Saras Gespür für die Liebe - Lynda Cohen Loigman - E-Book
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Saras Gespür für die Liebe E-Book

Lynda Cohen Loigman

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Beschreibung

Dieser Roman lässt einen wieder an die Liebe glauben – das perfekte Buch für Valentinstage und Frühlingsgefühle!

Ein Buch so magisch und zeitlos wie die Liebe selbst.
Sara Glikman kann Seelenverwandte erkennen. In den Straßen New Yorks stiftet sie um 1910 schon als Kind so manche Ehe, sehr zum Ärger traditioneller jüdischer Heiratsvermittler. Die sehen ihr Geschäft bedroht und machen Sara das Leben so schwer, dass ihre Gabe zum Fluch werden könnte.
Saras Enkelin Abby hat nach der Trennung ihrer Eltern früh den Glauben an die Liebe verloren und arbeitet als Scheidungsanwältin. Doch als sie die Aufzeichnungen ihrer geliebten Großmutter erbt und deren Botschaften zu entschlüsseln versucht, gerät ihr Leben ins Wanken. Gehört das Paar, für das sie einen Ehevertrag aufsetzt, wirklich zusammen? Bereitet sie eine Scheidung vor, die alle unglücklich macht? Abbys Bauchgefühl wird zum Problem – hat sie womöglich mehr von Sara geerbt als nur deren Notizen?

Auf der Liste der besten Bücher des Jahres von New York Post • People • BuzzFeed

»Die Lektüre wird auch das kälteste Herz zum Schmelzen bringen! Wer Jenny Colgans ›Wo das Glück zu Hause ist‹ mag, wird auch dieses Buch lieben.« Readbakecreate.com

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

»Mr Raskin«, sagte sie, »es wäre mir eine Ehre, Ihrer Tochter zu helfen.«

»Aber sie sagt, sie heiratet nur, wenn es eine Liebesheirat ist.«

Sara legte die Hand aufs Herz. »Das sind die einzigen Heiraten, die ich vermittle.«

Sara Glikman ist zehn Jahre alt, als sie ihre erste Ehe stiftet: Auf dem Auswandererschiff nach New York erkennt sie, dass zwischen ihrer Schwester und einem scheuen jungen Mann eine besondere Magie besteht. Und sie behält recht – schon bald läuten die Hochzeitsglocken. Als Jüdin ist Sara das Konzept der Heiratsvermittlung nicht fremd, aber es ist auch reine Männersache. Daher stoßen ihre Bemühungen, Seelenverwandte zu verbinden, auf großen Widerstand. Doch Sara lässt sich nicht beirren und hält ihre Arbeit in Notizbüchern fest.

Viele Jahre später hat Saras Enkelin Abby ebenfalls Karriere mit der Liebe gemacht. Genauer gesagt: mit deren Scheitern. Da sie als Kind sehr unter der Trennung ihrer Eltern gelitten hat, hat Abby ihre Karriere als Scheidungsanwältin bewusst gewählt. Als Schutz gegen den Kummer, der in allen Herzensangelegenheiten schlummern kann. Doch als sie die Aufzeichnungen ihrer Großmutter Sara erbt, scheint auch deren Gabe in ihr zu erwachen und stellt Abbys Leben auf den Kopf …

Autorin

Lynda Cohen Loigman wuchs in Longmeadow, Massachusetts, auf. Sie studierte Englische und Amerikanische Literaturwissenschaft am Harvard College und promovierte an der Columbia Law School in Jura. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Chappaqua, NY. »Saras Gespür für die Liebe« ist ihr dritter Roman.

Lynda Cohen Loigman

Saras Gespür für die Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Matchmaker’s Gift« bei St. Martin’s Press, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024

Copyright © 2022 by Lynda Cohen Loigman

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

AB · Herstellung: ik

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30931-2V001

www.goldmann-verlag.de

Für Ellie und Adelle

I have always been a woman who arranges things Like luncheon parties, poker games, and love.

Song: I Put My Hand In Aus: Hello, Dolly! Text: Jerry Herman

1. Kapitel

Sara

1910

Eine Ehestifterin für diese sonderbare neue Welt

Sara war zehn, als sie die erste Heirat vermittelte.

Eine Woche lang war sie mit ihren Eltern, ihrer Schwester Hindel und drei ungebärdigen Brüdern von Kalarasch nach Libau unterwegs gewesen, um an Bord des riesigen Dampfschiffs zu gehen, das nach New York fuhr. Als die Küste zu einem verschwommenen Schemen verblasste, heulte die achtzehnjährige Hindel wie ein von Kolik geplagter Säugling. Sie weinte um das Dorf, das sie nie wiedersehen würde, und um den stattlichen jungen Mann, den sie zurückgelassen hatte. Ihre Mutter, die bei Tränen keine Geduld hatte, zeigte auf das Wasser, das sie zu allen Seiten umgab. »Das Meer ist schon voll genug«, bemerkte sie. »Wenn du nicht aufhörst zu weinen, ertränkst du noch die Fische.«

Sie waren aus ihrer Kabine in der dritten Klasse, einer engen Zelle, in der es nach Erbrochenem und Salz stank, aufs Deck hinaufgestiegen. Sara dachte, die Seeluft würde Hindels Stimmung vielleicht ein wenig heben, doch der blaue Himmel brachte keine Linderung. Nachdem sie die Taschentücher ihrer Mutter durchweicht hatte, fing Hindel an, die Falten ihres Rockes zu benutzen. Ihre Augenlider waren rot und geschwollen, doch selbst in ihrem Kummer war ihre Schönheit deutlich sichtbar. Hindels Haut war so zart wie der Schaum auf den Wellen. Die Zöpfe, die ihr über den Rücken hingen, waren wie Seide und Honig.

