Salzbergtod - Jutta Leskovar - E-Book

Salzbergtod E-Book

Jutta Leskovar

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Beschreibung

Das Bergwerk in Hallstatt floriert, doch das Land ist durch neue Machthaber und eine fremde Religion verändert. Adine, die zukünftige Bergherrin am Großen Salzberg, hat vor Jahren überraschend ihre Ziehfamilie und ihre Jugendliebe Sam verlassen. Sie kämpft gegen alte Ängste und darum, Sam zu vergessen. Gleichzeitig soll sie das Rätsel um wertvolles Salz lösen, das auf dem Weg zum Kleinen Salzberg verschwunden ist. Denn der Frieden zwischen den Bergen muss um jeden Preis erhalten bleiben.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jutta Leskovar

Salzbergtod

Historischer Roman aus der Hallstattzeit

Zum Buch

Hallstatt 400 v. Chr. Der Große Salzberg in Hallstatt hat 200 Jahre nach dem Bergsturz wieder zu seiner alten Bedeutung zurückgefunden und pflegt gute Beziehungen zum Kleinen Salzberg. Doch die Welt hat sich verändert. Der neue Machthaber Biavek residiert in seiner Festung an der Donau und bestimmt die Geschicke des ganzen Landes. Eine neue Religion hat sich verbreitet, die besonders von den Menschen in den Bergen abgelehnt wird. Adine, die Tochter des Bergherrn von Hallstatt, hat ihre Kindheit und Jugend als Ziehkind bei Verwandten im Flachland verbracht. Von dort ist sie vor Jahren frühzeitig heimgekehrt und hat ohne Erklärung die Beziehung zu Sam, dem Sohn der Ziehfamilie, abgebrochen. Während sie immer noch gegen alte Ängste kämpft, über die sie mit niemandem reden kann, und versucht, Sam zu vergessen, entdeckt ihr Vater eine Ungeheuerlichkeit: Auf dem Weg vom Großen zum Kleinen Salzberg ist Salz verschwunden, was den Frieden zwischen den Bergen erneut gefährden könnte. Wird die zukünftige Bergherrin es schaffen, sich ihren Ängsten zu stellen und das Rätsel zu lösen?

Jutta Leskovar, geboren 1972 in Linz, studierte in Wien Ur- und Frühgeschichte sowie Geschichte. Seit 2001 arbeitet sie als Sammlungsleiterin am Oberösterreichischen Landesmuseum. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt neben der älteren Eisenzeit (Hallstattzeit) auf Frauen- und Geschlechterarchäologie sowie der Schnittstelle zwischen Neuheidentum und Archäologie. Matriarchale Mythen zu bedienen, ist nicht ihre Sache, was den feministischen Blick in die Vergangenheit keineswegs ausschließt. Sie lebt mit ihrer Familie in Leonding bei Linz.

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2025

Lektorat: Christine Braun

Satz: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Keltenmuseum Hallein

ISBN 978-3-7349-3336-3

Widmung

Für Mima

Personen in alphabetischer Reihenfolge

Adine: Tochter von Nanthon, Bergherr am Großen Salzberg

Biavek: Herr über die Festung am Großen Fluss und das ganze Land

Branu: einer der Angehörigen der neuen Religion, genannt »die Sucher«, die unter Biaveks Schutz stehen

Catha: Adines Tante, Dirwens Mutter, Nanthons Schwägerin

Dirwen: Adines Cousine

Dovnall: Biaveks Gefolgsmann

Elli: Adines Ziehschwester, Zwillingsschwester von Tani

Gisa: Adines Ziehgroßmutter, Nachfahrin von Kallena und deren Sohn Plutenu

Gronja: Herrin der Fraueninsel

Ina: legendäre Bergherrin, über die wenig bekannt ist

Jowena: Adines Ziehmutter, Gisas Tochter

Luc: jährlicher Gast in Jowenas und Gisas Haus, stammt aus dem Süden

Nanthon: Adines Vater, Bergherr am Großen Salzberg

Ottek: Jowenas Mann

Saina: Bergherrin am Kleinen Salzberg, Mutter von Terbat

Sam/Samune: Gisas Sohn, jüngerer Bruder von Jowena

Susa: Bewohnerin der Fraueninsel

Tani: Adines Ziehschwester, Zwillingsschwester von Elli

Tavo: Bergherr am Kleinen Salzberg, Mann von Saina

Terbat: Ziehsohn von Nanthon, Sohn und Erbe von Saina und Tavo

1. Kapitel

Unter dem Dach war es ungewöhnlich warm. Die Holzbalken verströmten einen Geruch nach Harz und Staub. Gisa bückte sich und hob den Deckel der Truhe, in der sie die alten Wintermäntel der Zwillinge vermutete. Obenauf lag eine bunt karierte Decke, auf der einst Jowena im Garten gespielt hatte, und viel später Sam. Sie schob sie beiseite und packte das nächstbeste Stück Stoff. Keine dicke Wolle, sondern ein Leinenhemd, bestickt. Gisa runzelte die Stirn und zog das Hemd hervor. Sie konnte nicht sehen, was sie in der Hand hielt.

Langsam, um in der Unordnung nicht zu stolpern, ging sie zu der Luke, die nach unten führte. Wenig Licht drang herauf. Jetzt erkannte sie die blauen Fäden, die im Zickzack den Halsausschnitt umgaben. Ihr Atem stockte.

Adines Hemd.

Gleich nachdem sie damals angekommen war, hatte Gisa es genäht. So ein dünnes, zartes Mädchen! Ob sie nur Salz zu essen bekommen habe daheim am Salzberg, hatten die Zwillinge gefragt. Gisa sah die großen Augen des Mädchens, als es sein neues Zuhause betrachtet hatte, noch immer vor sich. Ebenso ihre kleinen Hände, die Gisa hatte halten dürfen, lange bevor Adine es Jowena erlaubt hatte. Adine hatte ihre Schüchternheit bald verloren, immerhin hatte sie ihre neue Familie schon seit Jahren gekannt und war darauf vorbereitet worden, eines Tages mit ihnen zu leben. Nachdem Nanthon beschlossen hatte, wer die Ziehmutter seiner Tochter werden sollte, waren Jowena und Gisa oft in den Bergen zu Besuch gewesen.

