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Manon (1804) Der Instinct (1804) Meister Dietrich (1809) Magister Rößlein (1810) Haushahn und Paradiesvogel (1813) Der Todesengel (1814) Vergib uns unsere Schuld (1814) Der schwarze See (1815) Das Gastmahl (1815) Das Schwert und die Schlangen (1816) Das Bild der Mutter (1817) Die Schatzgräber (1819) Die weiße Rose (1820) Aus Herr Balthasars Leben (1821/23)
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Seitenzahl: 864
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Carl Wilhelm Salice Contessa
Sämtliche Erzählungen und Märchen
Inhalt
Manon (1804)
Der Instinct (1804)
Erstes Kapitel. • Zweites Kapitel. • Drittes Kapitel. • Viertes Kapitel. • Fünftes Kapitel. • Sechstes Kapitel. • Siebentes Kapitel. • Achtes Kapitel. • Neuntes Kapitel. • Zehntes Kapitel. • Eilftes Kapitel. • Zwölftes Kapitel.
Meister Dietrich (1809)
Magister Rößlein (1810)
Haushahn und Paradiesvogel (1813)
Erstes Kapitel • Zweites Kapitel • Drittes Kapitel • Viertes Kapitel • Fünftes Kapitel • Sechstes Kapitel • Siebentes Kapitel • Achtes Kapitel
Der Todesengel (1814)
Vergib uns unsere Schuld (1814)
Der schwarze See (1815)
[1.] • 2. • 3.
Das Gastmahl (1815)
Das Schwert und die Schlangen (1816)
Erstes Kapitel.
Von der Oedenburg und ihren Bewohnern. Meister Ezzelino mit dem Dachsränzelein.
Zweites Kapitel.
Die Geschichte von dem König mit den Schlangen. Raimunds Schwur.
Drittes Kapitel.
Das Alpenröslein. Raimund reist ab.
Viertes Kapitel.
Das erste Abenteuer. Wie Raimund zu dem Schmid kommt.
Fünftes Kapitel.
Das zweite Abenteuer. Thorhilde und die Waldkönigin.
Sechstes Kapitel.
Das dritte Abenteuer. Was sich mit Bolko in der Burg zugetragen.
Siebentes Kapitel.
Das vierte Abenteuer. Wie Raimund sich das Schwert gewinnt.
Achtes Kapitel.
Beschluß.
Das Bild der Mutter (1817)
Erstes Kapitel. • Zweites Kapitel. • Drittes Kapitel. • Viertes Kapitel. • Fünftes Kapitel. • Sechstes Kapitel. • Siebentes Kapitel. • Achtes Kapitel. • Neuntes Kapitel. • Zehntes Kapitel. • Eilftes Kapitel. • Zwölftes Kapitel.
Die Schatzgräber (1819)
1 • 2 • 3 • 4 • 5 • 6 • 7 • 8 • 9 • 10
Die weiße Rose (1820)
Aus Herr Balthasars Leben (1821/23)
Erstes Blatt. • Zweites Blatt.
Fußnoten
Mancher Deutsche, der um das Jahr 1800 in Paris war, erinnert sich vielleicht, unweit des Louvre ein Frauenzimmer gesehen und gehört zu haben, die des Abends, gewöhnlich auf der Seite nach dem Carousselplatz, zwischen einem Haufen von rohen und behauten Steinen saß, und das Mitleid der Vorübergehenden durch ihr Spiel und ihren Gesang in Anspruch nahm.
Ich fand sie dort eines Abends von einem kleinen Kreise von Zuhörern umgeben. Ich wollte vorübergehen; die sanfte klagende Stimme hielt mich fest; ich blieb stehen. Das Lied ging eben zu Ende; niemand trat aus dem Kreise; alles blieb still und schien erwartungsvoll aufzuhorchen. Das Gesicht der Sängerin war mit einem schwarzen Schleier bedeckt; eine Guitarre ruhte in ihrem Arm. Neben ihr saß eine alte Frau, eine Untertasse auf dem Schooß haltend, worin sich die milden Gaben der Zuhörenden sammelten.
In leisen Accorden fing die Guitarre wieder an; die schwache, aber angenehme Stimme fiel ein. Sie sang das Schicksal des Unglücklichen, der von Allem verlassen sein Brod von fremder Hand erbittet. mit welchem Ausdruck! mit welcher Innigkeit! Töne wie diese, die unter dem schwarzen Schleier hervordrangen, waren mir fremd aus einer französischen Kehle. Ich fühlte mich im Innersten bewegt.
Als es neun Uhr geschlagen hatte, stand die Sängerin auf und ging. Ich folgte. Es war eine schlanke Gestalt. Sie eilte mit ihrer Begleiterin über den Pontneuf nach der Vorstadt St. Germain, und schlüpfte in einer kleinen Straße in ein altes Haus hinein. Ich stand einige Augenblicke unschlüssig, ob ich ihr folgen sollte; Mitleiden und Neugierde siegten: ich kroch ihr die dunkeln steilen Treppen bis in das fünfte Stockwerk nach. Hier öffnete sie ein kleines Stübchen, in welchem eine Lampe brannte, und trat hinein, ohne mich bemerkt zu haben.
Da ich laut sprechen hörte, näherte ich mich der Thüre, als sie plötzlich sich öffnete, und die alte Frau, eine Lampe in der Hand, vor mir stand. Meine Verlegenheit war nicht geringer, als ihr Schreck. Sie wich ein paar Schritte zurück; ich nahm mich zusammen, und folgte ihr, einige Entschuldigungen hervorstotternd. Meine Sängerin war bei meinem Anblick aufgesprungen, und kam mir ängstlich entgegen. Ich sagte ihr, wie mich der Gesang aufs innigste gerührt, und die Hoffnung, ihr vielleicht nützlich seyn zu können, mich bewogen hätte, ihr nachzufolgen. Sie machte eine kleine Verbeugung. — Monsieur — fing sie an, und schien im Begriff, mir Dank zu sagen; aber plötzlich, als ob sie sich anders besänne, rief sie sich selbst unterbrechend aus: nein, nein, mir kann Niemand helfen! hastig ergriff sie meine Hand, und führte mich an ein Bett, worin ich jetzt erst einen jungen Mann erblickte, der, ohne mich zu bemerken, emsig mit etwas beschäftigt war, das vor ihm auf der Decke lag. Ich sah hin; es waren allerlei kleine Figuren aus Papier geschnitten, die er sich zu ordnen bemühte. Manon, Manon, rief er mit heiserer Stimme, doch ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen. Sie trat zu ihm, und strich ihm mit der Hand die schwarzen Haare aus der Stirne: was willst du, mein armer Martinet? — »Du mußt mir einen neuen Kaufmann machen. Dieser wird heute septembrisirt mit seiner Frau; auch die kleine Iphigenia muß dran.« — Er schlug die Augen in die Höhe, und sah Manon mit einem stieren Blick und fürchterlichem Grinsen an. Ich wendete mich schaudernd von ihm weg.
Sehen Sie, sprach Manon, dieser Unglückliche da ist mein Mann, mein Wohlthäter! O man ist schrecklich mit ihm umgegangen. Er hat gelitten wie sein Erlöser. Auch jetzt hat man ihn mir nehmen wollen, fuhr sie fort; aber ich werde ihn nur mit meinem Leben verlassen.
Nein, mein armer Martinet, Manon verläßt dich nicht! — Sie setzte sich an sein Bett, und küßte seine Hand.
Ich sah mich in dem Stübchen um. Das Bette ließ kaum noch Raum für einen Tisch, und zwei alte Stühle. Hinter dem Bette stand ein Betpult, über welchem ein Kruzifix und einige Heiligenbilder hingen.
»Sie werden neugierig seyn, fing Manon wieder an, zu wissen, was uns in diesen Zustand gebracht hat, und ich habe nichts zu verschweigen. Meines Mannes Vater war ein Kaufmann in der Straße St. Honoré, der diesem einzigen Sohne mit seiner Handlung ein beträchtliches Vermögen zu hinterlassen dachte. Ich wohnte mit meiner Mutter in dem anstoßenden Hause. Wir lebten von Nähen und Waschen. Mein armer Martinet lernte mich kennen; es sind nun bald zehn Jahre; es war an einem Sonnabend — ich werde den Tag nicht vergessen — ich ging bei seinem Hause vorüber mit einem Körbchen, worin feine Wäsche lag. Er kam eben aus dem Hause. Das Körbchen wurde mir im Gedränge aus der Hand gerissen; die Wäsche fiel auf die Erde; er sprang hinzu und half sie mir wieder auflesen. Ich wollte ihm danken; er sprach einige freundliche Worte mit mir; ich ging, er blieb stehen, und beim Umbiegen um die Straßenecke bemerkte ich, daß er noch auf demselben Flecke stand und mir nachsah. — Die Bekanntschaft war gemacht; wir sahen uns öfter, und er gewann mich lieb.
