Salz und Schokolade - Amelia Martin - E-Book

Salz und Schokolade E-Book

Amelia Martin

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Beschreibung

Die mitreißende Saga um die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands  Halle, 1905. Der Besitzer der Schokoladenfabrik, Ernst David, hat es nicht leicht. Das Traditionsunternehmen steht am Wendepunkt: Schafft es den Wandel zu einer effizienten Schokoladenmanufaktur, oder verbleibt es eine kleine lokale Handwerksstube? Zudem interessieren sich seine zwei Töchter immer für die falschen Männer. Die Ältere der beiden, Cäcilie, soll eine Verbindung mit Julius eingehen, dem Sohn des mächtigen Kakaoimporteurs Leopold Mendel, der Anteile am Unternehmen gekauft hat. Doch der Chocolatier Julius hat nur Augen für Ida, Tochter einer alteingesessenen Hallorenfamilie. Er trifft sich heimlich mit der schönen Salzwirkertochter, wohlwissend, dass ihre Liebe keine Zukunft hat. Als Cäcilie beide entdeckt, droht alles zusammenzubrechen …  »Schokolade ist Liebe, aber ohne Liebe bedeutet Schokolade nichts.« Amelia Martin Band 2 der Halloren-Saga: Kann auch allein gelesen werden.

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Salz und Schokolade

Die Autorin

Amelia Martin ist das Pseudonym einer Bestsellerautorin. Nach Jahren in England und im europäischen Ausland unternimmt die Autorin heute ausgedehnte Recherchereisen an die Schauplätze ihrer Romane. Sie isst für ihr Leben gern Schokolade. 

Das Buch

Das Traditionsunternehmen steht am Wendepunkt: Schafft es den Wandel zu einer Schokoladenmanufaktur, oder bleibt es eine kleine Handwerksstube? Zudem interessieren sich seine zwei Töchter immer für die falschen Männer. Die Ältere der beiden, Cäcilie, soll eine Verbindung mit dem Chocolatier Julius eingehen, dem Sohn des mächtigen Kakaoimporteurs Leopold Mendel. Doch Julius hat nur Augen für Ida, Tochter einer alteingesessenen Hallorenfamilie. Er trifft sich heimlich mit der schönen Salzwirkertochter, wohlwissend, dass ihre Liebe keine Zukunft hat ...

Amelia Martin

Salz und Schokolade

Süße Wunder

Ullstein

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Personenverzeichnis

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

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30

31

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33

34

35

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37

38

39

40

41

42

Teil 2

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

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58

59

60

61

62

63

Epilog

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Personenverzeichnis

Gedicht

»Schokolade ist Liebe,aber ohne Liebe ist Schokolade nichts.«

Julius Mendel

Personenverzeichnis

Leopold Mendel – Mitinhaber der Schokoladenfabrik

David & Söhne, Halle an der Saale

Henrike Mendel geb. de Geldern – Leopolds Frau

Julius Mendel – Sohn Leopolds aus erster Ehe

Friedrich Mendel – Julius’ Stiefbruder

Ernst David – Mitinhaber der Schokoladenfabrik

David & Söhne*

Anna David – seine Frau*

Cäcilie – ihre Tochter

Elise – Cäcilies Schwester

Ida Wachholz – Tochter einer Hallorenfamilie

Moritz Wachholz – ihr Bruder

Emmi – ungarisches Dienstmädchen

Jonni Hansen – Bäckergeselle

Henny – Kellnerin

Rudolf Zander – Oberkellner im Café David

Dr. Reinhard Perlmann – Archäologe

Ottmar Lampasch – Rennfahrer

Richard von Harden – Offizier der preußischen Armee

Markus Rakow – Fabrikarbeiter

Ossi Konopke – Fabrikarbeiter

Achille de Smet – Chocolatier, Brüssel

Maurice de Smet – sein Sohn

*historische Personen

Prolog

Neuve-Chapelle, Westfront, 1915

Die Stille über dem Schlachtfeld war fast noch unheimlicher als das Donnern der Kanonen und Granaten. Wie lange harrten sie schon in den Gräben aus? Julius hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren. Es ging nur noch ums Überleben. So viele Tote, unvorstellbares Grauen, das Stöhnen der Verwundeten, die Schreie der Sterbenden – wer konnte das ertragen und wozu?

»Julius, bist du das?« Friedrich berührte seinen Arm. Es war noch dunkel, die Stunde vor dem Sonnenaufgang, vor dem nächsten Ansturm.

»Ja«, flüsterte Julius und packte den Arm seines Bruders, um ihn zu sich zu ziehen. Anders als Friedrich war Julius gegen den Krieg gewesen, hätte sich nicht freiwillig gemeldet, aber das Vaterland ließ einem keine Wahl. Der Kaiser und seine Anhänger hatten das Deutsche Reich in diesen Krieg getrieben. Größenwahn, Gier, Hybris.

»Der Kompanieführer hat angeordnet, den Angriff zu beginnen, sobald die Patronenwagen da sind«, flüsterte Friedrich.

Julius spürte etwas Weiches unter seinen Händen, die sich am feuchten Sand des Grabens abstützten. Schaudernd zuckte er zurück. Er hatte sich auf die Leiche eines toten Kameraden gestützt, der, wie so viele andere, nur notdürftig verscharrt worden war. Und überall die Ratten!

»Wenn sie kommen«, erwiderte Julius. »Das versprechen sie uns schon seit Tagen.«

»Die lassen uns nicht im Stich. Wir werden den Franzmännern zeigen, dass wir die Stärkeren sind«, versprach Friedrich.

Julius legte seine Hände auf die Schultern des jüngeren Bruders, bevor er dessen Gesicht ergriff. »Dieser Krieg ist Wahnsinn, Friedrich. Wenn alles zerstört ist und wir nur noch die Toten zählen, werdet ihr mir endlich glauben.«

Friedrich zog den Bruder an sich und drückte ihn fest. Julius zitterte. »Und wenn es so ist, so dürfen wir nicht aufgeben, Julius. Wir beide, wir schaffen das, hörst du? Wir kehren gemeinsam zurück, und dann zeigen wir Halle, wie man die beste Schokolade macht! Deine Pralinen und mein Geschäftssinn. Deine Frau wird staunen, wirst schon sehen.«

Tränen liefen Julius über die Wangen. Er erlaubte sich diesen Moment der Schwäche, weil niemand ihn sehen konnte und weil Friedrich ihn verstand.

»Ich hätte sie niemals heiraten dürfen, Friedrich. Wir machen uns unglücklich«, flüsterte Julius und ließ seinen Bruder los.

»Wenn wir zu Hause sind, rauft ihr euch zusammen. Cici ist eine kluge Frau. Sie weiß, was sie an dir hat.«

In der Ferne grollten Geschütze, und die Erde bebte. Die Frontlinie war nahe, und Briten und Franzosen hatten ihre Truppen in der Nähe zusammengezogen.