Nur Tani und Elli waren ihr beim Einzug fremd gewesen, denn Jowena hatte ihre Töchter nie mitnehmen wollen auf die Reisen zum Salzberg. Gisa konnte sich an ihre Erleichterung erinnern, als die Mädchen sich trotzdem auf Anhieb verstanden hatten. Nach dem ersten Winter hatten sie sich verhalten, als wäre Adine schon immer Teil ihrer Familie gewesen. Adine hatte bald immer seltener vom Berg und vom Salz gesprochen.

Sie war glücklich gewesen. Hier war sie aufgewachsen, in diesem Haus, zwischen den Getreidefeldern und den Pferdeställen, die seit alters her Gisas Familie gehörten. Jowenas Familie. Und Sams. Adine war eine Tochter dieses Hauses geworden und gleichzeitig Nanthons Tochter geblieben, das Mädchen vom Salzberg, auf den sie zurückgekehrt war. Allerdings zu früh und nicht so, wie Gisa es erwartet hatte. Hals über Kopf hatte sie Gisas Familie verlassen, völlig verändert, ängstlich und erschüttert. Und Gisa hatte nie herausgefunden, was geschehen war …

»Mutter! Was machst du hier oben?« Jowenas Kopf ragte durch die Luke. Als sie sah, was Gisa in der Hand hielt, stieg sie die letzten Stufen empor. »Adines Hemd?«

Gisa nickte. »Ich wollte die alten Mäntel der Mädchen finden, um sie der Nachbarin für ihre Enkeltochter zu geben.«

»Die Mäntel sind in der Truhe unter ihrem Bett«, sagte Jowena und griff nach dem Hemd. »Ich wusste nicht, dass du es aufgehoben hast.«

»Ich auch nicht.« Gisa seufzte. »Drei Jahre ist sie nun fort, Jowa, und immer noch weiß ich nicht, warum sie gegangen ist.«

Jowena presste die Lippen aufeinander und nickte. Sorgfältig faltete sie das Hemd zusammen und legte es zurück in die Truhe, unter die bunte Decke. »Zumindest wissen wir, dass sie glücklich ist. Zu Hause.«

»Wissen wir das wirklich? Ich hoffe es«, flüsterte Gisa und wischte eine Träne weg. »Trotzdem vermisse ich sie.«

»Mir geht es wie dir. Sie fehlt mir. Meine Ziehtochter … Ich habe sie sehr gern gehabt. Dennoch … die eigenen Töchter liebt man immer auf andere Weise, nicht wahr?« Jowena wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. »Ich muss nach unten, das Essen ist fast fertig. Die Mädchen sollen die Mäntel für dich holen.«

»Ich komme gleich«, entgegnete Gisa. »Geh nur.«

Jowena warf ihr einen fragenden Blick zu, aber Gisa wandte sich ab. Sie dachte jeden Tag an Adine, deshalb verstand sie selbst nicht, weshalb dieses Hemd sie derart aus der Fassung brachte. Jowena hat die Wahrheit gesagt, dachte Gisa. Es ist natürlich, die eigenen Kinder mehr zu lieben als ein Ziehkind. Wahrscheinlich habe ich Adine jedoch mehr geliebt als meine eigene Tochter. Ich bin es, die seltsam ist. Aber vielleicht ist das nicht zu vergleichen. Jowena war schon eine erwachsene Frau, als Adine zu ihnen gekommen war.

Langsam kletterte Gisa die steile Treppe nach unten. Sie hörte Jowena, die den Mädchen zurief, die Mäntel für ihre Großmutter herbeizuholen. Gisa wollte ihnen nicht begegnen und verließ das Haus. Es war noch früh im Jahr und würde bald dunkel werden. Sie musste die Hühner einsperren.

Sie bemerkte Jowenas Mann Ottek, der drüben aus dem Pferdestall kam. Rasch machte sie kehrt und ging auf der anderen Seite um das Haus herum. Als sie den Hof erreichte, war Ottek verschwunden. Erleichtert atmete sie auf. Während sie nach den Hühnern sah, dachte sie an ihren Sohn Sam. Wie jeden Abend flehte sie die Götter an, ihn endlich nach Hause kommen zu lassen.

*

Adines Finger schmerzten. Der raue Strick, mit dem die Salzsäcke verschlossen wurden, riss die Haut auf. Heute hatte sie seit dem frühen Morgen nichts anderes getan, als zu schaufeln und zu binden. Glücklicherweise hatte sie die Säcke nicht auch noch verladen müssen. Das erlaubten die anderen Bergleute nicht. Nicht Nanthons Tochter. Obwohl sie wussten, wie kräftig sie war. Gerade weil sie es wussten.

Es gab Tage, da ließ Adine es sich nicht nehmen, die schwersten Arbeiten zu verrichten und ihren Körper zu schinden, bis sie sogar zum Essen zu müde war und erschöpft in ihr Bett fiel. Das waren die besten Nächte. Traumlos. Angstfrei.

Heute würde sie der Schmerz in den Händen wachhalten, denn der restliche Körper musste nicht gnadenlos nach Ruhe verlangen. Wenigstens hatte Adine keine Angst mehr vor solchen Nächten. Nicht oder schlecht zu schlafen, ließ sich aushalten. Man gewöhnte sich daran. So wie an das ständige leise Flattern im Magen, das sich anfühlte, als säße ein schwarzer Vogel dort und pickte an ihrem Fleisch. Das hatte sie zu verbergen gelernt. Vor ihrer Familie. Besonders vor ihrer Tante Catha, die an manchen Abenden in ihr Inneres zu blicken schien.

Sie wusch ihre Hände in einer Holzschüssel. Es gab kein sauberes Tuch zum Abtrocknen, also marschierte sie mit tropfenden Fingern aus dem Stollen. Draußen dämmerte es bereits, und vorne zwischen den Häusern brannten die ersten Fackeln. Die Spitzen der umgebenden Berge leuchteten, und der Himmel hatte an einem Ende die Farbe des blauen Lieblingskleides ihrer Cousine Dirwen. Es roch nach Frühling, sogar hier oben auf dem Berg.

Adine lächelte. Vielleicht würde sie bald hinunter zum See gehen. Der Weg war weit. Doch sie durfte einen Arbeitstag verlieren, wenn ihr danach war. Niemand würde es der Tochter des Bergherrn übel nehmen, wenn sie nicht schuftete. Dirwen käme niemals auf die Idee, sich dermaßen schmutzig zu machen. Sie war nicht faul, denn der Haushalt, um den sie sich gemeinsam mit Tante Catha kümmerte, war groß, aber den Berg und seinen Dreck mied sie, so gut sie konnte. Adine gönnte es ihrer Cousine, den ganzen Tag im Licht zu sein. Fröhlich zu sein.