»Such deinen Vater und bring mir sein Taschentuch«, flüsterte ihre Mutter Sara ins Ohr. »Rasch, bevor deine Schwester ihre Kleider ruiniert.«

Dazu war Sara nur allzu gern bereit, um einen Moment lang dem Gejammer zu entkommen. Das Gesicht ihres Vaters war nirgends zu sehen, doch die Menschenmenge schreckte sie nicht. Sie drängte sich an einer Gruppe junger Männer vorbei – mindestens ein halbes Dutzend; sie beugten sich über eine Holzkiste, klatschten Karten darauf, warfen Münzen und lachten. Der größte zwinkerte Sara zu, als sie vorbeikam, doch es war der kleinere Mann hinter ihm, der ihr auffiel.

Der Mann stand abseits von der Gruppe und starrte schweigend auf das Wogen des Meeres. Sein rötlicher Bart war säuberlich gestutzt, sein wollener Anzug war abgetragen, aber sauber. Sara sah, wie er eine Brille mit Metallgestell abnahm, ein Taschentuch aus der Tasche zog und sich daranmachte, die runden Gläser zu putzen.

Dabei ging der Mann behutsam zu Werke, sorgsam und bedächtig. Er hielt die Brille, als könnte er ihr wehtun, als wären es die Flügel eines verletzten Vogels und nicht zwei Scheiben aus durchsichtigem, hartem Glas.

Sofort war Sara neben ihm, zeigte auf das Taschentuch und bat um Hilfe. »Bitte«, sagte sie, »darf ich mir das für meine Schwester ausleihen? Sie steht da drüben an der Reling – das Mädchen mit den Zöpfen.«

Der Mann setzte sich die Brille wieder auf die Nase und kniff die Augen zusammen. »An der Reling, sagst du? So weit kann ich nicht sehen; meine Augen sind nicht so scharf, wie sie sein sollten. Trotzdem, ich helfe natürlich sehr gern.«

Irgendetwas in Saras Brust regte sich. Wenn Männer ihrer Schwester begegneten, sahen die meisten nur ihre makellose Haut und die Rundungen unter ihrem Kleid, das wusste sie genau. Daheim in ihrem kleinen Dorf waren sämtliche Männer über fünfzehn Hindel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Hilfe geeilt. Sie trugen ihr die Wassereimer vom Fluss herauf, sie hoben die Äpfel auf, die von ihrem Karren fielen. Sara hatte ihr Wolfslächeln gesehen, ihre hungrigen Blicke, ihre zu vertraulichen Hände. Dieser kleine Fremde mit den schwachen Augen jedoch handelte allein aus Höflichkeit.

Als sie ihn zur Reling lotste, kam über ihnen die Sonne hinter einer vorüberziehenden Wolke hervor. Sara blinzelte, einmal und noch einmal. Bildete sie sich das nur ein, oder hatte da ein Faden aus goldenem Licht eine Linie von ihrer großen Schwester zu dem kurzsichtigen Mann neben ihr gezogen?

»Ich heiße Aaron«, sagte der Fremde, der Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

Drei Monate später heirateten Hindel und Aaron in einer Synagoge in der Rivington Street in New York, die nur aus einem Raum bestand. Bei dem kleinen Hochzeitsempfang, der auf dem Dach des Gebäudes stattfand, waren elektrische Lichter an hohen Holzpfählen befestigt, und für die Gäste standen Teller mit Kuchen bereit. Saras Mutter erzählte jedem, der es hören wollte, dass es ihre jüngere Tochter gewesen sei, die das junge Paar miteinander bekannt gemacht hatte. »Ist das zu glauben?«, sagte sie zu den Gästen. »Ich habe sie nach einem Taschentuch geschickt, und sie ist mit einem Bräutigam zurückgekommen.« Ein paar der Gäste schüttelten ungläubig die Köpfe, die meisten jedoch lächelten oder gratulierten. So ein braves Mädchen haben Sie da, sagten sie. So ein Segen für Ihre Familie.

