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Samuel Finzi

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Beschreibung

Vom Balkan nach Berlin Bulgarien in den 1970er-Jahren. Mitten im Sozialismus führen die Finzis das Leben der Bohème: Da ist der elegante Großvater, der seine Hüte noch aus den Zeiten des Zaren retten konnte. Die zähe Großmutter Mathilda, die die stalinistische Psychiatrie samt Elektroschocks und Eiswasser überlebte. Die Mutter, die es versteht, aus einer Scheibe Parmaschinken die ganze Leichtigkeit des Dolce Vita zu ziehen. Und der Vater, der seinem Sohn auf einer Reise in den Westen das Tor zur Freiheit aufstößt: Diese bunte, vielgestaltige Welt erkundet der junge Samuel und ahnt schon bald, dass das Glück jenseits der engen Grenzen der Heimat wartet. In treffsicheren Anekdoten, mit furiosem Witz und großer Wärme erzählt Samuel Finzi vom Paradies der Kindheit und der Revolte der Jugend, verwebt Vergangenes und Gegenwärtiges und schreibt ganz nebenbei über das gelingende Leben im falschen System.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Samuels Buch

Der Autor

SAMUEL FINZI, 1966 in Plovdiv, Bulgarien, geboren, zählt heute zu den gefragtesten Schauspielern im europäischen Raum und hat schon in über 150 Filmproduktionen mitgespielt. Von Feuilleton wie Publikum begeistert gefeiert, wurde er für seine herausragenden Arbeiten in Film und Theater vielfach ausgezeichnet, u.a. als Schauspieler des Jahres, mit dem Deutschen Schauspielpreis und dem Gertrud-Eysoldt-Ring.

Das Buch

Bulgarien in den Siebzigerjahren. Mitten im Sozialismus führen die Finzis das Leben der Bohème: Da ist der elegante Großvater, der seine Hüte noch aus den Zeiten des Zaren retten konnte. Die zähe Großmutter Mathilda, die die stalinistische Psychiatrie samt Elektroschocks und Eiswasser überlebte. Die Mutter, die es versteht, aus einer Scheibe Parmaschinken die ganze Leichtigkeit des Dolce Vita zu ziehen. Und der Vater, der seinem Sohn auf einer Reise in den Westen das Tor zur Freiheit aufstößt: Diese bunte, vielgestaltige Welt erkundet der junge Samuel und ahnt schon bald, dass das Glück jenseits der engen Grenzen der Heimat wartet. In treffsicheren Anekdoten, mit furiosem Witz und großer Wärme erzählt Samuel Finzi vom Paradies der Kindheit und der Revolte der Jugend, verwebt Vergangenes und Gegenwärtiges und schreibt ganz nebenbei über das gelingende Leben im falschen System.

Samuel Finzi

Samuels Buch

Ein autobiografischer Roman

Ullstein

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© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinGestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenCoverabbildung: © privatAutorenfoto: © Rafaela ProellE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2952-9

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

1 Berlin – Plovdiv

2 Es lebe die sowjetisch-bulgarische Freundschaft!

3 Platz der Wiedergeburt

4 Mathildas Laden

5 Jeanni, das Zirkuskind

6 Was haben ein Schaf und ein Attentat gemeinsam?

7 Das Schwarze Meer und seine Sommergäste

8 Mama, Papa, Sancho

9 Ein Konzert

10 Theaterkind

11 Eine vielseitig entwickelte Persönlichkeit

12 Die Revolution im Blut

13 Fleischtomate gefüllt mit Pilzen

14 Im Sommer kommen die Verwandten

15 Cumplimiento de Minyán

16 Fintzi versus Finzi

17 Fünfhundert Jahre später

18 Charles’ Wurstfabrik

19 Kapitalismus für Anfänger

20 Heimkehr und Bruchlandung

21 Καλὸς κἀγαθὸς – schön und gut

22 Eros und Thanatos

23 John, you are in our hearts!

24 Streik!

25 Griechenland: Endlich!

26 Torschlusspanik

27 Von Fanfaren und Ziegen

28 Am Pferdestand

29 Einsteigen! Zurückbleiben!

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1 Berlin – Plovdiv

Motto

»It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.«

William Shakespeare

1 Berlin – Plovdiv

Ich sitze in meiner Berliner Küche und betrachte den Boden. Es ist ein Boden aus Terrazzo. Das tue ich oft und mit Nachdruck. Die bunten Zementsteinchen beginnen sich zu drehen, ein Wirbel saugt mich ein, und ich lande auf der Terrasse des Hauses meiner Großeltern in Plovdiv, auf dem südlichen Balkan.