Nur wenige Schritte entfernt von ihnen schnarchte ein Kamerad, und etwas weiter glommen Zigaretten. Julius zog eine zerknitterte Schachtel aus seiner Jackentasche. »Meine letzte Zigarette. Die teilen wir uns.«

Friedrich kramte ein Feuerzeug hervor und gab Julius Feuer. Der nahm einen langen Zug und gab seinem Bruder die Zigarette. Im spärlichen Licht der Glut sah er die Umrisse des vertrauten Gesichtes. Der Krieg veränderte jeden. Friedrich hatte er die Leichtigkeit genommen und ihm selbst die Hoffnung. In den Gräben, im Angesicht des Todes, waren ihm so einige Dinge klar geworden. Er hatte viele Fehler gemacht. Der größte war die Ehe mit Cici gewesen. Eine Ehe, die geschlossen worden war, um den Wunsch eines Sterbenden zu erfüllen.

»Ich liebe sie nicht, Friedrich.«

»Ihr hattet einen schlechten Start. Sie ist wunderschön, intelligent, und euch verbindet die Fabrik.«

In der Ferne grollte es, und Sand rieselte von den Wänden des Grabens.

»Verdammt, das war eine verteufelt große Explosion!«, rief ein Kamerad, und plötzlich schlug eine Granate direkt über ihnen ein.

Die Soldaten ließen die Zigaretten fallen, ihr Kommandeur brüllte Befehle, und Julius und Friedrich zogen die Stahlhelme fest und packten ihre Gewehre.

»Scheißfroschfresser, was greifen die denn in der Dunkelheit an!«, schrie ein Soldat.

»Haha, du meinst, wir sollten uns auf Kampfbeginn bei Sonnenaufgang einigen?«, rief Friedrich, doch das Lachen der anderen ging in Maschinengewehrsalven unter.

Es folgte ein dröhnendes Konzert aus Kanoneneinschlägen, dem Heulen und Pfeifen kleinerer Geschosse, bis sie alle die Gräben verlassen und sich ins Gefecht stürzen mussten. Der Boden war von tagelangen Regengüssen aufgeweicht, sodass sie tief im Morast einsanken. Neben ihnen kämpfte ein Pferd, das einen Geschützwagen zog. Seine Nüstern waren gebläht, die Augen panisch aufgerissen, und weißer Schaum stand ihm ums Maul. Blindlings stürzten sie durch das unwegsame Gelände, suchten Deckung hinter bereits zerbombten Gehöften und spürten Geschosse vorbeifliegen.

Julius kam keuchend hinter einem Stall zum Stehen und sah sich nach Friedrich um, der jedoch nicht zu sehen war.

»Friedrich!«, brüllte Julius, doch statt seines Bruders antwortete ein Kamerad:

»Deinen Bruder hat’s erwischt.«

Sofort wandte sich Julius um, doch der Soldat hielt ihn zurück. »Nicht, Mann, dann erschießen sie dich auch. Warte, bis der Angriff vorbei ist.«

»Lass mich!« Julius lief geduckt unter Maschinengewehrsalven und zwischen Stacheldrahtrollen hindurch zurück.

»Friedrich!«, brüllte er immer wieder.

Und schließlich sah er ihn. Sein Bruder hatte sich durch den Matsch hinter eine Barrikade retten können. Er hielt sich das Bein. »Julius, ist nicht schlimm, aber ich kann nicht laufen.«

»Nicht schlimm« war eine Untertreibung, denn durch die zerfetzte Hose rann das Blut. Doch es pulsierte nicht, also war keine Hauptschlagader getroffen, dachte Julius erleichtert. Während es um sie herum donnerte, Granatsplitter flogen und Schreie in verschiedenen Sprachen das Sterben begleiteten, packte Julius seinen Bruder, legte ihn sich auf den Rücken und trug ihn bis zu einem Gehöft, hinter dem bereits zwei weitere Verwundete lagen.

Mitten in diesem Hölleninferno ging die Sonne auf und warf ihre glutroten Strahlen auf das Schlachtfeld. Und plötzlich erfasste Julius eine wehmütige Verzweiflung, und er wusste, was er zu tun hatte. Er ging neben Friedrich auf die Knie, umarmte ihn und küsste seinen Bruder auf die Stirn. »Ich liebe dich, Friedrich. Wenn ich es nicht schaffe, sag den Eltern und Cici, dass ich sie liebe.«

»Julius, nicht, bleib hier!«, flehte Friedrich.

Doch Julius packte seine Waffe und lief durch die Dämmerung auf die feindlichen Stellungen zu. In seiner Brusttasche verwahrte er das Foto seiner Liebsten in einem goldenen Medaillon. Er lief durch den Morast, ungeachtet des Stacheldrahtes, der ihm Arme und Beine zerschnitt, immer weiter und dachte dabei nur an die Frau, die er so schwer enttäuscht hatte und die dennoch nie aufgehört hatte, ihn zu lieben.

Teil 1

1

Café David, Halle an der Saale, 1905

Julius

»Zwei Kakao für die Damen an Tisch sieben, eine Flasche Bier und zwei Kaffee für Tisch drei, und wenn mich der Dicke noch einmal antatscht, werfe ich hin!«

Henny balancierte ein Tablett mit Geschirr an der Theke vorbei und stellte es in die Durchreiche zur Küche. Ihre Wangen waren gerötet, was bei der Wärme in dem voll besetzten Café kein Wunder war. Lautes Stimmengewirr, das Klappern von Tassen und Tellern und der Duft von Kaffee und Schokolade erfüllten den großen Raum.

Julius Mendel nahm mit einer silbernen Zange eine Praline aus der Auslage, legte sie auf einen kleinen Teller und reichte ihn der aufgebrachten jungen Kellnerin. »Kosten Sie mal, Henny. Das ist meine neueste Kreation.«

Überrascht nahm Henny den Teller, und ihre Wangen verfärbten sich dunkelrot. Chocolatier Julius Mendel war der Schwarm der weiblichen Gäste im Café David, obwohl ihm das nicht bewusst zu sein schien. Er war zu allen gleichermaßen freundlich, lächelte, plauderte und verkaufte seine Pralinen.

»Danke schön, Herr Mendel.« Henny machte automatisch einen Knicks. Sie trug eine gestärkte weiße Schürze über ihrem schwarzen Kleid, und eine kleine weiße Haube zierte ihre aufgesteckten Haare.

Bevor sie die Praline in den Mund stecken konnte, fegte ein großer Mann um die Ecke und sah sie strafend an. »Ja, was fällt dir denn ein? Auf der Arbeit wird nicht gegessen!«

Zander war der Oberkellner und führte ein strenges Regiment. Wenn die Bediensteten Geschirr zerschlugen, wurde ihnen das von ihrem Lohn abgezogen, wer zu spät kam, musste nacharbeiten, und wer sich heimlich Kuchen oder Pralinen nahm, wurde gefeuert.

»Gemach, Herr Zander. Ich habe der Henny die Praline gegeben, weil einer der Gäste frech war. Seien Sie nicht so streng mit ihr. Wir sind doch froh, dass wir sie haben, nicht wahr?«, sagte Julius, faltete eine Pralinenschachtel und nahm einen Bogen leise raschelndes Seidenpapier aus einem Karton.

Zander zog die Augenbrauen nach oben, was ihm den Ausdruck eines großen Pinguins verlieh, dachte Julius oft, wenn er die schlaksige dürre Figur im Frack betrachtete.

»Ja, wenn das so ist«, meinte der Oberkellner schnippisch und behielt dabei den Tresen, hinter dem zwei Mitarbeiterinnen Getränke und Kuchen bereitstellten, im Blick.