»Adine! Pass auf!«

Adine blieb stolpernd stehen. Wie hatte sie Terbat übersehen können, der mitten auf dem Weg stand und sie breit angrinste? »Lass mich vorbei«, murmelte sie.

»Meine Liebe, der Weg wäre breit genug für einen Wagen, wenn je einer hier fahren würde. Trotzdem hättest du mich beinahe umgerannt. Man könnte meinen, du wolltest mir nahe sein.«

Das Picken in ihrem Inneren wurde heftiger. Sie roch sein Leder und das Öl, das er in seine Haare schmierte. Die Frühlingsluft schien verschwunden zu sein. Ein kalter Wind pfiff plötzlich zwischen den Häusern und wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht.

Der Ziehsohn ihres Vaters trat lächelnd auf sie zu und hob die Hand. Wütend auf sich selbst eilte sie an ihm vorbei. Weshalb nur ließ sie sich ständig von ihm ärgern?

Am Weg durch das Dorf begegneten ihr überall Leute, die ihr eine gute Nacht wünschten. Sie winkte, lächelte und ging weiter. Der Ärger über Terbat verflog. Wahrscheinlich würde er während des Essens zurückkehren, aber für den Moment hatte sie Ruhe.

Nessa, die Hündin ihres Vaters, lag auf der Türschwelle und begrüßte sie überschwänglich. Lachend schob Adine die Schnauze zur Seite und trat ein. Nessa stolperte über einen Haufen schmutziger Stiefel und sprang weiter.

Cathas wichtigste Hausregel betraf Schuhe, die unter allen Umständen vor Betreten des Hauses ausgezogen werden mussten, vor allem, wenn sie davor im Berg getragen worden waren. Diese Regel galt sogar für die meisten Gäste, ganz gleich, wie bedeutend sie sein mochten. Nan­thon widersetzte sich seiner Schwägerin selten, schon gar nicht, wenn es um die Sauberkeit im Haus ging. Adine hatte nichts dagegen, die schweren Stiefel gegen weiche Schuhe zu tauschen, in denen sie lautlos durch das Haus schleichen konnte.

»Nessa! Sei nicht so übermütig! Was hast du mit ihr gemacht, Adine?« Dirwen kam in den Vorraum und zog den Hund hinter sich her. »Raus mit dir! Wenn meine Mutter dich sieht, musst du dir zum Abendessen einen Hasen fangen.«

»Du weißt, dass sie bei Vater im Zimmer schläft, Dirwen.« Adine schmunzelte.

Dirwen zuckte mit den Schultern. »Aber meine Mutter tut so, als würde sie es nicht wissen«, flüsterte sie. »Hast du Terbat gesehen?«, fragte sie laut.

Adine verzog den Mund. »Bedauerlicherweise ja. Ich ziehe mir etwas anderes an.«

Ihre Kammer lag am Ende des Hauses. Vom Fenster aus konnte man auf die Bergspitzen und die Flanke des Salzberges blicken. Adine seufzte. Seltsamerweise musste sie plötzlich an ihre Mutter denken, an die sie sich nicht erinnern konnte. Das hier war eine Zeit lang ihre Kammer gewesen, bevor sie die Frau von Adines Vater geworden war.

Catha hatte ihr das erzählt, als Adine aus dem Norden zurückgekommen war, damals, vor drei Jahren. Catha, die wie ihre Schwester einen der Männer vom Berg genommen und eine Tochter geboren hatte. Doch sie hatte diesem Ort für einige Zeit den Rücken gekehrt, bis zum Tod von Adines Mutter. Dirwens Vater hatte sie nicht begleitet. Adine wusste nicht, wohin er verschwunden war. Nan­thon hatte sich eine Verwandte gewünscht, die ihn bei Adines Erziehung unterstützte, und deshalb waren Catha und Dirwen hier eingezogen.

Adine schlüpfte aus der Hose, die steif vom Salz war, und zog die Weste und das Hemd aus. Auf ihrem Bett lag ein dünnes Kleid bereit. Obwohl es warm war im Haus, zog sie einen ärmellosen Mantel darüber. Sie musste es vermeiden zu frieren. Vielleicht würde sie dann schlafen können.

Ein würziger Duft lockte sie aus der Kammer. Adine hatte den ganzen Tag über nichts gegessen und freute sich auf eine von Dirwens dicken Suppen.

Catha sah sie von ihrem Platz hinter der Feuerstelle aufmerksam an. »Lass mich dein Haar richten, Adine.«

Adine drückte ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und setzte sich zu ihren Füßen auf einen niedrigen Schemel. Cathas kühle Finger berührten nur selten ihre Haut, während sie einen ordentlichen Zopf flocht.

Dirwen kam herein und fing zu lachen an. »Mutter, mach dir nicht zu viel Mühe. Adine ist es doch gleichgültig, wie sie aussieht.«

»Die Göttin sieht uns, mein Kind.«

Dirwen verdrehte die Augen und sagte: »Wie du meinst, Mutter. Auch wenn ich glaube, dass der Göttin unsere Haare egal sind. Wollen wir essen, was meint ihr? Nan­thon kommt später.«

»Weshalb?«, fragte Adine.

»Dein Vater hat etwas mit Terbat zu besprechen«, sagte Catha.

»Wahrscheinlich geht es um die Lieferung zum Kleinen Salzberg«, entgegnete Adine. »Aber es ist noch nicht so weit, um die Reise anzutreten.«

»Ich weiß.« Catha drückte Adines Schulter. »Fertig.«

Dirwen brachte ihrer Mutter und Adine das Abendessen und setzte sich. »Endlich kommt der Frühling«, seufzte sie und tauchte den Löffel in die Schale. »Bald werden wir Gäste haben, ihr werdet sehen.«

»Du sehnst dich nach Gesellschaft«, stellte Catha fest.

Adine schmunzelte. Weder sie noch ihre Tante litten unter den langen, einsamen Wintern, doch Dirwen konnte es nicht erwarten, anderen Menschen zu begegnen. Anderen Männern. Sobald sie auftauchten, verbrachte Adine noch mehr Zeit im Berg. Sie konnte es nicht leiden, wenn das Haus voller Fremder war, die von Dirwen dazu ermutigt wurden, hier zu übernachten statt im Gästehaus, das besonders am Ende der kalten Jahreszeit ungemütlich war.