Als aller Kuchen aufgegessen und aller Schnaps ausgetrunken war, nahm der Rabbi – ein untersetzter Mann mit einem großen Pelzhut – Saras Hand und raunte einen Segensspruch. Sein Atem stank nach Zwiebeln, doch er hielt ihre Hand sanft umfasst, und seine Miene war freundlich. »Erzähl mir von dem Schiff«, sagte Rabbi Sheinkopf. »Dutzende Männer haben doch Taschentücher bei sich; warum hast du Aaron ausgesucht? Warum hast du ihn um Hilfe gebeten?«

Einige Augenblicke vergingen, bevor Sara antwortete. Sie wählte ihre Worte wie Früchte auf dem Markt, wog jedes einzelne ab, ehe sie es aussprach. »Er war anders als die anderen Männer. Die anderen haben Karten gespielt, um Geld, aber er hat abseitsgestanden. Er hat seine Brille geputzt.«

»Ah«, sagte der Rabbi. »Dann war er also der besonnenste und gelehrteste von den Männern?«

Sara schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Er hat nicht gespielt, weil er kein Geld hatte. Und er hat mit der Brille auch nicht gelehrt ausgesehen. Er hat den Staub von den Gläsern gewischt und die Augen zusammengekniffen. Als ich ihm Hindel gezeigt habe, konnte er sie zuerst gar nicht sehen, weil seine Augen so schwach sind …«

»Dann hast du also jemanden ausgesucht, der mehr sehen konnte als nur das Äußere deiner Schwester?«

Sara zögerte. »Zum Teil«, gab sie zu. Ihr war klar, dass der Rabbi, obgleich er nach Antworten suchte, nicht genug wusste, um die richtige Frage zu stellen. Ihr war klar, dass das Wichtigste an ihrer Begegnung mit Aaron nicht das gewesen war, was sie dazu gebracht hatte, ihn überhaupt anzusprechen, sondern das, was sie danach gesehen hatte. Sara wollte den Rabbi nicht anlügen, doch sie wusste nicht genau, wie sie ihm das Phänomen erklären sollte. Schließlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ihre Geschichte ins Ohr.

Als sie den Lichtfaden beschrieb, den sie gesehen hatte, schien der Rabbi nicht überrascht zu sein. Stattdessen funkelten seine Augen. »Du hast eine Berufung«, sagte er zu Sara. »Noch bist du jung, aber sie wird warten.«

»Das verstehe ich nicht«, antwortete sie. »Was meinen Sie damit?«

»Das Licht, das du zwischen deiner Schwester und ihrem Mann gesehen hast, das war kein Streich, den dir die Sonne gespielt hat. Du bist mit Augen gesegnet, die das Licht von Seelengefährten sehen können, die ihre Arme nacheinander ausstrecken.«

Ob es nun die Worte des Rabbi waren, das Schlückchen Brandy, das ihr Vater ihr erlaubt hatte, oder das Flackern der fremdartigen elektrischen Glühlampen – in Saras Kopf begann es zu pochen. Die Stimme des Rabbi war wie Regen im späten Frühling – sanft, aber stetig und beharrlich. Die Worte, die er als Nächstes sagte, prägten sich ihr ein und ließen sie den Rest ihres Lebens nicht mehr los.

»Du bist eine Ehestifterin, Sara Glikman, ein Schadchan. Eine Schadchanteh für diese sonderbare neue Welt.«

2. Kapitel

Abby

1994

In der Nacht, in der ihre Großmutter Sara starb, träumte Abby von ihr, ein Traum voller scharfer, leuchtender Details. In Abbys Traum war Sara genauso wie im richtigen Leben – eine ein Meter fünfzig große, pummelige Frau mit bequemen Schuhen in schwarzen Hosen und Strickjacke. Die Haut ihres Gesichts war runzlig, aber weich, und ihre Locken waren frisch mit Nice’n Easy Champagnerblond gefärbt. Als Abby am Morgen aufwachte, hatte sie die Stimme ihrer Großmutter im Kopf. Wär’s denn so schwer, mich im Traum schöner anzuziehen? Und mich vielleicht ein bisschen größer zu machen, oder wenigstens etwas dünner?

Großmama Sara war friedlich im Schlaf gestorben, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, einem Stapel Zeitungen auf dem Nachttisch und einem leeren Kuchenteller auf dem Boden neben dem Bett. Am letzten Tag ihres Lebens war sie fünf Kilometer weit durch ihr Wohnviertel in der Upper West Side spaziert. Als sie abends mit Abby telefonierte, hatte sie von einem Kaffeetrinken mit ihrer Nachbarin gesprochen. »Morgen um zehn kommt Mrs Levitz. Ich habe ihr versprochen, dass ich einen Zimt-Babka mache, aber ich hetze mich morgens nicht gern, also habe ich heute Nachmittag zwei gebacken. Einen friere ich für dich ein. Ich gebe ihn dir, wenn du am Sonntag kommst.«

Abby vergaß den Babka bis zum nächsten Morgen, als ihre Mutter sie bei der Arbeit anrief und es ihr sagte. Sara hatte auf Mrs Levitz’ Klopfen hin nicht aufgemacht, also hatten die Nachbarn den Hausmeister um den Schlüssel gebeten. Im Flur von Saras Wohnung war es dunkel und still gewesen. Kein Kaffee brodelte, nichts rührte sich, kein Laut war zu hören. Ein Rettungswagen war geholt worden, doch es war bereits zu spät gewesen.