Julius stand auf der gegenüberliegenden Seite hinter den Glasvitrinen mit den handgefertigten Pralinen, die von ihm und einer Mitarbeiterin persönlich verpackt und den Kunden überreicht wurden. Es machte ihm Freude, hier im Café zu arbeiten, wobei er meist damit beschäftigt war, neue Rezepte auszuprobieren. Er hatte das Handwerk des Chocolatiers von der Pike auf gelernt und war gerade erst aus Brüssel zurückgekehrt. Sein Vater, Leopold, war seit Jahren mit dem belgischen Chocolatier Achille de Smet befreundet. Für Julius war es selbstverständlich gewesen, einen Teil seiner Ausbildung in Brüssel zu absolvieren. So hatte Julius zwölf Monate in de Smets Geschäft am Brüsseler Grote Markt gearbeitet und dabei die Geheimnisse der Herstellung feinster Pralinen erlernt. Dieses Wissen hatte Julius in einem roten Lederbüchlein notiert, das er stets bei sich trug. Auch jetzt zückte er das Büchlein und notierte die Reaktion von Henny auf die neue Praline. Und wann immer er ein neues Rezept für gut befand, was nicht häufig vorkam, denn Julius war ein Perfektionist, fügte er es seiner Sammlung hinzu.

»Herr Mendel, bitte, darf ich Sie etwas fragen?«, erklang eine zarte Frauenstimme, und Julius hob den Blick.

»Ja, verehrtes Fräulein, was kann ich für Sie tun?« Julius steckte das Büchlein in seine Jackentasche.

Eine junge Frau, sie mochte kaum älter als achtzehn Jahre sein, stand vor der Vitrine. Sie hatte flammend rotes Haar, und ihre Augen waren haselnussbraun mit goldenen Sprenkeln. Für sie würde er eine Zartbitterpraline mit Himbeerfüllung und Goldflocken kreieren.

»Ich würde gern eine Praline kaufen, wenn das geht. Für mehr reicht das Geld nicht. Sie ist für meine Mutter, die Geburtstag hat.« Ihre Bitte war bescheiden, ihre Kleidung einfach, aber sauber.

»Was mag die Frau Mama denn besonders gern? Eher Haselnüsse oder Mandeln? Ich habe eine Marzipanpraline mit Walnussdekoration oder eine Aprikosenfüllung mit Rum in dunkler Schokolade. Dann gibt es eine mit Vanillecreme und kandierter Ananas.«

Die Augen der jungen Frau weiteten sich. »Ananas? Das ist ja ganz exotisch! So was haben wir noch nie gekostet. Die nehme ich.«

Julius lächelte, nahm die silberne Zange und legte eine helle Praline auf ein silbernes Tablett, dann überlegte er kurz und suchte eine Zartbitterpraline heraus, die mit einer Mandel verziert war. Beide Pralinen legte er in eine Geschenkschachtel, band sie mit einer blauen Seidenschleife zu und reichte sie der Kundin.

»Oh, das geht nicht. Das waren ja zwei Pralinen! Ich habe nur zwei Pfennige«, sagte die Rothaarige leise.

»Geben Sie mir einen, und übermitteln Sie der Frau Mama Geburtstagsgrüße aus dem Café David.« Julius spürte, dass er beobachtet wurde, und als Henny hastig davoneilte, wusste er, dass Erich da war. Der Sohn von Johannes David, dem Besitzer des Cafés, spielte sich gern auf, obwohl er noch keinerlei Prüfungen zum Konditormeister bestanden hatte.

»Vielen Dank! Ich weiß gar nicht, wie ich …«, verlegen legte die junge Frau den Pfennig in die Schale neben der Kasse und nahm die hübsche Schachtel, die mit goldenen Buchstaben auf dunkelblauem Grund bedruckt war, in die Hand. »Danke!«

Sie sahen sich an, ein klein wenig länger, als es die Situation erforderte, und noch ein wenig länger, als es schicklich war. Julius räusperte sich und nickte. »Es ist mir eine Freude. Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein!«

»Auf Wiedersehen!« Lange Wimpern senkten sich, und dann eilte die zierliche Person hinaus.

Das war ihm noch nie passiert, dachte Julius und sah der jungen Frau nach. Die Damen machten es ihm wahrhaftig leicht, aber noch nie hatte eine sich in sein Herz geschlichen. Verträumt legte er den Pfennig in die Kasse und drehte sich um.

Der strafende Ausdruck auf Erichs Gesicht wirkte wie ein Eiskübel, den man über ihm ausgoss. »Willst du uns ruinieren, Julius? Das waren zwei der teuersten Pralinen, und du wirfst sie diesem Weibsstück für einen Spottpreis hinterher?«

Julius runzelte die Stirn. »Diese reizende junge Dame hat sich sehr gefreut und wird uns weiterempfehlen. Das ist so viel wertvoller als ein Pfennig mehr in der Kasse. Aber leider verstehst du das nicht, Erich. Man muss vorausschauend denken.«

Erich war einen halben Kopf größer als er, trug den modischen Oberlippenschnauzer, den der Kaiser pflegte, und gab sich gern zackig wie ein Offizier. Dabei hatte er keine Kadettenanstalt besucht, im Gegensatz zu Julius, der sich Jahre mit militärischem Drill gequält und es gehasst hatte.

»Meinem Vater gehört das Café!«

»Aber er hat mich eingestellt, weil er weiß, dass ich die besten Pralinen mache«, erwiderte Julius fest.

Eine ältere Dame mit zwei Töchtern näherte sich der Vitrine.

»Überschätz dich nicht!«, zischte Erich, stieß Julius mit einem Finger hart vor die Brust und verschwand in die Backstube hinter ihnen.

»Wie kann ich behilflich sein?«, wandte sich Julius an die Damen und schüttelte die unangenehme Begegnung ab.

2

Cici

Cici stand am Fenster des Patrizierhauses und schaute auf die Straße. Pferdehufe klapperten über das Pflaster, eine Lumpensammlerin zog einen Karren hinter sich her, und vor dem Stadttheater stand eine Gruppe junger Schauspieler und deklarierte Passagen aus dem aktuellen Spielplan. Gelangweilt verzog Cici den Mund und knetete ihre Unterlippe.

»Würdest du das bitte unterlassen, Cäcilie? Wer soll dich denn heiraten, wenn du dich so benimmst!«, rügte Anna David ihre älteste Tochter.

Wenn ihre Mutter sie nicht mit ihrem Kosenamen ansprach, war es ernst. Und den Ernst des Lebens, wie ihr Vater sich auszudrücken pflegte, wollte Cici so lange wie nur irgend möglich von sich fernhalten. Also ließ sie die Hände sinken, lächelte und richtete ihre wachen grünen Augen auf ihre Mutter. »Warum fahren wir nicht schon diese Woche nach Norderney? Die Seeluft tut Ihnen gut, Maman.«

Cäcilies Mutter war blass und presste sich ein Taschentuch gegen den Mund, um den aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Doch es half nichts. Der Husten plagte ihre Mutter seit Jahren, und es wurde nicht besser. Nur an der See und in den Bergen fand Anna David Linderung. Cici konnte sich an keinen Sommer erinnern, den sie nicht an der See verbracht hatten. Sie liebte die Weite des Meeres, den Wind und den Strand. Die Berge hingegen empfand sie als einengend und drückte sich darum immer häufiger davor, ihre Mutter im Frühjahr oder im Winter nach Davos oder Arosa zum Kuren zu begleiten.