Auch Catha hätte die Gäste lieber drüben im Gästehaus gesehen, duldete sie Dirwen zuliebe aber manchmal im Haus. Doch ihre Gastfreundschaft hatte Grenzen. Wenn sie eines bestimmten Gastes überdrüssig war, verfiel sie in kaltes Schweigen, was auch die selbstbewusstesten Männer innerhalb eines Tages vertrieb.

»Möchtest du noch mehr?«, erkundigte sich Dirwen, als sie Adines leere Schale sah.

»Gerne. Ich bin hungrig.«

»Natürlich. Du hast gearbeitet«, bemerkte Catha und stellte ihre Schale beiseite. »Verdirb dir nicht den Rücken, Kind.«

»Richtig«, stimmte Dirwen zu. »Außerdem möchte niemand eine Frau mit dicken Muskeln!«

Adine verzog den Mund. Beinahe hätte sie die Schale zurückgewiesen, die Dirwen ihr reichte. Muskeln bedeuteten Kraft. Auch wenn sie sicher war, sie nicht zu benötigen als Tochter des Bergherrn. Nicht hier auf dem Salzberg …

»Adine?«, fragte Dirwen besorgt. »Es war ein Scherz.«

»Ich weiß. Natürlich, Dirwen. Ich habe nur über etwas nachgedacht.«

»Worüber?« Cathas dunkle Augen schimmerten. Ihr graues Haar glänzte im Feuerschein.

Als junges Mädchen hatte Adine sich die Göttin immer wie ihre Tante vorgestellt. Klein, aber voller Macht und mit Haar aus Silber.

»Ich … ich weiß nicht mehr«, stotterte sie.

»Lass sie essen, Mutter«, sagte Dirwen. »Sie ist müde.«

Eine Zeit lang war nur das Knistern des Feuers zu hören, dann seufzte Dirwen. »Denkt ihr, es wird ein wenig Wein geben?«

»Wohin kreisen deine Gedanken?«, fragte Catha.

»Wir haben keinen mehr. Und ich frage mich, ob Onkel Nanthon für Nachschub gesorgt hat.«

Catha seufzte. »Wein ist teuer. Wenn du dich betäuben willst, trink Bier. Es gibt genügend Leute in diesem Dorf, die welches brauen.«

Adine grinste ihre Cousine an. Tante Catha verabscheute Bier, und Wein trank sie nur, wenn bedeutende Gäste hier waren und es unhöflich gewesen wäre, einen Schluck abzulehnen.

»Hilfst du mir, Adine?« Ihre Tante griff nach einem unordentlichen Knäuel. Die bunten Fäden hatten sich heillos verwickelt. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit, während Dirwen die Schalen einsammelte und den Suppentopf vom Feuer schob, bevor sie sich in einen gepolsterten Stuhl setzte und ihnen eine Weile zusah.

»Deine Augen fallen dir zu, Liebes. Geh zu Bett«, sagte Catha.

Dirwen gähnte und stand auf. »Du hast recht. Gute Nacht.«

»Schlaf gut«, sagte Adine.

Schweigend mühten sie sich weiter ab. Adine war ungeduldig, wenn es darum ging, Knöpfe zu lösen, und außerdem blieben die Fasern an ihren rauen Fingern hängen. Trotzdem genoss sie das stille Beisammensein mit ihrer Tante. Es machte sie ruhig und schläfrig.

Als Catha die ordentlichen Knäuel in ihren Korb gepackt hatte und Adine aufstehen wollte, um ihre Kammer aufzusuchen, wurde die Haustür geöffnet. Nessa fiepte aufgeregt, während sie Nanthon folgte und an seinen Beinen hochsprang.

»Vater!«, rief Adine. »Das hat lange gedauert. Möchtest du etwas essen?«

Nanthon befahl der Hündin, sich in eine Ecke zu legen, und kam näher ans Feuer. »Ich bin nicht besonders hungrig. Brot und Speck reichen mir. Ich hole mir später etwas.«

Catha lächelte. »Das Brot für dich, der Speck für Nessa, nicht wahr?«

»Was sagst du dazu, Nessa?«, lachte Nanthon. »Als ob so etwas je vorgekommen wäre.«

Catha stand auf und deutete auf den Korb mit den Wollknäueln. »Danke für die Hilfe, Adine. Ich gehe zu Bett.«

»Gute Nacht, Catha«, sagte Nanthon und setzte sich. »Du hast heute mehr als sonst gearbeitet, Adine. Terbat ist beeindruckt.«

»Terbat? Das hat er gesagt?« Adine schüttelte ungläubig den Kopf.

»Er hat die Säcke heute gezählt. Es sind mehr als genug. Wenn es nicht so früh im Jahr wäre, könnte er sie jederzeit zu seinem Vater auf den Kleinen Salzberg bringen.«

»Es liegt noch zu viel Schnee«, stimmte Adine zu. »Soll ich dir nicht doch etwas zu essen holen?«

Nanthon winkte ab. »Die Reise zu Tavo hat Zeit. Er muss noch genügend Salz vom letzten Jahr haben. Du könntest eine Pause machen und eine Weile nicht in den Berg gehen, wenn du willst.«

Was soll ich stattdessen tun, fragte Adine sich.

»Aber ich nehme an, das ist es nicht, was du möchtest.«

Der traurige Blick ihres Vaters ließ sie zusammenzucken. »Es gibt immer viel zu tun, Vater. Terbat verzichtet ungern auf fleißige Hände, wenn sie sich anbieten.«

»Natürlich. Du könntest in der Sortierkammer weitermachen. Dort hat seit dem letzten Jahr niemand mehr für Ordnung gesorgt. Jeder, der ein paar gute Brocken heraussucht, bringt alles nur noch mehr durcheinander. Du hast ein gutes Auge für diese Arbeit.«

Adine schmunzelte. Das war nicht der wahre Grund, warum ihr Vater es gerne sah, wenn sie Salzbrocken nach Größe und Qualität aufreihte. Die Sortierkammer lag gleich hinter dem Stolleneingang. Von dort konnte man rasch ins Freie gelangen. Wenn etwas passierte. Im Berg oder auch draußen. Sofern man Glück hatte und die Göttin einem half.