Abby schloss die Tür ihres Büros und ließ die Tränen über ihre Wangen rinnen. Zu glauben, dass ihre Großmutter tot war, war unmöglich. Vor vierzehn Jahren hatte Großmama Sara ihren Ruhestand in Florida aufgegeben, um Abbys Mutter zu helfen, ihre beiden Töchter großzuziehen. Im Winter, wenn New York verschneit und grau war, hatte Abby ihre Großmutter oft gefragt, ob sie den Strand vermisse. Doch selbst an den kältesten, ekligsten Tagen hatte Großmama Sara stets gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Du und deine Schwester, ihr seid mein Sonnenschein«, hatte sie geantwortet. »Und wer will sich denn in meinem Alter noch die Mühe machen, sich in einen Badeanzug zu quetschen?«

Abby starrte das einsame Foto auf ihrem Schreibtisch an – ein Bild von ihr mit ihrer Schwester und ihrer Großmutter, aufgenommen an Saras neunzigstem Geburtstag. Darauf hielten alle drei Frauen Champagnergläser hoch. Abby trug ihre langen dunklen Locken offen, während Hannahs welliges helleres Haar mit Blumen hochgesteckt war. Großmama Sara stand in der Mitte, flankiert von ihren beiden Enkelinnen, und strahlte in die Kamera.

Abby drückte den Bilderrahmen ans Herz und versuchte, die Stimme ihrer Großmutter heraufzubeschwören – den ganz leichten Akzent der alten Welt, der sich in den Vokalen hielt, die längst vergessenen Melodien, die sie immer vor sich hin gesummt hatte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem letzten Treffen vor zwei Tagen, ihr allwöchentlicher Sonntagslunch. Sämtliche Nachrichten hatten über die Scheidung der Nichols berichtet, und natürlich hatte ihre Großmutter das Thema angesprochen. Die juristische Karriere ihrer Enkelin faszinierte Sara, und sie fragte sie regelmäßig nach Einzelheiten ihrer Arbeit aus.

»Ich habe heute einen Artikel über diese Schauspielerin und den Millionär gelesen. Deine Kanzlei vertritt doch die Schauspielerin, stimmt’s?« Großmama Saras Augen hatten gefunkelt wie die eines frechen Kindes.

»Großmama, du weißt doch, ich darf nicht über unsere Klienten reden. Das ist vertraulich, schon vergessen?«

Sara hob die Hand. »Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich habe zwei gute Augen und zwei gute Ohren. Ich schaue Nachrichten, ich lese Zeitung. Ich weiß schon alles, was ich wissen muss. Für die beiden ist noch nicht Schluss, noch lange nicht.«

Abby stöhnte auf und barg das Gesicht in den Händen. »Du hast doch gerade gesagt, du hast die Artikel gelesen! Wie kannst du da glauben, dass nicht Schluss ist?«

»Ich glaube nicht alles, was ich lese. Denkst du etwa, alles, was die drucken, ist wahr?«

»Großmama, ich hab’s dir doch gesagt, ich darf nicht darüber reden. Ich weiß nur, dass ich zwölf Stunden am Tag für zwei Leute arbeite, die nicht einmal im selben Zimmer sein wollen.«

Sara erhob sich vom Sofa und füllte Abbys Kaffeetasse neu, ehe sie sich wieder in die Chenille-Kissen zurücksinken ließ. »Schätzchen, du musst aufhören, so viel zu arbeiten. Bei all diesem Tumult wird nichts herauskommen. Die beiden bleiben zusammen. Punkt.«

»Michelle Nichols war letzte Woche dreimal bei uns in der Kanzlei!«

Sara zuckte die Achseln und nippte an ihrem Kaffee. »Ich sehe, was ich sehe, und ich weiß, was ich weiß. Es wird keine Scheidung geben. Sag das ruhig deiner Chefin.«

»Soll ich ihr sagen, dass das die professionelle Einschätzung meiner Großmutter ist?« Abby hatte so einige Geschichten über die Zeit ihrer Großmutter als Ehestifterin gehört, damals als junge Frau in der East Side und später als junge Mutter nach dem Krieg. Seit über vierzig Jahren war Sara nicht mehr im Geschäft, doch sie hielt noch immer gern Vorträge über Herzensangelegenheiten. Das konnte durchaus zu Spannungen zwischen ihnen beiden führen, vor allem wenn Sara versuchte, ihrer Single-Enkelin Ratschläge zu geben. Tatsächlich war es das Einzige, worüber sie sich je stritten.