»Das müssen wir mit eurem Vater besprechen. Es liegen aufreibende Zeiten hinter ihm. Meine Güte, ich weiß noch immer nicht, ob es richtig war, das Familienunternehmen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Und jetzt der Anbau!« Anna David fasste sich an die aufgesteckten Haare, deren Dunkelblond von grauen Strähnen durchzogen war.

Elise, Cicis jüngere Schwester, hob den Kopf von ihrem Buch. Sie war kleiner, hatte eine sehr weibliche Figur und hellblondes Haar. Eine Brille saß auf ihrer Stupsnase, und Sommersprossen übersäten ihre Wangen. »Aber darum geht es doch, Maman. Ohne das Geld aus der Aktiengesellschaft könnte Vater die Fabrik nicht erweitern. Und jetzt, wo die Wirtschaft im Aufschwung ist, muss man mitziehen«, meinte Elise und griff nach einer der Pralinen, die in einer offenen Schachtel auf dem Tisch standen.

»Fräulein Professor weiß mal wieder alles …«, stichelte Cici. »Und stopf dich doch nicht immer mit Pralinen voll! Ich weiß genau, dass du Emmi heimlich gebeten hast, deine Kleider zu ändern.«

»Habe ich nicht!« Elise schleckte sich die Finger ab. »Du bist so boshaft, Cici!«

Ihre Schwester lächelte kühl. Sie hatte sich nie Gedanken um ihre Figur machen müssen, weil sie von einer inneren Energie angetrieben wurde, die sie reiten, fechten und laufen ließ. Sie brauchte körperliche Bewegung, um sich lebendig zu fühlen, um ihren Zorn über die Tatsache, dass sie eine Frau war, im Zaum zu halten. Wenn sie in einem Reitturnier gegen männliche Konkurrenten gewann, gab ihr das ein Gefühl von Wertschätzung, wie sie es nirgends sonst erhielt.

»Das hat nichts mit Boshaftigkeit zu tun, Elli. Aber willst du als alte Matrone enden, wie Tante Elisabeth?«

Seufzend schob Elise die Pralinenschachtel außer Reichweite. Tante Elisabeth war eine Schwester ihrer Mutter und inzwischen so füllig, dass sie kaum noch gehen konnte.

»Schluss jetzt, Mädchen! Merkt euch, dass sich wohlerzogene junge Damen nicht streiten, schon gar nicht in Gegenwart von Herren. Wir sind aufmerksam, hören zu und lachen gern. Und vor allem wissen wir nie etwas besser als die Männer!«, erklärte Anna David mit erhobenem Zeigefinger.

Elise schmollte. »Wenn ich doch aber genau weiß, dass …«

»Keine Widerrede. Du darfst lesen, aber dein Wissen behältst du für dich. Schließlich wollen wir noch einen Mann für dich finden.« Anna David sah auf die kleine Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug. »Gleich kommt unser Besuch, und ihr seid noch nicht umgezogen!«

Sie griff nach einer Klingel und schwenkte sie kräftig. Dann betrachtete sie kritisch ihre Töchter. »Cici, du ziehst das cremefarbene Kleid mit dem Chiffonrock an, und du, Elise, das blau-weiß gestreifte mit dem großen Kragen, und lass dir bei den Haaren helfen«, entschied ihre Mutter.

Die Mädchen murrten im Chor.

»Wer kommt denn heute? Ich wollte eigentlich noch ausreiten«, sagte Cici und scharrte unwillig mit einem Fuß auf den Dielen.

»Graf Hasso von Stülpnagel und seine Mutter.« Anna klang sehr zufrieden. »Besonders von dir, Cäcilie, erwarte ich, dass du dich von deiner besten Seite zeigst.«

Cici rollte mit den Augen. »Ich werde keinen von Stülpnagel heiraten, wenn Sie das im Sinn haben. Stülpnagel! Allein der Name …«

»Es ist genug! Ich verbiete mir deine Frechheiten! Dein Vater ist viel zu nachsichtig mit dir. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich auf eine Klosterschule geschickt. Das hätte dir gutgetan.«

Cici und Elise hatten beide das Hallesche Lyzeum besucht. Da Cici sich jedoch nicht einfügen konnte und selbst die strengsten Disziplinarmaßnahmen der Lehrer sie nicht zur Räson brachten, hatte Ernst David entschieden, seine Tochter auf ein englisches Mädcheninternat zu schicken. In der Allenwood Boarding Academy, im Londoner Stadtteil Wimbledon, hatte Cici unter der strengen Tutorin Marie Souvestre Französisch, das Tanzen, Philosophie und verschiedene künstlerische Fertigkeiten erlernt, doch genauso hatte man die Mädchen angeleitet, ihre eigenen analytischen Fähigkeiten zu schärfen. Unter den Absolventinnen waren nicht nur junge Damen des europäischen Adels, sondern auch Amerikanerinnen gewesen. Besonders mit Corinne Alsop Cole, deren Familie mit den Roosevelts befreundet war, hatte Cici sich angefreundet.

Dass die Amerikanerin reges Interesse an Politik zeigte und mit Pippa Strachey auch eine Frauenrechtlerin in Allenwood unterrichtete, war sicher nicht im Sinne ihrer Eltern gewesen, denn Cici war mit progressiven Ideen und einem noch ausgeprägteren Selbstbewusstsein aus London zurückgekehrt.

»Ach, Maman, ich werde mich vorbildlich betragen. Vielleicht sieht er ja nicht aus wie ein Stülpnagel …« Cici lachte, und Elise kicherte.

Ihre Mutter rang die Hände. »Lieber Gott, steh mir bei!«

Die Tür wurde geöffnet, und ein junges Dienstmädchen trat mit gesenktem Blick ein. »Sie haben nach mir gerufen, gnädige Frau?«

»Emmi, na endlich. Warum hat das so lange gedauert?«, fuhr Anna das Mädchen an.

Emmi war so alt wie Elise, hatte pechschwarzes Haar und zog mit ihrer schlanken Figur, der stolzen Haltung und den dunklen Augen allzu oft die Aufmerksamkeit der männlichen Hausbewohner auf sich.

»Ich war einkaufen, habe gebügelt, das Silber geputzt und …«, begann Emmi und sah ihre Herrin dabei direkt an.

Anna winkte ab. »Schon gut. Wenn ich klingle, kommst du auf direktem Wege. Merk dir das. Hilf meinen Töchtern beim Umkleiden, wir erwarten Besuch. Hat Agatha den Nachmittagstee vorbereitet, wie ich es angeordnet hatte?«

»Ja, Frau David«, erwiderte Emmi, die Hände bescheiden vor dem Körper verschränkt. Die Schürze war makellos weiß, das Häubchen saß fest in den aufgesteckten Haaren, und ihre Stiefel glänzten.

»Worauf wartet ihr noch? Geht schon!«, scheuchte Anna ihre Töchter hinaus.

Elise erhob sich langsam, schnappte sich heimlich eine Praline und folgte ihrer Schwester und dem Dienstmädchen.

