Sand im Schuh - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Sand im Schuh E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

4,2

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Beschreibung

Wo zum Kuckuck ist Harald von Friedwitz bloß abgeblieben? Nach einem feuchtfröhlichen Abend stehen am nächsten Morgen nur noch seine herrenlosen Schuhe am Strand der Nordseeinsel Langeoog. Ein Unglück? Oder könnte er sich etwas angetan haben? Vielleicht ist ihm auch lediglich der giftige Kugelfisch nicht bekommen, den der japanische Koch ihnen zum Abendessen servierte. Für Oberkommissarin Nina Moretti, die sich so auf ihren erholsamen Nordseeurlaub gefreut hatte, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.

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Seitenzahl: 375

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Zeit:8 Std. 13 min

Sprecher:Micha Krämer
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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Danksagung

Leseprobe

Micha Krämer

Sand im Schuh

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Tod im Lokschuppen

Krähenblut

Tod im Elefantenklo

Über deine Höhen

el toro

GEMA TOD

Romeo

TOD IN ROT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de.

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123RF.com

eISBN: 978-3-8271-9894-5

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Region an der Nordsee, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Über den Autor:

Micha Krämer wurde 1970 in Kausen, einem kleinen 700 Seelen Dorf im nördlichen Westerwald, geboren. Dort lebt er noch heute mit seiner Frau, zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und seinem Hund. Der regionale Erfolg der beiden Jugendbücher, die er 2009 eigentlich nur für seine eigenen Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste nun ein richtiges Buch her. Im Juni 2010 erschien „KELTENRING“, sein erster Roman für Erwachsene, und zum Ende desselben Jahres folgte sein erster Kriminalroman „Tod im Lokschuppen“, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Was als eine einmalige Geschichte für das Betzdorfer Krimifestival begann, hat es weit über die Region hinaus zum Kultstatus gebracht. Inzwischen findet man die im Westerwald angesiedelten Kriminalromane in fast jeder Buchhandlung im deutschsprachigen Raum.

Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.

Mehr über Micha Krämer auf www.micha-kraemer.de

Prolog

Sand war ein toller Baustoff. Da gab es gar keine Diskussion. Gab man nur ein klein wenig Zement und Wasser hinzu, konnte man mit Sand die größten Gebäude der Welt bauen. Ein weiterer Vorteil war, dass sich in Sand wunderbar graben ließ. Große und tiefe Löcher konnten mit wenig Aufwand und einer guten Schippe sehr schnell ausgehoben werden. Man sah das ja auch immer wieder, Sommer für Sommer, an den Stränden, wo selbst Fünfjährige es problemlos schafften, ihre Väter einzugraben, die einfach nur friedlich dalagen, in der Sonne dösten und den Rausch der letzten Grillpartie ausschlafen wollten. Vermutlich, so munkelte man jedenfalls, war der eine oder andere Verschüttete dann erst wieder während der Winterstürme aufgetaucht, genau dann, wenn das Meer den Sand davonspülte, um ihn an einer anderen Stelle wieder anzuschwemmen. Sand war nämlich, ohne die Zugabe von besagtem Zement, recht wanderfreudig. Ergo musste das Loch, das er hier zwischen den Dünen grub, zumindest so tief sein, dass die Stürme die Leiche nicht schon im nächsten Winter wieder freilegen würden. Was natürlich äußerst ungünstig wäre.

Er unterbrach die Arbeit und ließ seinen Blick über den nahen Strand schweifen. Die Nacht war sternenklar und im Schein des fast vollen Mondes erkannte er im Westen die Umrisse der Strandkörbe. Im Osten hingegen war alles menschen- und strandkorbleer.

Eine der Fragen, die er sich schon fast sein ganzes Leben gestellt hatte, war, ob er es sich nur einbildete oder ob das Meer nachts tatsächlich noch viel lauter und heftiger brandete als am Tage. Er lauschte nach anderen Geräuschen. Auf Zeugen seiner nächtlichen Arbeit hatte er keine Lust, da das, was er tat, mit Sicherheit nicht ganz legal war. Aber es war nun mal wie es war und musste gemacht werden.