Seinen Aeltern war es nicht zu verdenken, daß sie den Umgang mit mir strafbar fanden. Sie waren so reich, und ich ein so armes Mädchen. Auch ist Gott mein Zeuge, daß ich nicht den Willen hatte, ihn für mich zu behalten. Wie oft habe ich ihn mit Thränen gebeten, seinen Aeltern zu gehorchen, und mich zu lassen, ob es gleich mein Abgott war! — Ach diese Güte, diese Liebe! — Wenn er zu uns kam, dann setzte er sich in den großen Lehnstuhl, — es ist derselbe, auf dem Sie sitzen — und ich mich zu seinen Füßen auf jenes kleine Tabouret. Ich sah ihm in die großen schwarzen Augen oder auf die freundlichen Lippen, wenn er sprach; ich drückte seine Hände an meine Brust; ich unterbrach ihn mit einem schnellen Kusse, und wir vergaßen dann oft unser Gespräch, und alles um uns her. In dieser ganzen Zeit habe ich wenig gebetet. Mein Herz litt keinen andern Gedanken, als an ihn; ja, ich machte mir beinahe ein Verbrechen daraus, wenn mich einmal auf einen Augenblick etwas anders beschäftigt hatte. Es war, als ob ich ihm dadurch etwas entzöge.« —
Der Wiederschein dieser schönen Zeit schien ihre blassen Wangen zu röthen. Sie warf einen Blick nach dem Bett, und verhüllte ihr Gesicht mit dem Schnupftuche.
»Ich will kurz seyn, fuhr sie nach einer Pause fort. Meine gute Mutter starb. Gott nahm sie zu sich, damit sie das Elend ihres Kindes nicht sähe. — Martinets Aeltern wollten mit Gewalt erzwingen, was ihre Güte nicht vermocht hatte: da verließ er das väterliche Haus, beredete mich mit ihm zu gehen. Wir bezogen ein kleines Zimmer im entlegensten Theile dieser Vorstadt. Der Vater wollte nichts mehr von seinem Sohne wissen; aber wir verloren den Muth nicht. Mein Mann gab Unterricht im Zeichnen und in der Musik; ich stickte und nähte. — So lebten wir kümmerlich bis ins Jahr 1793, und wußten kaum etwas von der Revolution, als um diese Zeit meines Mannes Vater als verdächtig angeklagt und, gefänglich eingezogen wurde. — Sie sind fremd, mein Herr; Sie wissen nicht, was dies damals zu bedeuten hatte. — Seine Frau wollte sich nicht von ihm trennen. Mein armer Martinet eilte hin, als er es erfuhr, erhielt die Erlaubniß mit seinen Aeltern zu sprechen. Das Unglück macht weich. Vater und Sohn versöhnten sich. Auch mir vergönnte man, sie zu besuchen; ich brachte ihnen täglich etwas zu essen. — O mein Gott! die armen alten Leute! Sie waren es besser gewohnt. — Manchmal wenn ich des Morgens hinkam, knieten sie beide in einem Winkel, und beteten mit Inbrunst; dann gingen sie mir entgegen, und umarmten mich und wollten mir danken, aber das ertrug ich nicht: ich warf mich vor ihnen nieder, ich umschlang ihre Kniee, und wir weinten mit einander.
Im August wurden sie nach der Abtei gebracht, und wir durften sie nicht mehr sehen. Unterdessen hatte mein Mann alles versucht, um ihre Freiheit zu erhalten, es war vergebens. — Den 2. September kam das Gerücht von der Ermordung der Gefangenen. Martinet eilte zitternd nach der Abtei — Gott der Barmherzigkeit! Ich habe nur Worte und Thränen. — Als er hinkommt, da bringen die Henker seinen Vater geführt! Er dringt in den Kreis, er umklammert seinen Vater, er stürzt den Mördern zu Füßen: man mißhandelt ihn, man wirft ihn zu Boden, und sein Vater mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, die ihn nicht verlassen wollten, werden vor seinen Augen niedergemetzelt. Ein paar mitleidige Nachbarn nehmen sich seiner an; sie bringen ihn mir ins Haus, blutend, ohne Leben. — Kaum aber hatte er die Augen wieder aufgeschlagen, da kam die Mörderrotte, riß ihn mit Gewalt aus meinen Armen, und vergönnte mir nicht einmal, sein Schicksal zu theilen. — Ach, ich spreche nur kalte Worte! — Wohin man ihn gebracht hatte, erfuhr ich nicht; ich hielt ihn für todt. Ein hitziges Fieber warf mich nieder; vier Wochen lag ich ohne Bewußtseyn. Als ich wieder besser ward, und die Erinnerung des Vergangenen zurückkehrte, wie oft habe ich da zu Gott gefleht, daß er mir den Tod senden möchte; aber der Allmächtige wußte besser, was mir gut war. Ich mußte ja noch meines armen Martinets Pflegerin seyn.
Es war im Juni des folgenden Jahres, da bringt ein Bekannter mir die Nachricht, daß mein Mann noch lebe, und bald seine Freiheit wieder erhalten werde. In dem Augenblicke waren alle Leiden vergessen; ich frage, ich verlange auf der Stelle zu ihm gebracht zu werden. mit Thränen in den Augen bittet mich der Mann, meine Freude zu mäßigen, verspricht mir bald weitere Nachricht, und läßt mich zwischen ungeduldiger Sehnsucht und ängstlicher Erwartung schwankend zurück. — Einige Tage darauf klopfte es an meiner Thüre; derselbe Freund tritt herein. Erschrecken Sie nicht, ruft er mir zu; die Thüre öffnet sich noch einmal; es ist mein unglücklicher Martinet, blaß, hager, mit verworrenen Haaren. Ich schreie laut auf, ich werfe alles von mir, was ich in den Händen hatte, ich fliege auf ihn zu; er sieht mich starr an. Manon, schreit er mit verzerrten Zügen und schlägt ein gräßliches Gelächter auf. — Er hatte den Verstand verloren! — Jetzt wissen Sie genug. Meine Zunge ist Eis, aber hier,« indem sie sich heftig an die Brust schlug, »hier — —«
Sie kniete am Bette nieder, und verbarg das Gesicht.
Ich legte meine Börse auf den Tisch, drückte ihr die Hand, und ging schweigend und mit zerrissenem Herzen.
Eine kleine Reise entfernte mich auf einige Wochen aus Paris. Am andern Morgen nach meiner Rückkehr eile ich, die arme Manon zu besuchen. Ich klopfe an die Thüre; niemand antwortet; ich öffne sie: die alte Frau sitzt vor dem Bette; über das Bett ist ein weißes Tuch gebreitet. — Wo ist Manon? — Sie schläft, antwortete die Alte weinend, und schlug das Tuch zurück. — Sie schlief den Schlaf, von dem kein Erwachen ist. Der oft vergebens gerufene Erretter hatte sie endlich erbarmend in seine Arme genommen. Die Augen waren geschlossen; auf den Lippen hatte die befreite Seele noch ein leichtes Lächeln zurückgelassen. Ihr Antlitz war, wie Tasso sagt, ein nächtlicher, doch heiterer Himmel1.
Die Alte erzählte mir, daß der arme Martinet vor wenig Tagen gestorben sey. — Seine treue Manon war ihm bald gefolgt.
Eine Erzählung
Erstes Kapitel.
Der Oheim trat in Eduards Zimmer, eine Tasse Kaffee und seine Pfeife in der Hand, wie es seine Gewohnheit war, wenn er diesem etwas vorzutragen dachte.
Schon wieder fort? fragte er, als ihm Eduard mit Hut und Reitpeitsche entgegen kam. Schon wieder herumstreifen?
Es wird mir hier zu eng im Schloß, lächelte Eduard; ich muß, ich muß ins Weite.
Ins Weite, nur immer ins Weite! sagte der Oheim, indem er seine Last in die angenehme Beschränkung des Sofakissens senkte — Als ob es dort anders wäre, so lange man nicht selbst anders wird! Ich liebe das nicht. Man kann heut zu Tage beinah kein Buch mehr aufschlagen, ohne daß einem daraus diese unendliche Sehnsucht nach der Weite und Ferne wie ein Thauwind ins Gesicht bliese.
Auch das Höchste wird gemißbraucht, lieber Onkel. Aber werfen Sie nur einen Blick zum Fenster hinaus. Welche Frische, welcher Glanz nach dem nächtlichen Gewitter! Ist es nicht, als ob die Natur von dem Geliebten erzähle, der heut Nacht bei ihr war? — Ich wette, Sie bekommen selber Lust zu einem Spatzierritt.
Ein andermal, Eduard. — Du bist doch zum Mittagessen wieder hier? — Wir haben Gesellschaft, und es giebt mehrere Gründe, die mich deine Gegenwart wünschen lassen.
Vermuthlich wieder ein Gastmahl von weiblichen Vollkommenheiten zehn Meilen in die Runde? Aufs Butterbrod gestrichene Empfindsamkeit und häusliche Tugenden mit einer Meerrettigsauce, daß einem die Augen übergehen; zum Nachtisch gefrorne Sentiments und Gelee von zartem Gefühl? Nicht wahr, Onkelchen? — Oder eine Kunstausstellung von gemahlten Statuen und hölzernen Gemählden? Eine Preisbewerbung um meine kostbare Hand?
Es wäre mir lieb, Herr Neffe, wenn du endlich anfingst, dich um ein wenig Vernunft zu bewerben. Wie lange soll das unstäte Leben ohne Zweck noch währen? Du bist einmal der Erbe meines Vermögens, der Herr dieser schönen Güter — —
Mein gütiger Oheim beglückt keinen Undankbaren.
Lyrum, larum! Heirathe, bring’ mir eine freundliche, hübsche Nichte ins Haus; das ist die beste Manier mir deinen Dank zu zeigen.
