Sämtliche Romane von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi - E-Book

Sämtliche Romane von Leo Tolstoi E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

In den "Sämtlichen Romanen von Leo Tolstoi" entfaltet sich ein beeindruckendes Panorama der menschlichen Existenz, das sich durch zeitlose Themen wie Krieg, Frieden, Liebe und Moral zieht. Tolstois einzigartiger literarischer Stil, geprägt von einer tiefen psychologischen Einsicht und einer sachlichen, oft philosophischen Betrachtungsweise, ermöglicht es den Lesern, in die innere Welt seiner Protagonisten einzutauchen. Werke wie "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" sind nicht nur Geschichten über individuelle Schicksale, sondern auch umfassende Gesellschaftskritiken, die die kulturellen und sozialen Spannungen des russischen Imperiums beleuchten und die Herausforderungen der menschlichen Natur untersuchen. Leo Tolstoi, einer der größten Romanciers der Literaturgeschichte, war ein Mann, der das Leben in all seinen Facetten erforschte, was ihn dazu inspirierte, diese bedeutenden Werke zu schaffen. Geboren in eine aristokratische Familie, durchlebte er sowohl materielle Reichtümer als auch existenzielle Krisen. Seine spirituelle Suche und die kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft sowie die Einflüsse des Christentums prägten seine Erzählweise und trugen zu seinem unverwechselbaren, tiefgründigen Ansatz bei. Dieses Buch ist eine unschätzbare Quelle für allen, die sich mit tiefgreifenden Fragen des Menschseins beschäftigen und die Komplexität menschlicher Beziehungen schätzen. Tolstois Erzählkunst und seine Fähigkeit, das Alltägliche zu durchdringen, machen die "Sämtlichen Romane" zu einem unverzichtbaren Erlebnis für Liebhaber klassischer Literatur und bieten wertvolle Einsichten, die auch in der modernen Welt von Bedeutung sind. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Leo Tolstoi

Sämtliche Romane von Leo Tolstoi

Bereicherte Ausgabe. Die beliebtesten Werke des russischen Realismus
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Wren Sharp
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547675662

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Autorenbiografie
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Sämtliche Romane von Leo Tolstoi
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Ausgabe mit dem Titel Sämtliche Romane von Leo Tolstoi vereint zentrale Prosawerke des Autors in einem Band und richtet den Blick auf seine erzählerischen Hauptleistungen. Enthalten sind Krieg und Frieden, Anna Karenina, Auferstehung, Glück der Ehe sowie Hadschi Murat (Chadschi Murat). Die Sammlung will ein konzentriertes, zugleich facettenreiches Bild von Tolstois erzählerischem Kosmos geben: von epischer Weite bis zu psychologischer Verdichtung, von gesellschaftlicher Beobachtung bis zu moralischer Selbstprüfung. Sie ist für Leserinnen und Leser gedacht, die die Spannbreite von Tolstois Prosa in einem kohärenten Rahmen erkunden möchten, ohne den Anspruch eines vollständigen Gesamtwerks zu erheben.

Im Fokus steht die lange Prosa: große Romane und romanartige Erzählungen, die Tolstois Rang als Meister des realistischen Erzählens begründen. Die Auswahl enthält keine Dramen, keine Briefe, keine Tagebücher und keine religiös-philosophischen Traktate; sie konzentriert sich auf die erzählerischen Formen, in denen Tolstoi Figuren, Gesellschaft und Geschichte entfaltet. Zugleich berücksichtigt sie Grenzgänge zum Novellen- oder Kurzromanformat, da gerade dort spätere Verdichtungen seiner Themen sichtbar werden. So entsteht ein Panorama, das die Breite der Romanform bei Tolstoi sichtbar macht, ohne in benachbarte Gattungen auszuufern, und das dennoch Übergänge und formale Experimente erkennbar lässt.

Die enthaltenen Texte decken unterschiedliche Spielarten des Romans ab. Krieg und Frieden entfaltet den epischen Historienroman, der das Leben ganzer Familien mit militärischen und politischen Umbrüchen verschränkt. Anna Karenina gestaltet einen Gesellschafts- und Eheroman, der private Entscheidungen im Spiegel sozialer Erwartung beleuchtet. Auferstehung rückt als moralisch-gesellschaftlicher Roman Fragen der Verantwortung, Schuld und institutionellen Ordnung in den Mittelpunkt. Glück der Ehe zeigt als psychologische Erzählung den inneren Verlauf einer Partnerschaft und den Reifeprozess der Beteiligten. Hadschi Murat, häufig als Kurzroman oder Novelle gelesen, verdichtet historische Konflikte und persönliche Loyalitäten zu einer eindringlichen Erzählung.

Tolstois Stil ist geprägt von beobachtender Genauigkeit, plastischen Szenen und einem feinen Sinn für psychologische Nuancen. Er verbindet detailreiche Alltagsdarstellung mit weiten Perspektiven auf Gesellschaft und Geschichte. Charakteristisch ist der Wechsel zwischen Innenansicht und äußerer Handlung, wodurch Bewusstsein, Gefühl und Entschlussarbeit sichtbar werden. Dialoge tragen den Ton der Milieus, während Beschreibungen von Räumen und Landschaften Stimmung und Bedeutung formen. In den großen Panoramen orchestriert Tolstoi zahlreiche Figuren, ohne den Faden individueller Entwicklung zu verlieren. In den konzentrierteren Texten steigert er die Wirkung durch Verdichtung und klare Linienführung, ohne an moralischer oder emotionaler Resonanz einzubüßen.

Als verbindendes Thema durchzieht die Suche nach Sinn, Freiheit und Verantwortung diese Werke. Tolstoi stellt wiederholt die Frage, wie Menschen inmitten von Konvention, Geschichte und institutionellen Kräften ihren Weg finden. Die Familie erscheint als Ort von Geborgenheit und Konflikt zugleich, Liebe als Quelle von Glück, Risiko und Ernüchterung. Moralische Selbstprüfung, Gewissensentscheidungen und die Folgen von Handlungen werden mit unbestechlicher Genauigkeit gezeigt. Dabei interessieren Tolstoi nicht nur außergewöhnliche Ereignisse, sondern gerade die unspektakulären Momente, in denen Charaktere ihre Haltung formen. Die Spannbreite reicht von großem Weltgeschehen bis zu leisen, inneren Verwerfungen, die das Leben nachhaltig prägen.

Geschichte und Krieg bilden in dieser Sammlung unterschiedliche Hintergründe und Prüfsteine menschlichen Handelns. Krieg und Frieden entfaltet das Zusammenspiel von privatem Leben und historischen Kräften, ohne einzelne Ursachen zu simplifizieren. Hadschi Murat blickt auf einen Konflikt, in dem Loyalität, Ehre und Macht aufeinandertreffen und die Perspektive des Einzelnen scharf konturiert wird. Tolstoi interessiert, wie große Ereignisse durch alltägliche Entscheidungen hindurch wirksam werden und wie Menschen sich in Situationen behaupten, die größer sind als sie selbst. Diese Werke zeigen, dass Geschichte nicht abstrakt verläuft, sondern in Körpern, Beziehungen und Gewissen konkrete Gestalt annimmt.

Gleichermaßen zentral ist das Thema Ehe und Gesellschaft. Anna Karenina beleuchtet Begehren, Pflicht und die Härten sozialer Erwartungen, während Glück der Ehe den inneren Verlauf einer Beziehung in nüchternen, präzisen Beobachtungen nachzeichnet. Tolstoi prüft, wie Nähe entsteht, wie sie gefährdet wird und unter welchem Druck sie steht, wenn gesellschaftliche Normen und persönliche Wahrheit auseinanderstreben. Er vermeidet Vereinfachungen und erlaubt Ambivalenz: Zuneigung kann zum Prüfstein, Pflichtgefühl zur Einengung, Freiheit zur Herausforderung werden. Diese Erzählräume machen sichtbar, wie intime Entscheidungen soziale Resonanzen haben – und wie Gesellschaft ihrerseits intime Räume formt und begrenzt.

Ethische Fragen, Schuld und institutionelle Verantwortung treten in Auferstehung besonders deutlich hervor. Das Werk richtet den Blick auf Strukturen von Recht und Ordnung und verknüpft sie mit persönlicher Reue und dem Wunsch nach Wiedergutmachung. Auch in Hadschi Murat erscheint Macht als komplexes Gefüge, das Figuren in Loyalitäten verstrickt. Tolstoi schildert Institutionen nicht als Abstrakta, sondern als Zusammenwirken von Menschen, Routinen und Entscheidungen. Dabei liegt der Akzent nicht auf spektakulären Enthüllungen, sondern auf dem geduldigen Nachzeichnen, wie moralische Einsicht entsteht – oder scheitert. Das macht seine Romane zu anhaltend relevanten Studien des Gewissens im öffentlichen Raum.

Stilistisch verbindet Tolstoi Weite und Nähe: Er zeichnet große Gesellschaftspanoramen und schenkt zugleich Nebenfiguren Aufmerksamkeit, die das Bild mitprägen. Er lässt Handlungen in Arbeit, Gespräche und alltägliche Abläufe eingebettet entstehen, was den Eindruck von Wirklichkeit verstärkt. Natur- und Raumbeschreibungen fungieren als Resonanzflächen innerer Zustände, ohne symbolische Schwere aufzuladen. Strukturierend wirken ruhige Passagen, die Reflexion erlauben, und intensivere Szenen, in denen Konflikte sich zuspitzen. Die Dichte entsteht nicht durch Effekte, sondern durch Genauigkeit: Jede Geste, jeder Blick, jede Entscheidung trägt Bedeutung. So entsteht ein Erzählfluss, der Leserinnen und Leser mit stetiger Dringlichkeit bindet.

Als Gesamtheit gelesen, eröffnet die Sammlung einen Blick auf Tolstois Entwicklung innerhalb der langen Prosa: von breit angelegten Gesellschafts- und Geschichtsromanen bis zu späten, konzentrierten Erzählungen, die Themen nochmals scharf bündeln. Man sieht, wie Motive sich verschieben, vertiefen und in neuen Konstellationen wiederkehren: Familie, Verantwortung, Macht und Sinnsuche werden aus verschiedenen Winkeln geprüft. Die Zusammenstellung lädt ein, nicht nur einzelne Meisterwerke zu würdigen, sondern die Veränderung der Fragestellungen mitzuvollziehen. Dabei entsteht ein Dialog zwischen den Texten: Ein Werk beleuchtet das andere, Kontraste werden produktiv, und Kontinuitäten treten deutlicher hervor als bei isolierter Lektüre.