»Mach dich ruhig lustig, wenn du willst, aber das ist meine Meinung. Ich bin alt, trotzdem funktioniert mein Instinkt immer noch gut.«

Als Abby nicht antwortete, fuhr ihre Großmutter fort: »Zum Beispiel merke ich es, wenn meine Enkeltochter nicht glücklich ist.«

»Großmama, hör auf. Ich bin sehr glücklich. Ich hab dir doch gesagt, es ist alles gut. Mein Apartment gefällt mir, ich habe nette Freunde, und ich habe echt Glück, so einen tollen Job zu haben.«

»Glück hat man, wenn man im Lotto gewinnt. Nicht wenn man achtzig Stunden die Woche schuftet.«

Abby seufzte. »Nicht schon wieder meine Arbeitszeiten, bitte!«

»So einen Job kann man doch nicht bis in alle Ewigkeiten machen. Jeden Tag einen Tritt in die Kishkes …«

»Niemand tritt mir in die Kishkes, Großmama. Ja, ich arbeite sehr viel. Ja, es ist nicht immer der … erbaulichste Job. Aber für mich ist er wichtig.«

»Wer sagt denn, dass deine Arbeit nicht wichtig ist? Ich bin durchaus für Scheidungen – sie sind etwas Notwendiges. Nicht nur für Leute wie deine Eltern – auch für andere. Für Leute, die sogar noch weniger Glück hatten …« Sie hielt kurz inne. »Natürlich musste kein Ehepaar, das ich zusammengebracht habe, jemals geschieden werden.«

»Das heißt aber nicht, dass die alle glücklich waren. Die Zeiten haben sich geändert.«

Abbys Großmutter nahm ihre Hand zwischen die ihren, drückte sie sanft und legte sie dann an ihre Wange. »Hör zu, meine Liebe. Manche Dinge ändern sich nie. Erinnerst du dich denn nicht mehr an die Geschichten, die ich dir immer erzählt habe? Ich hätte dafür sorgen sollen, dass du mir besser zuhörst.« Sara beugte sich näher zu Abby hinüber und seufzte. »Eines Tages, meine kluge Skeptikerin, werde ich nicht mehr da sein, und alle meine Geschichten werden dir gehören. Wenn die Zeit gekommen ist, versuch, dich daran zu erinnern, was ich dich gelehrt habe. Wer weiß? Vielleicht vermittelst du ja selber mal ein paar Liebesheiraten.«

Liebe. »Großmama, du weißt doch, wie ich das sehe. Nach allem, was Mom durchgemacht hat, glaube ich einfach nicht an die Ehe.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber hör mir zu, Liebes. Was zwischen deinen Eltern war, das war keine Liebe. Das war eine Verbindung, die niemals hätte geschlossen werden dürfen.«

Abbys Mutter und ihr Vater gingen mit ihren Töchtern in Central Park South Eis essen, um ihnen zu eröffnen, dass sie sich scheiden lassen würden. Rumpelmayer’s, in einer Ecke des Hotel St. Moritz versteckt, war bekannt für seine Eisbecher, sein kunstvolles Gebäck und sein schickes Dekor. Abbys kleine Schwester fand alles toll – die Teddybären auf den Tischen, die hellrosa Wände. Der Cafébesuch war die Idee ihres Vaters, doch Abby ließ sich davon nicht täuschen. Sie war zwölf Jahre alt, und sie war ein aufmerksames Kind. Sie hatte die tränennassen Wangen ihrer Mutter gesehen. Sie hatte die spätnächtlichen Streitereien im Schlafzimmer ihrer Eltern gehört. Und was am schlimmsten war, sie hatte das fremde Parfüm gerochen – ein schweres Gemenge aus Moschus und verbrannten Rosenblättern –, das am Revers vom Trenchcoat ihres Vaters haftete. Keiner der Düfte, die durch das Café wirbelten – von Kakao und Butter, Vanille und Zimt –, konnte den Geruch vertreiben, an den sich Abby immer noch erinnerte.

Es stand nicht in Abbys Macht, den Familienausflug zu verweigern, aber ihr Vater konnte sie nicht zwingen, Spaß daran zu haben. Ohne zu lächeln, sah sie zu, wie das Eis, das ihr Vater für sie bestellt hatte, weich wurde und in der Schale zu Suppe zerschmolz. Das unnachgiebige Leder ihrer Schuhe drückte an ihren Zehen und hinten an den Fersen. Die Spangen, die ihre dunklen, ungebärdigen Locken zurückhielten, bissen wie Miniaturzähne in ihre Kopfhaut. Warum hatten sie sich für das hier fein gemacht? Warum taten sie so, als hätten sie etwas zu feiern? Alles an diesem Tag war verkehrt.

Abby war sich ganz sicher, dass ihre Mutter genauso empfand. Beverly, zierlich und blass, hielt sich an einer Tasse schwarzen Kaffee fest – ein passendes Getränk für eine traurige Angelegenheit. Abbys Vater hatte sich ein enormes Eiscreme-Soda bestellt, mit einem Riesenberg Schlagsahne samt einer Kirsche obendrauf. Die Art und Weise, wie er das Zeug hinunterschlang, hatte etwas Obszönes. Normalerweise aß ihr Vater kein Dessert, aber heute, meinte er beharrlich, sei »ein besonderer Anlass«.