Es ist der gleiche Terrazzoboden.

Ich bin gerade aufgewacht, geweckt vom Balztanz der Tauben, ihrem Gurren und dem ungeduldigen Kratzen ihrer Füßchen auf dem Fensterblech. Ich bleibe noch eine Weile liegen, ich mag diese Geräusche, die mir sagen, dass Sommer ist und ich bei meinen Großeltern bin. Ich springe aus dem Bett und laufe hinaus auf die Terrasse. Sie ist groß und in ihrer ganzen Länge und Breite überdacht von einer Schatten spendenden Weinlaube. Meine Füße mögen die Berührung mit dem Boden, der so früh am Morgen schon warm ist.

Meine Großmutter steht in der Küche und trifft Vorbereitungen für das Mittagessen, bevor sie zur Arbeit geht. Dann holt sie den Gartenschlauch, der am Ausguss angeschlossen wird, und ich darf die Terrasse mit kaltem Wasser abspritzen. Ich presse das Schlauchende zusammen, um den Druck des Strahls zu erhöhen und so weit wie möglich zu spritzen. Es macht Spaß, die Sache im Griff zu haben. Es ist natürlich nicht nur der Boden, der nass wird, sondern auch der Esstisch samt Tischdecke, die Klappstühle mit ihren Kissen, die Weinlaube mit den schweren Trauben und Großmutter, die sich kreischend in die Küche flüchtet. Sie wird sich sowieso gleich umziehen, ihre Perücke aufsetzen und in der Anwaltskanzlei verschwinden, wo sie ein Büro mit zwei anderen perücketragenden Damen teilt.

Ich gehe zu Großvater ins Schlafzimmer. Dort ist es hell. Es riecht nach Lindenblüten und Seife. Der Lindenblütenduft kommt von draußen durch die geöffneten Fenster und der Seifenduft aus der kleinen Bakelitschüssel, in die mein Großvater seinen Rasierpinsel tunkt. Er sitzt an dem schweren Tisch aus Nussbaumholz. Vor ihm steht aufgeklappt die alte Pralinenkiste aus der Zarenzeit, in der er sein Rasierzeug aufbewahrt. Der kleine runde Spiegel lehnt schon am Deckel. Großvater schleift sein Rasiermesser am Lederriemen. Ich darf mit dem Pinsel den Schaum auf seinen Wangen verteilen, ganz vorsichtig – ohne seinen eleganten Schnurrbart zu berühren. Dann trete ich einen Schritt zurück, und Großvater setzt das Rasiermesser an. Ich bin fasziniert von den Bahnen, die das Messer im Schaum hinterlässt. Er führt das Rasiermesser mit derselben geschmeidigen Sicherheit, wie er den Bogen über die Saiten seiner Geige streicht. Auf der Kommode hinter ihm steht das große Telefunken-Radio mit den vielen Knöpfen. Ich kenne den richtigen – es ist der dritte von links, voreingestellt auf Radio Hristo Botev, klassische Musik. »Und was ist das, Opa?« – »Beethoven, die Siebte, zweiter Satz, Überleitung zum zweiten Thema«, murmelt er, während er mit der einen Hand die Haut an seinem Hals nach unten zieht und mit der anderen das Rasiermesser in die entgegengesetzte Richtung gleiten lässt. Großvater weiß immer, was gespielt wird, und zwar ganz genau. Selbst nachmittags, wenn er im Sessel neben dem laufenden Radio eingedöst ist. Er schrickt auf und antwortet wie aus der Pistole geschossen. Dann schläft er wieder ein.