Draußen auf dem Flur sagte Cici zu ihrer Schwester: »Wusstest du, dass wir hohen Besuch bekommen?«

Elise zuckte nur mit den Schultern und schob sich die Praline demonstrativ in den Mund. Unter einen Arm hatte sie sich ihr Buch geklemmt und ging an ihrer Schwester vorbei in ihr Zimmer.

»Wem soll ich zuerst helfen?«, fragte Emmi.

»Mir. Schließlich bin ich die Stute, die beschnuppert werden soll«, meinte Cici sarkastisch.

Als sie in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel stand und sich von Emmi aus dem schlichten Tageskleid helfen ließ, streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. »Wollen wir doch mal sehen, was der Stülpnagel für ein Würstchen ist. Autsch! Pass doch auf!«

»Entschuldigung«, murmelte Emmi und hängte das Kleid auf einen Bügel. »Welches wollen Sie tragen?«

»Das da!« Cici zeigte auf ein zartes Kleid aus cremefarbener Seide und einem Chiffonüberrock mit feiner Spitze. Sie liebte das Kleid, das nach der neuesten Pariser Mode geschneidert war, nur hätte sie es gern zu einem anderen Anlass getragen.

Mit flinken Fingern nahm Emmi das kostbare Kleid aus dem Schrank und half Cici beim Hineinsteigen. Als sie die unzähligen Knöpfe zu schließen begann, zögerte sie.

Cici seufzte. »Ja, schnür das Korsett noch enger. Ich hab’s heute früh extra nicht so stramm haben wollen. Gott, wie ich das hasse!«

»Nur so weit, dass sich das Kleid leicht schließen lässt«, sagte Emmi und öffnete die Schnürung.

»Und ich wollte reiten. Stattdessen muss ich mir das Gesäusel eines Kavaliers anhören. Hast du eigentlich einen Verehrer, Emmi? Du bist hübsch!«

»Danke, Fräulein, aber nein, ich habe keinen Verehrer.« Mit festem Griff zog sie die Schnüre an, und Cici stöhnte.

»Wir fahren vielleicht diese Woche noch nach Norderney«, sagte Cici und beobachtete dabei Emmis Miene, die jedoch nichts über ihre Gefühle verriet.

»Das ist eine Insel in der Nordsee«, fügte Cici hinzu.

»Ich habe davon gehört. Der Kaiser war auch schon dort.«

»Du wirst uns begleiten«, sagte Cici, denn sie hatte das Gefühl, dass Emmi etwas verbarg, und eine lange Reise war eine wunderbare Gelegenheit, herauszufinden, ob sie recht hatte.

»Sehr gern, Fräulein David.«

»Na, etwas mehr könntest du dich schon freuen, wenn man dir sagt, dass du in ein Seebad reisen darfst«, meinte Cici.

»Es steht mir nicht zu, Gefühle zu zeigen. Aber danke, ich freue mich.« Es blitzte kurz in den dunklen Augen auf.

Die junge Ungarin war erst seit wenigen Wochen bei ihnen, und Cici spürte einen gewissen Widerstand, einen Stolz, den die anderen Dienstmädchen nicht hatten. Die Haltung des jungen Dienstmädchens überraschte und irritierte sie, denn Cici war es gewohnt, dass sich alles nur um sie drehte. »Hol mir die Schmuckschatulle, und dann geh zu meiner Schwester.«

3

Jonni

Die großen Backöfen bollerten, und ein Hitzeschwall schlug ihm ins Gesicht, als er die Brotlaibe herausholte. Jonni Hansen wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und trug die Holzkiste mit den heißen Laiben in den angrenzenden Raum. In langen Regalreihen lagen Brote und Backwaren und kühlten aus. Gegenüber standen Säcke mit Mehl, zwischen denen sich etwas bewegte. Mäuse gehörten zum Alltag in den Backstuben. Solange es keine Ratten waren, die ihm über die Füße liefen, dachte Jonni und holte seine Pfeife aus der Tasche.

Ein junger Bursche kam mit einem großen Tablett voller Honigkuchen herein und suchte nach einem freien Regal.

»Komm, ich helfe dir!« Jonni schob zwei Kisten zusammen, sodass Rudi sein Tablett dazwischenschieben konnte.

»Danke. So eine Plackerei, und gleich soll ich noch ausliefern. Der Schinder!«, beschwerte sich Rudi, ein Lehrling aus dem halleschen Umland.

Sie teilten sich eine der winzigen Kammern auf dem Dachboden des Café David. Im Sommer war es zu heiß und im Winter so kalt, dass sie die Eiszapfen von der Fensterluke brechen konnten.

Jonni hob die Schultern. »Was willst du machen? Immerhin zahlen sie regelmäßig, und ich habe Schlimmeres erlebt als die Arbeit hier.«

Er steckte sich die Pfeife in den Mund, zündete sie mit einem Streichholz an, zog seine weiße Jacke aus und hängte sie neben die Tür. Dann nahm er seine Wolljacke und ging nach draußen. Die frische Luft bot willkommene Erholung, und Rudi gesellte sich zu ihm. Da sie für einen Moment unbeobachtet waren, konnten sie sich einen Schwatz erlauben.

Rudi fingerte eine Zigarette aus seiner Hosentasche und hielt sie an Jonnis Pfeife. »Erzähl mir von Hamburg, Jonni. Der Hafen mit den großen Seglern. Das muss doch irrsinnig aufregend sein! Irgendwann will ich da mal hin, und dann heure ich auf einem Schiff an und segle nach Amerika.«

Der Ältere lachte heiser und paffte an seiner Pfeife. Jonni hatte ein breites offenes Gesicht, hellgraue Augen und eine Nase, die zweimal gebrochen war und ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Die Frauen mochten ihn, und er war kein Kostverächter, aber er sah sich vor. Bisher hatte ihn keine an die Leine legen können, und von der Franzosenkrankheit war er verschont geblieben.

»Du warst noch nie an einem großen Hafen und auf einem Schiff schon gar nicht, sonst würden dir nicht solche Rosinen im Kopf rumgeistern. Ich bin da aufgewachsen, mein Vater ist ein Schauermann und ein Säufer obendrein.«

»Was macht ein Schauermann?«, wollte Rudi wissen, der fünfzehn Jahre alt war und schon während seiner Schulzeit in der Bäckerei angefangen hatte.

»Der entlädt oder belädt die Frachtschiffe. Ist keine Arbeit für Schwächlinge. Da brauchst du Muskeln!« Jonni ballte seine freie Hand zur Faust und spannte seinen beachtlichen Bizeps an. Bevor er Bäckergeselle geworden war, hatte er viele Jahre Kisten und Säcke in die Kontore der reichen Kaufleute am Hamburger Hafen geschleppt. Dabei war es zu einem schrecklichen Zwischenfall gekommen, der Jonni seither noch immer in seinen Träumen verfolgte.

Aber er hatte auch zugehört, wenn die Kaufleute und Lieferanten sich unterhielten, und sich das Geld vom Munde abgespart, um einen besseren Beruf erlernen zu können. Bert, ein Schauermann wie er selbst, hatte eines Tages eine Bäckerei in Bernburg an der Saale geerbt, seinen Meister gemacht und Jonni überredet, ihm zu folgen. Doch Bert hatte sich als schlechter Arbeitgeber erwiesen. Nachdem Jonni nur sporadisch Lohn erhalten hatte, war er weitergezogen, hatte bei einem Flussschiffer angeheuert und war schließlich in Halle geblieben, wo in der Bäckerei David Gesellen gesucht wurden. Immerhin hatte Bert ihm einen Gesellenbrief ausgestellt, sodass er mehr verdienen konnte als die armen Schlucker, die als Lehrling oder Handlanger für einen Hungerlohn schuften mussten. Was Jonni nicht wusste, schaute er sich bei Bäckermeister Ewald oder Konditormeister Bruno ab. Die beiden Streithähne führten sich in der Backstube zwar auf wie Platzhirsche in ihrem Revier, doch das war Jonni egal.

