, wenn auch nicht ohne Mühe, sich ein paar lebhafte Erinnerungen an den dünnen, kleinen Mann zu bewahren, der ihn, als er klein war, auf die Hüfte genommen hatte, während er Thunfisch briet.
Als Warren siebzehn war, ging er mit seinem Freund Melvin Coffee in die Dünen von Provincetown, um Kaninchen zu schießen. Stattdessen schoss Melvin ihn in den Rücken. Sie beschlossen, zu sagen, dass es ein Unfall gewesen sei.
Arthur war bis zu seinem zwölften Lebensjahr ein vollkommen normaler, kerngesunder Junge gewesen. Dann aber entwickelte sich eine Schwäche in seiner rechten Hand, und er fing an, Gegenstände fallen zu lassen. Zuerst entglitt ihm die Tasse Kakao am Frühstückstisch. Bald darauf begannen ihm die Schulbücher aus der Hand zu rutschen und klatschend auf das Trottoir zu fallen. Und an einem heißen Nachmittag im Mai, mitten im Sozialkundeunterricht, fühlte er, wie er selbst fiel, tiefer und tiefer, wie in einen dunklen Schacht. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden im Klassenzimmer und hatte ein hölzernes Lineal zwischen den Zähnen.
Die Nervosität seiner Mutter verwandelte sich in ernsthafte Sorge, als diese Krankheitssymptome, statt allmählich zu verschwinden, im Laufe der Jahre immer schlimmer wurden.
Arthur hörte, wie seine Eltern bis in die Nächte hinein über seine Anfälle und andere beängstigende Anzeichen sprachen. Er fand es unheimlich, dass ihre Streitereien, an die er sich mit der Zeit gewöhnt hatte, plötzlich aufhörten, wenn sie über ihn redeten. Am liebsten wäre er von zu Hause weggelaufen, er wusste nur nicht, wohin. Stattdessen wurde er von Klinik zu Klinik, von Krankenhaus zu Krankenhaus geschleppt – insgesamt waren es fünfunddreißig.
Als Arthur achtzehn war, gab seine Mutter den Kampf auf. Die Eltern brachten ihn in eine staatliche Anstalt für Schwachsinnige, zogen aus der Stadt fort und ließen sich nicht mehr blicken. Zuerst kam Arthur fast um vor Entsetzen über all das Stammeln und Lallen und über den Gestank in der Anstalt. Dann aber ließ man ihn auf den Gemüsefeldern arbeiten, und dort war es besser. Drei Jahre später brannte er durch. Er wusste noch immer nicht, wohin er gehen sollte, aber es gelang ihm, in der Stadt einen Job als Telegrafenbote zu finden. Manchmal saß er in seinem möblierten Zimmer über dem Majestic-Kino und fragte sich angstvoll, was aus ihm werden solle. Sein linkes Bein wurde immer schwächer, und er ging, als befände er sich auf einem schlingernden Schiff.
»Wir werden die Vorzüge des Kollektivismus demonstrieren«, sagte Arthur zu Warren und Junie Moon. »Meine Erfahrungen in der Anstalt dürften uns dabei nützlich sein.«
»Von den Schwachsinnigen können wir alle noch ein paar Tricks lernen«, meinte Warren.
Irgendein Pfleger hatte zufällig das Gespräch der drei belauscht, und am nächsten Morgen wurde ihr Plan von sämtlichen Patienten und Angestellten diskutiert.
»Verrückt, schlichtweg verrückt«, sagte Miss Oxford, die Oberschwester, während sie Pillen in winzige Pappbecher füllte.
»Also ich finde es großartig«, erklärte ihre Assistentin, Miss Holt.
»Sie neigen leider dazu, mit rebellischen Elementen zu sympathisieren«, sagte Miss Oxford.
»Und Sie«, entgegnete Miss Holt, »neigen leider dazu, dauernd Vorträge über Psychologie zu besuchen. Wenn Sie Ihre Freizeit für sündhaftere Zwecke verwendeten, wäre hier alles viel einfacher.«
Sie stürmte davon, und Miss Oxford nahm sich vor, mit ihrer Assistentin ein ernstes Wort über angemessenes Verhalten im Berufsleben, insbesondere über die Aufforderung zur Unsittlichkeit, zu sprechen.
»Abnormitätenverein«, sagte der junge John Goren, als er von dem Plan hörte. »Den haben sie doch hier schon.« Seitdem er bei einem Unfall ein Bein eingebüßt hatte, war seine Zunge scharf wie ein Rasiermesser.
»Wann kotzt du deinen ekelhaften Humor endlich mal aus?«, knurrte Ted Porter, Gorens Bettnachbar. Ted war im Allgemeinen ein ruhiger Mensch, der sich gewählt ausdrückte, aber wegen eines komplizierten medizinischen Problems und Gorens großer Klappe lagen seine Nerven blank.
»Und wann trittst du dem Abnormitätenverein bei?«, zischte Goren. »Du würdest doch den perfekten vierten Mann abgeben.«
Ted versuchte sich auf dem Ellenbogen aufzurichten. Wäre ihm das gelungen, so hätte er des Weiteren versucht, Goren ins Gesicht zu schlagen.