Nachher werden wir, mit Scheren und Körben ausgerüstet, zusammen auf die Terrasse gehen. Viele Weintrauben sind schon reif, also werden wir sie abschneiden. Mit einem Stück weißem Schafskäse und Brot isst Großvater sie am liebsten. Jetzt klemmt er seinen Geigenkasten unter den Arm und macht sich auf den Weg zur Orchesterprobe. Heute nimmt er mich mit. Ich sitze im dunklen Zuschauerraum und bin genervt von den Unterbrechungen des Dirigenten. Warum lässt er die Musiker nicht einfach in Ruhe, es klingt doch schön, wenn alle zusammenspielen: die Streicher, die Bläser, das Schlagwerk. Mal leise, mal laut, schnell, dann wieder langsam …

Der Dirigent ist ein großer Mann, er dirigiert mit großen Gesten, großer Hingabe und großen Füßen – Schuhgröße 48. Um die Musiker in seinem Furor mitzureißen, stampft er so heftig auf, dass sich der aufwirbelnde Staub auf die Instrumente legt. Großvater erzählt mir, er und seine Kollegen würden vor jeder Probe das Dirigentenpult mit Wasser bespritzen, aus Sorge um ihre Instrumente; doch nicht mal eine Stunde später staubt es wieder wie zuvor. Als die Musik laut und schnell wird, stürzt sich der Dirigent direkt vom Pult unter die Streicher und brüllt: »Faschisten, Mörder! Mein Gott, habt ihr noch nie Menschen getötet!«

Auf dem Weg nach Hause durchqueren Großvater und ich den Stadtgarten, in seiner Linken die Geige, in der Rechten meine Hand. »Keine Sorge, Sami, das ist nur seine Art, uns anzustacheln. Diese Musik erzählt den Krieg. Sie heißt Leningrader Symphonie, und ihr Komponist heißt Dmitri Schostakowitsch. Die Russen waren in Leningrad von den Deutschen eingekesselt. Und viele, viele Leute sind damals verhungert.«

Es ist Nachmittag, und die Platanen stehen unbeweglich in der Hitze, ihr Schatten taugt nichts. Die Rettung ist unsere Bäckerei an der Ecke. Über dem Türrahmen hängt ein Vorhang aus dünnen Plastikstreifen. Ich reiße sie auseinander und stehe im Luftzug des Ventilators, der an der Decke hängt. Ich verlange fünf von meinen geliebten Tulumbitschki – fettige, siruptriefende Zigarren aus Waffelteig. Großvater ist kaum mit seinem Mokka fertig, da habe ich sie schon verschlungen und lecke mir gründlich die klebrigen Finger ab. Er setzt seinen Hut auf, und wir gehen.

Großvater mag seine Hüte. Er hat nur zwei – einen für den Sommer und einen für den Winter. Sie sind alt, sehen aber nicht so aus. Überhaupt legt er Wert auf sein Aussehen. Der perfekt gepflegte Schnurrbart verdeckt die Hasenscharte. Seine Garderobe fällt eher bescheiden aus; sie ist schon in die Jahre gekommen, was ihn aber nicht hindert, immer ordentlich und sogar elegant auszusehen. Das wird sich auch im Lauf der Zeit nicht ändern, selbst wenn seine Linke später statt der Geige einen Gehstock hält und seine Rechte anstelle meiner Hand nur noch seine alte Aktentasche. Die Aktentasche stammt aus der Zeit seines Jurastudiums. Damals bewahrte er die Gesetzbücher der konstitutionellen Monarchie Bulgariens darin auf. Er war Anwalt, bevor die Kommunisten an die Macht kamen und neue Gesetze schrieben. Ihm, dem Spross einer bürgerlichen Familie, Repräsentant des alten Regimes und Feind des Volkes, wurde Berufsverbot erteilt. Nach einer zweimonatigen Internierung im Arbeitslager – eine Erfahrung, über die er später nie gesprochen hat – musste er seine Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten. Meine Mutter erzählt, wie glücklich sie war, neben dem Vater auf dem Kutschbock zu sitzen. Auf der Ladefläche hinter ihnen: der stinkende Abfall des örtlichen Schlachthauses. Glück im Unglück – außer den Gesetzen versuchten die Kommunisten, auch die Kultur neu zu erschaffen, und so wurde das Philharmonische Orchester Plovdiv gegründet. Es herrschte Musikermangel, man verzieh ihm seine bürgerliche Herkunft und nahm ihn in das Orchester auf. Am Ende saß er sogar am Pult der zweiten Bratschen. Später als Rentner gründete er ein Festival für Kammermusik in der Stadt und wurde von allen liebevoll Cico Goscho (zu Deutsch »Onkel Schorsch«) genannt. Jetzt befanden sich in der alten ausgebeulten Ledertasche von Cico Goscho die Programmhefte seines Musikfestivals, sein Kamm und ein frisches Schnupftuch.