An mir liegt die Schuld nicht, wenn es nicht schon längst geschehen ist; davon sollen Sie sich heute wieder überzeugen. Ich werde die Schönen mit großer Aufmerksamkeit recognosciren; ich werde ihnen Gelegenheit geben, die Batterien aller ihrer Reize auf mich spielen zu lassen, und gelingt es einer von ihnen, meinem Herzen auch nur eine Contusion beizubringen, so gebe ich Ihnen mein Wort, ehe der Sommer vergeht, umschließ’ ich das wilde Leben mit dem Pferch der heiligen Ehe und hänge meine goldne Freiheit in den Rauch, um sie mir schnittchenweise zu Beförderung der Verdauung von meiner Frau zuschneiden zu lassen! — Guten Morgen, lieber Onkel!
Damit sprang er hinaus und warf sich auf das Pferd. Der Onkel erhob sich kopfschüttelnd und ging, seine Toilette zu machen.
Der Mittag war über Eduards Erwartung angenehm hingegangen. Man hatte sich zwar in hergebrachter Steifheit zu Tische gesetzt, und die erste Viertelstunde war lediglich dem Lobe des schönen Wetters und der delikaten Krebssuppe gewidmet worden, allein der Wein und ein paar muntre Köpfe in der Gesellschaft warfen bald Leben in das todte Meer. Eduard fand überdieß seine blonden Nachbarinnen der Aufmerksamkeit nicht unwerth, und der Oheim war selig an der Seite einer lebhaften Brünette, die seine kleinen Galanterien mit vertraulicher Neckerei erwiederte.
So stand die Sonne schon ziemlich tief, als die Gesellschaft sich erhob, um im Garten den Kaffee zu trinken, der sie in einer geräumigen hohen Laube erwartete. Man hatte dort die Aussicht auf das frische Grün eines weiten Rasenplatzes, den die mannigfaltigsten Baumgruppen begränzten.
Welche seltsame Gestalt kommt dort auf uns zu! — rief die muntre Brünette. — Sieht der Mann nicht so fremdartig aus, wie ein auf die Erde gefallener Mondbewohner?
Oder wie ein Genie,— bemerkte einer, — welches der deutsche Patriotismus eben um des Fremdartigen willen verhungern läßt oder einsperrt.
Es ist dennoch etwas nobles in der Figur — fiel ein Andrer ein. Vielleicht ein vacirender Minister oder wohl gar ein vertriebner Kronprätendent. Man kann heut zu Tage nicht wissen.
Unter diesen Bemerkungen hatte sich ein langer hagrer Mann genähert, dessen Kleidung aus der Trödelbude zusammengewürfelt schien. mit abgezognem Hute und vielen Complimenten bat er um die Erlaubniß, eine hohe Gesellschaft durch ein kleines Conzert unterhalten zu dürfen. Sie wurde ihm mit Freuden zugestanden. Er trat hinaus und winkte mit dem Hute; drei andre Männer, zwei Knaben und zwei junge Mädchen kamen aus dem Gebüsch; eine ältliche Frau blieb in einiger Entfernung zurück. Sie stellten sich in einen Halbkreis um ihren Anführer, dem man jetzt eine Violine überreichte, und gaben der Gesellschaft eine Musik, welche die angenehmste Wirkung nicht verfehlte. Von den beiden Mädchen, welchen der schwarze Rock mit dem kurzen Leibchen von gleicher Farbe, und das rothe Mieder mit silbernen Knöpfen und Schnüren gar artig stand, spielte die ältere die Harfe, die jüngere blies die Flöte oder schlug das Tambourin, das an ihrem Gürtel hing.
Während die Musik nach und nach schwächer ward, zogen sich die Spielenden allmählich auf die Seite, bis auf den ältern Knaben, der mit seiner Flöte in der Mitte des Platzes stehen blieb. — Jetzt war alles still. Der Flötenspieler fing eine langsame doch frohbewegte Melodie an; von Zeit zu Zeit antwortete ihm ein Waldhorn mit den übrigen Instrumenten wechselnd in gedämpften Tönen. Endlich schwiegen diese gänzlich und die Flöte rufte ihnen vergebens in einzelnen Klagelauten. Die Harfenspielerin trat hervor Und sang, sich auf ihrem Instrument begleitend, mit großer Anmuth die folgenden Verse:
Wer weckt mit seinen Klagen, des Waldes Wiederhall? Willst du dein Leid mir sagen, du süße Nachtigall?
Du sprichst zu meinem Herzen; es hört voll Sehnsucht zu. Ich fühle deine Schmerzen, ich leide so wie du.
Laß unser Leid uns sagen, du traute Nachtigall! Es töne unsern Klagen des Herzens Wiederhall.
Die Harfe ging in leisen Accorden weiter. Die Flöte ließ sich noch in einigen Tönen vernehmen, dann sang der Knabe mit einer angenehmen Stimme zur Antwort:
In unsern Blüthetagen, da lächelt uns das Glück, da spricht auf unsre Fragen das Leben hold zurück.
Bald geht der Pfad mit Neigen durch öde Wüstenein; die holden Stimmen schweigen und lassen uns allein.
Hier fiel die erste Stimme mit ein, und beide sangen in inniger Bewegung:
Doch sieh, durchs Herz zieht Friede, wie Mondschein durch die Nacht: es ist dem Leid im Liebe ein süßer Trost erwacht.
Im Liede blüht das Leben uns schöner wieder auf, und auf den Tönen schweben wir fröhlich himmelauf. —
Als nun die übrigen Instrumente in die Melodie einfallend, den Schluß machten, erschallte den Sängern der allgemeinste Beifall. Jeder suchte ihnen etwas verbindliches zu sagen, und als man erfuhr, daß Idee und Ausführung von dem allen der schönen Sängerin selbst verdankt werde, so trug dies nicht wenig dazu bei, das Interesse zu erhöhen, welches ihre angenehme Gestalt und ihr Gesang erzeugt hatten. Eduard besonders fühlte Empfindung und Fantasie aufs lebhafteste angeregt. Er wünschte sehnlich, mit diesem wunderbaren Wesen in nähere Bekanntschaft zu treten, und hätte dem Oheim um den Hals fallen mögen, als dieser durch eine Einladung auf sein Schloß für die Befriedigung dieses Wunsches sorgte. Der Anführer der kleinen Gesellschaft betheuerte, daß er die hohe Gnade mit dem dankbarsten Herzen zu schätzen wisse, und zur Recreation und Satisfaction einer gnädigen Versammlung alle seine Kräfte aufbieten werde. Darauf ließ er noch einige Musikstücke folgen, die feinen Leuten Gelegenheit gaben, die Fertigkeit eines jeden auf seinem Instrumente an den Tag zu legen, und es darüber anfing dunkel zu werden, so brach endlich alles auf und zog paarweis unter Voraustretung der Musik nach dem Schlosse zurück.
Am andern Morgen brachten die neuen Gäste der beim Frühstück versammelten Gesellschaft ihren Morgengruß in einigen artigen Liedern, die sich alle durch Gefälligkeit, oft durch Neuheit und Originalität auszeichneten.
Jetzt hatte man bessere Gelegenheit, die interessanten Ankömmlinge zu mustern. Die Damen fanden halb bäurische Tracht der beiden Mädchen und die flammenden Augen des ältern Knaben, dessen Gesichtszüge die fremde Abkunft verriethen, recht hübsch; die Aufmerksamkeit der Männer ward ungetheilt jenen beiden zu Theil. Wenn auch die ältere die regste Theilnahme für sich hatte, so zog doch das runde Gesichtchen der jüngern mit der kleinen verschmitzten Nase und den frischen Rosenlippen sehr viele auf seine Seite. Eduard bemerkte mit Unruhe, daß der Onkel zu den erstern gehörte, und sich ungewöhnlich geschäftig um die schöne Sängerin bewies.
Unterdeß hatten sich einige an den hagern Anführer gemacht, und ihn über seine Lebensgeschichte befragt. — Ich getraue mich zu behaupten, antwortete er, daß meine Schicksale, mit gehöriger Ordnung und Ausführlichkeit erzählt, zu nicht geringem Divertissement einer hohen Gesellschaft gereichen würden. Ohne mir in Dero Augen einen Werth geben zu wollen, mag ich wohl sagen, daß ich zu gegenwärtigem armseligen Stande nicht geboren und erzogen war; allein ich schien von Jugend auf, wenn ich mich also exprimiren, darf, zum wahren Lastesel und Sündenbock aller Narren und Spitzbuben bestimmt zu sein. N’est pas toujours heureux, qui est digne de l’être.
Die weitern Fragen über seine Begleiter brach er kurz mit der Versicherung ab, daß sie alle zu seiner Familie gehörten.
Thätig und unverdrossen sorgte er nun für die tägliche Unterhaltung der Anwesenden. Einige Dilettanten unter den letztern und ein paar Bediente des Onkels, die etwas musikalisch waren, traten der Familie bei, und man hatte alle Abende ein ziemlich wohl besetztes Conzert. Das beliebteste aber blieben immer die Lieder und Scenen, welche die Harfnerin, von ihrer jüngern Gefährtin und dem Flötenspieler unterstützt, zum besten gab. Die beiden letztern führten auch ein paarmal pantomimische Tänze mit ungemeiner Behendigkeit und Zierlichkeit auf.