Die anhaltende Bedeutung dieser Werke liegt in ihrer zeitlosen Genauigkeit gegenüber menschlichen Konflikten und in ihrem wachen Blick auf gesellschaftliche Ordnungen. Fragen nach Gerechtigkeit, persönlicher Integrität, Liebe und Verantwortung berühren auch heutige Leserinnen und Leser unmittelbar. Tolstois Prosa bietet keine schnellen Lösungen; sie lädt ein, Komplexität auszuhalten und Empathie zu üben. In einer Gegenwart, die von Beschleunigung, Polarisierung und Krisenerfahrungen geprägt ist, wirken seine Erzählweisen entschleunigend und klärend. Sie erinnern daran, dass Entscheidungen in Beziehungen und Institutionen weitreichende Folgen haben, und zeigen, wie literarische Darstellung Wirklichkeit nicht spiegelt, sondern verstehbar macht.

Diese Sammlung lässt sich auf unterschiedliche Weise erschließen: als kontinuierliche Lektüre, die den Bogen von epischer Breite zu konzentrierter Verdichtung spannt, oder thematisch, etwa entlang von Krieg und Geschichte, Ehe und Gesellschaft oder Recht und Gewissen. Jedes Werk steht für sich, gewinnt jedoch im Echo der anderen an Profil. Empfehlenswert ist ein aufmerksames, ausgeruhtes Lesen, das Zeit für innere Bewegungen, Zwischentöne und Perspektivwechsel lässt. Die Übersetzungsfrage ist wichtig, doch entscheidend bleibt die Genauigkeit der Beobachtung, die auch über Sprachgrenzen hinweg trägt. So öffnet sich ein Zugang zu Tolstois Kunst, der zugleich anspruchsvoll und einladend ist.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Leo Tolstoi (1828–1910) gilt als einer der bedeutendsten Romanciers der Weltliteratur. Mit Krieg und Frieden und Anna Karenina schuf er monumentale Werke, die historische Weite, psychologische Tiefe und moralische Fragestellungen vereinen. Sein Schaffen umfasst zudem Erzählungen, pädagogische Schriften und religiös-philosophische Traktate, die Debatten über Gewaltfreiheit, Gewissen und gesellschaftliche Verantwortung prägten. Tolstoi verband epische Erzählkunst mit einer kompromisslosen Suche nach Wahrheit und Sinn, wodurch er Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie politische Denker weit über Russland hinaus beeinflusste. Sein Name steht für literarische Meisterschaft, radikale Gewissensprüfung und einen Humanismus, der bis in die Gegenwart ausstrahlt.

Bildung und literarische Einflüsse

Geboren auf dem Landgut Jasnaja Poljana wuchs Tolstoi in einer adligen Umgebung auf und erhielt eine sorgfältige Hausbildung. In den frühen 1840er-Jahren immatrikulierte er sich an der Universität Kasan, zunächst für orientalische Sprachen, später für Rechtswissenschaften, verließ das Studium jedoch ohne Abschluss. Seine eigentliche Bildung vollzog er autodidaktisch: in Tagebüchern, strenger Lektüre und praktischer Selbstdisziplin. Reisen nach Moskau, St. Petersburg und in den Kaukasus erweiterten seinen Horizont. Dort, im Militärdienst, beobachtete er Gesellschaft und Krieg aus nächster Nähe – Erfahrungen, die seine Wahrnehmung von Charakter, Moral und Macht dauerhaft prägten und späteren Stoffen eine konkrete Grundlage gaben.

Literarisch und philosophisch standen ihm frühe Lektüren von Rousseau, biblische Texte und die russische Prosa des 19. Jahrhunderts nahe; hinzu kamen europäische Vorbilder wie Homer und Autoren des Realismus. Tolstoi suchte eine Sprache, die Beobachtungsschärfe, moralische Ernsthaftigkeit und erzählerische Weite verbindet. Die russische Geschichtsschreibung und Memoirenliteratur zu den Napoleonischen Kriegen lieferten ihm Perspektiven auf Zeit, Schicksal und Verantwortung. Zugleich wirkten Erfahrungen im Kaukasus und auf der Krim als prägende Schule des Realismus: die unmittelbare Wahrnehmung von Gefahr, Kameradschaft und Leid. Aus diesen Quellen formte er seinen unverwechselbaren Stil: nüchtern, detailgenau, psychologisch fein und von ethischer Dringlichkeit getragen.

Literarische Laufbahn

Seine literarische Laufbahn begann mit den autobiografisch gefärbten Zyklen Kindheit, Knabenalter und Jünglingsjahre, die Einblick in Bildungsideale, Selbstprüfung und Standeswelt gaben und früh Aufmerksamkeit fanden. In den Kaukasus-Erzählungen und in Die Kosaken setzte er neue Maßstäbe für Naturbeschreibung und innere Perspektive. Die Sewastopol-Skizzen, aus dem Kriegsgeschehen heraus verfasst, verbanden Beobachtungsgenauigkeit mit moralischer Reflexion und etablierten ihn als führende Stimme eines realistischen, schonungslosen Blicks auf Konflikte. Bereits hier zeigte sich seine Neigung, das individuelle Bewusstsein mit gesellschaftlichen Kräften zu verschränken und dabei formale Freiheit mit strenger Wahrhaftigkeit zu verbinden.

Den Höhepunkt des historischen Romans erreichte Tolstoi mit Krieg und Frieden, entstanden in den 1860er-Jahren. Das Werk entfaltet ein weites Panorama russischer Gesellschaft während der Napoleonischen Kriege und verbindet intime Familienszenen mit Feldzugsdarstellungen und essayistischen Passagen über Freiheit, Zufall und Geschichtsmächtigkeit. Die vielstimmige Komposition, die psychologisch fein modulierten Figuren und die Reflexionen über Zeit und Verantwortung prägten Generationen von Leserinnen und Lesern. Zeitgenössische und spätere Kritik sah in dem Roman eine Revolution der epischen Form: entschlossen antirhetorisch, lebensnah, mit einem skeptischen, doch humanistischen Blick auf politische und militärische Entscheidungen.

Anna Karenina, in den 1870er-Jahren erschienen, gilt als einer der Höhepunkte des psychologischen Realismus. Tolstoi kontrastiert urbane Gesellschaft, Provinz, Landwirtschaft und Politik und verknüpft eine tragische Liebesgeschichte mit einer umfassenden Sittenstudie. Er zeigt, wie Institutionen, Erwartungen und innere Gewissensnöte Lebenswege formen. Die Figurenführung beeindruckt durch Ambivalenz und Empathie; moralische Fragen werden nicht didaktisch gelöst, sondern im Vollzug des Erzählens erfahrbar. Das Werk wurde früh als Meisterleistung anerkannt und gehört bis heute zum Kanon, nicht zuletzt wegen seiner stilistischen Balance zwischen realistischer Genauigkeit, philosophischem Ernst und einer ausdrucksstarken, doch unprätentiösen Prosa.

In den folgenden Jahrzehnten wandte sich Tolstoi zunehmend kürzeren Formen zu. Die Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch seziert mit strenger Klarheit die Angst vor Sinnlosigkeit und die Suche nach Wahrhaftigkeit. Auferstehung verbindet soziale Anklage mit religiöser Erneuerung und stieß auf breite, teils kontroverse Resonanz. Späte Prosastücke wie Die Kreutzersonate und Hadschi Murat zeigen seine unverblümte Wahrnehmung von Gewalt, Begehren und Macht. Parallel engagierte er sich pädagogisch: Auf seinem Gut experimentierte er mit freiem Unterricht und verfasste Lehrbücher, darunter eine weit verbreitete Fibel. Diese Doppelrolle als Romancier und Pädagoge erweiterte seine gesellschaftliche Wirkung erheblich.

Überzeugungen und Engagement

In den späten 1870er- und 1880er-Jahren vollzog Tolstoi eine tiefgreifende religiös-ethische Wende, die er in Bekenntnis- und Lehrschriften darlegte. Texte wie Meine Beichte, Worin mein Glaube besteht und Das Himmelreich in euch formulieren eine radikale Ethik der Gewaltfreiheit, der Gewissensverantwortung und der Ablehnung staatlicher Zwangsgewalt. Er kritisierte soziale Ungleichheit und Luxus, propagierte Einfachheit und Arbeitsethos und verzichtete auf Privilegien, soweit es ihm möglich war. Teile seiner Urheberrechte gab er auf, um seine Schriften zu verbreiten. Diese Positionen prägten nicht nur seine späten Werke, sondern auch seine öffentliche Rolle als moralische Autorität.

Tolstoi verband Überzeugung mit Tat. Während der Hungersnot von 1891–1892 organisierte er Hilfsaktionen, sammelte Spenden und veröffentlichte Aufrufe, um staatliche Trägheit zu kritisieren und solidarisches Handeln zu fördern. Er verteidigte Kriegsdienstverweigerer und unterstützte religiöse Gemeinschaften, die Gewalt ablehnten, auch logistisch bei der Emigration. Seine Essays zur Nichtwiderstehung gegen das Böse und zur Ablehnung der Todesstrafe fanden internationale Beachtung. Sie beeinflussten Bewegungen der Gewaltfreiheit, deren Vertreter in seiner Ethik eine praktische Anleitung zur zivilen Selbstverantwortung sahen. Tolstoi blieb dabei konsequent: Er forderte innere Umkehr, nicht revolutionären Umsturz, und setzte auf das Beispiel gelebter Prinzipien.

Seine Haltung brachte ihn in scharfen Gegensatz zu Institutionen. 1901 erklärte die Heilige Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche seine Trennung von der Kirche; staatliche Zensur und polizeiliche Überwachung begleiteten viele späte Veröffentlichungen. Zugleich wuchs seine weltweite Leserschaft, unterstützt durch Übersetzungen und ein dichtes Netz an Korrespondenzen. Die Spannung zwischen offiziellem Tadel und öffentlicher Verehrung verlieh seiner Stimme zusätzliches Gewicht. Für viele war er ein Schriftsteller, der das Gewissen der Zeit artikulierte, indem er Privilegien, Besitzdenken und Gehorsamsideologien infrage stellte und damit individuelle Verantwortung über Konventionen und Loyalitäten zu staatlichen Machtapparaten stellte.