Als er starb, lebte ich bereits in Deutschland. Das Letzte, wonach er verlangte, war die Postkarte, die ich ihm aus Berlin geschickt hatte. Er las sie, legte sie sich auf die Brust und schlief für immer ein.

Plovdiv liegt in der Ebene von Thrakien, auf halbem Weg zwischen der Hauptstadt Sofia und dem Rhodopen-Gebirge. Seine Einwohner sind sehr stolz darauf, dass ihre Stadt von Philipp, dem Vater Alexanders des Großen, gegründet wurde. Sie behaupten, dass Plovdiv wie Rom auf sieben Hügeln erbaut wurde. Tatsache ist: Auf einem der Hügel befindet sich ein sehr gut erhaltenes römisches Amphitheater, auf einem anderen steht Aljoscha, die elf Meter hohe Statue eines eher unbekannten sowjetischen Soldaten. Auf dem dritten steht gar nichts, und die vier anderen liegen außerhalb der Stadt. Die Einwohner von Plovdiv fühlen sich verpflichtet, die Vorteile ihrer Provinz gegenüber denen der Hauptstadt immer wieder auf ihre Fahnen zu schreiben. Dabei ist ihre Stadt die zweitgrößte des Landes.

Für meine Kumpel in Plovdiv war ich ein kopele, ein Bastard, ein zugezogener Angeber aus der Hauptstadt. Bei meinen Freunden im Kiez in Sofia hingegen galt ich als ein maina, ein in Plovdiv geborener Provinzler. Man verlangte von mir, Farbe zu bekennen. Ich aber hatte keine Lust, mich zwischen maina oder kopele zu entscheiden. Sobald ich mich der einen Seite näherte, fing ich automatisch an, die Vorzüge der anderen zu verteidigen – teils aus Trotz, teils aus dem Bedürfnis, mich zu unterscheiden. Mir gefiel die doppelte Stadtzugehörigkeit.

Meine Mutter stammte aus Plovdiv, studierte aber schon Klavier an der staatlichen Musikakademie in Sofia, als sie – eine besessene Theatergeherin – meinen Vater im dortigen Theater der Arbeiterfront auf der Bühne sah. Sein Spiel muss sie so sehr überzeugt haben, dass sie drei Monate später heirateten und ich bereits sechs Monate nach der Hochzeit auf die Welt kam. Später, in der Pubertät, entdeckte ich diese arithmetische Unstimmigkeit, als ich heimlich in den Familiendokumenten stöberte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber. Als ich meinen Vater darauf ansprach, sagte er zu mir: »Schlomo bekam drei Monate nach seiner Hochzeit mit Sarah ein Kind. Das bereitete auch ihm Kopfzerbrechen. Also ging er zum Rabbi und fragte ihn, wie denn das möglich sei. Schlomo hatte gelernt, dass die Kinder erst neun Monate nach der Hochzeit zur Welt kommen. Nach kurzem Überlegen fragte der Rabbi:

Wie lange bist du mit Sarah verheiratet, Schlomo?

Drei Monate, Rabbi.

Und wie lange ist Sarah mit dir verheiratet?

Auch drei Monate.

Und seit wann ist das Kind auf der Welt?

Seit drei Monaten.