Indeß war Eduard dem Gegenstande seiner Bewunderung und seiner Wünsche um keinen Schritt näher gekommen, denn das Mädchen wich jedem Versuche zur Annäherung, der von ihm oder von andern gemacht wurde, höflich aber ernst zurückweisend aus, und er sah sich also lediglich auf Blicke und kleine Dienstleistungen gestellt, um ihr den Zustand seines Herzens zu erkennen zu geben. Des Abends spät, wenn alles im Schlosse still war, schlich er sich regelmäßig in einen großen leer stehenden Saal, in welchem alte Waffenrüstungen hingen, und der an das von dem Alten mit seiner Frau und den beiden Mädchen bewohnte Zimmer stieß. Dort vergönnte ihm eine mitleidige Spalte in der Thür zuweilen noch den Anblick der Geliebten im züchtigen Negligee, oder ließ den Wohllaut ihrer Stimme zu seinen entzückten Ohren gelangen.
Als er eines Abends sich auf seinen gewöhnlichen Posten begeben wollte, war in dem anstoßenden Zimmer schon alles still. Eine Lampe flackerte erlöschend auf dem Tische. Er schloß daraus, daß die Familie schon zu Bette sey, und war im Begriff, seinen Rückzug anzutreten. In dem Augenblick öffnete sich ihm gegenüber die andere Saalthür leise knarrend; es trat jemand behutsam herein und näherte sich auf den Zehen. Es war so finster, daß Eduard durchaus nichts erkennen konnte. Er drückte sich in eine Ecke und beschloß den Ausgang abzuwarten. Die leisen Schritte des Ankömmlings gingen nach dem Orte zu, den er eben verlassen hatte, und schienen sich, nach einigen schweren Seufzern , eben wieder davon zu entfernen, als plötzlich auf der andern Seite eine der alten Waffenrüstungen mit Donnergeprassel zur Erde stürzte. Ein lauter Schrei ließ sich in der Mitte des Saales hören; darauf war alles still. Eduard, dem es unheimlich zu Muthe ward, suchte tappend die große Mittelthür zu erreichen, stieß aber auf ein Mal hart an jemand an. Wer da? wer da? erschallte es hinüber und herüber, doch erfolgte von beiden Seiten keine Antwort, und Eduard bemühte sich desto eiliger die Thür zu finden. Allein da vermuthlich die andere Person von gleichem Verlangen getrieben war, und ihren Rückzug nicht minder beschleunigte, so konnte es nicht fehlen, daß sie nicht beide im nächsten Augenblick zum zweiten Male an einander rennten. In der Angst griff Eduard zu; der Ergriffene aber fing gräßlich an zu schreien: wer da? Hülfe! Licht! Diebe! Mörder! Die Seitenthür sprang auf, es ward hell, die ganze Künstlerfamilie stürzte erschrocken heraus. Eduards erster Blick suchte seinen Gegner und fiel — auf seinen Onkel, der mit weit geöffnetem Munde, in welchem noch einige Dutzend Diebe und Mörder zu schweben schienen, ihn anstarrte. Die Zuschauer wußten nicht, was sie denken sollten. Im lächerlichsten Aufzuge, die Nachtlampe in der Hand, stand der Vater der beiden Mädchen unbeweglich da, und seine Beredtsamkeit hatte ihn ganz verlassen. Die runde Nachthaube unter dem Kinn zugebunden, kleidete seinem langen hagern Gesicht vortrefflich, und um die Schultern hatte er in der Eile, sich nicht zu erkälten, einen Unterrock seiner Frau geworfen. Der Oheim, der, jetzt erst die Frauenzimmer bemerkend, höchst verlegen die Nachtmütze abzog und sich an sie wendete, gab ihm das Leben wieder. Er ergoß sich in einen Strom von Entschuldigungen, daß er in einem so respektwidrigen Aufzug erscheine, und seine Frau suchte vergebens ihn nach dem Zimmer zurückzubringen.
Herr Jesus, was ist das, unterbrach ihn auf ein Mal die jüngere Tochter, indem sie, sich hinter ihn versteckend, nach einem großen Tische hinwies, der mit einem rothen Teppich bedeckt in der Mitte des Saales stand — der rothe Tisch bewegt sich. Die ganze Versammlung sah erschrocken den rothen Tisch, dann sich unter einander an, und die Frauenzimmer machten Miene, davonzulaufen; Eduard aber erinnerte sich der Stimme, die er gehört hatte, ging hin, den Teppich aufzuheben, und siehe da! der Kammerdiener des Oheims kroch beschämt auf allen Vieren hervor.
Aber um Gotteswillen, fuhr ihn der Oheim an, froh, an diesem Ableiter seinen Unmuth und seine Verlegenheit entladen zu können, — was macht der Kerl da unter dem Tische?
Verzeihen Sie, gnäd’ger Herr, stotterte der Mensch, ich wollte — es sind immer so viele Mäuse hier im Saal, ich wollte eine Mausefalle aufstellen.
Was schwatzt der Pinsel, schrie der Oheim, in dieser einfältigen Antwort einen Doppelsinn argwöhnend — jetzt in später Nacht? und unter dem Tische?
Es kam endlich heraus, daß ihm ein Mädchen aus dem Schlosse hier eine Zusammenkunft zugesagt, und er bei dem fürchterlichen Geprassel der Rüstung vor Schreck dorthinunter gekrochen sey.
Eduarden kam diese Aussage verdächtig vor, denn er kannte diesen Menschen, der unter dem Schein der ehrlichsten Einfalt die größte Schlauheit verbarg. Aber wie konnte er jetzt daran denken? Er benutzte lieber die Gelegenheit, sich seiner Herzenskönigin zu nähern und ihr zu sagen, daß nur sie ihn hierhergezogen, und so das Abenteuer veranlaßt habe. Sie schlug erröthend die Augen nieder, und schwieg. Er faßte sanft ihre Hand, die sie nicht zurückzog, und drückte seine heißen Lippen darauf; da trat der Onkel hastig hinzu, entschuldigte sich nochmals bei den Frauenzimmern, wünschte gute Nacht, und zog ihn mit sich fort. Schweigend ging er voran; Eduard fühlte nicht den mindesten Beruf, das Schweigen zu brechen. An seiner Thüre sagte er, ohne sich umzusehen: gute Nacht! und Eduard eilte selig auf sein Zimmer. —
Am andern Abend, nach dem gewöhnlichen Conzert, nahm Angelika, so nannte man die Harfnerin, schweigend ihre Harfe, und nachdem sie mit einigen Accorden erwartungsvolle Stille verbreitet hatte, sang sie:
Wer klopft so spät an meine Zelle? wer ist’s bei später Nacht? — »Die Liebe steht auf deiner Schwelle und bittet: aufgemacht! Ich bringe süße Spenden, die lindern alle Pein; ich will dein Sehnen enden, drum laß mich schnell hinein.«
Was weckst du wieder das Verlangen in meiner stillen Brust? In deinen Blumen lauschen Schlangen und bald stirbt deine Lust. Was auch dein Mund versprochen, ich lasse dich nicht ein. Du hast dies Herz gebrochen, wer kann ihm Trost verleihn?
Da klopft es wieder an der Zelle. Wer ist’s bei Mitternacht? Ein treuer Freund steht auf der Schwelle und fordert: aufgemacht! Ich bringe keine Gaben, ich bringe dir blos mich. Zwei schwarze Männer graben ein Haus für mich und dich.
Du letzter Trost, o sey willkommen! Mach’ auf dein stilles Haus. Die Welt hat alles mir genommen; ich trete froh hinaus. Es bannt das trübe Sehnen des Todtengräbers Spruch; die letzten Kummerthränen verwischt das Leichentuch.
Die Harfe verhallte leise. Eduard sah Thränen in Angelika’s Augen glänzen. Sie stand auf, lehnte die Harfe an die Wand, und schlüpfte zur Thür hinaus.
Ihr Vater schien unzufrieden mit ihrem Betragen; der Onkel wollte unbefangen scheinen, es gelang ihm aber schlecht, und Eduard fühlte, daß das Barometer seiner Hoffnungen beträchtlich gefallen sey. Gern wär’ er ihr gefolgt, aber es kamen neue Gäste, die ihn zum Bleiben zwangen. Ein alter Freund des Oheims, den die Trauer um seinen im Zweikampf gebliebenen ältern Sohn lange Zeit von allen Menschen entfernt hatte, besuchte jenen zum ersten Mal wieder in Gesellschaft seines jüngern, der mit Eduard erzogen worden und jetzt nicht längst von seinen Reisen zurückgekehrt war. Die Erscheinung des jungen Diethorst setzte den Zirkel der anwesenden Damen sichtbar in Bewegung. Eduard selbst mußte sich gestehn, nie einen schönern Mann, von edlerm Anstand und ruhig sicherer Haltung gesehen zu haben. Um desto befremdender war es ihm, zu bemerken, daß er beim Erblicken von Angelika’s Vater bestürzt und wirklich in Verlegenheit zu seyn schien. Auch der Alte war betroffen und verließ sogleich das Zimmer. Eduards Freund setzte sich während einiger gleichgültigen Fragen nach jenem, den er vor einiger Zeit mit seiner Gesellschaft in einem Bade getroffen zu haben erwähnte, wieder ins Gleichgewicht, und mischte sich dann ins allgemeine Gespräch, welches er bald so zu beleben wußte, daß man erst spät aus einander schied.