»Ich kümmere mich darum, Vater. Soll ich für Tavo ein schönes Stück wählen? Er verteilt unser Salz gerne an besondere Gäste.«

Nanthon schmunzelte. »Er sitzt auf einem Berg voller Salz und schätzt dennoch, was du ihm bringst.«

Als sie später unter ihrer Decke lag und wie erwartet nicht einschlafen konnte, dachte Adine über die Worte ihres Vaters nach. Tavo schätzte das Salz vom Großen Salzberg tatsächlich. Doch er nutzte es eher für die Pflege seiner Verbindungen als für seine eigenen Speisen und Gebete.

Es war für ihn kein großes Opfer, das heilige Salz zu verschenken, das er nicht für besser oder schlechter zu halten schien als sein eigenes. Doch weil Tavo ein kluger Mann war, behielt er diese Ansicht für sich. Adine wusste nur deshalb darüber Bescheid, weil Terbat die Meinung seines Vaters teilte und sie ihr gegenüber manchmal erwähnte. An schlechten Tagen erreichte er damit sein Ziel und sie ärgerte sich. Doch meistens war es ihr gleichgültig, ob Terbat an die Heiligkeit des Salzes glaubte, das er hier selbst förderte. Es kam auf die vielen Menschen an, denen es immer noch wichtig war.

Lange lag sie wach und bat die Göttin um eine ruhige Nacht. Erst als das Zwitschern eines Vogels die aufziehende Dämmerung ankündigte, schlief sie ein.

*

Endlich hörte der kleine Junge zu schreien auf. Gisa standen die Schweißperlen auf der Stirn, und auch der Mutter des Kindes war die Anspannung anzusehen.

»Ich werde das Bein gleich schienen«, sagte Gisa. »Aber davor muss ich etwas erledigen.«

Sie ließ die junge Frau mit ihrem Kind allein und eilte aus dem Haus, hinüber auf die Wiese, an deren Ende der Wald begann. Eine alte Eiche stand dort, und immer saßen Krähen darin, oft nur zwei oder drei, doch häufig ein ganzer Schwarm. Heute wandten sich ihr nur wenige Köpfe zu. Langsam trat Gisa näher.

»Ein Kind ist vom Baum gefallen, Freunde, ein kleiner Junge«, murmelte sie. »Er hat Schmerzen, weil sein Bein gebrochen ist. Helft mir, damit es gut heilt.«

Die kleinen schwarzen Augen sahen sie aufmerksam an. Gisa wartete eine Weile, dann hob sie die Hand zum Gruß und ging zurück zum Haus. Aus dem Augenwinkel nahm sie Jowena wahr, die drüben beim Stall stand und sie beobachtete. Gisa verzog den Mund und tat so, als würde sie ihre Tochter nicht sehen.

Der Junge schlief tief. Die Atemzüge kamen regelmäßig.

»Der Mohnsaft wirkt«, flüsterte seine Mutter.

Gisa nickte. Mit geübten Bewegungen schnitt sie die Hose des Jungen auf und befühlte das Bein. Ein glatter Bruch. Der Knochen war nicht verrutscht. Sie zeigte der jungen Frau die polierten Holzstäbe und die Binden und erklärte, auf welche Weise sie am Bein zu befestigen waren. Gemeinsam ging die Arbeit leicht von der Hand. Hie und da stöhnte der Junge leise, doch glücklicherweise wachte er nicht auf.

»Du wirst es nicht schaffen, ihn nach Hause zu tragen, ohne das Bein zu belasten. Wir bringen ihn auf unserem Karren hinüber, solange der Saft noch wirkt.«

»Ich hole den Karren«, bot Jowena an. Gisa hatte ihr Eintreten gar nicht bemerkt.

»Ich danke dir«, sagte die junge Frau leise, als Jowena gegangen war. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.«

Gisa winkte ab. »Ein Bein zu schienen, ist nicht besonders schwer. Merk dir, wie ich es gemacht habe. Vielleicht kannst du irgendwann einem anderen Kind helfen, wenn ich nicht mehr bin.«

»Sag nicht so etwas, Gisa!«

»Weshalb nicht?« Gisa lachte. »Ich bin eine alte Frau, und alte Frauen sterben. Daran ist nichts Besonderes. Schau mich nicht so erschrocken an.« Sie betrachtete das Gesicht des schlafenden Jungen. »Er ist nicht mehr zu klein, um zu verstehen, dass er ruhig liegen muss. Für eine lange Zeit. Du wirst es nicht schwer haben.«

»Aber für ihn wird es schwer. Er wird den Frühling versäumen.«

Gisa zuckte mit den Schultern. »Er wird noch viele Jahre im Frühjahr herumspringen. Mit einem gesunden Bein. Hier, nimm die Dose mit der Paste. Rühr sie in ein wenig Wasser, aber nur so viel, wie unter deinen Fingernagel passt, und nur abends. Damit er schlafen kann.«

Die junge Frau bedankte sich und steckte die Dose in ihre Tasche.

Als Jowena mit dem Karren zurückkehrte, bot sie an, den Jungen nach Hause zu bringen, was Gisa gerne annahm. Sie hatte nicht gelogen, als sie über alte Frauen gesprochen hatte. Ihre Gelenke schmerzten ständig, und sie hatte nicht mehr genügend Kraft, um einen schweren Karren die ganze Strecke bis hinter den Hügel und halb durch den Wald zu ziehen. Aber sie konnte das Abendessen zubereiten, solange ihre Tochter fort war.

Das Haus blieb still, während Gisa kochte. Ottek war bei den Pferden. Tani und Elli hatten ihm vor längerer Zeit etwas zu essen gebracht und waren noch nicht zurück. Sie konnten gut mit den Tieren umgehen, fast so gut wie Sam, der ihnen alles beigebracht hatte. Ihre Enkeltöchter würden die Zucht fortsetzen, sollte ihr Sohn den Hof verlassen. Eines Tages musste er sich eine Frau wählen, um mit ihr eine Familie zu gründen. Es gab so viele, die ihm Blicke zuwarfen. Gisa fragte sich seit Jahren, ob er nur so tat, als würde er es nicht bemerken, oder ob ihm wirklich nicht auffiel, wie viele Frauen sich für ihn interessierten. Er war so jung. Hätte er Adine nicht längst vergessen müssen?

Du hast es auch nicht geschafft, sie zu vergessen, alte Frau.

Gisa warf ein paar Kräuter in den Topf und rührte wütend um. Warum nur war Adine so überraschend nach Hause zurückgekehrt? Was war passiert? Denn es war etwas geschehen, davon war sie überzeugt. Etwas hatte Adine verstört, und was auch immer es gewesen war, es musste auf der Reise nach Hause passiert sein. Seit drei Jahren zermarterte Gisa sich den Kopf, weswegen Adine sich in den Schutz ihrer heimatlichen Berge zurückgezogen hatte.