Der Wind kam heute von Osten her und trug leises Gelächter mit sich. Es hörte sich so an, als würde sich nur einige Hundert Meter von ihm ein junges Pärchen amüsieren. Sollten sie doch. Er stach die Schaufel erneut in den weichen Sandboden und grub weiter, bis das Loch ungefähr hüfttief war. Bis der Wind diese Stelle in einigen Jahrzehnten wieder freigepustet hätte, würde von den sterblichen Überresten nicht mehr übrig sein als ein paar Knochen. Er zerrte den in eine Decke eingeschlagenen Körper von dem Fahrradanhänger, mit dem ansonsten die Koffer der Inselbesucher vom Bahnhof abgeholt wurden, in die Grube und begann dann unverzüglich damit, dieselbige wieder zuzuwerfen. Er musste gestehen, dass die Arbeit ihn doch mehr anstrengte, als er es zugeben würde. Als er fertig war, wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, dekorierte das Dünengrab noch mit einigen Büscheln Strandhafer und sprach ein kurzes Gebet, weil sich so etwas einfach gehörte. Dann schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte zurück in Richtung des Dorfes. Auf Höhe der Dünen-Oase, wie der kleine Imbiss am Rande der einzigen Ortschaft hieß, kam ihm eine Gestalt entgegengewankt. Käpt’n Piet Dönges brauchte für den Nachhauseweg wie so oft die komplette Straße und zwang ihn somit zum abrupten Abbremsen seines Gespanns.

„Ach, du büst dat“, lallte der pensionierte Kapitän und tätschelte ihm noch im Vorbeigehen die Schulter. Als er schon fast an seinem Anhänger vorbei war, blieb er jedoch plötzlich stehen.

„Sach ma, min Jong. Wat machst du denn um die Zeit mit der Schippe in die Dünen, hast du etwa wieder ’ne Leiche verbuddelt?“, wollte der Betrunkene wissen und lachte dabei rau.

„Ja, hab ich!“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er hasste es, unnötig zu lügen, noch dazu bei Piet, der wirklich ein sehr feiner Kerl war.

„Wenigstens tief genug ... du weißt ja ... wegen die Sturm und so“, gab der alte Kapitän zu bedenken.

„Klar, ich bin ja nicht doof“, antwortete er trotzig.

Piet nickte, wankte einen Schritt zurück und klopfte ihm erneut auf die Schulter.

„Ja, denn is ja ma gut. Gute Nacht, mein Jung, und schlaf schön“, verabschiedete er sich und schlurfte davon. Wie gesagt, der Piet war wahrlich ein sehr feiner Kerl.

Kapitel 1

Freitag, 7. August 2015A29 Norddeutschland

„Ich hab es dir doch gleich gesagt! Wir hätten mit der Bahn fahren sollen!“, meckerte Klaus und verschränkte trotzig wie ein Dreijähriger, der sein Gemüse nicht aufessen wollte, seine Arme vor der Brust.

„Und wie bitte schön hätten wir den ganzen Krempel dann mitnehmen sollen?“, entgegnete Nina ihm und trat gegen das platte Vorderrad des betagten VW Käfers.

„Was weiß ich? Ich brauche den ganzen Kram ja nicht. Schließlich war es deine Idee hinter dem Ferienhaus zu zelten. Wir hätten nämlich auch wie normale Leute mit kleinem Gepäck reisen und im Haus schlafen können. Aber nein, Frau Moretti muss ja unbedingt ihren Dickkopf durchsetzen“, erklärte er und blickte sie fast streitlustig an.