Beim Erwachen am folgenden Morgen fand Eduard auf seinem Bette eine halb aufgeblühte Rose. Um den Stiel wand sich ein kleiner Zettel mit den Worten: Abschied und Andenken. Eine bange Ahndung fiel ihm auf das Herz. Er sprang aus dem Bette, kleidete sich eilig an und lief nach dem großen Saal. In dem Seitenzimmer war alles still, und er wagte es endlich, anzuklopfen. Niemand antwortete. Er klopfte stärker: kein besserer Erfolg. Nun öffnete er leise die Thüre und trat — in ein leeres Zimmer. Der Anblick machte ihn starr, und heftete ihn einige Augenblicke unbeweglich auf eine Stelle; dann aber flog er in den Hof hinab, Erkundigungen einzuziehn. Man sagte ihm, Angelika sey mit allen ihren Begleitern schon vor Tages Anbruch fortgegangen. Ein Bedienter überreichte ihm ein Billet an den Oheim, welches ihm der Alte gegeben hatte. Es enthielt Danksagungen und Entschuldigung ihrer plötzlichen Abreise, wozu ein unvermutheter Vorfall sie gezwungen. Eduard nahm das Billet, und stürmte damit in des Onkels Schlafzimmer. Dieser konnte sich die Ursache ihrer Abreise eben so wenig erklären, und schien darüber fast nicht minder unruhig zu seyn. Eduard ließ sein Pferd satteln und ritt ihnen auf dem Wege nach, den sie nach Aussage der Bedienten eingeschlagen hatten. Eine Stunde weit blieb er auf ihrer Spur, aber dann konnte ihm niemand weiter Nachricht geben. Nach langem vergeblichem Umherirren nahm er hoffnungslos den Rückweg nach dem Schlosse.
Nicht weit davon kam ihm ein Reuter entgegengesprengt. Es war Diethorst. Hast du sie gefunden? schrie er Eduard schon von weitem zu. Eduard verneinte mißmuthig. Du wirst mir meine schnelle Entfernung vergeben, fuhr jener fort, indem er sein Pferd anhielt; ein dringendes Geschäft ruft mich nach D... Leb wohl, auf baldiges Wiedersehn! — Er gab seinem Roß die Sporen und jagte weiter.
Im Schlosse fand Eduard bei seiner Zurückkunft den größten Theil der Gäste im Begriff abzureisen. Die Uebrigen folgten ihnen den andern Tag. Auch der alte Diethorst brach auf. Die Stille, die nunmehr im Hause einkehrte, so willkommen sie sonst gewesen wäre, schien dießmal seinen Bewohnern sehr lästig. Der Onkel war den ganzen Tag auf seinem Zimmer beschäftigt; Eduard strich auf der Jagd umher, und wenn beide bei Tisch zusammen kamen, gab es nur eine sehr magre einsilbige Unterhaltung. Es war, als ob jeder vor dem andern etwas verbergen wollte, und seine eignen Worte als Verräther fürchtete.
So vergingen acht Tage. Eduard konnte stundenlang vor der verwelkenden Rose stehen; er überraschte sich oft selbst über den seltsamsten Bildern und Träumen, und mußte sich gestehn, daß Angelika einen tiefern Eindruck auf ihn gemacht habe, als je ein Mädchen vor ihr.
Da trat eines Morgens sein Bedienter mit schlauer Miene in sein Zimmer. Wissen Sie schon, gnäd’ger Herr, fing er an — ? —
Was soll ich wissen? antwortete Eduard verdrießlich! Nur heraus mit der wichtigen Neuigkeit! Du weißt, ich kann die Vorreden nicht leiden.
I daß das schöne Harfenmädchen wiedergefunden ist, mein’ ich nur, versetzte Johann lächelnd. — Eduard sprang auf, und faßte ihn bei bei den Schultern. — »Sie ist bei einer Schauspielertruppe drüben im Sächsischen. In D... hat er sie selber gesehn.«
Er? Wer denn? Wer hat sie gesehn ? So sprich doch, Pinsel.
I nun, August, den der Herr Onkel weggeschickt hatte, ist gestern Abend wiedergekommen und hat mirs im Vertrauen entdeckt. Er hat sie selbst gesehn.
Eduard griff nach den Stiefeln und befahl die Pferde zu satteln. — Aber, gnäd’ger Herr, sagte Johann säumend.
Was für ein Aber?
Der Herr Onkel sind ja auch verreist.
So? — Desto besser!— So braucht er gar nichts von meiner Reise zu erfahren.
In einer halben Stunde saß Eduard mit seinem Johann zu Pferde, und trabte nach der Grenze.
In der Dämmerung des folgenden Tages zu D... angelangt, war seine erste Frage nach dem Komödienzettel. Es wurde Maria Stuart gegeben, und eine fremde Schauspielerin trat in der Rolle der Maria auf. Das mußte Angelika sein. Er eilte nach dem Schauspielhause. Eben trat Maria auf die Bühne. Es blieb ihm kein Zweifel. Zwar konnte er wegen der Entfernung, in welcher er stand, ihre Gesichtszüge nicht ganz deutlich erkennen, allein es war Angelika’s Stimme, ihr Gang, ihr schlanker Wuchs. Nur etwas größer schien sie ihm, und ihr Haar etwas dunkler; doch ließ sich das letztere leicht aus der Wirkung des Kerzenlichtes erklären.
Aber wie verschieden von dem Bilde, welches die Harfnerin in ihm zurückgelassen hatte, war der Eindruck, den heut, die Schauspielerin auf sein Herz machte. Diese Anmuth, diese Würde in Wort, Geberde und Stellung riß ihn zur Bewunderung fort. Wie eine Gottheit stand sie vor ihm im Glanze der Verklärung, und wenn er jene geliebt hatte, hätte er vor dieser die Kniee beugen und anbeten mögen. — Nicht ohne Unruhe sah er Aller Blicke auf sie gerichtet, und vernahm das Lob, das ihr allgemein zu Theil ward. Es war ihm, als ob diese Blicke, dieses Händeklatschen sie nur entweiheten; es sollte sie niemand sehen, niemand bewundern, als er. Alle männliche Zuschauer kamen ihm als Nebenbuhler vor.
Kaum war endlich Maria im letzten Akte, von Thränen und rauschendem Beifall begleitet, zum Tode gegangen, als er sich durch die Menge drängte, und nach der hintern Thür des Hauses lief, durch welche, wie man ihm gesagt, die Schauspieler zu kommen und zu gehen pflegten.
Es wurde bald lebhaft auf der Straße, die Wagen rasselten, das Schauspiel war aus. Mehrere Haufen von Nachhausekehrenden gingen an ihm vorüber. Der Name Maria war auf allen Lippen. — Nun fingen auch die Schauspieler an sich zu entfernen. Es war dunkel geworden, und Eduard fürchtete beinah, daß Angelika unbemerkt entschlüpft seyn könnte: da kommt endlich ein Frauenzimmer, einen grünen Schleier übers Gesicht, am Arm eines dicken Herrn. Es ist Maria! er erkennt sie an Wuchs und Kleidung. Es ist Angelika! Sein Herz pocht ungestüm. Er tritt ein paar Schritte hastig näher — und fliegt erschrocken drei Schritte wieder zurück: der dicke Herr war, niemand anders als der Onkel, nicht weniger erstaunt als er, über die unvermuthete Zusammenkunft. Beide sahen sich starr an; keiner wußte recht, was er thun oder was er sagen sollte. In dem Augenblicke kommt eine Postchaise die Straße herab gerasselt und hält vor dem Hause still. Ein Mann springt heraus, in welchem Eduard seinen Freund Diethorst zu erkennen glaubt. Angelika läßt den Arm des Onkels fahren, läuft auf den Fremden zu; dieser sagt ihr ein paar Worte ins Ohr, bietet ihr seinen Arm, führt sie zum Wagen, hebt sie hinein, springt selber nach — und dahin fahren sie!
Nicht leicht mögen wohl, seit dem Sündenfall unserer ersten Vettern, zwei Menschen alberner sich gegenüber gestanden haben, als der Onkel und Eduard in diesem Moment. Eduard war ganz betäubt; der Onkel faßte sich zuerst. Wollen wir nicht in den Gasthof gehen? sagte er mit kleinlauter Stimme? Eduard folgte ihm maschinenmäßig und schweigend, und so gelangten sie, ohne ein Wort gewechselt zu haben, vor die Thür des Gasthofes.
Aber lächerlich ist die Geschichte doch, kehrte sich hier der Onkel zu Eduard, sehr lächerlich, obgleich ein wenig impertinent und unbegreifllich obendrein. Wie kommst du denn hieher, Eduard?
Ich hörte gestern früh, daß Sie verreist waren, ich hatte Langeweile zu Hause, und beschloß, einmal ein paar Tage in der Stadt zu leben, wo ich freilich nichts weniger erwartete, als daß ich das Glück haben würde, Sie zu treffen, bester Oheim.
Sehr verbunden. Mich rufte ein äußerst wichtiges Geschäft hieher. Der Krieg rückt uns immer näher. Wir sprechen davon ein andermal. — Maria Stuart zog mich ins Schauspielhaus, wo du wahrscheinlich auch warst; ich erkenne höchst verwundert in der schönen Königin unsre schöne Angelika, wie du wahrscheinlich auch gethan hast; ich gehe am Ende des Stücks auf das Theater; Mamsell tritt mir aus dem Ankleidezimmer entgegen, ich gebe ihr meine Freude über dieses unvermuthete Treffen zu erkennen: Mamsell scheint sehr verwundert, verlegen, antwortet mir keine Sylbe; ich biete ihr meine Begleitung an, Mamsell besinnt sich einen Augenblick, lacht dann laut auf, ergreift meinen Arm, fährt mit mir die Treppe hinunter, daß ich fast den Hals breche; wir treten aus dem Schauspielhause, wo mich der liebe Neffe, wahrscheinlich auch auf Mamsell wartend, durch seine Gegenwart überrascht; die Postchaise rasselt, Mamsell macht sich sehr unartig von mir los, und so weiter! das ist verdrießlich zu wiederholen. Laß uns hier in die Gaststube treten und uns restauriren. Ich habe entsetzlichen Hunger.