»Wieso machst du es immer noch, Mutter?«

Gisa ließ vor Schreck den Kochlöffel fallen. »Jowa! Ich habe dich nicht gehört.«

Jowena hängte ihren Mantel an einen Haken an der Wand und lugte in den Topf. »Hm, riecht gut.«

»Was meinst du? Was mache ich immer noch?«

»Mit den Krähen sprechen.«

Gisa schnaubte und wandte sich wieder dem Eintopf zu. Eine Weile schob sie Fleischstücke hin und her und betrachtete den aufsteigenden Dampf. »Was stört es dich? Hast du Angst, sie könnten mir antworten? Oder mir helfen, die Schmerzen eines Kindes zu lindern?«

»Mutter, ich bitte dich doch nur, es nicht so offensichtlich zu machen. Viele haben kein Verständnis mehr dafür.«

»Ich habe auch kein Verständnis! Was soll falsch daran sein? Darf ich die Götter nicht mehr ehren?« Gisa warf den Löffel beiseite.

Jowena seufzte. »Natürlich darfst du die Götter ehren. Niemand wird dich daran hindern. Aber die Krähen …«

»Wo ist der Unterschied? Kannst du mir das erklären?«

Jowena wollte antworten, doch in diesem Moment ging die Tür auf und die Mädchen kamen herein.

»Hast du gekocht, Gisa?«, fragte Tani und schnupperte.

Gisas Wut verflog und sie lächelte ihre Enkelin an. »Deine Mutter hat einen Buben nach Hause gebracht, der sich das Bein gebrochen hat. Deshalb habe ich gekocht. Habt ihr Hunger?«

»Tani hat immer Hunger«, bemerkte Elli.

Tani stupste ihre Schwester in die Seite.

»Setzt euch. Wo ist euer Vater?«, fragte Jowena.

»Er sagt, wir sollen mit dem Essen nicht auf ihn warten«, antwortete Tani. »Er geht einen Freund im Dorf besuchen.«

Ein Abend ohne Ottek, dachte Gisa. Wie schön.

2. Kapitel

Das Gewicht des Berges lag auf ihrer Brust und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie wurde unter Wasser gedrückt, unter die Erde, tief hinab in das Gestein. Die Finsternis war undurchdringlich und leblos. Sie war vollkommen allein. Nicht die kleinste Bewegung gelang ihrem gelähmten Körper, aus dem alle Wärme gewichen war. Es war nicht sie, die langsam den Mund öffnete. Ein Keuchen drang zwischen ihren Lippen hervor.

Adine fuhr hoch. Es war stockdunkel. Haarsträhnen klebten an ihrer schweißnassen Stirn. Ihr Atem kam stoßweise, und sie hörte den Nachhall ihres eigenen Stöhnens. Panisch tastete sie um sich. Sie konnte nicht begreifen, warum das Gestein, das sie umhüllte, so weich war. Ihre Finger krallten sich in der Decke zusammen und ließen gleich wieder los. Sie keuchte, als wäre sie gerannt, und ihr Herz pochte schmerzhaft. Überall in ihrem Körper brannte es, besonders in der Brust.

Nur langsam drang es in ihr Bewusstsein. Sie saß in ihrem Bett, in völliger Sicherheit, alleine. Niemand bedrohte sie, und sie wurde auch nicht festgehalten. Es war nicht einmal ganz dunkel. Sie hatte die Läden vor ihrem Fenster einen Spalt offen gelassen, und dort drang ein wenig Licht herein. Die vertrauten Umrisse ihrer Kammer wurden immer deutlicher sichtbar.

Trotzdem dauerte es lange, ehe das Brennen nachließ und ihr Atem regelmäßig wurde. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass wirklich niemand neben ihr lag, stand sie langsam auf. Mit dem Schwindel konnte sie umgehen. Vorsichtig, um nirgends anzustoßen, zog sie ihr Hemd aus, kleidete sich an und schlich aus der Kammer.

Die Tür von Nanthons Zimmer war nur angelehnt. Nessas Kopf erschien in dem Spalt, doch als sie Adine erkannte, kehrte die Hündin wieder auf ihren Platz neben dem Bett ihres Herrn zurück. In der Feuerstelle vorne im Haus verströmte die Glut ein wenig Wärme und Licht. Adine zog den Vorhang beiseite, hinter dem die Vorräte aufbewahrt wurden, und packte Brot und Käse in ihre Tasche. Sie schlüpfte in die Stiefel, griff nach dem Mantel und verließ das Haus.

Graue Dunstschwaden zogen zwischen den Häusern hindurch und verdeckten den Blick auf die Berge. Adine zitterte. Sie warf sich den Mantel über und setzte ihre Wollkappe auf. Im Berg hatte sie nie kalte Ohren, aber hier draußen war es windig.

Niemand begegnete ihr, während sie durch das Dorf eilte. Aus manchen Häusern drangen Geräusche, doch kein Mensch trat vor die Tür. Dort, wo das Dorf endete, führte der Weg über steiles Gelände nach unten. An manchen Stellen gab es Pfosten, die mit Seilen verbunden waren, um sich daran festzuhalten, wenn man unsicher auf den Beinen war. Adine brauchte diese Stütze nicht. Der Weg war in gepflegtem Zustand und weder nass noch eisig. Aber es war kalt, denn hier fegte ungehindert der Wind.

Niedriges Gestrüpp und Gras wuchs auf den Hängen, flachgedrückt vom Schnee des letzten Winters. Erst als weiter unten das Gelände weniger steil wurde, führte der Weg ein Stück durch locker stehende Baumgruppen, die den Wind, aber auch das trübe Licht dieses frühen Morgens abhielten.

Adine ließ die letzten Bäume hinter sich und blieb stehen. Vor ihr lag der untere Teil des Hochtals. Wie immer, wenn sie hierherkam, nahm sie sich Zeit. Ein paar Schritte voraus waren die Überreste eines Hauses zu erkennen. Ein paar Balken lagen noch auf den Steinfundamenten, zwischen denen Brombeergestrüpp wucherte. Adine wusste nicht, wer darin gewohnt hatte. Seit langer Zeit lebte niemand mehr so weit unten im Tal.