„Ich, dickköpfig ...? Da wüsste ich aber was von. Wer wollte denn unbedingt mit der ganzen Sippschaft in den Urlaub? Ich habe mich nicht darum gerissen mit deiner moralisch verwahrlosten Schwester für zwei Wochen auf dieser doofen Insel zu campieren“, schrie sie nun beinahe.

Klaus seufzte und senkte den Kopf. Nina wusste genau, was jetzt kam.

„Lass uns bitte nicht streiten, Schatz. Das bringt doch nichts. Wir wechseln jetzt einfach den kaputten Reifen und gut is“, lenkte Klaus wie immer als Erster beschwichtigend ein.

Nina spürte sofort, wie seine Worte sie beruhigten und sie ebenfalls ganz langsam herunterfuhr. Klaus besaß diese Gabe, ihr jedes Mal wieder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie beide waren seit nun einem Jahr verheiratet, beinahe fünf Jahre ein Paar und kannten sich bereits seit der Grundschule. Er war ein wenig jünger als sie. Um es genau zu sagen: zwei Jahre und zweiundvierzig Tage. Ein Altersunterschied, der mit Mitte dreißig keine Rolle spielte. Dies war natürlich nicht immer so gewesen. Als sie ihn zum ersten Mal traf, am Tag seiner Einschulung, war Nina gerade in die dritte Klasse gekommen. Klaus war der kleine Bruder ihrer besten Freundin und Klassenkameradin Lara Schmitz. Es war eine unumstößliche Tatsache, dass große Mädchen, zu denen Drittklässlerinnen ja bereits gehörten, sich nicht für kleine Jungs interessierten. Ganz besonders nicht, wenn es sich bei dem i-Dötzchen um den jüngeren Bruder der besten Freundin handelte. Nun gut, die Zeiten hatten sich geändert. Klaus war kein i-Dötzchen mehr, sondern mittlerweile ein Gymnasiallehrer, sie beide nun ein Paar und Lara Schmitz zwar immer noch seine Schwester, aber nicht mehr ihre Freundin! Schlimmer noch, bereits der Gedanke an diese liederliche Zicke reichte aus, um Nina regelmäßig zur Weißglut zu bringen. Böse Zungen behaupteten, das läge an Ninas südländischem Temperament. Was natürlich vollkommener Quatsch war. Denn, nur weil ihr Papa aus Italien stammte und sie mit ihren langen, dunklen Locken ein wenig einer Südländerin glich, hieß das doch noch lange nicht, dass sie temperamentvoller war als irgendeine andere Frau. Nein, die Tatsache, dass sie sich ständig über Lara Schmitz aufregte, lag eindeutig an ihrer beider Vergangenheit. Dass Lara eine Schlampe war, hatte Nina schon länger gewusst. Dennoch waren sie beide auch über die Schulzeit hinaus Freundinnen geblieben und hatten sogar während des Studiums einige Jahre zu zweit in einer WG gewohnt. Sie hatten alles geteilt. Sogar Ninas damaligen Freund Robert. Nur leider hatte sie blöde Kuh es nicht gemerkt, dass zwischen ihm und ihrer Mitbewohnerin etwas lief. Nina war nicht altmodisch und schon gar nicht spießig. Nein, auf gar keinen Fall. Sie glaubte sogar von sich selbst sagen zu können, dass sie ein sehr toleranter Mensch war. Doch was zu weit ging, ging zu weit. Als sie herausbekam, dass die beiden sich hinter ihrem Rücken regelmäßig miteinander vergnügten, war sofort Schluss gewesen. Sowohl mit Robert als auch mit Lara, dieser Schlange. Der Gipfel der Unverfrorenheit war dann noch Laras letzter Spruch. Ihre Worte „Jetzt hab dich mal nicht so, das war doch nur mal so zum Spaß“ hatten dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Nun gut, im Nachhinein betrachtet war es weder um Robert noch um Lara schade. Am meisten ärgerte Nina sich bei all dem noch über sich selbst, weil sie all die Jahre auf diese doofe Ziege hereingefallen war. Damals schwor sie sich, jeglichen Kontakt mit ihr ein für alle Mal einzustellen. Und dann ... ja, dann war Klaus in ihr Leben gepoltert. Das i-Dötzchen von damals und der allerliebste Mensch, der ihr je begegnet war. Obwohl sie beide sich fast schon ihr ganzes Leben kannten, hatte es heftig zwischen ihnen gefunkt. Das Doofe am Verliebtsein war allerdings, dass der neue Partner meist auch neue Freunde und eine Familie mit in die Beziehung brachte. Bei diesem Umstand dachten die meisten Leute immer sofort an den bösen Schwiegerdrachen. Doch bei Nina war das anders. Ihr Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter war sehr gut und beinahe sogar herzlich. Das zu ihrer neuen Schwägerin hingegen eher ... nicht vorhanden. Dass Nina mit ihr nun die Ferien verbringen musste, gar ein Albtraum.