Das Gespräch an her Table d’ hote war sehr lebhaft und drehte sich abwechselnd um die neue Schauspielerin und um die neusten Kriegsvorfälle. Eduard und der Onkel nahmen an der andern noch leeren Seite des Tisches Platz. Ein junger Mann, den beide sogleich für den Schauspieler erkannten, welcher heut den Mortimer gespielt hatte, setzte sich, sie höflich grüßend, ihnen gegenüber. Der Onkel knüpfte bald ein Gespräch mit ihm an, indem er einiges zum Lobe seines Spieles sagte.
Sie machen da eigentlich nur der schönen Maria ein Compliment, erwiederte der junge Mensch; denn wer ihr gegenüber in meiner Rolle ein Stock bleibt, den hat der liebe Gott zum Schurzfell oder zur Elle, nicht zum Cothurn bestimmt. Den armseligsten Stümper, wenn er nur Augen hat, und ein gesundes Herz über dem Magen, muß die Anmuth ihrer Person, die Herrlichkeit ihres Spiels begeistern, mit fortreißen und über sich selbst erheben.
Der Oheim meinte, er sey zu bescheiden.
Zu entschieden vielmehr in meinem Lobe, lächelte jener; Sie könnten ja leicht andrer Meinung seyn. Indeß ob ich gleich zu den alten Anbetern der schönen Maria gehöre, und also wohl ein wenig parteiisch seyn mag, so stehe ich doch nicht an, mich dreist auf das eigne Urtheil der Herren zu berufen.
Sie kannten sich also schon vorher? fragte Eduard lebhaft.
Was sollte ich nicht, rief der Schauspieler aus. Unsere Bekanntschaft ist nicht von gestern. O wenn Sie sie erst wie ich, in so vielen und so verschiedenen Rollen gesehen hätten, überall gleich vortrefflich — —
Darf ich fragen, unterbrach ihn Eduard —
Dann würden Sie sie erst bewundern, fuhr jener mit einer höflichen Verbeugung gegen Eduard fort, ohne sich jedoch im mindesten unterbrechen zu lassen. Es liegt nun einmal, ich weiß nicht, soll ich sagen, der Fluch auf dem deutschen Schauspieler, daß er sich in den heterogensten Elementen bewegen, bald Fisch, bald Vogel seyn muß. Doch möchte das noch hingehn, wenn es nur bei dem reinen Trauerspiel oder Lustspiel sein Bewenden hätte; allein da laufen bei uns noch so viele wunderliche Amphibien zwischen beiden durch, die alle wieder beinah in so viel besondere Gattungen zerfallen, als es Individuen giebt, und der Schauspieler, welcher sich durch alles dies durchwindend, nicht entweder sich selbst verwirrt und verliert, oder in einer alles über einen Leisten schlagenden Manier untergeht, muß wahrlich kein gewöhnlicher Mensch seyn.
Wollen Sie mir erlauben, hub Eduard von neuem ungeduldig an — —
Ich weiß, was Sie sagen wollen, — unterbrach ihn der fertige Sprecher, dessen laute Stimme sich Zuhörer am Tisch zu werben anfing — Sie meinen, daß eben diese Nothwendigkeit, sich in so mannigfaltige Formen und Gestaltungen zu modeln, die Gewandtheit und mechanische Fertigkeit des Schauspielers in hohem Grade befördern müsse. Sie haben Recht; allein dies wird doch immer auf Kosten der wahren Kunst geschehen, wenn der Genius nicht über ihm waltet, oder die Natur ihn nicht wenigstens mit scharfer Urtheilskraft und klarer Besonnenheit begabt hat.
Eduard rückte ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her, öffnete den Mund zum Sprechen, hustete; aber sein Gegner war unerbittlich. — Alle die so verschiedenen Gattungen unsers Schauspiels, fuhr er fort, erfordern auch eine eben so verschiedene Behandlung. Das ist meine Meinung. Ich will hier nicht die Mannigfaltigkeit, die Beweglichkeit, das kleine Detail des Lustspiels neben die Einfachheit, die Ruhe und die breiten Massen des höhern Trauerspiels stellen, weil es sich hier von selbst versteht; obgleich viele berühmte Schauspieler nichts davon zu wissen scheinen, den beliebten Conversationston, wie ein angebornes Gebrechen, in den Fürstensaal, den Tempel, ja in den Himmel selbst mitschleppen, und mit dem lieben Gott selbst wie mit dem Vetter Michel conversiren würden; ich will als Beispiel nur zwei Trauerspiele eines und eben desselben Dichters anführen. Ich meine Schillers Wallenstein und die Braut von Messina, von denen das erste durchaus charakteristische Meisterwerk offenbar eine größere Mannigfaltigkeit und Individualität in Ton und Geberde zuläßt, ja verlangt, als die ideale Haltung des zweiten.
Hier stand Eduard hastig auf, und bat den Oheim um Verzeihung, daß er ihn verlassen müsse. Es sey ihm ein Einfall gekommen, dessen Ausführung keine Verzögerung erlaube, und wovon er ihm den Erfolg bei seiner Rückkunft mittheilen werde. Hierauf entfernte er sich eilig.
Aus der Ungewißheit was er thun solle, welche ihn bis dahin unter der Leitung des Onkels gelassen hatte, riß ihn nämlich jetzt auf einmal der Gedanke, daß er vielleicht auf der Post erfahren könne, auf welchem Wege ihm der Fremde, den er für Diethorst gehalten, die schöne Angelika entführt habe. Er fand auch in der That dort keine Schwierigkeit. Man nannte ihm die nächste Station, und es fiel ihm sogleich ein, daß dies der Weg nach dem Gute des alten Diethorst sey. Eine gemischte und eben darum desto mächtigere Empfindung von Liebe und Erbitterung bewegte seine Brust, und trieb ihn an, den Flüchtlingen zu folgen. Ehe ihm selbst noch sein Vorsatz klar geworden war, hatte er schon Postpferde bestellt, und war nach dem Gasthofe zurückgeeilt, um seinem Bedienten einige Befehle, und eine Nachricht für den Oheim zurückzulassen, und fuhr in raschem Trabe zum Thore hinaus.
Die frische Nachtluft kühlte ihn zwar bald von außen ein wenig ab, und schlug auch dadurch aus der wallenden Mischung von Gedanken und Empfindungen in seinem Innern einige ernste Reflexionen über den eigentlichen Zweck dieser Spazierfahrt nieder, allein sie hatten keine andere Wirkung auf ihn, als daß er nach einiger Zeit, sich dem weltbeherrschenden Zufall gläubig vertrauend, in einen sanften Schlummer fiel, aus welchem ihn erst das Horn des Postillons vor dem Posthause erweckte.
Von Station zu Station verfolgte er nun die Spur der Ungetreuen, und langte so am andern Tage gegen Abend in einem Städtchen an, wo alles in größter Verwirrung und Bestürzung zu seyn schien. mit leichenblassem Gesicht erzählte ihm der Postmeister auf seine Frage: daß eben ein verwundeter Husar mit der Schreckensnachricht zum Thor hereingesprengt sey, der Feind streife in der Nähe herum, und müsse unfehlbar bald hier seyn. Nur mit der größten Mühe gelang es Eduard, dem ängstlich Hin und Herlaufenden noch einen Bescheid auf seine weitere Erkundigungen abzupressen. Ein Herr und ein junges Frauenzimmer, brachte er endlich heraus, wären allerdings vor einigen Stunden angekommen; da aber schon gegen Mittag das Gerücht von der Annäherung des Feindes sich verbreitet, habe man ihnen Postpferde verweigert, und könne nun nicht wissen, ob sie irgendwo in einem Gasthofe geblieben, oder etwa eine andere Gelegenheit zum Fortkommen benutzt hätten.
Eduard, dem die ungeduldige Erwartung das Herz zu raschern Schlägen trieb, begann eilig von Gasthof zu Gasthof zu wandern; allein bei der allgemeinen Verwirrung glückte es ihm nicht, irgend jemand zu finden, der ihm Rede gestanden hätte. In den meisten Häusern war man mit Einpacken und Verstecken der besten Sachen beschäftigt; der Marktplatz wimmelte von Menschen, die theils hin- und herlaufend, theils in einzelnen Gruppen versammelt, Besorgnisse, Ahndungen und schreckliche Gerüchte gegen einander austauschten, und, indem sich jeder dabei der Lebhaftigkeit seiner aufgeregten Einbildungskraft, überließ, die allgemeine Bestürzung und Angst mit jeder Minute steigerten. Von der einen Seite drängten sich flüchtende Landleute mit ihren Habseligkeiten in die Stadt, während einzelne beladene Wagen auf der entgegengesetzten davon eilten. Es fing an dunkel zu werden. Die Weiber rangen die Hände, die Kinder schrieen, und die Männer hatten nicht üble Lust es ihnen nachzuthun. Auf dem Rathhause versammelte sich der Magistrat, um zu überlegen, was zu thun, damit der Stadt kein Schaden geschehe. Der muthvolle Syndicus schlug vor, die Thore zu schließen, und die Tapferkeit der Bürger zur Vertheidigung aufzufordern; allein der Bürgermeister hielt ihm die niederschlagende Bemerkung entgegen, wie diese Tapferkeit, die freilich gestern, da man den Feind noch weit entfernt geglaubt, stolz in die Wolken gegriffen habe, seit heute Mittag auf’s jämmerlichste zusammengeschrumpft, ja seit einer halben Stunde gänzlich in Angstschweiß zerflossen scheine, und man fand endlich nach reiflicher Erwägung, das Beste, was man thun könne, sey — gar nichts zu thun, sondern in geduldiger Ergebung den Verlauf der Sache abzuwarten.