Rudi betrachtete seine schmächtigen Arme und grinste. »Da muss ich wohl noch eine Menge Kisten schleppen.«

»Und dann weißt du ja gar nicht, ob du seefest bist«, meinte Jonni. »Das kann ziemlich übel ausgehen, wenn du seekrank wirst. Da reiherst du dich grün und schimmelig.«

»Ach, daran gewöhnt man sich doch irgendwann.« Rudi stieß mit dem Fuß nach einer fetten Ratte, die sich durch die Tür in die Backstube schleichen wollte.

Vor dem Hinterausgang der Backstube stapelten sich Kisten und Tonnen mit Abfall, um den sich Ratten, Mäuse, streunende Hunde und Katzen stritten. Es stank vergoren und säuerlich und oft verbrannt. Die unangenehmen Gerüche zogen durch das gesamte Hinterhaus und sammelten sich auf dem Dachboden, weshalb Jonni so wenig Zeit wie möglich in seinem Quartier verbrachte.

»Nicht unbedingt. Aber ich will dir nichts ausreden, ich sage nur, wie es ist. Mit Seefahrerromantik hat das nichts zu tun«, meinte Jonni und lachte. Er versuchte, das Leben leicht zu nehmen, auch wenn das nicht immer so einfach war, aber was blieb einem schon, wenn man nicht wenigstens etwas Spaß hatte?

»Ich lese viel, weißt du. Von Karl May kenne ich alle Reiseberichte«, schwärmte der Junge.

»Ah, na ja, träumen muss erlaubt sein, was, Rudi? Ich muss jetzt los. Zur Post werde ich’s gerade noch schaffen. Wir sehen uns später!«

Jonni griff in die Hosentasche, wo er seinen Wochenlohn verwahrt hatte. Mit der Pfeife im Mundwinkel schlenderte er die Alte Promenade hinunter. Halle war ein schmuckes Städtchen, nicht so groß wie Hamburg, und ein wenig fehlte ihm der Duft der weiten Welt, den der Hafen mit sich brachte. Aber Jonni war nicht wählerisch, und die Stelle in der Bäckerei war vorerst alles, was er brauchte.

Vornehme Bürger spazierten mit kleinen Hunden und gefolgt von adretten Dienstmädchen unter den ausladenden Bäumen vor dem Stadttheater entlang. Der Platz war hübsch angelegt mit einem Siegesdenkmal vor dem Theater. Jonni hatte seine Mütze aus der Jackentasche gezogen und sie sich aufgesetzt. Eine Gruppe gut gekleideter Leute kam ihm entgegen. Zwei Herren in schwarzen Anzügen und Zylindern schwangen ihre Spazierstöcke, als würden sie den Weg frei machen wollen für die Damen, die ihnen folgten. Jonni entdeckte Frau David mit ihren Töchtern, die oft im Café zu Gast waren. Natürlich erkannten sie ihn nicht, und selbst wenn, hätten sie ihn nicht gegrüßt. Er existierte nicht in ihrer Welt. Jonni wich den Herrschaften aus und blieb kurz stehen, denn die ältere Tochter war ein hübsches Frauenzimmer. Mit den Händen in den Hosentaschen zwinkerte er ihr zu, und als sie das Kinn hob, wusste er, dass sie ihn bemerkt hatte.

Schönheit musste man würdigen, sagte er sich immer und ging mit einem Lächeln weiter. Seine gute Laune verflog, als er am Ende des Platzes vier Offiziere sah, die sich im Vorbeigehen über ein Dienstmädchen lustig machten, dem sein Korb auf die Straße gefallen war.

Als sich das Mädchen nach dem Korb bückte, stellte sich einer der Offiziere vor sie hin. »Wenn ich dir helfen soll, musst du mir einen Kuss geben!«, verlangte er aufdringlich.

Die anderen lachten anzüglich, und das Mädchen hatte Tränen in den Augen. »Haut ab!«, fauchte sie.

Endlich gingen die Offiziere weiter, und Jonni konnte gerade noch hinzueilen, das Mädchen am Arm packen und es vor den Rädern eines Brauereiwagens bewahren. Die kräftigen Pferde donnerten mit ihren Hufen über das Pflaster, und Jonni mochte sich nicht vorstellen, was hätte passieren können.

»Na, min Deern, alles in Ordnung?«

Große dunkle Augen sahen ihn verständnislos an.

»Verzeihung, in Hamburg sagt man das so. Mein Fräulein, geht es Ihnen gut?« Er hielt noch immer den schmalen Arm und spürte das Zittern des jungen Körpers.

Das Mädchen hatte sich von seinem Schock erholt und entzog ihm ihren Arm. »Danke.« Dann sah sie auf den Boden, wo zwei Briefe und ein paar Münzen lagen.

»Lassen Sie nur«, rasch bückte sich Jonni, sammelte alles auf und gab es ihr, wobei er einen Blick auf die Absender werfen konnte. David, Alte Promenade, stand dort.

»Arbeiten Sie für die Familie David? Ich bin im Café David beschäftigt. In der Backstube«, fügte er hinzu.

Sie war vorsichtig und zurückhaltend. »Ich, ja. Danke. Ich muss zur Post.«

»Dann haben wir dasselbe Ziel.« Er bot ihr seinen Arm, doch sie schüttelte den Kopf.

Ihr Haar war von einem tiefen Schwarz, und er fragte sich, woher sie wohl kommen mochte. Schlesien oder noch weiter östlich, dachte er. Sie war wunderschön und dabei bescheiden und stolz zugleich. Ihre Haltung berührte Jonni. Gemeinsam überquerten sie die Straße zum Post- und Telegrafenamt. Hier in der Hauptstelle konnte Jonni Geld aufgeben und seiner Mutter nach Hamburg telegrafieren.

Als sie das Postamt betraten, ging sie direkt zu einem der Schalter und stellte sich an. Jonni reihte sich in der Schlange neben ihr ein und hörte, wie sie kurz darauf dem Beamten sagte: »Nein, hier steht es doch, Vayda. Emmi Vayda ist mein Name, und der Brief geht an die Vaydas in Tiszavalk, Ungarn.«

Der Postbeamte war ein korpulenter Mann mit einem mächtigen Schnauzbart. »Da müssen Sie halt deutlicher schreiben, Fräulein.«

Er stempelte die Briefe ab, die sie ihm gegeben hatte, und schob ihr das Wechselgeld zu.

Währenddessen war auch Jonni an die Reihe gekommen und musste sich nun ganz auf die Übermittlung des Geldes an seine Mutter konzentrieren. Aber er wusste den Namen der hübschen Ungarin. Emmi Vayda. Als er später das Postamt verließ, war sie nicht mehr zu sehen.