Aber was tat man nicht alles um des lieben Friedens willen. Die Idee zu der Reise hatte Isabell, Ninas Schwiegermama, gehabt. Zuerst hatte Nina sich auch riesig gefreut, als sie und Klaus am Heiligabend den Gutschein ausgepackt hatten. Zwei Wochen Insel Langeoog in einem Ferienhaus der Spitzenklasse mit eigenem Pool, einer Sauna und laut Prospekt nur unweit vom Meer zwischen malerischen Dünen gelegen. Kost, Unterkunft, Anreise, alles inklusive. Ein Traumurlaub ... hätte das werden können. Als Nina jedoch erfuhr, dass Lara und ihr derzeitiger Macker das gleiche Weihnachtsgeschenk von Isabell bekommen hatten, hatte sie spontan beschlossen, die Einladung auszuschlagen und nicht mitzufahren. Klaus hatte mit Engelszungen auf sie eingeredet und dabei, wie so oft in solchen Situationen, diesen treuen Hundeblick aufgesetzt. Schlussendlich hatte er es dann doch wieder geschafft sie zu überreden. Außerdem wäre es ja auch wirklich unhöflich und unfair gegenüber ihrer Schwiegermama gewesen, nicht mitzufahren. Nina wusste nur zu gut, wie Isabell unter den ständigen Streitereien zwischen den einstigen Freundinnen litt. Vermutlich verfolgte sie mit der gemeinsamen Reise sogar den Plan, dass Nina und Lara sich wieder näherkommen könnten. Ein utopischer, nicht realisierbarer Wunsch. Nina würde ihn dennoch respektieren und versuchen, Lara in den nächsten zwei Wochen zumindest nicht die Augen auszukratzen oder sie in der Nordsee zu ersäufen. Nein, sie würde es irgendwie schaffen diese doofe Ziege einfach zu ignorieren ... wenn sie und Klaus denn jemals auf Langeoog ankommen würden. Zurzeit sah es eher nicht so aus. Sie befanden sich nämlich derzeit auf einem Parkplatz an der A29 kurz hinter dem Autobahndreieck Ahlhorner Heide. Bis zum Hafen von Bensersiel waren es noch gut und gerne hundertzwanzig Kilometer, was einer Fahrzeit von ungefähr anderthalb Stunden entsprach. Der rechte Vorderreifen war platt und in ziemlich genau zwei Stunden legte die letzte Fähre zur Insel für den heutigen Tag ab. Entschlossen zog sie die Kofferraumhaube ihres VW Käfers auf und begann damit, das Ersatzrad aus der Reserveradmulde zu wuchten.

„Würdest du mir bitte mal helfen?!“, fauchte sie Klaus an, der irgendwie unbeholfen neben ihr stand und dabei zusah, wie sie hier schuftete.