Letzte Jahre und Vermächtnis

In seinen letzten Jahren schrieb Tolstoi weiter an Erzählungen, dramatischen Fragmenten und Essays, darunter späte Meisterstücke wie Hadschi Murat, das erst nach seinem Tod vollständig erschien. Er lebte schlicht und blieb öffentlich präsent, auch angesichts gesundheitlicher Belastungen und andauernder Konflikte mit Behörden und kirchlichen Stellen. Im Jahr 1910 verließ er sein Zuhause, wurde auf einer Reise schwer krank und starb im Bahnhof Astapowo, was weltweit Presse und Öffentlichkeit bewegte. Sein Tod markierte das Ende einer Epoche: Die Aufmerksamkeit, mit der man seinen letzten Tagen folgte, zeigte die außergewöhnliche moralische und kulturelle Autorität, die er bis zuletzt ausübte.

Tolstois Vermächtnis ist doppelt: Er erneuerte die Formen des Romans, indem er psychologische Durchdringung, gesellschaftliche Breite und theoretische Reflexion verband; zugleich formulierte er eine Ethik persönlicher Verantwortung, die Bewegungen der Gewaltfreiheit weltweit inspirierte. Seine Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, kontinuierlich neu ediert und erforscht. Literatur, Film und Theater greifen seine Stoffe und Figuren immer wieder auf. Gedenkstätten und Forschungsorte bewahren seine Handschriften und vermitteln seine Ideen einer breiten Öffentlichkeit. Als Maßstab für erzählerische Integrität und moralischen Ernst behauptet er eine zentrale Stellung im Kanon – ein Autor, dessen Aktualität sich ständig neu bestätigt.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Lew Tolstoi (1828–1910), geboren auf dem Landgut Jasnaja Poljana bei Tula, gehört zu jener russischen Adelsgeneration, die vom Ancien Régime des Zarenreichs in die Ära der Reformen und Krisen hineinalterte. Zwischen Moskau, St. Petersburg, dem Kaukasus und Sewastopol sammelte er Erfahrungen, die seine künstlerische und moralische Entwicklung prägten. Die Wege des Adels, der Bürokratie und des Militärs kreuzten sich in seinem Leben ebenso wie jene der Bauernschaft. In den Jahrzehnten zwischen Nikolaus I. und Nikolaus II. sah er die Grundlagen der Autokratie schwanken. Dieses Lebenspanorama bietet den historischen Resonanzraum für seine Romane, Erzählungen und essaysistischen Interventionen.

Die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war durch die Spannung zwischen autokratischer Ordnung und Modernisierungsdruck geprägt. Der Aufstand der Dekabristen 1825 markierte eine moralisch-politische Erbschaft, die den Adel über Generationen beschäftigte. Unter Alexander II. (Regierungsantritt 1855) erfolgten die „Großen Reformen“: Bauernbefreiung 1861, Gerichtsreform 1864, Universitätsstatut 1863, Militärdienstreform 1874. Zugleich erschütterten Attentate und Widerstandsbewegungen (Narodniki) den Staat, kulminierend in der Ermordung des Zaren 1881. Die anschließende Reaktion unter Alexander III. und die vorsichtigeren Ansätze unter Nikolaus II. (1894–1917) schufen einen Hintergrund aus Hoffnungen, Rückschlägen und wachsender sozialer Reibung.

Tolstois militärische Erfahrungen verbanden das Imperium mit der Welt der Literatur. Ab 1851 diente er im Kaukasus, wo der langwierige Kaukasuskrieg (1817–1864) das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie offenlegte. 1854–1855 war er als Artillerieoffizier während der Belagerung von Sewastopol im Krimkrieg (1853–1856) eingesetzt. Dort beobachtete er Logistik, Befehlsketten, Improvisation und Leid in einer industrieller werdenden Kriegsführung. Diese Erfahrungen verdichteten sein Interesse an Moral, Pflicht und Zufall in historischen Extremsituationen. Zugleich begegnete er der multikonfessionellen, multiethnischen Realität des Imperiums und der Ambivalenz militärischer Tapferkeit, die sich mit Bürokratie, Propaganda und persönlicher Angst verschränkte.

Die napoleonische Invasion von 1812 war das erinnerungspolitische Zentrum des 19. Jahrhunderts. Moskaus Evakuierung und der Brand, der Rückzug über Smolensk und Borodino, der Guerillakrieg und die Mobilisierung der Landwehr wurden in Adelsfamilien, Offizierskreisen und Volksüberlieferungen tradiert. Der Kult um 1812 formte nationale Selbstbeschreibungen, historische Forschung und patriotische Rituale (Jahrestage, Denkmäler). Er beeinflusste Vorstellungen von Führerschaft, Zufall und Notwendigkeit, von staatlicher Ordnung und volkstümlicher Energie. In dieser Matrix aus Erinnerung und Historiographie verhandelte man die Legitimität des Adels, die Rolle der Hauptstadtgesellschaften Moskau und St. Petersburg und den Sinn großer geschichtlicher Umwälzungen.

Ein grundlegender geistesgeschichtlicher Konflikt war der zwischen Westlern und Slawophilen. Namen wie Alexander Herzen, Wladimir Solowjow, Iwan Aksakow oder Iwan Kirejewski markieren das Spektrum zwischen rationalistischer Europäisierung und idealisierter russischer Eigenart. In den 1840er–1860er Jahren wurden in Salons, Universitäten und Zeitschriften Fragen nach Kirche, Gemeinde (Mir), Recht und Freiheit intensiv debattiert. Diese ideologischen Felder, verbunden mit Diskussionen zu Hegels Geschichtsphilosophie, Rousseaus Naturbegriff oder Schopenhauers Pessimismus, prägten das intellektuelle Klima. Die Spannung zwischen städtischer Moderne und provinzieller Tradition bildete die Kulisse, in der gesellschaftliche Rollen, Moral und nationale Identität verhandelt wurden.

Die literarische Öffentlichkeit des Zarenreichs war von „dicken Zeitschriften“ und Zensur bestimmt. Periodika wie Russkij Westnik (M. N. Katkow) oder Sowremennik schufen ein Forum für Fortsetzungsromane, Essays, Rezensionen und polemische Debatten. Autoren und Redaktionen rangen um Themen, Ton und politische Implikationen. Vorzensur, Nachzensur und administrativer Druck durch die Oberste Pressebehörde erzeugten Unsicherheit, verlangsamten Publikationen und schärften zugleich den Blick für subtile Darstellung. Serielle Veröffentlichung formte Komposition, Rhythmus und Leserbindung. Dieses Gefüge aus Markt, Kritik, Zensur und Salonrezensionen verband die Hauptstadtpublika mit der Provinz, was den sozialen Horizont der russischen Romanproduktion erheblich erweiterte.

Die Gerichtsreform von 1864 führte Geschworenengerichte, unabhängige Richter und strafprozessuale Garantien ein, wodurch Recht und Öffentlichkeit neue Bedeutung erhielten. Prozesse zogen Aufmerksamkeit in Städten wie Moskau, St. Petersburg, Kasan und Odessa auf sich; Zeitungen berichteten detailliert. Fragen nach Schuld, Sühne, sozialer Ursache und moralischer Verantwortlichkeit wurden in einem säkularisierten Rahmen verhandelt. Das Gefängnissystem, die Verbannung nach Sibirien und die Grenzen bürokratischer Gerechtigkeit rückten in den Fokus. Die Spannung zwischen gesetzlicher Norm und Gewissensentscheidung, zwischen Institution und individueller Umkehr, bildet einen zentralen historischen Hintergrund vieler Problemstellungen, die russische Romane des späten 19. Jahrhunderts durchziehen.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche prägte Sitten, Kalender und Lebensabschnitte – Taufe, Trauung, Beichte, Begräbnis – und wirkte als moralische Autorität. Gleichzeitig standen Synodalverwaltung und Volksfrömmigkeit in einem Spannungsverhältnis zu aufgeklärten, rationalistischen und sozialreformerischen Ideen. Die Exkommunikation Tolstois durch den Heiligen Synod am 22. Februar 1901 symbolisierte Konflikte über Dogma, Sakramente, Macht und Gewissen. Religiöse Erneuerungsbewegungen und „Sektierer“ – von Altgläubigen bis zu pazifistischen Gemeinschaften – forderten das offizielle Narrativ heraus. Dieser religiöse Pluralismus, gepaart mit Zweifel an Staatskirchlichkeit, bereitete die Bühne für Debatten über Gewaltlosigkeit, Nächstenliebe, Eigentum und die praktische Auslegung des Evangeliums.

Mit der Bauernbefreiung 1861 wurden rund 23 Millionen Leibeigene in persönliche Freiheit entlassen; zugleich belasteten Ablösezahlungen und Allmenderegeln (Mir) die Dorfgemeinschaften. Tolstoi arbeitete als Friedensrichter und Gutsherr mit dieser sozialen Wirklichkeit. Hungersnöte, insbesondere 1891–1892 an der Wolga, offenbarten strukturelle Defizite und riefen bürgerliche Hilfsnetze hervor. Die agrarische Frage – Landverteilung, Produktivität, Bildung – durchzog öffentliche Debatten bis zu den Stolypin-Reformen ab 1906. In diesem Rahmen gewannen Vorstellungen von schlichter Lebensführung, Sittlichkeit und solidarischer Arbeit an Gewicht. Dorf, Gut, Jahreszeiten und körperliche Arbeit wurden zu Prüfsteinen gesellschaftlicher und individueller Erneuerung.

Familie, Ehe und Geschlechterrollen unterlagen der Spannung zwischen kirchlichem Recht, sozialem Brauch und moderner Sensibilität. Während Adelskreise Heiraten strategisch arrangierten, veränderten städtische Bildung und bürgerliche Ideale Vorstellungen von Liebe, Mutterschaft, Scheidung und Vormundschaft. In den 1870er Jahren entstanden höhere Kurse für Frauen in St. Petersburg und Moskau; Debatten über weibliche Berufstätigkeit und Sexualmoral erfassten die Presse. Medizinische Fortschritte minderten Risiken, blieben aber unsicher; Kindersterblichkeit und Wochenbettfieber waren allgegenwärtig. Das private Interieur – Salon, Kinderzimmer, Arbeitszimmer – wurde zum Schauplatz ethischer Konflikte, die mit öffentlicher Reputation, Eigentum und der Macht der Konventionen verflochten waren.