Als sie ein Kind gewesen war, hatte Catha ihr die Geschichte von Ina erzählt, einer Bergherrin, die eines Tages beschlossen hatte, ihre Leute hoch hinauf auf den Berg zu führen, so weit es ging, um dort oben ein Dorf zu gründen. Damit sie der Göttin näher waren und sicher vor ihrem Zorn, der immer wieder über das Tal hereingebrochen war. Ina selbst hatte zusehen müssen, wie ihr Dorf hier unten zerstört worden war, samt einer prächtigen Halle. Fast alle Bergleute hatten überlebt, denn die Göttin hatte Inas Mann rechtzeitig gewarnt. Deshalb hatten sie gleich nach dem Unglück mit dem Wiederaufbau beginnen können. Seither musste das Salz den weiten und steilen Weg von oben hinuntergeschleppt werden und alles, was die Bergleute zum Leben benötigten, hinauf.

Jeder im Land kannte diese Geschichte, aber niemand wusste, ob Ina wirklich gelebt hatte oder ob es die Göttin selbst gewesen war, die den Menschen den Weg hoch hinauf auf den Berg gewiesen hatte. Manchmal fühlte es sich an, als hätten die Leute vor langer Zeit beschlossen, die Vergangenheit zu vergessen. Die Gründe für diese Entscheidung waren verloren gegangen, und die Namen derer, die vor ihnen hier gelebt hatten.

Trotzdem stellte Adine sich gerne vor, dass diese Steine und Balken die Reste von Inas Haus waren. Zumindest war es die letzte Spur ihrer Vorfahren, die diesen Ort verlassen und ein neues Dorf gegründet hatten. Und ein neues Bergwerk. Denn irgendwo hier unten, wo das Hochtal beinahe zu Ende und es nicht mehr weit bis zum See war, hatte es nicht nur Häuser, sondern auch Eingänge in den Berg gegeben, die viele Jahre lang benutzt worden waren. Seit langer Zeit waren sie verschüttet unter Geröll und Erde. Niemand hatte sie je gefunden, und doch waren alle überzeugt davon, dass es sie gab. Zugänge zum Berg und zum Salz.

Aber es war nicht notwendig, nach ihnen zu suchen. Der Berg hatte einen anderen Weg zum Salz offenbart. Es hatte sich gelohnt, hoch oben ein neues Bergwerk zu gründen. Es war seit Langem von Katastrophen verschont geblieben, und es gab Salz im Überfluss.

Adine verspürte einen Stich.

Unsinn, dachte sie. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben. Ich habe hart gearbeitet in letzter Zeit und darf mir einen Tag für mich nehmen.

Entschlossen setzte sie ihren Weg fort, ihren Blick starr geradeaus gerichtet. Sie vermied es, den Hang zu ihrer Rechten hinaufzuschauen, dorthin, wo die Toten lagen. Wenn sie sich nicht die Zeit nahm, ihre Ahnen zu begrüßen, war es besser, ihre Gräber nicht zu beachten.

Das Hochtal endete. Eine Reihe Bäume, die in gleichmäßigen Abständen standen, markierte die Stelle, wo der Steilhang begann. Hier an der Kante bot sich ein weiter Blick über den tief unten liegenden See und den Berg, der am anderen Ufer steil aufragte.

Adine lächelte. Sie liebte den See. Obwohl er eingesperrt zwischen hohen Felsen lag, hatte er nichts von der Enge an sich, die oben im Dorf herrschte, wo für jedes neue Haus zuvor ein anderes Gebäude verschwinden musste, so beschränkt war der Platz. Sogar das Haus ihres Vaters war nicht groß. Kleiner als das von Gisa …

Adine schnaubte und runzelte die Stirn. Sie wollte nicht ausgerechnet jetzt an Gisas und Jowenas Haus denken.

Sie griff in ihre Tasche, riss ein Stück Brot ab und steckte es in den Mund. Dann machte sie sich auf den Weg nach unten. Auch hier hatte ihr Vater für Geländer an gefährlichen Stellen gesorgt. Erst vor Kurzem, nach der Schneeschmelze, war der Weg ausgebessert worden, denn bald begannen die Salztransporte und es würden wieder regelmäßig Gäste kommen.

Adine ließ sich Zeit. Es war noch früh am Tag, und sie hatte es nicht eilig. Während sie ging, ließ sie vorsichtig die Erinnerung an den Traum zu. Oft war sie nicht sicher, was aus dem Traum der letzten Nacht stammte und welche Teile sie vor langer Zeit geträumt hatte. Denn es war immer derselbe Traum, ganz gleich, woran sie sich am nächsten Morgen erinnerte.

Etwas hielt sie fest, nahm ihr die Luft zum Atmen und hinderte sie daran, sich zu bewegen und davonzulaufen. Sie war hilflos, in Panik, eingeklemmt. Auch wenn es manchmal ein Felsen war, der sie im Traum zerquetschte, ging es nicht um die Angst, der Berg könnte auf sie herabfallen, während sie in seinem Inneren arbeitete oder draußen war.

Adine hatte keine Angst vor dem Berg. Er war ihr Zuhause, obwohl sie viele Jahre nicht hier gewohnt hatte. In Gisas Haus bei ihrer Tochter und deren Familie zu leben, seit sie zehn Jahre alt geworden war, hatte daran nichts geändert. Sie war zurückgekehrt zu einem Leben auf diesem Berg, wo es nur um das Salz ging, dem Mittelpunkt all ihres Schaffens. Wie alle anderen brachte sie dem Berg und seiner Göttin Respekt entgegen, Demut und Dankbarkeit. Aber niemals Angst. Wie hätte sie sich vor der Berggöttin fürchten können, die ihrer Familie alles schenkte, was sie benötigte?

Nein, es war nicht die Göttin oder ihr Berg, die sie bedrohten, in den Nächten, wenn sie schweißgebadet aus dem Schlaf fuhr. Es war die Hand eines Menschen, der sie festhielt, brutal und schwer. Immer und immer wieder musste sie es durchleben, als wäre es nicht genug, es ein einziges Mal erduldet zu haben. Die Angst und das Entsetzen, die Hilflosigkeit.