Eduard, dem, nach langem vergeblichen Umherlaufen, die Nothwendigkeit den männlichen Entschluß aufdrang, kehrte endlich müde, hungrig und verdrießlich in dem nächsten Gasthof ein. Er glaubte nicht an die Nähe feindlicher Truppen, höchstens, meinte er, könnten es einzelne Versprengte seyn, die sich bis hierher verirrt haben möchten. Indeß wenn auch wirklich die Furcht an ihm ihre ansteckende Kraft ausgeübt hatte, so spornte ihn doch jetzt der Hunger zu mächtig an, um nicht den Leuten im Wirthshause mit der Beredtsamkeit eines Demosthenes die Nichtigkeit und Leerheit aller dieser Schreckensgerüchte zu beweisen — denn es galt ein Abendbrodt. Da sein Bestreben nun durch die Ruhe, in welcher Viertelstunde auf Viertelstunde verfloß, aufs wirksamste unterstützt wurde, so spendete endlich auch die Küche der Wirthin seiner Beredtsamkeit den ersehnten Preis.
Welche Ueberraschung, welche Freude aber, als ihm das bedienende Hausmädchen unter andern Vorfällen des Tages erzählte, es sey auch heute ein fremder Herr mit einer Dame hier angekommen, der Herr aber bald darauf auf einem für schweres Geld gemietheten Pferde weiter geritten, nachdem er die Dame der Vorsorge und Obhut der Frau vom Hause angelegentlich empfohlen, und versprochen habe, morgen wieder hier zu seyn.
Auf der Stelle mußte das Mädchen hin, und die fremde Dame, die niemand anders seyn konnte als Angelika, in seinem Namen, um die Erlaubniß bitten, ihr einen Augenblick aufwarten zu dürfen; allein sie kehrte sogleich mit der Botschaft zurück, daß die fremde Dame eben im Begriff sey, zu Bett zu gehen, und keinen Besuch annehme, auch übrigens gar nicht die Ehre habe ihn zu kennen.
Sie hat nicht die Ehre mich zu kennen! rief Eduard ergrimmt aus. Unerhörte Falschheit! aber sie soll mich kennen lernen, sie soll mich sehen, und mein Anblick sie und ihren Geliebten wenigstens beschämen.
Der Hausknecht wurde herauf beschieden, versprach gegen ein gutes Trinkgeld, ihn sogleich von der Rückkehr des fremden Herrn zu benachrichtigen — und Eduard, dem nun vor der Hand nichts weiter zu thun übrig blieb, begrub seinen Zorn und seine Liebe in die weichen Kissen des hochgethürmten Bettes.
Es mochte gegen Mitternacht seyn, als ein heftiges Klopfen an der Hausthür den Schläfer erweckte. Schlaftrunken fährt er in die Höhe; sein Zimmer ist von rother Gluth erleuchtet, die durch die Fenster bricht; im Hause hört er hin- und herlaufen, Thüren zuschlagen, Geschrei, auf der Straße laute Stimmen, verworrenes Getöse. Er springt aus dem Bette, ans Fenster; über die jenseitigen Häuser wirbeln ihm Rauch und Flammen entgegen; es fällt ein Schuß, und noch einer und wieder einer, Reiter sprengen durch die Straßen, Thüren krachen, aus den benachbarten Häusern tönt wildes Jauchzen, Fluchen und Jammergeschrei durch einander.
Eduard, die Wahrheit ahnend, wirft sich in die Kleider, und eilt die erste Treppe hinab. Ein gräßliches Getümmel schallt aus dem Hause herauf. Auf der zweiten Treppe begegnet ihm ein Soldat, ein ohnmächtiges Frauenzimmer in seinen Armen tragend. Gott, wenn das Angelika wäre! Er kehrt um, er folgt dem Soldaten, der mit seiner Beute in ein offenstehendes Zimmer eilt, worin eine Lampe brennt, und sie dort auf ein Sofa niederlegt, ohne Eduard zu bemerken, der hinter ihm steht. Die aufgelösten Haare weichen aus dem Gesicht des Frauenzimmers zurück: es ist Angelika! mit einem kräftigen Stoße wirft Eduard den überraschten Räuber zu Boden, ergreift die Ohnmächtige, und ehe sich jener aufraffen kann, ist er mit ihr aus dem Zimmer, und hat die Thüre von außen verschlossen.
Das Glück begünstigte ihn wunderbar. Hart an der offenen Wirthsstube, worin die Plünderer tobten, führte es ihn vorbei, über die Straße hinweg in ein enges Gäßchen. Dort war alles still und öde. Schon glaubte er sich in Sicherheit, als plötzlich ein wildes Geschrei in seine Ohren dringt, und hinter ihm sich ein Haufen Verfolgender zeigt. Die Angst treibt ihn rascher an, allein mit jedem Augenblick hört er die Stimmen näher und näher. Eine offene Thür bietet sich ihm dar, er springt hinein, durcheilt das Haus, den Hof, ein Garten stößt daran, mit einem Fußtritt öffnet er sich den Eingang, gelangt an das andere Ende — da hemmt eine Mauer, sich weit hindehnend, seine Schritte, und schneidet ihn von jeder Hoffnung ab. Entsetzen greift ihm an das Herz, seine Brust hebt sich krampfhaft empor. — Ihm allein geläng’ es vielleicht, die Mauer zu erklimmen, doch wie könnte er sie zurücklassen! — Schon werden die Stimmen seiner Verfolger von neuem laut. Er legt die theure Last an die Erde, und sucht in gräßlicher Angst noch einen Ausweg. Vergebens! Ueberall weisen undurchdringliche Mauern ihn verspottend zurück. Er sieht Fackeln durch das Gebüsch schimmern, sich nähern, schon streckt der Wahnsinn der Verzweiflung seine Hand nach ihm aus; doch das Glück ist ihm treu geblieben. An einen Baum gelehnt, erblickt er in dem Augenblick eine Leiter. Es wird wieder hell vor seiner Seele. Er ergreift die Leiter, stellt sie an die Mauer, nimmt mit frischem Muth die Geliebte, die Gerettete auf den starken Arm, und indem diese durch die Bewegung aus der Ohnmacht erwachend, aber noch halbbewußtlos, sich fest an ihn anschließt, und ihm so die Last erleichtert, schwingt er sich von Sprosse zu Sprosse. Nur das noch, das noch! ruft er sich selbst zu, wenn seine Kraft zu sinken beginnt. Die Mauer ist nicht hoch: er ist oben! Bebend wird die Leiter nachgezogen, auf der andern Seite wieder hinabgelassen — noch zwei Minuten.— und er fühlt festen Boden unter seinem Fuß und sieht sich im Freien. Doch war dort noch keine Sicherheit für ihn. Ohne Säumen eilt er den Abhang hinunter, durch Wies und Feld, und erreichte die Landstraße, die nämliche, auf welcher er gestern gekommen. Hier aber verließen ihn die Kräfte, die Kniee brachen unter ihm ein, und er sank gänzlich erschöpft zu Boden.
Da lag nun hinter ihm das unglückliche Städtchen, in welchem das Feuer immer weiter um sich zu greifen schien; die dunkeln Wolken zogen, von der Gluth geröthet, über ihm hin, und deutlich drang das Jammergeschrei der geängstigten Einwohner zu seinen Ohren. Um ihn her aber war es still und friedlich; leise schlüpfte der Nachtwind durch die flüsternden Zweige, im nahen Gebüsche flötete die Nachtigall, und freundlich ging dort über dem Hügel der Mond auf.
Wo bin ich? lispelte seine Gefährtin, indem sie die Augen aufschlug, und staunend um sich her sah.
Gerettet! sprach Eduard mit matter Stimme, und drückte ihre Hand fest an feine hochaufschlagende Brust.
Das Rasseln eines Wagens, der von der Stadt herzukommen schien, belebte ihn von neuem.
Er sprang empor und rufte den Wagen an.
Er hielt. Eine kurze Darstellung seiner Lage, noch mehr aber vielleicht der volle Beutel, womit er seine Worte unterstützte, verschafften ihm und seiner Begleiterin einen Platz auf dem Fuhrwerk.
Der Eigenthümer war ein Einwohner des Städtchens, der ebenfalls sich und die Seinigen in Sicherheit brachte, und sein Haus getrost der Plünderung Preis gegeben hatte.