Die Beschleunigung durch Eisenbahnen, Telegrafie und Märkte veränderte Russland tiefgreifend. Die Linie St. Petersburg–Moskau wurde 1851 eröffnet; die Netzdichte wuchs rasant in den 1860er–1890er Jahren. Reisen, Finanzspekulation, Nachrichtenfluss und Arbeitsmigration schufen neue Rhythmen und Risiken. Städte wie Moskau, St. Petersburg, Nischni Nowgorod und Charkiw entwickelten Fabriken, Passagen, Bahnhöfe als moderne Bühnen des Alltags. Diese Verdichtung erzeugte soziale Mobilität, zugleich Entwurzelung. Die Gegenüberstellung von Landgut und Großstadt, von Pferdeschlitten und Expresszug, von Briefwechsel und Telegraphenstil bildete einen kulturhistorischen Hintergrund, vor dem sich moralische Entscheidungen anders darstellen als im langsamen Takt der Provinz.

Das Gut Jasnaja Poljana, von Wäldern, Fluren und Dörfern umgeben, stand exemplarisch für das Nebeneinander von Herrensitz und Bauernwelt. Verwaltung, Ernte, Jagd, Schule und Lastrituale strukturierten das Jahr. Tolstoi experimentierte mit Pädagogik: 1859 eröffnete er eine Dorfschule, publizierte ab 1862 in der Zeitschrift „Jasnaja Poljana“ und schuf 1872 ein „ABC“-Lesebuch. Die Unmittelbarkeit bäuerlicher Sprache, Liedgut und Erzähltradition prägten seinen Sinn für Stil und Wahrheit. Zugleich schärften Konflikte über Pacht, Waldnutzung oder Dienste die Wahrnehmung sozialer Gewalt. Die Erfahrungsnähe zum Dorf begründete eine Literatur, die moralische Fragen im Konkreten erdet.

Russischer Realismus und europäische Diskurse verbanden sich in einem weiten intellektuellen Horizont. Lektüren von Rousseau, Montaigne und Schopenhauer, die Begegnung mit Dickens und Turgenev, Reisen nach Frankreich, Deutschland, Italien und in die Schweiz (1857, 1860–1861) speisten Selbstprüfung und Stilkritik. Eine öffentliche Hinrichtung in Paris 1857 schockierte Tolstoi und schärfte seine Abneigung gegen staatliche Gewalt. Klassische Historiographie (Thukydides), Epos (Homer) und die russische Chronistik beeinflussten seine Vorstellungen von Ursache, Zufall und Sinn geschichtlicher Vorgänge. Die Spannung zwischen europäischer Ästhetik und moralischer Didaxe trug zu einer Prosa bei, die Wahrhaftigkeit über Kunstfertigkeit stellte.

Die imperialen Peripherien – vom Kaukasus über die Wolgaregion bis Sibirien – bildeten Labore imperialer Herrschaft. Im Kaukasus standen russische Truppen muslimischen Gemeinschaften gegenüber; Figuren wie Imam Schamil (1834–1859) prägten das Bild des Widerstands. In Tiflis (Tbilisi), Grosny oder an der Terekfront verschränkten sich Ehre, Loyalität, Verrat und Überleben mit ethnischer Politik und Landschaftserfahrung. Solche Grenzräume relativierten die Gewissheiten der Petersburger Etikette. Das Imperium erschien als Patchwork aus Ordnungen, in dem militärische Disziplin, Stammesrechte, religiöse Autorität und persönliche Tugend unruhig nebeneinanderstanden – ein Horizont, der Fragen von Freiheit, Gewalt und Verantwortung zuspitzte.

Tolstois spätere ethische Wende verband Literatur, Pädagogik und konkrete Hilfe. Während der Hungersnot 1891–1892 organisierte er Hilfsküchen und publizierte gegen bürokratische Untätigkeit. Sein Engagement für pazifistische Gruppen wie die Duchoborzen kulminierte 1899 in deren Auswanderung nach Kanada unter Peter Weriqin, unterstützt durch Quäkerkreise; die Mittel stammten zu einem erheblichen Teil aus den Erlösen eines späten Romans. Diese Verbindung von Werk, Öffentlichkeit und Tat prägte die weltweite Wahrnehmung. Der Schriftsteller wurde zum moralischen Gewissen, das Institutionen kritisierte, aber auf individuelle Umkehr setzte – ein Spannungsfeld, das die Rezeption seiner gesamten Prosa beeinflusste.

Die Kriege und Krisen der Jahrhundertwende verschärften soziale Spannungen. Der Russisch-Japanische Krieg (1904–1905) erschütterte den Glauben an die Unbesiegbarkeit des Imperiums; der „Blutige Sonntag“ am 9. Januar 1905 in St. Petersburg leitete Revolution, Bauernunruhen und Streikwellen ein. Das Oktobermanifest 1905 versprach begrenzte Partizipation, doch die Repression blieb. In dieser Atmosphäre reflektierte die Öffentlichkeit Gewalt, Recht und Gewissen neu. Debatten über Militärehre, Desertion, Terror und Amnestie kreuzten Fragen von Eigentum, Ehe, Pressefreiheit und Religionsgewissen. Die sichtbar gewordene Macht der Masse relativierte aristokratische Selbstgewissheit und verlieh moralischen Argumenten eine unmittelbare politische Brisanz.

Tolstoi starb am 20. November 1910 im Bahnhof Astapowo (heute: Lenin Oblast, Station Lew Tolstoi) – eine symbolische Szene des Aufbruchs und Abschieds. Sein Werk spannte den Bogen vom vormodernen Gut über die napoleonische Erinnerungslandschaft, die Reformära und die Imperiumsfronten bis in die nervöse Moderne der Bahnstationen und Gerichtssäle. Orte wie Moskau, St. Petersburg, Jasnaja Poljana, Sewastopol und der Kaukasus sind Eckpunkte einer russischen Erfahrungsgeographie. Die Romane entstehen aus diesem weiten Resonanzraum: Sie verbinden intime Beobachtung und Weltgeschichte, häusliche Sitte und Staat, Glauben und Zweifel – und verankern persönliche Schicksale im Strom des Jahrhunderts.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Krieg und Frieden

Ein Panorama des russischen Adels und der Gesellschaft während der Napoleonischen Kriege, das die Schicksale der Familien Rostow, Bolkonski und Besuchow verknüpft. Thematisiert Kriegserfahrung, historisches Handeln und die Suche nach persönlichem Sinn und Liebe.

Anna Karenina

Die Geschichte einer verheirateten Frau, deren leidenschaftliche Beziehung zu einem Offizier sie in Konflikt mit den Normen der Petersburger Gesellschaft bringt, verschränkt mit Levins Suche nach Lebenssinn und sozialer Reform auf dem Land. Untersucht Liebe, Ehe, Moral und den Gegensatz von Stadt und Provinz.

Auferstehung

Ein adliger Geschworener erkennt in einer Angeklagten die Frau wieder, die er einst schwer verletzte, und unternimmt, ihr zu helfen und seine Schuld zu sühnen. Der Roman verbindet eine persönliche Gewissensprüfung mit einer scharfen Kritik an Justiz, Kirche und gesellschaftlicher Ungleichheit.

Glück der Ehe

Eine junge Erzählerin schildert die Entwicklung ihrer Ehe mit einem älteren Mann von schwärmerischer Verliebtheit über Ernüchterung hin zu einer reifer gedachten Partnerschaft. Beleuchtet Erwartungen, Eifersucht und den Alltag bürgerlicher Intimität.

Hadschi Murat (Chadschi Murat)

Ein kaukasischer Anführer sucht bei den Russen Zuflucht im Machtkampf mit Schamil und gerät zwischen Imperiumspolitik und Stammesloyalitäten. Eine knappe, eindringliche Erzählung über Ehre, Zwänge und die Härte des Kaukasuskriegs.

Sämtliche Romane von Leo Tolstoi

Hauptinhaltsverzeichnis
Krieg und Frieden
Anna Karenina
Auferstehung
Glück der Ehe
Hadschi Murat (Chadschi Murat)

Krieg und Frieden

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Epilog

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Inhaltsverzeichnis

»Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua und Lucca in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, Sie sind nicht mehr mein Freund, mein getreuer Sklave, wie Sie sagen, wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, denn es ist der Antichrist selbst, davon bin ich überzeugt. Setzen Sie sich hierher und erzählen Sie.«

Es war im Juni 1805, als Anna Pawlowna Scherer diese Worte sprach. Sie war Hofdame der Kaiserin Maria Feodorowna und gehörte sogar zu dem vertrauten Kreis Ihrer Majestät. Sie sprach mit dem Fürsten Wassil, welcher zuerst zu ihrer Abendgesellschaft eingetroffen war.

Ein Diener in roter, kaiserlicher Livree hatte am Morgen in der ganzen Stadt Einladungsbriefe zu dieser Abendgesellschaft umhergetragen.

»O Himmel, welch heftiger Überfall!« erwiderte der Fürst, ohne durch diesen Empfang in Aufregung zu geraten. Der Fürst trug die goldgestickte Uniform des Hofes mit Ordenssternen, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe. Sein Gesicht zeigte beständig ein liebenswürdiges Lächeln. Er sprach Französisch, jenes gewählte Französisch, in dem unsere Großväter nicht nur sprachen, sondern auch dachten, und in dem gemessenen, herablassenden Ton eines einflußreichen Würdenträgers, der am Hofe alt geworden ist. Er näherte sich Anna Pawlowna, küßte ihr die Hand, indem er sein kahles, parfümiertes Haupt neigte, und ließ sich dann bequem auf einem Sofa nieder.

»Vor allem, verehrte Freundin, beruhigen Sie mich über den Zustand Ihrer Gesundheit«, fuhr er in galantem Tone fort, der aber nicht frei von Spott war.