Also, sagte der Rabbi zufrieden, drei mal drei ist neun. Da hast du es.«

Ich bin eher durch Zufall in Plovdiv geboren. Meine hochschwangere Mutter war dort zum Namenstag eines befreundeten Komponisten eingeladen. Bei der Feier musste sie viel lachen, das tat sie immer gerne und lauthals. Ob mich die Erschütterung ihres Zwerchfells daran erinnerte, dass es Zeit wurde, sich aus der Enge der Situation zu befreien? Jedenfalls war ich, Samuel, am 20. Januar 1966, um sechs Uhr zehn, viertausenddreihundert Gramm schwer, auf der Welt. Mein Vater, der am Abend zuvor in Sofia Vorstellung hatte, schickte ihr ein Telegramm, in dem er seine große Dankbarkeit über die Ankunft seines Sohnes und die Genugtuung zum Ausdruck brachte, dass meine Mutter alles so »akkurat« erledigt hatte. Er fügte hinzu, dass er nicht in der Lage sei, sich zu konzentrieren. Ein Text, über den meine Mutter noch heute die Achseln zuckt.

»Ich möchte dich daran erinnern«, sagte vor Kurzem mein Vater zu mir, »vielleicht habe ich es dir schon mal erzählt, es gab verschiedene Gründe, dich ›Samuel‹ zu nennen. Einer davon war: Falls in Bulgarien wieder antisemitische Zeiten anbrechen sollten, könntest du einfach deinen Namen von Samuel mit e in Samuil mit i umändern. Schließlich gab es einen bulgarischen Zaren Samuil, nicht wahr? Das i könnte dir in der Not helfen. Unter Umständen. Hofften wir …«

Dieses i habe ich als Kind gehasst! In meinen Ohren klang es grob und sogar grausam. Zar Samuil war dafür bekannt, den Kampf gegen den byzantinischen Kaiser Basileios II., genannt Bulgaroktónos (Bulgarentöter), Anfang des elften Jahrhunderts verloren zu haben. Letzterer ließ es sich nicht nehmen, allen fünfzehntausend bulgarischen Kriegern die Augen ausreißen zu lassen, wobei er die Großzügigkeit besaß, jeder Hundertschaft einen Einäugigen zu genehmigen, um die blinde Armee nach Hause zu führen. Beim Anblick der leeren Augenhöhlen seiner Soldaten brach Zar Samuil tot zusammen.

Hingegen Samuel mit e, die griechische Variante des hebräischen Schmuel, bedeutet in etwa: »Er hat deine Gebete gehört!« Das gefiel mir. Ob er sie aber auch erfüllt? Es gibt ein Foto aus meiner frühen Kindheit. Das Bild wurde aufgenommen von einem Fotografen, der seine Plattenkamera auf dem Trottoir in unserer Straße aufgestellt hatte. Wir sehen aus wie eine Flüchtlingsfamilie auf dem Weg ins Ungewisse. Der Vater im Hintergrund, davor die Mutter und ganz nah am Objektiv das Kind. Im überbelichteten kahlen Kopf des Kindes – zwei stechende Augen, streng und zugleich ironisch. »Wie Chruschtschow, der vor der UNO seinen Schuh auf den Tisch haut!«, sagte meine Großmutter. Die Augen der Eltern sind einfach müde.

2 Es lebe die sowjetisch-bulgarische Freundschaft!

Der Sommer geht zu Ende. Es wird Zeit, dass meine Großmutter mich zu meinen Eltern nach Sofia bringt. Der französische Kindergarten hat wieder geöffnet. Die Zugreise dauert drei Stunden – eine halbe Ewigkeit. Ich fürchte mich vor der Langeweile, nur die Aussicht auf die obligatorische Knackwurst, die meine Großmutter mir unterwegs kaufen wird, hält mich bei Laune. Endlich hält der Zug an einem Bahnhof. An den Wänden hängen große Bilder von zwei alten Männern, die sich küssen. Darunter steht etwas geschrieben, in großen Lettern und mit Ausrufezeichen. Ich lese laut vor, das kann ich nämlich schon: »Es lebe die sowjetisch-bulgarische Freundschaft!«