„Ähm ... ja ... klar, Schatz. Sag mir, was ich tun muss.“

Nina riss das Rad mit einem Ruck aus der Mulde heraus und stellte es gegen die Stoßstange. Dann deutete sie auf den Wagenheber und den silberfarbenen kreuzförmigen Radschlüssel.

„Du kannst schon mal die Schrauben an dem platten Rad lösen“, gab sie ihm klare Anweisung.

Klaus machte jedoch keine Anstalten das Werkzeug auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen nahm er das Reserverad, hob es an und ließ es noch einmal auf den Boden titschen.

„Hast du auch ’ne Luftpumpe für das Ding? So brauchen wir den nicht wechseln. Der ist ja genauso platt wie der andere“, stellte er fest, was Nina nun selbst sah.

Enttäuscht ließ sie sich auf die Stoßstange sinken. Natürlich besaß sie keine Luftpumpe. Sie schloss die Augen und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Heute war nicht ihr Tag! Nein, überhaupt nicht! Für die dreihundert Kilometer von Betzdorf, der kleinen Stadt am Rande des Westerwaldes, bis hierher hatten sie beinahe acht Stunden gebraucht. Ein Umstand, der nichts mit Maggiolino zu tun hatte, wie sie ihren über vierzig Jahre alten Käfer immer schon nannte. Nein, selbst mit einem neuen Ferrari wären sie an einem Tag wie heute, an dem gleich vier Bundesländer in die großen Ferien starteten, nicht schneller vorangekommen. Allein zwischen dem Westhofener und dem Kamener Kreuz hatten sie geschlagene drei Stunden im Stau gestanden. Es schien tatsächlich so, als wären an diesem Wochenende sämtliche Einwohner Deutschlands auf der Autobahn unterwegs, um in den Urlaub zu fahren.

„So ein verfluchter Mist“, schimpfte sie und sah zu Klaus hinauf. „Gestern, als ich zur Tanke fuhr, hab ich noch daran gedacht, dass ich unbedingt den Luftdruck des Reserverades überprüfen muss“, gab sie zu. Dass die Luft aus dem Reserverad entwich, war bei einem VW Käfer vollkommen normal, da über den Druck des Rades bei diesen alten Wagen die Scheibenwaschanlage versorgt wurde. Dummerweise vergaß Nina diesen Umstand ständig.

„Nur dran denken nützt aber nix“, unkte Klaus jetzt auch noch, kratzte sich dabei verlegen am Hinterkopf und sah sich auf dem Rastplatz um. Schließlich packte er entschlossen das Ersatzrad und zog, ohne noch etwas zu sagen, von dannen. Nina blickte ihm hinterher und beobachtete, wie er von einem Wagen zum andern ging und mit den Reisenden sprach. Hartnäckig war Klaus ja schon, das musste man ihm lassen. Sie erhob sich, ging um die offen stehende Fahrertür herum und ließ sich auf den Sitz sinken, der wesentlich bequemer als die verchromte Stoßstange war. Sie schaltete das Radio an, lehnte sich zurück, schloss die Augen und lauschte Klaus Meine von den Scorpions, wie er leise die Melodie von „Wind of Change“ pfiff. Passend dazu wehte eine kühle Brise durch das heruntergekurbelte Beifahrerfenster. Zum Glück war es nicht mehr so drückend wie in den letzten Tagen. Sie musste zugeben, dass sie sich trotz der etwas widrigen Umstände auf den Urlaub gefreut hatte. Zwei Wochen kein Büro, keine Akten, kein Mord und kein Totschlag. In den nächsten vierzehn Tagen war sie einfach nur sie selbst und nicht die Oberkommissarin der Betzdorfer Kriminalinspektion, zuständig für Delikte am Menschen, wie es immer so schön hieß. Nein, sie würde die Tage mit Klaus am Meer in vollen Zügen genießen. Egal was und wer immer da kommen würde. Nachdem der „Wind of Change“ im Radio abgeebbt war, begann die Dame des NDR damit, endlose Verkehrsmeldungen herunterzubeten. Nina wollte das nicht hören. Sie würden die Fähre eh verpassen. Ohne hinzusehen, griff sie zum Radio, schaltete es wieder ab und lauschte stattdessen eine Weile dem monotonen Rauschen des Verkehrs auf der nahen Autobahn. Sie blinzelte kurz und suchte mit halb geschlossenen Augen den Parkplatz ab. Sie entdeckte Klaus bei einem feuerroten VW Caddy keine fünfzig Meter von ihr weg. Der Besitzer des Wagens war gerade damit beschäftigt, unter den wachsamen Augen seiner weiblichen Begleitung, zweier Halbwüchsiger und Ninas Göttergatten den Inhalt des Kofferraums auszuräumen. Wie es aussah, hatte Klaus also einen Luftpumpenbesitzer aufgetan. Zufrieden erhob sich Nina, ging zurück zum Kofferraum und griff sich Werkzeug und Wagenheber. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung.