»Wie könnte ich mich wohl befinden bei solchen Aufregungen? Sie bleiben den ganzen Abend, hoffe ich?«

»Nein, heute nicht. Der englische Gesandte gibt ein großes Fest, auf dem ich erscheinen muß; meine Tochter wird mich abholen.«

»Ich glaubte, das Fest sei verschoben worden, und ich gestehe Ihnen sogar, daß alle diese Festlichkeiten mich nachgerade schrecklich langweilen.«

»Hätte man Ihren Wunsch ahnen können, so hätte man sie gewiß verlegt«, erwiderte der Fürst maschinenmäßig, wie eine gut gehaltene Uhr, ohne den geringsten Anspruch darauf, daß man seine Worte ernst nehme. »Spotten Sie nicht, und nun, da Sie alles wissen, sagen Sie mir, was ist beschlossen worden über die Depesche von Nowosilzow?«

»Was soll ich Ihnen sagen?« erwiderte der Fürst mit dem Ausdruck der Langenweile. »Sie wollen wissen, was man beschlossen hat? Nun, man hat entschieden, daß Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt habe, und es scheint, daß wir im Begriff sind, dasselbe zu tun.«

Der Fürst Wassil sprach immer mit einer gewissen Nachlässigkeit, wie ein Schauspieler, der eine alte Rolle spielt. Fräulein Scherer dagegen zeigte trotz ihrer vierzig Jahre eine große Lebhaftigkeit. Ihre soziale Stellung beruhte darauf, für eine enthusiastische Dame zu gelten. Das politische Gespräch, das sich entwickelte, brachte sie nach und nach in Aufregung.

»Ach, sprechen Sie mir nicht von diesem Österreich! Es ist möglich, daß ich nicht alles richtig verstehe, aber nach meiner Ansicht will es nicht den Krieg und hat ihn nie gewollt. Es verrät uns. Rußland allein muß Europa befreien. Unser Herr und Wohltäter ist durchdrungen von seiner hohen Mission und wird sich ihr gewachsen zeigen. Gott wird ihn nicht verlassen, er wird seine Aufgabe erfüllen und die Hydra der Revolution zerschmettern. Aber wem können wir vertrauen, frage ich Sie! England hat zu viel Krämergeist, um den hohen Flug der Seele des Kaisers Alexander zu begreifen, es weigert sich, Malta zu räumen, es wartet und argwöhnt Hintergedanken bei uns. Was haben die Engländer zu Nowosilzow gesagt? Nichts, denn sie begreifen nicht die Selbstverleugnung unseres Kaisers, welcher nichts für sich selbst, sondern nur das allgemeine Wohl will. Was haben sie versprochen? Nichts. Und Preußen? Hat es nicht erklärt, Bonaparte sei unüberwindlich und England ohnmächtig, ihn zu bekämpfen? Ich glaube nicht an Hardenberg, noch an Haugwitz, diese berühmte preußische Neutralität ist nur eine Schlinge! Aber ich glaube an Gott und an die höchste Bestimmung unseres Kaisers.« Sie schloß mit einem Lächeln über ihren eigenen Enthusiasmus.

»Wie schade, daß Sie nicht an der Stelle unseres liebenswürdigen Winzingerode stehen. Sie hätten den König von Preußen im Sturm erobert. Aber werden Sie mir Tee reichen lassen?«

»Sogleich!… Apropos«, fügte sie ruhiger hinzu, »ich erwarte heute abend zwei sehr interessante Herren, den Grafen Mortemart, einen der Emigranten, und den Abbé Morio, diesen eminenten Geist. Sie wissen ja, daß er vom Kaiser empfangen wurde. Aber sprechen wir ein wenig von den Ihrigen. Wissen Sie, daß die ganze Gesellschaft über Ihre Tochter entzückt ist seit ihrem Erscheinen in der Welt? Man findet sie schön wie der Tag!« Der Fürst verbeugte sich.

»Wie oft habe ich daran gedacht, wie ungleich die Glücksgüter in unserem Leben verteilt sind! Warum hat das Schicksal Ihnen so reizende Kinder gegeben, mit Ausnahme von Anatol, Ihrem Jüngsten, den ich nicht liebe«, fügte sie mit der Bestimmtheit eines unerbittlichen Urteils hinzu, indem sie die Augenbrauen in die Höhe zog. »Sie wissen Ihr Glück nicht zu schätzen, also verdienen Sie es auch nicht.« Sie begleitete diese Worte mit einem enthusiastischen Lächeln. »Was wollen Sie?« erwiderte der Fürst. »Lavater hätte wahrscheinlich entdeckt, daß auf meinem Schädel der Höcker, der die Liebe zu den Kindern andeutet, fehlt.«

»Hören Sie auf zu scherzen. Ich muß ernsthaft mit Ihnen sprechen. Ich bin sehr unzufrieden über Ihren Jüngsten! Unter uns gesagt, man hat bei Seiner Majestät über ihn gesprochen, und man bedauert Sie!« Bei diesen Worten nahm sie eine betrübte Miene an.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll«, erwiderte der Fürst entmutigt. »Ich habe als Vater für ihre Erziehung alles getan, was ich konnte, und doch ist aus beiden nichts geworden. Hippolyt ist wenigstens ein friedlicher Dummkopf, während Anatol ein Tollkopf ist. Das ist der einzige Unterschied zwischen ihnen.« Es lag ein unangenehmer Ausdruck in den Winkeln seines faltigen Mundes, während er lächelte.

»Leute wie Sie sollten gar keine Kinder haben! Wenn Sie nicht Vater wären, so hätte ich Ihnen gar nichts vorzuwerfen«, bemerkte Fräulein Scherer nachdenklich.

»Ich bin Ihr treuer Sklave, wie Sie wissen, und Ihnen allein kann ich mich anvertrauen. Meine Kinder sind für mich nur eine schwere Last, aber was ist zu machen?« Er schwieg und drückte durch eine Gebärde seine Unterwerfung unter das Schicksal aus.

Fräulein Scherer schien nachzudenken. »Haben Sie nie daran gedacht, Ihren verschwenderischen Sohn Anatol zu verheiraten? Alte Jungfern, sagt man, haben die Manie, Heiraten zu stiften, ich glaube mich frei von dieser Schwachheit, aber dennoch habe ich ein junges Mädchen für ihn in Aussicht, eine Verwandte von uns, die Fürstin Bolkonska, welche bei ihrem Vater sehr unglücklich ist.«

Der Fürst Wassil gab keine Antwort, aber eine leichte Bewegung seines Kopfes zeigte an, daß er diese Mitteilungen zu schätzen wisse. »Wissen Sie, daß dieser Anatol mich jährlich vierzigtausend Rubel kostet?« seufzte er. »Was soll das in fünf Jahren werden, wenn es so fort geht? Sehen Sie, was für ein Glück es ist, Papa zu sein! Ist sie reich, die junge Fürstin?«

»Ihr Vater ist sehr reich und sehr geizig und lebt immer zu Hause, auf dem Lande. Es ist dieser berühmte Fürst Bolkonsky, welcher noch bei Lebzeiten des verstorbenen Kaisers veranlaßt worden war, den Dienst zu verlassen und welchem man den Beinamen ›der König von Preußen‹ gab. Er ist sehr interessant, sehr originell und es ist schrecklich schwer, mit ihm auszukommen. Die arme Kleine ist schrecklich unglücklich. Sie hat nur einen Bruder, welcher vor kurzem Lisa Meynen heiratete und welcher Adjutant bei Kutusow ist. Sie werden ihn heute abend sehen.«

»Ich bitte Sie, teuerste Anna Pawlowna«, sagte der Fürst, indem er plötzlich die Hand des Fräulein Scherer ergriff, »bringen Sie mir diese Sache zustande und ich will für ewig der treueste Ihrer Sklaven sein! Sie ist von guter Familie und reich, das ist alles, was ich wünsche.«

»Gut, gut«, erwiderte Anna Pawlowna, »ich werde noch diesen Abend mit Lisa Bolkonska sprechen. Vielleicht läßt sich die Sache machen. Ich werde im Interesse Ihrer Familie mein Probestück als alte Jungfer machen.«

2

Inhaltsverzeichnis

Der Salon füllte sich mehr und mehr. Die Blüte der vornehmen Welt Petersburgs versammelte sich. Die Gesellschaft bestand aus Personen, welche zwar von sehr verschiedenem Charakter und Alter, aber alle aus denselben Kreisen waren.

Die Tochter des Fürsten Wassil, die schöne Helene, kam, um ihren Vater abzuholen und mit ihm die Festlichkeit beim englischen Gesandten zu besuchen. Sie war in Balltoilette und trug das Zeichen der Hofdamen auf der Brust. Die reizendste Frau Petersburgs, die junge, niedliche Fürstin Bolkonska, war gleichfalls zugegen. Sie war seit dem letzten Winter verheiratet und ihre interessanten Umstände, welche ihr den Besuch der »großen Welt« verboten, erlaubten ihr doch, an kleineren Zirkeln teilzunehmen.

»Haben Sie meine Tante gesehen?« Oder: »Kennen Sie meine Tante noch nicht?« wiederholte Anna Pawlowna jedem ihrer Gäste. Darauf führte sie ihn zu einer kleinen alten Dame mit auffallender Frisur. Fräulein Scherer erhob langsam den Blick von dem Neuangekommenen auf »ihre Tante« und verließ sie sogleich nach der Vorstellung wieder. Alle erfüllten dieselbe Zeremonie bei dieser unbekannten, überflüssigen Tante, welche niemand interessierte. Sie gebrauchte immer dieselben Ausdrücke, indem sie jeden nach seinem Befinden fragte, von dem ihrigen und dem Ihrer Majestät der Kaiserin sprach, »welches Gott sei Dank sich gebessert« habe. Aus Höflichkeit suchte man zu vermeiden, sich mit zu auffallender Hast zu entfernen, hütete sich aber wohl, der alten Dame während des Abends zum zweitenmal nahezukommen.

Die junge Fürstin Bolkonska hatte ihre Arbeit in einem »Ridikül« von Sammet mit Goldstickerei mitgebracht. Ihre reizende kleine Oberlippe, welche mit zartem Flaum beschattet war, erreichte niemals ganz die Unterlippe. Aber trotz der sichtbaren Anstrengung, mit der sie sich niederzulassen oder zu erheben suchte, gab es nichts Graziöseres, ungeachtet dieses leichten und originellen Fehlers, ein Vorrecht der wirklich anziehenden Damen; denn dieser halb offene Mund verlieh ihr einen eigentümlichen Reiz. Jeder bewunderte diese junge Dame voll Leben und Gesundheit, welche bald Mutter werden sollte und noch so leicht ihre Last trug.

Die kleine Fürstin ging mit leichten Schritten um den Tisch, ordnete die Falten ihres Kleides und setzte sich auf das Sofa, beim Samowar.