Vom Postamt aus ging Jonni am Justizgebäude vorbei und warf einen Blick auf das gegenüberliegende imposante Kaiserdenkmal. Kaiser Wilhelm ließ hoch zu Ross seinen hochwohlgeborenen Blick schweifen, flankiert von seinen Paladinen Moltke und Bismarck. Jonni spuckte aus und ging weiter. Sein Ziel war der »Hofjäger«. Das Gasthaus befand sich hinter dem weitläufigen Komplex der Frankeschen Stiftungen. Für die christlich geprägte Schulstadt mit einem Waisenhaus, einer Buchhandlung, einer Buchdruckerei und einem Lyzeum bewunderte Jonni die Hallenser. Etwas Vergleichbares hatte er noch nicht gesehen. Schon gar nicht in Hamburg. Jonni kickte einen Stein vom Gehweg. Hamburg war ihm rauer und brutaler erschienen, und vor allem hatte es keine vergleichbare Einrichtung wie die Frankeschen Stiftungen gegeben. In Hamburg hatte er die große Choleraepidemie vor dreizehn Jahren miterlebt, die über achttausend Menschen dahingerafft hatte. Niemals würde er das Elend, die Sterbenden, den Schmutz und die Armut vergessen. Eingesperrt hatte man die Kranken und gehofft, dass sich das Problem von allein lösen würde.

Der große Komplex war von einer Mauer umgeben, hinter der sich auch verschiedene Gärten befanden. Pfeifend marschierte Jonni die Lindenstraße entlang und erreichte endlich den »Hofjäger«. Hier trafen sich regelmäßig seine sozialistischen Freunde. Seit einigen Monaten war Jonni Mitglied der Sozialistischen Partei Deutschlands, und er überlegte, ob er nicht auch der Gewerkschaft beitreten sollte. Abgehalten hatte ihn nur die Sorge, dass man ihn bei Davids feuern könnte. Das Sozialistengesetz, das unter anderem kommunistische und sozialistische Vereine verboten und deren Mitglieder unter Beobachtung gestellt hatte, war zwar nicht verlängert worden, aber noch immer wurden Versammlungen bespitzelt und Parteimitglieder grundlos von Polizei und konservativen Gruppierungen zusammengeschlagen.

Jonni stieß die Tür auf und fand sich inmitten eines voll besetzten Lokals. Lautes Stimmengewirr, untermalt von einem Akkordeonspieler und Gelächter, erfüllte den Raum. Tabakduft und Essensgeruch hingen in der Luft, und Jonnis hungriger Magen meldete sich.

»Hallo, Jonni!«, rief ein Mann an einem Tisch und winkte.

»Ja, Fritz!«, antwortete Jonni und begrüßte seinen Parteifreund und die anderen Männer.

Man schob ihm einen Stuhl hin und klopfte ihm auf die Schulter. Die Männer kamen aus den unterschiedlichsten Gewerben. Es waren Handwerker, Arbeiter, Lehrer und Juristen dabei. Der Gedanke an eine Zukunft ohne gesellschaftliche Klassentrennung und ohne die Herrschenden einte sie.

»Ein Bier? Du siehst durstig aus«, meinte Fritz, ein Schmiedegeselle.

»Gern, und was gibt es heute zu essen?«

»Erbseneintopf mit Fleischeinlage.«

Jonni nickte. »Gut. Erzähl mir alles über die Versammlung vom Freitag. Was gibt es Neues?«

4

Ida

Die Schreie der Kranken in den Ohren und den Geruch von Karbol und Urin in der Nase, traten die Mädchen aus dem Hospital, das direkt am Saaleufer lag. Allerdings war die Luft hier nicht wesentlich besser, denn hier floss die Gerbersaale hinauf zur Moritzkirche. Wo die Gerber ihre Abfälle entsorgten, stank es so erbärmlich, dass einem übel wurde.

Ida Wachholz stieß ihre Freundin an. »Na komm, gehen wir in die Stadt!«

»Wir sollten doch aber gleich nach dem Besuch deiner Großmutter heimkommen«, meinte Minna Zenker, die seit Kindertagen Idas beste Freundin war.

Die Mädchen waren Töchter alteingesessener Hallorenfamilien, die auf dem Gelände der Pfännerschaftlichen Saline lebten. Vom Johannishospital aus schaute man zum Pfännerschaftlichen Kohlenplatz, und von dort gelangte man hi­nüber zur Salinehalbinsel. Das Leben der Halloren und ihrer Familien spielte sich zum Großteil auf der Halbinsel ab, und die Mädchen nutzten jede Gelegenheit für einen Ausflug in die Stadt.

Genau wie ihr Bruder Moritz hatte Ida flammend rotes Haar. Die Geschwister waren als die Feuerköpfe bekannt, und ein wenig passte der Spitzname auch zu ihrem Temperament. Moritz und Ida waren die beiden ältesten der sieben Wachholz-Geschwister. Minna hingegen war ein Einzelkind, und ihre Eltern behüteten sie sehr, wie Ida fand.

»Jetzt sei nicht immer so ängstlich, Minna. Wir wollen ja keine Schifffahrt antreten oder mit dem Zug fahren.« Sie hakte die Freundin unter. »Obwohl wir in diesem Sommer noch etwas ganz Außergewöhnliches machen sollten!«

»Oh, Ida!«, seufzte Minna, deren helle Locken sich aus der mühsam aufgesteckten Frisur stahlen.

Beide Mädchen trugen lange Röcke, weiße Blusen und ein kurzes Jäckchen. Die abgewetzten Schnürstiefel waren blank geputzt, und die Strohhüte saßen keck auf den Mädchenköpfen. Minna war geschickt mit Nadel und Faden und hatte Seidenblumen an ihre Hüte genäht.

Flotten Schrittes durchquerten sie die Glauchaer Straße und kamen an der Moritz-Kirche vorbei, der die Halloren besonders verbunden waren. Die Salzwirker genossen seit Jahrhunderten Privilegien, zu denen neben der Stammkirche auch eine bevorzugte Behandlung im Johannishospital gehörte.

»Ich bin froh, dass es Großmutter etwas besser geht. Die Krankenschwester war auch recht nett. Vielleicht werde ich Krankenschwester! Was meinst du, Minna?«

»Du hast immer neue Ideen, Ida. Letzte Woche wolltest du noch in einem Telegrafenamt arbeiten und davor zur Bühne gehen. Dabei weißt du so gut wie ich, dass wir einen Halloren ehelichen und auf der Saline leben werden. So ist es Tradition.« Minna ignorierte den feschen Offizier, der ihnen eine Kusshand zuwarf, als sie an der Gutjahrstraße vorbeikamen.

In den engen Straßen mit den schiefen Fachwerkhäusern mussten sie aufpassen, um nicht von einem Pferdefuhrwerk oder einem Automobil, diesen unerhört schnellen Maschinen, überfahren zu werden.