Als sie sich gerade gebückt hatte und den Kreuzschlüssel auf die erste Radschraube steckte, hielt direkt hinter ihr ein Auto.

„Hat dat hübsche Fräulein ein Problemschen?“, hörte sie einen Mann mit eindeutig kölschem Dialekt rufen. Nina ließ den Radschlüssel wieder sinken und drehte sich um. Hinter ihr hielt ein quietschegelber Ford Capri mit blauen Rallyestreifen. Das Beifahrerfenster war heruntergekurbelt, ein Typ Ende vierzig lehnte vom Fahrersitz herüber und grinste sie breit an. Wo der Kerl mit dem unmodernen Langhaarschnitt hingaffte, war ihr sofort klar.

„Nein, kein Problem. Sie können weiterfahren“, antwortete sie. Doch der Kölner schien sie nicht zu verstehen. Bevor sie sich nämlich versah, war Mister Vokuhila aus seinem Wägelchen gestiegen und stand nun unmittelbar neben ihr.

„Sieht aber su aus, als hätten Sie einen Plattfuß“, stellte er fest, was sie selbst schon längst wusste.

Nina überlegte ihm zu antworten, entschied sich dann aber dafür, dass es besser wäre, ihn einfach zu ignorieren. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass man aufdringliche Kerle wie den Langhaarigen am besten überhaupt nicht beachtete, weil, tat man es doch und schenkte ihnen auch nur für einen Moment Gehör, dann wurde man diese Vögel so schnell nicht mehr los. Sie ging also wieder in die Hocke, wobei sie ihr Shirt noch einmal sorgsam über ihren hinteren Hosenbund zog, um nicht allzu tiefe Einblicke zu gewähren, und setzte den Radschlüssel erneut an.

„Da ham Se aber noch mal Glück gehabt“, hörte sie ihn nun hinter sich fachsimpeln. Nina hielt kurz inne. Was zum Kuckuck hatte ein plattes Vorderrad mit Glück zu tun? Sie widerstand der Versuchung nachzufragen, wie er darauf kam. Doch wie sie schnell feststellen musste, war dies auch gar nicht nötig, da der Kölner die Erklärung für das angebliche Glück unaufgefordert hinterherschickte.

„Der is ja nur unten platt und nicht dat ganze Autoreifen“, erklärte er grammatisch äußerst bedenklich und begann dann schallend zu lachen. Nina wagte einen Blick zur Seite, über den vorderen Kotflügel hinweg. Wie es schien, hatte der Familienpapa, mit dem Klaus zugange war, gefunden, was er suchte und machte sich nun an dem Ersatzrad zu schaffen.

„Wo kommt dat hübsche Fräulein denn her?“, erkundigte sich indessen Mister Vokuhila und trat direkt in ihr Sichtfeld, um einen Blick auf ihr vorderes Kennzeichen zu werfen.