»Ich habe meine Arbeit mitgebracht«, sagte sie, indem sie ihren Ridikül öffnete, zu der Gesellschaft im allgemeinen. »Nehmen Sie sich in acht, Anna, spielen Sie mir keinen Streich! Sie haben mir geschrieben, Ihre Gesellschaft werde ganz klein sein, und nun sehen Sie, in welchem Aufzug ich bin!« Sie breitete die Arme aus, um ihr elegantes, graues, mit Spitzen besetztes Kleid deutlicher zu zeigen.

»Seien Sie unbesorgt, Lisa, Sie werden doch die Hübscheste sein.«

»Wissen Sie auch, daß mein Mann mich verläßt?« fuhr sie fort. »Er wird sich den Tod holen. Wozu dieser schreckliche Krieg?« sagte sie zum Fürsten Wassil, und ohne seine Antwort abzuwarten, plauderte sie mit seiner Tochter, der schönen Helene.

Bald darauf erschien ein großer, plumper, junger Mann mit kurz geschorenen Haaren im Salon. Er trug eine Brille, ein helles Beinkleid nach der Mode, eine ungeheure Hemdkrause und einen braunen Rock. Er war der natürliche Sohn Peter des Grafen Besuchow, eines großen Herrn, der zu Zeiten Katharinas sehr bekannt war, jetzt aber in Moskau dem Tode nahe war. Der junge Mann hatte sich noch keine Laufbahn ausgewählt; er kam aus dem Ausland, wo er erzogen worden war, und erschien zum erstenmal in der vornehmen Welt. Fräulein Scherer begrüßte ihn mit einem Lächeln, dabei drückte ihre Miene aber eine Unruhe aus, wie man sie beim Erblicken eines kolossalen Gegenstandes, der nicht am rechten Platze ist, empfindet. Peters Gestalt war viel höher als die der anderen Gäste, aber die Unruhe der Dame hatte eine andere Ursache, sie bezog sich auf seinen guten, schüchternen, dabei forschenden Blick.

»Höchst liebenswürdig von Ihnen, Monsieur Pierre, daß Sie zu einer armen Kranken kommen«, sagte sie. Peter stotterte einige unverständliche Worte, indem er seine Augen umherschweifen ließ. Plötzlich lächelte er heiter und grüßte die kleine Fürstin wie eine gute Bekannte. Dann verbeugte er sich vor der »Tante«. Fräulein Scherer hatte wohl Grund zur Unruhe und zur Besorgnis; denn Peter verließ die Tante plötzlich, ohne das Ende der Phrase über die Gesundheit Ihrer Majestät abzuwarten. Erschrocken hielt sie ihn an.

»Kennen Sie den Abbé Morio?« fragte sie. »Ein sehr interessanter Mann!« »Ja, ich habe von seinem Projekt des ewigen Friedens gehört. Sehr geistreich … aber unausführbar.«

»Glauben Sie?« fragte Fräulein Scherer, nur um als Dame des Hauses etwas zu sagen.

Peter aber machte sich einer zweiten Unhöflichkeit schuldig. Er hatte eben eine Dame plötzlich verlassen, ohne das Ende ihrer Phrase anzuhören und jetzt hielt er die andere zurück, die sich entfernen wollte, und begann ihr zu erklären, warum das Projekt des Abbé Morio nur ein Hirngespinst sei.

»Wir werden noch später darüber sprechen«, sagte Fräulein Scherer.

Nachdem sie sich von dem jungen Mann losgemacht hatte, der keine Lebensart besaß, kehrte sie zu ihren Pflichten als Wirtin zurück und hielt sich bereit, auf schwachen Punkten einzugreifen und eine stockende Unterhaltung wieder in Fluß zu bringen. Bald näherte sie sich einer schweigenden Gruppe, bald trat sie zu einem schwatzhaften Kreis, ein Wort oder eine geschickt vorgenommene Versetzung einer Person brachte die Gesprächsmaschine wieder in leichten, regelmäßigen Gang. Peter erschien zum erstenmal in einer Gesellschaft in Rußland. Er wußte, daß alles versammelt war, was Petersburg an Intelligenz besaß, und seine Blicke schweiften von einer Seite zur anderen. Immer befürchtete er, ein geistreiches Wort von diesen vornehmen, selbstbewußten Persönlichkeiten zu überhören, und dann suchte er nach einer Gelegenheit, seine Meinung auszusprechen. Denn das ist die Schwachheit aller jungen Leute.

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Inhaltsverzeichnis

Die Unterhaltung war in lebhaftem Gang. Die Gäste hatten sich in drei Gruppen geteilt. Der Mittelpunkt der einen, in welcher das männliche Element vorherrschte, war der Abbé, die zweite, aus jungen Leuten bestehend, umgab Helene, die fürstliche Schönheit, und die Fürstin Bolkonska, diese reizende kleine Dame, die dritte Gruppe hatte sich um die Dame des Hauses und Mortemart gebildet. Der Graf Mortemart mit seinem sanften Gesicht und seinen angenehmen Manieren spielte die Rolle einer Berühmtheit. Anna Pawlowna bediente sich des Gastes wie eines kostbaren Gerichts für Feinschmecker. So hatte sie für ihre Gäste heute zwei delikate Bissen, zuerst den Grafen und dann den Abbé. Man sprach von der Hinrichtung des Herzogs von Enghien, und der Graf behauptete, er sei aus Seelengröße gestorben.

»Ja, erzählen Sie! Erzählen Sie!« rief Fräulein Scherer heiter aus. Der Graf verbeugte sich lächelnd.

»Der Graf«, sagte Fräulein Scherer leise zu ihrem Nachbar, »war mit dem Herzog intim bekannt.«

»Der Graf«, sagte sie zu einem anderen, »ist ein vortrefflicher Erzähler.« »Der Graf gehörte zur besten Gesellschaft, wie man sieht«, flüsterte sie einem dritten zu. Auf diese Weise wurde der Vikomte wie ein Roastbeef auf einer erwärmten Schüssel mit Grünwerk verziert den Gästen serviert. »Setzen Sie sich hier neben mich, liebe Helene«, rief Fräulein Scherer der jungen Dame zu, welche den Mittelpunkt einer anderen Gruppe bildete. Die Fürstin Helene erhob sich mit ihrem beständigen Lächeln auf den Lippen, die Herren traten zurück, und unter einem Strom von Licht, der von ihren Edelsteinen widerstrahlte, trat sie näher. Sie lächelte allen zu, ohne eine einzelne Person anzusehen, und gewährte so allen das Recht, die Schönheit ihrer Toilette und ihrer blendend weißen Schultern zu bewundern.

»Wie schön sie ist!« rief man bei ihrem Anblick.

»Ich bin ganz eingeschüchtert«, sagte der Graf, vor einem solchen Zuhörerkreis.

»Warten Sie!« rief die kleine Fürstin, welche den Teetisch verlassen hatte, »ich muß meine Arbeit holen. Was machen Sie? An was denken Sie?« sagte sie zu Hippolyt. »Bringen Sie mir doch meinen Ridikül!«

Der Graf erzählte sehr gewandt die neue Anekdote über den Herzog von Enghien. Dieser hatte sich heimlich nach Paris begeben, um Mademoiselle George zu besuchen. Dort begegnete er Napoleon, welchen die berühmte Künstlerin gleichfalls begünstigte. Die Folge dieses unglücklichen Zufalls war, daß Napoleon in eine Ohnmacht fiel, wie ihm dies zuweilen begegnete und welche ihn der Gewalt seines Feindes überlieferte. Der Herzog hatte sie nicht benutzt; Bonaparte aber rächte sich später für diesen Edelmut, indem er ihn erschießen ließ. Diese Erzählung wurde besonders interessant in dem Augenblick, wo die beiden Rivalen sich begegneten, und erwies sich besonders für die Damen aufregend. »Reizend!« flüsterten sie sich zu und die kleine Fürstin steckte die Nadel in ihre Arbeit, um zu zeigen, daß das Interesse der Anekdote ihre Arbeit unterbrach.

Inzwischen hatte Fräulein Scherer bemerkt, daß der schreckliche Peter mit dem Abbé disputierte, und beeilte sich, einer Gefahr vorzubeugen. Peter war es wirklich gelungen, ein Gespräch über das politische Gleichgewicht anzuknüpfen, und der Abbé schien über den jugendlichen Eifer Peters sichtlich entzückt. Die beiden sprachen laut und lebhaft, und das war es eben, was der Hofdame mißfiel.

»Aber wie soll man dieses Gleichgewicht herstellen?« rief Peter in dem Augenblick, als Fräulein Scherer ihm einen strengen Blick zuwarf und den Italiener fragte, wie er das nordische Klima vertrage.

»Ich stehe zu sehr unter dem Zauber des Geistes und der Bildung, besonders der weiblichen Gesellschaft, in der ich die Ehre habe, mich zu bewegen, um an das Klima denken zu können«, erwiderte er.

In demselben Augenblick erschien eine neue Persönlichkeit im Salon, das war der junge Fürst Bolkonsky, der Gemahl der kleinen Fürstin, ein hübscher junger Mann von Mittelgröße, mit stark ausgesprochenen Zügen. In allem, besonders in seinem müden Blick und seinem gemessenen Gang war er das ganze Gegenteil der so lebhaften, kleinen Frau. Er kannte jedermann im Salon; alle waren ihm langweilig, und er hätte viel darum gegeben, sie nicht sehen und hören zu müssen, seine Frau mit eingeschlossen. Sie schien ihm noch mehr Antipathie als die anderen einzuflößen, und er wandte sich mit verdrießlicher Miene von ihr ab und küßte Fräulein Scherer die Hand.

»Sie bereiten sich auf den Krieg vor, Fürst?« fragte sie.

»Der General Kutusow hat mich zum Adjutanten erwählt«, erwiderte Bolkonsky.

»Und Ihre Frau?«

»Sie wird aufs Land gehen.«

»Schämen Sie sich nicht, uns Ihrer entzückenden Frau zu berauben?«

»Andree!« rief die kleine Fürstin, ebenso kokett ihrem Mann wie den anderen gegenüber. »Wenn du die hübsche Geschichte wüßtest, welche der Graf uns eben erzählt hat.«

Der Fürst machte wieder ein verdrießliches Gesicht und entfernte sich.