»Pff, wenn man immer der Tradition folgen würde, gäbe es doch keinen Fortschritt! Dann würden wir alle uns doch nur noch im Kreise drehen«, meinte Ida. »Weißt du, es gibt so viele neue Dinge, die erfunden werden. Diese großen neuen Fabriken mit gewaltigen Gerätschaften!«

»Bleib mir mit dem Fortschritt weg. Ich sage nur ›Kröllwitzer Gestank‹!«

Ida lachte. »Die olle Papierfabrik stinkt wirklich zum Himmel. Aber denk doch mal, wie viele Leute herkommen, um in den Brauereien, der Stärkefabrik oder bei Maschinen Dehne zu arbeiten! Oder bei den Davids. Die haben sich ein richtiges Imperium aufgebaut mit der Fabrik und dem Café.«

Seit Ida von Julius die Praline im Café David geschenkt bekommen hatte, ging ihr der Chocolatier nicht mehr aus dem Kopf. Das war ihr noch nie passiert, und sie war immerhin schon siebzehn Jahre! Auf dem alljährlichen großen Pfingstfest, das die Halloren ausrichteten und an dem die ganze Stadt teilnahm, hatte sie genügend Verehrer gesammelt, doch noch nie hatte sie ein Mann so durcheinandergebracht, dass sie dauernd an ihn denken musste.

Minna zog an ihrem Arm. »Jetzt mal raus mit der Sprache. Du bist schon seit Tagen immer so abwesend. Haben deine Eltern einen Mann für dich ausgesucht? Oder hat dein Bruder dir wieder so ein Buch zugesteckt, das dir unmögliche Ideen eingibt? Das ist nicht gesund, Ida. Wir Frauen sollen uns auf das konzentrieren, was uns die Natur vorbestimmt hat.«

»Und was ist das?«, fragte Ida provozierend.

»Das weißt du ganz genau. Wir sind die Bewahrerinnen der Familie und für das Wohl unseres Gatten zuständig.«

»Minna, jetzt hör mal auf. Ich bin deine Freundin, nicht deine Tante oder Pfarrer Rinnert. Wir sind jung, und jetzt gehen wir einen Kakao trinken!«

Für das Café David fehlte ihnen heute die Zeit, doch Ida hatte sich vorgenommen, an einem der kommenden Sonntage wieder hinzugehen. Der Schokolade wegen, redete sie sich ein, die nirgends so gut schmeckte wie dort.

»Ich habe nur noch ein paar Pfennige. Wenn Mutter erfährt, dass ich mir davon einen Kakao gekauft habe, setzt es Prügel«, jammerte Minna.

»Du musst es ihr doch nicht erzählen!« Sie hatten beinahe den Alten Markt erreicht, an dem es verschiedene Cafés und Stände mit Naschwerk gab. Die fünf Türme des Marktplatzes ragten über den Ziegeldächern auf. Nur noch wenige Schritte, und sie erreichten den großen Platz mit dem prächtigen Roten Turm vor der Kirche, die zum Hallmarkt hinausführte. Eine Reihe von Kutschen wartete vor dem Händel-Denkmal, während auf der anderen Seite die elektrische Straßenbahn einlief, die es seit einigen Jahren in Halle gab.

»Sieh doch nur, da vorn, das ist die Tochter vom David. Die trägt immer die allerneueste Mode«, sagte Minna bewundernd.

Ida folgte ihrem Blick und sah, wie Cäcilie David in Begleitung ihrer Mutter und zweier Herren auf eine der Kutschen zuging. Der ältere Herr war Leopold Mendel und der andere sein Sohn Julius. Idas Herz machte bei seinem Anblick einen Satz, doch als sie sah, wie er Cäcilie in die Kutsche half, wandte sie den Blick ab und schüttelte über sich selbst den Kopf. »Was bin ich nur für eine Närrin. Der hat doch eh keine Augen für mich«, murmelte sie.

»Was hast du gesagt?« Minna starrte sie neugierig an.

Ida murmelte: »Ach, nichts weiter.«

»Nichts bedeutet alles. Also?« Als keine Antwort von ihrer Freundin kam, sagte Minna: »Jetzt verstehe ich. Du bist in den feschen Julius Mendel verschossen. Habe ich recht? Ja, natürlich!«

Ida errötete und ging rasch weiter. »Unsinn. Schau, dort drüben gibt es heiße Schokolade.«

Minna kicherte, ergriff Idas Hand und schwenkte sie übermütig. »Du bist viel hübscher als die eingebildete Ziege. Ihre Kleider sind sehr schick und so, aber du hast die schönsten Haare und überhaupt. Wenn ich ein Mann wäre und zwischen dir und der David wählen sollte, dann würde ich nicht eine Sekunde zögern und mich für dich entscheiden!«, plapperte die Freundin munter.

»Minna, ich habe keine müde Puseratze. So einer wie der Mendel heiratet doch nicht nach unten. Oh, sieh mal, da kommt Moritz!« Ida winkte, als sie ihren Bruder mit einer Handkarre über den Platz kommen sah.

Die Salzwirker lieferten das Hallesche Salz an Bäckereien, Gaststätten und auch an die Schokoladenfabrik. Größere Mengen wurden auf dem Fluss mit dem Schiff in andere Teile des Deutschen Reiches geliefert. Idas Bruder war groß und muskulös, was die harte Arbeit in der Saline mit sich brachte. Als er seine Schwester entdeckte, die auch seine Zwillingsschwester hätte sein können, erhellte sich seine angestrengte Miene.

»Ida! Na, das ist ja ein Zufall!« Er setzte die Karre ab und umarmte Ida. Minna drückte er einen Kuss auf die Wange.

»Willst du mitkommen? Ich spendiere dir ein Bier«, schlug Ida vor.

»Nein danke, lass mal gut sein, ich muss noch runter zum Großen Berliner und dann in die Eisengießerei und eine Kurbelwelle abholen.« Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Arbeitshose war schmutzig und voller Flicken. Ida wusste bald nicht mehr, wo sie noch einen Stofffetzen dazwischensetzen sollte.

»Außerdem kann ich mich mit euch gar nicht sehen lassen, so adrett, wie ihr ausseht. Wo wart ihr denn?« Er wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.

»Wir haben Großmutter im Johannishospital besucht. Es geht voran mit ihrer Genesung. Der Bruch verheilt so gut, dass sie bald wieder nach Hause kann. Sie macht die Krankenschwestern schon ganz verrückt mit ihrer Fragerei«, erzählte Ida und lächelte.

»Das ist ganz die alte Gusti. Mutter wird sich freuen.« Moritz hob die Karre mit dem Salzsack an.

»Aber du hast uns hier nicht gesehen, nicht wahr, Moritz?«, bat seine Schwester.

»Wen denn?« Er sah sich suchend um, zwinkerte ihr zu und fuhr mit der Karre davon, deren beschlagenes Holzrad laut über die Pflastersteine ratterte.

»Du hast wirklich Glück, dass du solch einen feinen Bruder hast«, seufzte Minna.

»Na ja, dafür muss ich mich mit Alfred und Josef plagen, und Hedwig ist die allergrößte Nervensäge!« Wie überall gab es Reibereien unter den Geschwistern, doch meist hielten die Wachholz zusammen.

Nachdem die Mädchen ihren Kakao an einem der Stände vor dem Roten Turm getrunken hatten, sagte Ida: »Hast du schon den Laden vom Nehab in der Großen Ulrichstraße gesehen?«

»Nein, was gibt es denn da so Spannendes?« Minna sah zur Kirche hinüber, hinter der sich der Hallmarkt und etwas weiter die Saline befanden.

Doch Ida zog sie mit sich, und inmitten der belebten Stadt vergaß Minna schnell, dass sie schon viel zu lange unterwegs waren.