Auch ohne diese Träume wurde sie ständig daran erinnert, während sie es gleichzeitig vor ihrer Familie verbarg. Es war ausgeschlossen, mit ihrem Vater darüber zu sprechen oder mit Catha und Dirwen. In ihrem Inneren sollte es verschlossen bleiben wie das Salz im Berg, das nur mit Gewalt und der Einwilligung der Göttin hervorgeholt werden durfte. Tagsüber gelang es Adine, dieses Geheimnis fortzuschieben. Doch nachts …

Vor langer Zeit hatte sie beschlossen, am Morgen nicht mehr wütend zu werden, wenn ihr dieser Traum in der Nacht geschickt worden war. Außerdem hatte sie im Laufe der Jahre erkannt, um wie viel besser es ihr ging, wenn sie solche Tage alleine verbrachte. Vor allem Catha musste sie aus dem Weg gehen.

Als sie damals nach Hause gekommen war, verstört und in sich gekehrt, hatte Catha sich Mühe gegeben herauszufinden, was geschehen war. Adine hatte nicht darüber sprechen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Wenn sie zeichnen könnte wie die Schmuckmacher, die verschlungene Ornamente schufen, in denen allerlei Getier und Gesichter versteckt waren, dann vielleicht hätte sie ihrer Tante klarmachen können, was ihr passiert war. Aber mit Worten?

Selbst wenn es ihr möglich gewesen wäre, sich mitzuteilen, hätte sie es sich nicht erlaubt. Denn es ging nicht nur um sie …

Als das erste Jahr vorüber gewesen war und ihre Gedanken klarer geworden waren, hätte sie die Worte finden können und den Mut, sie auszusprechen. Doch damals schien Catha das Schweigen ihrer Nichte bereits akzeptiert zu haben, und womöglich glaubte sie ihr seither, wenn Adine versicherte, dass es ihr gut ging.

Vielleicht war es gar keine Lüge. Es ging ihr nicht schlecht. Sie war zu Hause bei ihrer Familie und wurde von allen geschätzt. Sie lobten sie für ihre unentwegte Arbeit an diesem Ort, mit dem sie verwurzelt war, so wie ihre Ahnen, die oben im Hochtal lagen, seit Generationen. Die an diesen See gekommen waren, um von hier aus das Salz zu verteilen, aber auch, um zu beten.

Sie hatte nicht mehr so viel Angst, wenn ihr der Traum geschickt wurde, aber sie wurde wütend. Sie kam hierher, an das Ufer des Sees, tauchte ihr Gesicht unter Wasser und schrie dem Seegeist ihren Zorn entgegen. Der nahm ihn an und schuf daraus die Kraft, die sie brauchte, um wieder Ruhe in sich zu finden.

Bis zum nächsten Traum.

*

Mit der eisigen Kälte des Seewassers verschwand das dumpfe Gefühl, das der Traum hinterlassen hatte. Sie hockte ein wenig abseits der Stege, auf denen ein paar Frauen und Männer standen. Offensichtlich besprachen sie, woran sie heute arbeiten wollten. Es gab eine Menge zu tun in den Bootshäusern und den Werkstätten, die ihr Vater vor einigen Jahren errichten lassen hatte. Die Leute beachteten sie nicht, so wie es sich gehörte, wenn jemand zum See kam, um sich an seinen Geist zu wenden.

Adine verschenkte die Hälfte ihres Brotes an die Enten, die in der Nähe des Ufers schwammen und sie aufmerksam beobachteten. Sie sah ihnen zu, wie sie um die Brotstücke stritten. Als der letzte Krümel verspeist war, bedankte sie sich mit einem kurzen Gebet und stand auf. Sie hatte wenig Lust zurückzukehren, aber es war zu kalt, um zu bleiben. Sie hätte in jedem der Häuser am Seeufer um einen Platz am Feuer bitten können, doch sie wollte lieber alleine sein.

Langsam stieg sie auf dem gewundenen Pfad den Steilhang hinauf. Oben angelangt, ließ sie sich Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, und schaute hinunter auf den See. Es war nur wenig heller geworden, seit sie früh am Morgen das Haus verlassen hatte. Immer noch hingen Dunstschwaden zwischen den Berggipfeln, und die Luft fühlte sich feucht an.

Sie hatte den unteren Teil des Hochtals beinahe hinter sich gelassen, als sie Stimmen hörte. Von oben kam ihr jemand entgegen. Adine seufzte. Sie wollte niemanden sehen. Rasch bog sie auf den schmalen Pfad, der von hier den Hang hoch und zurück zum Friedhof führte. Wer auch immer da vom Dorf nach unten marschierte, würde sie sehen, aber in Ruhe lassen.

Auf diesem Pfad hatte sich bisher niemand darum gekümmert, Steine und feuchtes Laub zu entfernen. Vorsichtig setzte sie ihre Schritte, um nicht auszurutschen. In der Nähe der ersten Gräber steckte ein Pfosten in der Erde. Adine blieb stehen und legte beide Hände auf das rissige Holz. Sie bat ihre Ahnen um Erlaubnis, in ihre Mitte treten zu dürfen.

Es war lange her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Ob sie die Stelle, wo ihre Mutter begraben lag, finden würde? Catha kannte sich an diesem Ort bestens aus, so wie ihr Vater, aber Adine war immer unsicher, wenn sie alleine auf dem Friedhof war. Die kleinen Erhebungen waren schwer zu erkennen und vor allem die älteren Gräber stark überwuchert. Ihre Mutter war vor vielen Jahren gestorben.

Während sie umherwanderte, versuchte Adine, sich an sie zu erinnern. Doch es war Cathas Gesicht, das ihr in den Sinn kam. Sie hatten einander ähnlichgesehen, die beiden Schwestern. Niemand würde je wissen, auf welche Weise sich Adines Mutter verändert hätte, wenn sie älter geworden wäre.

Irgendwo hier lag sie, neben zahllosen anderen Frauen und Männern, die einst auf dem Salzberg gelebt hatten. Der Friedhof zog sich den ganzen Hang entlang. Adine konnte sich nicht vorstellen, wie viele es sein mochten, deren Namen niemand mehr wusste, weil sie vor so langer Zeit gestorben waren.

Unsere Familie war immer schon hier, sagte ihr Vater oft.

Adine hätte gerne gewusst, wie sie geheißen hatten, all diese Vorfahren, aber die Erinnerung war irgendwann verloren gegangen. Ob auch Ina hier lag? In einem der ältesten Gräber? Die Frau, die alle Menschen vor der Bedrohung in Sicherheit gebracht und hoch oben auf dem Berg das neue Dorf gegründet hatte …

Sie schüttelte den Kopf. Niemand wusste, ob sie überhaupt gelebt hatte. Wie sollte dann jemand ihr Grab kennen?