Peter, der ihn seit seinem Eintreten mit seinen vergnügten, freundlichen Augen verfolgt hatte, näherte sich ihm jetzt und ergriff seine Hand. Die Miene des Fürsten Andree erhellte sich plötzlich und mit gutmütigem, herzlichem Lächeln rief er: »Ach, wirklich! Bist du auch in der großen Welt?«

»Ich wußte, daß Sie hier sein würden! Ich werde nächstens bei Ihnen speisen, darf ich?« fügte er leise hinzu.

»Nein, du darfst nicht«, sagte Andree lachend, indem er Peter durch einen Händedruck die Überflüssigkeit seiner Frage begreiflich machte.

Er wollte noch etwas sagen, als der Fürst Wassil und seine Tochter sich erhoben, und die Umstehenden auf die Seite traten, um ihnen Raum zu geben.

»Entschuldigen Sie, verehrter Graf«, sagte der Fürst, »diese ungelegene Festlichkeit beim englischen Gesandten beraubt uns eines Vergnügens und nötigt uns, Sie zu unterbrechen. Ich bedaure sehr, teuerste Anna Pawlowna, Ihre reizende Soiree verlassen zu müssen.«

Seine Tochter Helene bahnte sich einen Weg durch die Stühle, indem sie ihr Kleid mit einer Hand zurückhielt. Peter betrachtete diese blendende Schönheit mit einer Mischung von Entzücken und Schrecken.

»Sie ist sehr schön!« sagte der Fürst Andree.

»Ja, sehr«, erwiderte Peter. Der Fürst Wassil drückte ihm im Vorübergehen die Hand.

»Vollenden Sie die Erziehung dieses Bären«, sagte er zu der Hofdame. »Seit elf Monaten wohnt er bei mir und dies ist das erstemal, daß ich ihn in Gesellschaft sehe. Nichts bildet einen jungen Mann so wie die Gesellschaft geistreicher Damen.«

4

Inhaltsverzeichnis

Die Hofdame versprach lächelnd, sich mit Peter zu beschäftigen, welcher, wie sie wußte, durch seinen Vater mit dem Fürsten Wassil verwandt war. Die alte Dame, welche neben der Tante saß, erhob sich plötzlich und holte den Fürsten Wassil im Vorzimmer ein.

»Was haben Sie mir zu sagen, Fürst, wegen meines Boris? Ich kann nicht länger in Petersburg bleiben. Bitte, sprechen Sie, was ich meinem armen Sohne sagen kann.« Ungeachtet der sichtlichen Verdrießlichkeit und Unhöflichkeit, mit der der Fürst sie anhörte, lächelte sie ihm zu und hielt ihn mit der Hand zurück. »Es würde Sie nur ein Wort beim Kaiser kosten, daß er direkt in die Garde eintreten könnte.«

»Seien Sie überzeugt, Fürstin, daß ich alles tun werde, was ich kann, aber es ist schwierig, Seine Majestät darum zu bitten. Ich möchte Ihnen raten, sich lieber an Rumjanzow zu wenden, das wäre besser.«

Die alte Dame war die Fürstin Drubezkoi und gehörte einer der ersten Familien Rußlands an, aber sie lebte in Armut und Zurückgezogenheit und hatte alle früheren Verbindungen verloren. Sie war nur nach Petersburg gekommen, um ihren Sohn in der Garde unterzubringen, und in der Hoffnung, dem Fürsten Wassil zu begegnen, hatte sie diese Soiree besucht. Ihr einst schönes Gesicht drückte lebhaften Verdruß aus, aber dann lächelte sie wieder und ergriff den Arm des Fürsten noch kräftiger.

»Hören Sie, Fürst, ich habe Sie nie um etwas gebeten und werde auch nie wieder etwas von Ihnen erbitten. Ich habe Sie niemals an die Freundschaft meines Vaters für Sie erinnert. Aber um Gottes willen, tun Sie das für meinen Sohn, und Sie werden unser Wohltäter sein«, fügte sie hastig hinzu. »Nein, Sie müssen mir das versprechen. Ich war schon bei Galizin, aber er hat mich abgewiesen. Seien Sie so gut, wie Sie ehemals waren«, fuhr sie fort und versuchte zu lächeln, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.

»Papa, wir werden zu spät kommen«, rief die Fürstin Helene von der Tür her.

Der Einfluß ist in dieser Welt ein Kapital, mit dem man sparsam zu wirtschaften verstehen muß. Das wußte der Fürst Wassil. Das sicherste Mittel, nichts mehr für sich selbst zu erreichen, wäre es gewesen, wenn er für alle, die sich bittend an ihn wandten, sich hätte verwenden wollen, das hatte er längst begriffen. Deshalb wandte er nur sehr selten seinen persönlichen Einfluß an. Aber die dringende Bitte der Fürstin Drubezkoi erweckte ihm leichte Gewissensbisse. Auf was sie angespielt hatte, das war die Wahrheit, ihrem Vater hatte er in der Tat die ersten Schritte seiner Laufbahn zu verdanken. Er wußte auch, daß sie zu den Frauen, zu denjenigen Müttern gehörte, welche keine Ruhe geben, bevor sie das Ziel ihrer hartnäckigen Wünsche erreicht haben, und welche stets bereit sind, bei jeder Gelegenheit eine Szene zu machen. Dieser Gedanke war bei ihm entscheidend.

»Teuerste Anna Michailowna«, sagte er mit seiner gewöhnlichen Vertrautheit, »was Sie verlangen, ist mir fast unmöglich, aber ich werde es dennoch versuchen, aus Achtung für das Andenken Ihres Vaters. Ihr Sohn wird in die Garde kommen, mein Wort darauf. Sind Sie jetzt zufrieden?« »Teurer Fürst, Sie sind mein Wohltäter! Das habe ich von Ihnen erwartet, denn ich kenne Ihre Herzensgüte. Noch ein Wort«, sagte sie, als er sie verlassen wollte, »wenn er in der Garde ist…« und sie hielt verwirrt an… »Sie stehen so gut mit Kutusow, Sie werden ihm meinen Boris empfehlen, nicht wahr, damit er ihn zum Adjutanten nimmt? Dann werde ich ruhig sein und niemals wieder …«

Fürst Wassil lächelte.

»Das kann ich Ihnen nicht versprechen. Seit Kutusow zum Obergeneral ernannt wurde, wird er mit Bittschriften überschüttet. Er sagte mir selbst, alle Damen von Moskau wollen ihm ihre Söhne zu Adjutanten geben.«

»Nein, nein, versprechen Sie mir das, mein Freund, mein Wohltäter, versprechen Sie mir das, oder ich halte Sie noch länger zurück!«

»Papa«, wiederholte die schöne Helene, »wir kommen zu spät.«

»Nun, Sie sehen!… Auf Wiedersehen! Ich kann nicht länger…«

»Also, Sie werden morgen mit dem Kaiser sprechen?«

»Unfehlbar, aber was Kutusow betrifft, kann ich nichts versprechen.« »Mein Wassil«, begann Anna Michailowna wieder mit einem koketten Lächeln. Sie vergaß, daß ihr Lächeln von ehemals mit ihrem müden Gesicht nicht mehr harmonierte. Sie dachte nicht mehr an ihr Alter und suchte nur alle Mittel anzuwenden. Kaum aber war der Fürst verschwunden, als ihr Gesicht wieder seinen früheren kalten Ausdruck annahm. Sie trat wieder zu der Gruppe, in deren Mitte der Graf erzählte, und gab sich den Anschein, sich dafür zu interessieren, während sie nur an den günstigen Moment zum Verschwinden dachte, da sie ihr Vorhaben nun ausgeführt hatte.

»Wie finden Sie diese neue Komödie?« fragte die Hofdame. »Monsieur Bonaparte sitzt auf einem Thron und hört die Wünsche der Nation an. Wunderbar! Nein, man sollte glauben, die ganze Welt habe den Kopf verloren!« Der Fürst Andree lächelte.

»Wirklich«, rief die Hofdame, »die Regenten können diesen Menschen nicht länger dulden, er ist für alle eine lebendige Drohung.«

»Die Regenten«, sagte der französische Emigrant höflich und in traurigem Tone. »Was haben sie für Ludwig XVI. getan und für die Königin? Nichts! Und glauben Sie mir, sie sind dafür gestraft, daß sie die Bourbonen verlassen haben. Und wenn Napoleon noch ein Jahr auf dem Throne von Frankreich bleibt, so wird die französische Gesellschaft, ich meine die gute Gesellschaft, wohlverstanden, vernichtet sein, und dann…« Peter wollte ihn unterbrechen, aber die Hofdame, die ihn beobachtete, kam ihm zuvor.

»Der Kaiser Alexander«, begann sie mit jenem Anflug von Traurigkeit, der immer ihre Bemerkungen über die kaiserliche Familie begleitete, »hat erklärt, daß er es den Franzosen überlasse, ihre Regierungsform zu wählen, und ich bin überzeugt, die ganze Nation wird sich in die Arme ihres legitimen Königs werfen, wenn sie einmal von dem Usurpator befreit ist.« Augenscheinlich lag es Fräulein Scherer daran, dem royalistischen Emigranten zu schmeicheln.

»Das ist wenig wahrscheinlich«, bemerkte Fürst Andree, »die Sachen sind zu weit gegangen und ich glaube, es wäre schwierig, auf die Vergangenheit zurückzukommen.« »Wie ich hörte«, fügte Peter hinzu, »ist der größte Teil des Adels von Napoleon schon gewonnen.«

»Das behaupten die Bonapartisten!« rief der Graf, ohne Peter anzusehen. »Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien«, bemerkte Peter, »war eine politische Notwendigkeit, und Napoleon hat wirklich Seelengröße gezeigt, indem er die Verantwortlichkeit dafür auf sich nahm.«

»Oh! Oh!« riefen mehrere Stimmen. Der Graf zuckte mit den Achseln. »Ich sage das«, fuhr Peter fort, »weil die Bourbonen vor der Revolution geflohen sind und das Volk der Anarchie überlassen haben. Napoleon allein hat es verstanden, die Revolution zu besiegen und deshalb durfte er sich nicht von einem einzelnen auf seinem Wege aufhalten lassen, wenn er das allgemeine Wohl im Auge hatte.«

»Wollen Sie nicht an den andern Tisch gehen?« sagte die Hofdame, aber Peter fuhr immer lebhafter fort: »Ja, Napoleon ist groß, weil er sich über die Revolution gestellt hat, weil er ihre Mißbräuche unterdrückt und beibehalten hat, was sie Gutes hatte, die Gleichheit, die Freiheit der Presse und des Wortes, und nur dadurch hat er die Macht erlangt.«

»Wenn er diese Macht dem legitimen König zurückgegeben hätte, ohne sie zu benutzen, um einen Mord zu begehen, dann würde ich ihn einen großen Mann nennen«, sagte der Graf.