»Mädchen«, begann ihre Mutter und achtete nicht auf sein Schlürfen. »Euer Vater und ich müssen etwas mit euch besprechen.«

»Moment, Bev.« Er saugte den letzten Rest der Eiscreme-Brause-Mischung durch den rosa-weiß gestreiften Strohhalm und holte zwei Samtkästchen aus der Jacketttasche. »Zuerst habe ich ein paar Geschenke für die beiden.«

Hannah quietschte vor Freude, als sie das herzförmige Medaillon erblickte, Abby jedoch machte ein finsteres Gesicht und ließ ihr Kästchen auf dem Tisch stehen.

»Phil«, sagte ihre Mutter mit zusammengebissenen Zähnen, »wir hatten das doch besprochen. Wir waren uns einig, dass Geschenke heute unpassend sind.«

Er feixte und hob die Hände in Schulterhöhe, die Handflächen nach vorn gedreht, als würde er gerade verhaftet. »Erwischt«, antwortete er. »Da habe ich wohl gegen die Spielregeln verstoßen.«

»Stell mich hier nicht als die Böse hin«, flüsterte Abbys Mutter. »Du wolltest es so.«

Abby suchte im Gesicht ihres Vaters nach Antworten. Sie wusste, dass viele Leute ihn attraktiv fanden – dass alle Einzelteile (seine Größe, sein wohlgeformter Kiefer, sein dunkles Haar) zusammen einen gut aussehenden zweiundvierzigjährigen Mann ergaben. Doch in letzter Zeit hatte sie die verborgenen hässlichen Teile bemerkt: die spöttisch gehobenen Brauen, die höhnisch verzogenen Lippen. Er hatte angefangen, wie ein ganz anderer Mensch auszusehen.

Hannah war noch zu klein, um das zu bemerken, doch Abby hatte für sie beide aufgepasst. Ihr waren die Veränderungen im Verhalten ihres Vaters aufgefallen – wie seine Stimmung umschlug wie ein Boot, das vom Kurs abkam. Sie hatte die Abende gezählt, an denen er spät von der Arbeit gekommen war, bis es so viele waren, dass das Zählen sinnlos wurde.

»Du willst dich scheiden lassen, stimmt’s?«, fragte sie. Als ihr Vater nicht antwortete, wiederholte sie die Frage.

»Psst«, fauchte er. »Nicht so laut.« Er schob das Samtkästchen noch weiter zu ihr hinüber. »Willst du denn das Geschenk nicht aufmachen, das ich dir gekauft habe?« Sein Lächeln war übertrieben und einstudiert; er sah dabei mehr aus wie ein Nachrichtensprecher als wie ihr Vater.

»Na schön«, gab er zu, als sie nicht antwortete. »Ja, ich habe eure Mutter um die Scheidung gebeten.« Abby griff nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie unter dem Tisch, während er weiterredete. »Manchmal bleiben verheiratete Leute nicht verheiratet, aber das heißt nicht, dass irgendwer schuld daran ist. Ich werde immer euer Vater sein. Wir werden immer eine Familie sein.«

»Ziehst du aus?«

»Ich nehme mir eine eigene Wohnung«, sagte er. »Ihr beide werdet unter der Woche bei eurer Mutter wohnen, und jedes zweite Wochenende kommt ihr zu mir.«

Abby beschloss, nicht zu protestieren – zumindest fürs Erste nicht. In Hannahs blauen Augen standen Tränen, und Abby wollte sie nicht noch mehr aus der Fassung bringen. Ihre Schwester hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Nie würde sie wollen, dass ein Riesenhaufen Fremder, ein ganzer Saal voller Menschen, sie weinen sah. Abby war klar, dass das der Grund für diesen Ausflug war. Ihr Vater war zu feige, es seinen Töchtern zu sagen, wenn sie allein waren.

Draußen vor dem Restaurant wimmerte Hannah: »Ich hab Bauchweh!«, bevor sie den Inhalt ihres Magens auf den holperigen Zementbürgersteig erbrach. Passanten machten einen Bogen um sie alle, um nicht in die Lache hineinzutreten. Ihre Mutter holte ein sauberes Papiertaschentuch aus der Handtasche und wischte Hannah den Mund ab. »Ist schon gut, Liebling«, flüsterte sie. »Komm, wir bringen dich nach Hause.« Ihr Vater hielt ein Taxi an, doch als seine Frau und seine Töchter eingestiegen waren, sagte er, er würde zu Fuß gehen. »Ich brauche ein bisschen frische Luft«, meinte er achselzuckend.

Abby fand, dass sie alle ein bisschen frische Luft vertragen könnten. Doch die Mädchen und ihre Mutter saßen auf dem Rücksitz des stinkenden Taxis, während ihr Vater frei unter dem kühlen Großstadthimmel dahinging. Eigentlich hätte er höchstens eine Stunde brauchen sollen, doch er kam erst nach Hause, als schon der ganze Tag vergangen war. Als er zum Gute-Nacht-Sagen in Abbys Zimmer trat, tat sie so, als schliefe sie. Er beugte sich über sie, um sie auf die Stirn zu küssen, und roch nach Wodka, Zigaretten und jenem fremden Parfüm, das sie nicht vergessen konnte.