Verloren geht doch, was verloren gehen soll, sagte der alte Mann, und meine Nachbaren, die so fest an ihren Schneckenhäusern klebten, werden darum nicht weniger einbüßen. Ich aber habe wenigstens mich und die Meinigen aus den Fäusten der Menschen gerettet, die schwerer lasten als Gottes Hand. Aber das Frauenzimmerchen wird sich erkälten, fuhr er fort, sich zu seiner Frau wendend, gieb doch meinen blauen Mantel her, Mutter, die Nachtluft ist kalt.
Und Sie, junger Herr, nehmen Sie einen Schluck aus der Korbflasche; das macht frisches Blut.
Eduard erzählte nun umständlich das Abenteuer der letzten Stunde und seine Rettung. Gerührt drückte ihm die Gerettete die Hand. Wie soll ich Ihnen danken! sprach sie, Sie haben sich zwei Menschen auf Lebenszeit verpflichtet. — In Thränen ausbrechend hob sie darauf ihre Augen gen Himmel und rief: O Gott, wo mag er jetzt seyn! Werd’ ich ihn jemals wiedersehen!
Ihre Hand, junger Herr, sagte der Alte, Sie sind ein braver Mann. Das thut Ihnen nicht jeder nach, da nehmen Sie Ihr Geld zurück. Ich müßte mich ja schämen.
Eduard aber lächelte bitter und schwieg, denn Angelika’s letzte Worte hatten aufs neue einen Stachel in sein Herz gedrückt.
In Osten kündigte sich der Tag an, als der Alte vor einem einsam stehenden Wirthshause zu halten, und die ermüdeten Pferde zu füttern befahl. Ein fremder Reisewagen stand vor der Thüre, der Eduarden ganz und gar nicht fremd vorkam; ihn näher zu untersuchen stieg er ab, und beim Himmel! er hatte sich nicht getäuscht, es war des Oheims Wagen!
Nichts hätte ihn freudiger überraschen können. hastig eilte er ins Haus. Da saß der gute Oheim ruhig beim Kaffee; ihm gegenüber ein Unbekannter, in einen Mantel gehüllt. Eduard, schrie der Oheim vor Erstaunen, ist es dein Geist? Sie haben Recht, mich so zu fragen, entgegnete Eduard lächelnd; beinah wär’ ich auf eine Geistervisite bei Ihnen reducirt worden.
Unglücklicher Don Quixote, fuhr der Onkel fort, welcher Prinzessin bist du nachgelaufen, während dein glücklicher Oheim sich an der Seite deiner Dulcinee wohl befand?
Mit großen Augen sah ihn Eduard an, und fragte: Wie meinen Sie das?
Ich meine, rief jener, daß du ein großer Narr warst, hinter einer Lüge her ins Blaue hinaus zu rennen.
Eine Lüge? Wie so?
Du kannst noch fragen? Oder hast du etwa gefunden, was du suchtest?
Allerdings, mein guter Oheim; das hab’ ich.
So? Gratuliere! Ich glaubte, du wärst etwa der schönen Angelika nachgelaufen, und muß dir gestehn, daß ich dich ein wenig auslachte, als ich eben dieser schönen Angelika gestern früh auf der Straße begegnete.
Sie begegneten ihr? Gestern früh? Die wirkliche Angelika? Sie? — Erlauben Sie mir, lieber Onkel, daß ich nun auch ein wenig lache.
Der Onkel zog die Stirne kraus. Ich sehe nicht ein, was dabei zu lachen ist, sprach er ärgerlich, wenn ich einem hübschen Mädchen begegne. Aber ich muß dem Gelächter des Herrn Neffen zum Trotz nur sagen, daß ich ihr nicht allein begegnet, sondern auch den ganzen Tag beinah nicht von ihrer Seite gekommen bin, ja daß sie mit mir und unserm alten Freunde da in einem Wagen bis hierher gefahren ist, wo ich das unerwartete Vergnügen habe, den lieben Neffen anzutreffen.
Eduard warf einen Blick auf den Fremden, der, schnell von seinem Sitze aufspringend, ihn begrüßte. Es war der alte hagre Violinspieler, Angelika’s angeblicher Vater.
Ich freue mich Sie wieder zu sehen, wandte sich Eduard zu ihm, besonders da ich so glücklich gewesen bin, Ihrer Tochter einen wesentlichen Dienst zu leisten. Sie ist bei mir, und ich eile sie zu holen.
Der Onkel ergriff ihn beim Arm: Wen willst du holen, Eduard? Wer ist bei dir?
Wer anders als Angelika! Ich sage Ihnen ja, daß ich sie gefunden habe, ja was noch mehr, ich habe sie gerettet.
Kopfschüttelnd sahen der Onkel und der Alte, sich an.
Da ist sie selbst, rief Eduard aus, und eilte der Eintretenden entgegen. Kommen Sie, liebe Angelika; Sie finden hier alte Bekannte. Ihr Vater erwartet Sie, und mein Oheim freut sich gewiß herzlich, Sie so unerwartet wiederzufinden.
Angelika erröthete, und sah ihn befremdet an; der Onkel schien zu versteinern.
Eine böse Zauberin müssen Sie doch seyn, fuhr Eduard fort, da Sie an zwei Orten zugleich seyn können. Während Sie diese Nacht ohnmächtig in meinen Armen hingen, während ich mit Ihnen über die Mauer flüchtete, haben Sie zu gleicher Zeit auch, wie mein Oheim behauptet, ruhig neben ihm in seinen Wagen gesessen. Ei, ei, das ist nicht fein, die Leute so zu foppen.
Er sah alle dreie einen nach dem andern mit triumphirendem Lächeln an, aber niemand wollte mitlächeln; vielmehr kam es ihm vor, als ob ein heimliches Grauen die Verwunderung auf ihren Gesichtern ablösete.
Aber Eduard, brach der Oheim endlich los, was redest du für wunderliche Dinge? Besinne dich. Entweder du sprichst im Traume oder — — Er trat ein paar Schritte von ihm zurück. — Sagen Sie ihm doch, Angelika, wo Sie diese ganze Nacht gewesen sind, vielleicht erweckt ihn Ihre Stimme.
Die Sache würde wirklich sehr sonderbar seyn, lächelte Angelika, ja sehr ernsthaft, wenn sie nicht ein Scherz von ihm wäre. Ihr Herr Neveu möchte mich wacker auslachen, wenn ich ihm noch obendrein betheuern wollte, die ganze Nacht nicht von Ihrer Seite im Wagen gekommen zu seyn.
Nun kam die Reihe zu versteinern an Eduard. mit schlaff herabhängenden Armen und halb geöffnetem Munde starrte er Angelika an, und es war in der That für seinen Verstand zu befürchten. Siehe, da öffnete sich die Stubenthüre zum zweitenmal, und herein trat die Lösung des Räthsels — eine zweite Angelika nämlich, der ersten an Gestalt und Gesichtszügen beinahe völlig gleich; und wenn sie auch etwas größer und weniger blond schien als diese, so hob doch die ähnliche Kleidung, — beide waren in dunkelfarbige Ueberröcke gehüllt — diesen Unterschied für den ersten Anblick wieder auf, und machte die Verwechselung um so möglicher.
Die beiden Frauenzimmer flogen einander in die Arme. Der Alte ging auf sie zu, umfaßte sie beide, und drückte freundlich einen Kuß auf die Stirn der Zuletztgekommenen. Sodann wandte er sich an die beiden erstaunten und sprachlosen Zuschauer.
Sie sehen in diesen beiden Mädchen zwei Zwillingsschwestern und meine Nichten. Ihre Mutter ist meine Schwester. Der Augenschein wird es Ihnen erklärlich machen, wie der Herr Neveu behaupten konnte, in Angelika’s Gesellschaft angekommen zu seyn, und — indem er sich zu Eduard wandte — Sie hat er ohne Zweifel schon belehrt, daß Sie sich getäuscht, und daß nicht Angelika’n, sondern ihrer Schwester Mariane das Glück Ihrer Begleitung zu Theil geworden ist.
Also du bist wirklich mit der andern da gekommen? fragte der Onkel.
Eduard nickte mit dem Kopfe, ohne seinen Blick von den Schwestern zu wenden.
Aber wie ist denn das alles zugegangen, fuhr jener fort; wo hast du sie getroffen? wie denn? und warum — sprich doch, Eduard, erkläre mir —
Eduard schüttelte den Kopf.
Du willst nicht? Du willst mir nicht erzählen? nicht erklären? O du mußt durchaus!
Eduards Gefährtin erhob sich von Angelika’s Brust, ging auf Eduard zu, und ergriff seine Hand. Wenn die Bescheidenheit, sprach sie, Ihnen die Erzählung Ihrer großmüthigen Handlung verbietet, so fordert das Herz sie von mir. Vor allem aber nochmals meinen heißen Dank meinem edlen Beschützer und Erretter. Vereinige deine Worte mit den meinen, Angelika, wenn du deine Schwester liebst; vielleicht erhalten sie dadurch größern Werth für ihn.
Macht mir doch den jungen Menschen nicht übermüthig, rief der Onkel, schob Stühle für die beiden Frauenzimmer an den Tisch, und schenkte Kaffee ein; erzählen Sie uns lieber, wodurch er so glücklich gewesen ist, einen solchen Dank zu verdienen. Doch erst noch eine Frage: Sie waren also die Maria Stuart vorgestern Abend in D... ?
Ich war es, antwortete Mariane erröthend, und wenn ich nicht irre, so waren Sie — —
Der Tropf, den Sie sammt jenem Coridon mit langer Nase, vor dem Schauspielhause stehen ließen.