»Das war ihm unmöglich. Die Nation hatte ihm die Macht nur gegeben, damit er sie der Bourbonen entledigen solle. Die Revolution war ein großes Werk.« Peter bewies seine jugendliche Unbedachtsamkeit, indem er so vorgeschrittene Ideen äußerte.

»Die Revolution ein großes Werk!… Aber wollen Sie nicht an den anderen Tisch gehen?« wiederholte die Hofdame.

Der Fürst Andree betrachtete lächelnd bald Peter, bald den Franzosen, bald die Dame des Hauses, welche durch die Äußerungen Peters in Entsetzen geriet.

Als sie bemerkte, daß diese lästerlichen Worte den Zorn des Grafen nicht erregten, und daß es auch nicht möglich war, sie zu ersticken, machte sie gemeinschaftliche Sache mit dem Emigranten.

»Aber mein lieber Monsieur Pierre«, sagte sie, »ist das die Handlung eines großen Mannes, einen Herzog erschießen zu lassen, wenn er nichts begangen hat und ohne Urteil?«

»Er ist eben ein Bürgerlicher«, fügte Fürst Hippolyt hinzu. Andere und ähnliche Bemerkungen folgten. Peter wußte nicht mehr, was er antworten sollte und blickte lächelnd um sich.

»Wie sollte er anders handeln?« sagte plötzlich Fürst Andree, »ich sollte doch glauben, man müßte einen Unterschied machen zwischen den Handlungen eines Privatmannes und denen eines Staatsmannes.«

»Gewiß, gewiß«, rief Peter erfreut über diese unverhoffte Unterstützung. »Napoleon auf der Brücke von Areole oder im Hospital der Pestkranken in Jaffa ist groß als Mensch, das ist nicht zu leugnen, aber andere seiner Handlungen sind schwer zu entschuldigen«, fuhr Fürst Andree fort, augenscheinlich um Peters Unbedachtsamkeit womöglich wieder gutzumachen, indem er sich erhob und seiner Frau damit das Zeichen zum Aufbruch gab.

5

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Nach diesem Zwischenfall begannen die Gäste sich zu verabschieden.

Außer einer ungewöhnlichen Größe und einem äußerst linkischen Benehmen hatte Peter unter anderen physischen Nachteilen auch ungeheuer rote Hände. Er wußte nicht, wie er in einen Salon eintreten sollte, noch weniger, wie er es anstellen sollte, auf gute Weise abzugehen und dabei etwas besonders Angenehmes zu sagen. In seiner sprichwörtlichen Zerstreutheit hatte er anstatt seines Hutes den dreispitzigen Federhut eines Generals ergriffen. Aber all diese Mängel wurden ausgeglichen durch seine Herzensgüte, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit.

Fräulein Scherer begrüßte ihn zum Abschied mit christlicher Milde, die ihm ihre Verzeihung verhieß.

»Ich hoffe«, sagte sie, »nun öfters das Vergnügen zu haben, Sie zu sehen, aber ich hoffe auch, mein werter Monsieur Pierre, daß Sie Ihre Ansichten ändern werden.«

Er gab keine Antwort, verbeugte sich aber mit jenem aufrichtigen Lächeln, welches sagte: »Ansichten sind Ansichten, und Sie sehen, ich bin dabei doch ein guter Junge.« Das war so wahr, daß alle es unwillkürlich begriffen.

Fürst Andree war seiner Frau in das Vorzimmer gefolgt, begleitet von Hippolyt, den er gleichgültig anhörte.

»Gehen Sie hinein, Anna Pawlowna«, sagte die junge Frau, »Sie werden sich erkälten … Es ist abgemacht«, fügte sie leise hinzu.

Die Hofdame hatte Zeit gefunden, mit Lisa über die beabsichtigte Heirat zwischen ihrer Schwägerin und Anatol zu sprechen.

»Ich rechne auf Sie, meine Liebe«, erwiderte Anna Pawlowna ebenso leise. »Sie werden ihr ein Wörtchen schreiben und mir sagen, wie ihr Vater die Sache ansieht. Au revoir!« Sie kehrte in den Salon zurück. Hippolyt näherte sich der kleinen Fürstin, beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr etwas zu.

»Ich bin glücklich, nicht zu dem Gesandten gegangen zu sein«, sagte Fürst Hippolyt. »Wie langweilig!«

»Man sagt, der Ball heute abend werde sehr schön sein«, erwiderte die Fürstin. »Alle Zierden der Gesellschaft werden dort sein.«

»Nicht alle, weil Sie nicht da sind«, erwiderte er lächelnd.

»Bist du bereit?« sagte Fürst Andree zu seiner Frau.

Hippolyt zog rasch seinen Mantel an und eilte voran, um der Fürstin beim Einsteigen zu helfen.

»Entschuldigen Sie«, sagte Fürst Andree in trockenem, schroffem Tone zu dem jungen Mann, der ihm im Wege stand. »Peter, wirst du kommen?

Ich erwarte dich!« rief er freundlich.

Der Wagen fuhr ab. Hippolyt ließ ein nervöses Lachen hören, indem er den Franzosen erwartete, dem er versprochen hatte, ihn nach Hause zu bringen.

»Nun, mon cher, Ihre kleine Fürstin ist wirklich sehr niedlich«, sagte der Graf, indem er sich in den Wagen setzte. Dabei küßte er seine Fingerspitzen.

Hippolyt lachte geschmeichelt.

»Wissen Sie, daß Sie schrecklich sind mit Ihrer unschuldigen Miene«, fuhr der Graf fort. »Ich bedaure den armen Gemahl, diesen kleinen Offizier mit dem gespreizten Wesen wie ein regierender Fürst.«

»Und Sie sagen, die russischen Damen seien nicht wie die Französinnen?« rief Hippolyt, laut lachend. »Man muß sie nur zu nehmen verstehen!«

6

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Peter kam zuerst an und ging direkt in das Kabinett des Fürsten Andree. Nachdem er sich nach seiner Gewohnheit auf dem Sofa ausgestreckt hatte, griff er nach einem Buch – es waren Cäsars Kommentarien –, stützte sich auf den Ellbogen und öffnete es in der Mitte.

»Was hast du bei Fräulein Scherer gemacht?« sagte Fürst Andree, welcher bald darauf eintrat, seine kleinen weißen Hände reibend. »Sie wird aus Alteration ernstlich krank werden.«

Peter wandte sich so rasch um, daß das Kanapee ächzte, und drückte durch eine Gebärde seine Gleichgültigkeit aus.

»Dieser Abbé ist wirklich interessant, nur faßt er die Frage nicht richtig auf. Ich bin überzeugt, daß ein unverbrüchlicher Friede möglich ist, aber ich kann nicht sagen, wie. Nur wird es niemals mittels des politischen Gleichgewichts sein.«

Der Fürst Andree, der sich für abstrakte Fragen nicht zu interessieren schien, unterbrach ihn. »Siehst du, mein Lieber, es ist nun einmal unmöglich, überall und immer zu sagen, was man denkt. Nun, hast du dich für etwas entschieden? Wirst du zur Chevaliergarde gehen oder Diplomat werden?«

»Darüber bin ich noch nicht im reinen, weder das eine noch das andere gefällt mir«, sagte Peter, indem er sich nach türkischer Weise auf den Diwan setzte.

»Aber du mußt dich doch zu etwas entschließen, dein Vater wartet darauf.« Peter war mit zehn Jahren mit einem Hofmeister ins Ausland gesandt worden und war dort geblieben bis zum fünfundzwanzigsten Jahre. Bei seiner Rückkehr nach Moskau verabschiedete sein Vater den Hofmeister und sagte zu dem jungen Mann: »Jetzt gehe nach Petersburg, beobachte und wähle, ich stimme allem bei. Hier ist ein Brief an den Fürsten Wassil und hier ist Geld! Schreibe mir wieder und rechne auf meine Hilfe.«

Seit drei Monaten suchte nun Peter eine Karriere und tat nichts.

»Er muß ein Freimaurer sein«, sagte er, mit der Hand über die Stirn fahrend. Er dachte an den Abbé, den er in der Soiree gesehen hatte.

»Das ist alles gleichgültig«, unterbrach ihn Fürst Andree, »wir wollen ernsthaft sprechen. Hast du die Chevaliergarde gesehen?«

»Nein, ich bin nicht hingegangen, aber ich habe über etwas nachgedacht, das ich Ihnen mitteilen will. Wir haben Krieg mit Napoleon. Wenn man sich für die Freiheit schlagen würde, so wäre ich der erste, der sich anschließt. Aber England und Österreich zu helfen, den größten Mann der Welt zu bekämpfen, das ist nicht gut.«

Fürst Andree zuckte nur die Achseln bei dieser kindlichen Äußerung und verschmähte es, eine ernsthafte Antwort darauf zu geben.

»Wenn man sich nur für seine Überzeugung schlagen würde«, sagte er, »so gäbe es keinen Krieg mehr.«

»Und das wäre vortrefflich«, erwiderte Peter.

»Möglich, aber dazu wird es niemals kommen«, erwiderte lächelnd Fürst Andree.

»Nun, aber warum werden wir Krieg führen?«

»Warum? Das weiß ich nicht, es muß sein, und überdies gehe ich hin.. weil… das Leben, das ich hier führe, mir überdrüssig ist.«

7

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Im Nebenzimmer wurde das Rauschen eines Kleides hörbar. Bei diesem Geräusch schien Fürst Andree zu sich zu kommen. Er richtete sich auf und gab seinem Gesicht denselben Ausdruck, den es während der ganzen Soiree gehabt hatte. Peter schob die Füße zur Erde. Die Fürstin trat ein. Sie hatte bereits Zeit gefunden, ihre Abendtoilette mit einem Hauskleid zu vertauschen, das nicht weniger frisch und elegant war. Ihr Mann erhob sich und schob höflich einen Lehnstuhl für sie herbei.