Die folgenden Monate waren voller unerfreulicher Überraschungen: der Gerichtsbote, der mit den Scheidungspapieren vor ihrem Haus lauerte, das Thanksgiving-Essen ohne ihren Vater, der aus mysteriösen Gründen im letzten Moment absagte. Ein Sonntagsfrühstück mit ihm in ihrem Lieblings-Diner, das von jenem Moschusgeruch gestört wurde, der Abby traf wie ein Schlag in den Magen. »Mädchen«, verkündete ihr Vater und nahm die Hand der hochgewachsenen blonden Frau, »das ist Tanja.«

Eine Woche vor ihren Weihnachtsferien setzte ihre Mutter sich mit ihnen an den Tisch. Beverlys Augen waren vom Schlafmangel gerötet, und sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Wir werden ein paar Dinge ändern müssen«, sagte sie.

»Was denn?«, fragte Hannah mit so zittriger Stimme, dass Abby das Herz schwer wurde. War es nicht genug, dass ihr Vater weggegangen war? Wie viel würde sich noch ändern?

Beverly verkroch sich tiefer in ihren Rollkragenpullover, wich vor der unerfreulichen Wahrheit zurück. »Es wird einige Zeit dauern, alles zu regeln, aber ich werde wieder arbeiten müssen. Morgen treffe ich mich im Reisebüro mit meinem früheren Chef.«

Abby hatte es immer schön gefunden, wenn ihre Mutter von ihrer Arbeit erzählte: von den Urlauben, die sie für ihre Kunden gebucht hatte, den Familienreisen, den exotischen Hochzeitsreisen. Irgendwann, hatte sie immer gesagt, machen wir mit euch beiden eine Abenteuerreise. Wir fliegen erster Klasse und wohnen in einem Fünfsternehotel. Da servieren sie uns Champagner und legen uns Pfefferminzbonbons aufs Kopfkissen, und die Betten werden so weich sein, dass wir gar nicht wieder abreisen wollen. Abby wusste, dass ihre Mutter vor ihrer Geburt gern in der Reisebranche gearbeitet hatte. Wenn sie von ihrer Zeit im Reisebüro gesprochen hatte, hatte sie immer ganz rote Wangen bekommen, und ihre Stimme war vor Begeisterung lauter geworden. Jetzt jedoch freute Beverly sich anscheinend gar nicht – sie wirkte noch blasser als sonst, teilnahmslos und müde. Die einzige gute Nachricht war, dass ihre Großmutter bald kommen würde. Großmama Sara war vor Abbys Geburt nach Florida gezogen, doch jetzt würde sie nach New York kommen und eine Zeit lang bleiben.

Als ihr Vater sie am nächsten Tag fürs Wochenende abholte, waren Abby und Hannah weniger gesprächig als sonst. Zwei ganze Wochen lang hatten sie ihn nicht gesehen, und obwohl er versprochen hatte, jeden Abend anzurufen, meldete er sich inzwischen nur noch jeden dritten Tag.

»Ihr beide scheint euch ja nicht besonders zu freuen, mich zu sehen«, schmollte er. Als er mit ihnen den Flur hinunter zu den Fahrstühlen ging, stellte Abby fest, dass er anders aussah. Er trug ein Sportjackett aus Cord, einen weichen karierten Schal und Schuhe, die sie noch nie gesehen hatte. Sein Haar, das er normalerweise alle drei Wochen schneiden ließ, war vorn und an den Ohren wuscheliger geworden. »Deine Haare sind lang«, stellte Abby fest und starrte mit schief gelegtem Kopf zu ihm empor.

»Nun ja, also, so tragen Männer ihr Haar eben heute.«

»Ich habe dich noch nie mit einem Schal gesehen.«

»Seit wann interessiert’s dich so, wie ich aussehe?«, herrschte er sie an und rammte den Daumen auf den Fahrstuhlknopf. »Tanja hat mir geholfen, ein paar neue Sachen auszusuchen, okay?«

»Klar«, erwiderte Abby. »Deine Schuhe sind hübsch.« Sie wollte nicht kritisch sein, doch dann musste sie an den Dienstagnachmittag denken, als Hannah ihre Ballettschuhe nicht gepasst hatten und ihre Mutter ausgesehen hatte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie hatte nicht gesagt, warum, doch Abby wusste es: Ihre Mutter hatte sich Sorgen gemacht, was neue Schuhe kosten würden.

Als sie draußen waren, wechselte Abbys Vater das Thema. »Ich habe eine Überraschung für euch«, verkündete er. Er führte sie an dem kastenartigen Wohnblock vorbei, in dem er sich eingemietet hatte, und schritt selbstsicher in Richtung Central Park West. Dann lotste er sie durch die elegante Marmor-Eingangshalle eines imposanten Gebäudes aus der Vorkriegszeit. Hinter einem mahagonigetäfelten Tresen zog ein Portier in Uniform die Mütze vor ihnen. »Guten Abend, Mr Silverman«, sagte der Mann, und Abby fragte sich, woher er wohl den Namen ihres Vaters wusste.