„AK, wo is dat dann? Is dat Altenkirchen beim Westerwald?“

Nina antwortete nicht. Stattdessen versuchte sie mit ihrem gesamten Körpergewicht die erste Schraube zu lösen. Schweiß trat auf ihre Stirn und das, ohne dass diese doofe Radschraube sich auch nur einen Millimeter bewegt hätte.

„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, bot sich der Zottelige an.

„Nein, nicht nötig. Ich komm schon zurecht“, zischte sie und riss noch einmal mit voller Kraft an dem Werkzeug.

„Schon klar. Dat seh ich, dat Sie zurechtkommen“, amüsierte er sich nun auch noch.

Nina zog den Schraubenschlüssel ab, setzte ihn auf eine der anderen Radschrauben und versuchte nun diese zu lösen, doch auch diesmal bewegte sich das Ding keinen Deut.

„Ich will ja net klugscheißern, Fräulein, aber vielleicht versuchen Sie et einfach mal andersrum. Gejen die Uhr“, gab er ihr nun auch noch gute Ratschläge. Nina holte tief Luft. Okay, so wie es aussah, war der Kerl extrem hartnäckig. Nur durch Ignorieren würde sie ihn nicht loswerden. Sie zog den Schraubenschlüssel ab, erhob sich und reichte ihn ihm.

„Bitte schön, wenn Sie meinen, Sie könnten es besser ...“

Der Kölner grinste, griff sich den Kreuzschlüssel, steckte ihn flink auf eine der Radschrauben und trat mit voller Wucht darauf. Mit einem Knirschen bewegte sich die Schraube und bevor Nina sich versah, hatte er auch die anderen drei gelöst.

„Gelernt is halt gelernt, nä“, meinte er blöde grinsend und gab ihr das Werkzeug zurück.

„Sind Sie etwa Automechaniker?“, erkundigte Nina sich nun doch ein wenig neugierig.

„Nä, Fräulein. Ich bin Klempner“, erklärte er schelmisch und bevor sie sich versah, zauberte er aus der Brusttasche seines Hawaiihemdes eine zerknitterte Visitenkarte und hielt sie ihr hin. Zögernd nahm Nina das Kärtchen.

„Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Martin von Schlechtinger. Sanitär, Heizung und Schwimmbadtechnik. Stets zur Stelle, wenn et ma leckt oder Ihnen zu kalt ist“, stellte er sich vor, zwinkerte ihr dabei obszön zu und begann erneut zu lachen, als hätte er einen wirklich sehr lustigen Witz gemacht. Nina lächelte, sie musste zugeben, dass der aufdringliche Typ ihr auf irgendeine Art noch nicht einmal wirklich unsympathisch war. Nein, das nicht. Dieser Martin mit seinem Zottelhaar und dem leichten Kugelbauch sah ein wenig aus wie dieser lustige Schlagersänger ... dieser ... Verflixt, wie hatte der Sänger von den Orthopädischen Strümpfen doch noch gleich geheißen? Nina kam nicht auf den Namen. Sie sah an Martin vorbei, wo Klaus mit dem Reserverad blieb und stellte erleichtert fest, dass ihr Göttergatte sich gerade von dem freundlichen Familienpapa verabschiedete und sich anschickte, samt dem Ersatzrad den Rückweg anzutreten.

„Darf man denn fragen, wo et hingeht?“, wollte Martin indes wissen.

„Ähm, ja klar. Wir fahren in den Urlaub. Nach Langeoog“, gab Nina zu, da sie ja nicht unfreundlich sein wollte, jetzt, wo der Typ ihr schon die Schrauben gelöst hatte.

„Nach Langeoog! Ja, dat is ja ein Zufall. Da will ich auch hin. Da trifft man sich bestimmt mal“, freute sich Martin sichtlich.

„Wo wohnt dat Fräulein denn? Hotel oder Ferienwohnung?“, fragte er weiter und Nina kam sich langsam vor wie bei einer Quizshow.

Sie schielte zu Klaus, der nur noch wenige Meter entfernt war.