»He!« Das war Miss Holt. Sie hatte so eine Art, bei Auseinandersetzungen unvermutet aufzutauchen und Frieden zu stiften, ohne dass sie dabei irgendjemanden kränkte. »Sachte, sachte.« Ihre Stimme war weich.
Ted sah sie gern an. Ihr Anblick war das Einzige, was ihm den Aufenthalt im Krankenhaus erträglich machte. Miss Holts lange, schmale Hände gefielen ihm, und er wünschte sich, sie malen zu können. Oder sie einfach festzuhalten. Ihm gefiel auch Miss Holts Art, die Patienten so fröhlich anzuschauen, dass sich die dumpfe Krankenluft über den Betten verflüchtigte. Wenn es möglich gewesen wäre, gleichzeitig mit zwei Frauen verheiratet zu sein, so hätte er bestimmt Miss Holt als zweite genommen. Eine zum Lieben, eine zum Bemuttertwerden, dachte er. Und weil man im Krankenhaus so viel Zeit hatte, malte sich Ted in endlosen Träumen sein Leben mit zwei Frauen aus. Manches, was er sich vorstellte, entlockte ihm ein Lächeln.
»Was sagen Sie dazu, dass diese drei zusammenwohnen wollen?«, erkundigte sich Goren bei Miss Holt.
»Interessante Idee«, meinte sie.
Gorens Miene drückte Verachtung aus. »Na, hören Sie mal! Von denen ist doch jeder für sich allein schon schlimm genug. Wozu wollen die es noch schlimmer machen, indem sie einen gemeinsamen Hausstand gründen?«
»Sie reden, als hätte man Sie aufgefordert mitzumachen«, sagte sie und kurbelte sein Bett höher, damit er auf die Berge sehen konnte.
»Ich? Soll das ein Witz sein? Denken Sie etwa, ich habe nichts Besseres, wo ich hingehen kann?«
Miss Holt antwortete nicht.
»Ich habe sogar mehrere Möglichkeiten. Zwei oder drei, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
Sie legte ihre lange, schmale Hand auf seinen Nacken. Sofort wurde er ruhiger, aber er musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
»Verdammter Mist«, murmelte er.
»Da haben Sie vollkommen recht«, sagte Miss Holt.
Der Gedanke an ein Zuhause machte Arthur vor Aufregung ganz schwindlig. Für ihn bedeutete das, tagsüber fort zu sein und abends, wenn es dunkel wurde, in eine hell erleuchtete Küche zurückzukommen, wo es nach warmen, wunderbar schmeckenden Gerichten duftete. So etwas hatte er noch nie erlebt – seiner Mutter war das Kochen ein Gräuel gewesen, die Mahlzeiten wurden bei ihr so schnell wie möglich und recht lieblos zubereitet –, aber er hatte in Büchern davon gelesen. Er hatte auch von Familien gelesen, die sich im Wohnzimmer um das Klavier scharten und Lieder sangen oder Hausmusik machten. Wenn er über Warrens Plan nachdachte, sah er sich mit den beiden anderen in einem reizenden Häuschen auf dem Lande. Je öfter er davon träumte, umso hübscher wurde das Haus: Es hatte ein tief heruntergezogenes Reetdach, zu beiden Seiten eines gewundenen Gartenpfades blühten Blumen, und aus dem Schornstein quoll anheimelnd der Rauch des Herdfeuers.
»Day will break,
And you’ll awake,
In time to bake
A sugar cake …«
Arthur versuchte beim Singen im Takt zu bleiben, aber seine Beine zuckten krampfhaft, und die schweren Schuhe schlugen klappernd auf den Fußboden.
»For me to take
For all the boys to seeeeeee …«
»Allmächtiger«, sagte Goren, »und so was versucht auch noch zu singen.«
Da sie nun eine Gemeinschaft bildeten, Arthur, Warren und Junie Moon, schoss Junie Moon wie ein Blitz dazwischen. »Lass diese blöden Bemerkungen«, fauchte sie Goren an. »Du brächtest doch nicht mal ’nen Ton in ’ner Bettpfanne zustande.« Sie lachte kreischend über ihren Witz und galoppierte davon, den Korridor entlang. Im Vorbeilaufen gab sie Arthur einen Klaps auf den Rücken.
Arthur spann seinen Traum weiter aus. Hinter dem Häuschen war ein Bach, und wenn man ihm folgte, gelangte man in einen dichten Wald. Dort konnte man eine Lichtung roden, um an heißen Sommerabenden eine Partie Krocket zu spielen. Junie Moon würde ein weißes Kleid tragen; sich selbst und Warren sah er in hellen Anzügen mit locker geknoteten Krawatten.
Möchtest du was Kaltes trinken? … Ihre Stimmen waren so sanft wie Leuchtkäfer. Erzähl uns noch mal von dem Brand in dem Lebensmittelgeschäft … Ja, es war an einem Vormittag, so gegen halb zehn, und Mr Breck war im Hinterzimmer, als … Willst du wirklich nichts Kaltes trinken? … Erzähl uns von damals, als die Schausteller ins Städtchen kamen … Also eines Tages im Spätsommer hielten drei alte Wohnwagen am Marktplatz. Die Türen gingen auf, und ich kann euch sagen, so viele Missgeburten habt ihr im Leben noch nicht gesehen …
Und nach einer Weile, wenn es ganz dunkel geworden war, würden sie alle ins Haus gehen.