„Ah, da kommt ja mein Mann“, erklärte sie und hoffte inständig, dass Vokuhila-Martin beim Anblick von Klaus das Interesse an ihr verlor. Sie war davon überzeugt, dass er sie sowieso nur deshalb angesprochen hatte, weil er glaubte, sie sei allein. Freiwild sozusagen. Doch Martin schien noch nicht einmal enttäuscht zu sein. Klaus hingegen betrachtete den Typen ein wenig skeptisch.

„Is was?“, fragte er, als er bei ihnen stand. Nina schüttelte schnell den Kopf.

„Nein, Schatz, alles in Ordnung. Herr ...“, sie zögerte und schielte zum Namen auf dem Visitenkärtchen. „Herr Schlechtinger war so freundlich, mir beim Lösen der Radschrauben zu helfen.“

„Von Schlechtinger wenn schon“, verbesserte Martin sie und fügte aber dann an: „Ich bin nämlich ein Blaublütiger. Verarmter Landadel, sozusagen. Aber für meine Fründe bin ich nur der Maddin.“ Erneut begann er schallend zu lachen.

Klaus rang sich ebenfalls ein Lächeln ab, stellte das Rad auf den Boden und streckte dem verarmten Landadligen die Hand hin.

„Klaus Schmitz ... und vielen Dank, dass Sie meiner Frau geholfen haben“, stellte er sich sehr höflich vor.

„Keine Ursache, Klaus, man hilft doch gern, wenn man kann“, schlug Martin ein und sah dann auf die Uhr. „Ich muss aber jetzt sehn, dat ich fortkomm, sonst verpass ich die letzte Fähre. Ihr zwei solltet auch hinne machen. Sonst müsst ihr heut Nacht im Auto schlofen. Also ... nix für ungut. Mir sehn uns“, verabschiedete er sich und hielt dann noch einmal kurz inne, um Nina die Hand zu geben.

„Jetzt weiß ich aber immer noch net, wie die Frau Schmitz mit Fürnamen heißt.“

Nina griff die Hand zögerlich und sagte dann, warum auch immer: „Lara, Lara Schmitz.“

„Ahhh, Lara ... schöner Name. Also dann ... Lara, Klaus, mir sehn uns“, meinte er, rannte dann um seinen Wagen herum, sprang hinein und brauste mit quietschenden Reifen davon.

„Sag mal, spinnst du? Warum lügst du den Typen denn an?“, fragte Klaus sichtlich verwirrt, aber nicht böse. Nina verdrehte die Augen.

„Weil er lästig war. Ich hatte Angst, dass der am Ende noch meinen Namen googelt und ...“, sie winkte ab.

„Und da gibst du dich als meine Schwester aus?“

„Ich hab mich nicht als deine Schwester ausgegeben, sondern mir lediglich ihren Namen geborgt. Das ist ein Unterschied. Mir fiel so schnell nichts anderes ein. Und wie der dann auch noch ‚Schmitz‘ sagte ... na ... da war das wie ’ne Steilvorlage. Aber ist doch auch egal. Den sehen wir eh nicht wieder“, schnaufte sie, stopfte dann die Visitenkarte in ihre Hosentasche und reichte Klaus den Radschlüssel.

Kapitel 2

Freitag, 7. August 2015Fähranleger / Bensersiel

Der Anblick, wie das Fährschiff Langeoog III, begleitet von einem Schwarm schimpfender Möwen, aus dem Hafen glitt, hatte eindeutig etwas von dem Motiv einer Postkarte. Das Bild wäre vermutlich noch schöner gewesen, wenn Nina und Klaus jetzt in diesem Moment mit an Bord wären und nicht wie zwei Vollpfosten hier auf der Treppe des Fährhauses ständen und dem Kahn hinterherguckten.

„Was für ein blöder Mist“, sprach Klaus das aus, was Nina gerade dachte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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