Im achten Stock öffnete ihr Vater die Tür von Wohnung 8D und machte Licht an. Obgleich die meisten Fenster auf die Seitenstraße hinausgingen, konnte man durch eines doch die Avenue und den Central Park sehen. Abby und Hannah drückten die Stirn gegen die Scheibe und starrten auf die Baumwipfel dreißig Meter unter ihnen. »Oh«, flüsterte Hannah, »ist das schön!« Abby löste sich vom Fenster, um den Rest des Zimmers in Augenschein zu nehmen. Ein gewaltiger weißer Teppich bedeckte einen Großteil des glänzenden Dielenbodens, und ein Dutzend goldgerahmter Spiegel füllte die Wände. Identische Sofas aus glattem cognacfarbenem Leder standen sich in der Mitte des Raumes gegenüber, dazwischen ein Couchtisch, der ganz und gar aus Glas war.

»Wollt ihr den Rest sehen?«, fragte ihr Vater. Er führte sie den mit Teppich ausgelegten Flur entlang, vorbei an dem Marmorbad und dem großen Schlafzimmer. Am Ende des Gangs war ein kleineres Schlafzimmer für die Mädchen, das vom Boden bis zur Decke mit einem Mischmasch miteinander wetteifernder Blumenmuster dekoriert war – malvenfarbene Bettüberwürfe und Vorhänge, ein hellgrüner Teppich, ein Stuhl aus Acryl. »Ist das nicht toll?«, fragte ihr Vater. »Tanja hat mir beim Einrichten geholfen.«

Am liebsten hätte Abby gesagt, dass sie von dem Zimmer Kopfweh bekam. Sie hätte gern gesagt, dass das alles zu viel war – die geblümten Bettüberwürfe, die Frisur ihres Vaters. Doch er strahlte, und ihre Schwester kicherte, also beschloss Abby, den Mund zu halten.

Am Sonntagmorgen erzählte ihr Vater ihnen in seiner Küche bei Bagels mit Frischkäse von seiner Beförderung. Er verdiene jetzt mehr Geld – viel mehr Geld, sagte er, und damit habe er seine neue Wohnung gekauft.

Offenkundig erleichtert stieß Abby die Luft aus. »Jetzt braucht Mommy sich nicht mehr so viele Sorgen zu machen.«

Ihr Vater hörte auf zu kauen. »Mein Job hat nichts mit eurer Mutter zu tun.«

Abby wusste nicht recht, warum er so wütend klang. Ihre Mutter brauchte Geld, und er hatte mehr als genug.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Du hast doch gesagt, wir wären immer noch eine Familie.«

»Ich muss für dich und Hannah sorgen und für das bezahlen, was ihr braucht. Wie viel Geld eure Mutter bekommt, wird vom Richter berechnet, und zwar auf der Basis meines Gehalts zu der Zeit, als wir geheiratet haben. Den neuen Job habe ich danach bekommen. Verstehst du?«

Doch Abby verstand das nicht. Es kam ihr ungerecht vor, dass ihr Vater mit Blick auf den Central Park aufwachte, während ihre Mutter nachts wach lag und sich wegen Ballettschuhen den Kopf zerbrach. Plötzlich wollte Abby nicht an diesem Tisch sitzen, in dieser blitzsauberen weißen Küche, die sich überhaupt nicht wie zu Hause anfühlte.

Der Tisch wackelte, als sie ihren Stuhl zurückschob, und die Kaffeetasse ihres Vaters kippte und fiel zu Boden. Er sprang auf und griff nach einem Handtuch – nach irgendetwas, egal, was, um zu verhindern, dass die dampfende Flüssigkeit die brandneuen, makellosen Fliesen befleckte. Ihr Vater sah nur das Unheil, das sie angerichtet hatte, nie würde er das zur Kenntnis nehmen, wofür er selbst verantwortlich war. Abby spürte, wie ihr Gesicht vor Wut rot anlief.

»Wenn die Scheidung noch nicht offiziell ist, bist du dann nicht noch verheiratet?«

»So funktioniert das nicht«, tat ihr Vater diesen Einwurf ab, als ginge sie das nichts an, als hätten die Entscheidungen, die er getroffen hatte, keinerlei Auswirkung auf ihr Leben. Als verdiente sie keine Erklärung, als wäre sie zu jung und zu dumm, um das alles zu verstehen.

»Und wie funktioniert es dann? Ich will das wissen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er kam aus der Hocke hoch und betrachtete mit gefurchter Stirn die Stellen, wo sein Kaffee in die schmalen Fugen gesickert war. Seine Stimme war hart und scharf, als er antwortete. Was er als Nächstes sagte, setzte sich in ihrem Kopf fest und ließ sie den Rest ihres Lebens nicht mehr los.

»Verdammt, Abby, hör auf, mich zu nerven! Du willst Antworten? Dann werd doch Scheidungsanwältin, Herrgott noch mal!«

Abby weinte noch immer, als die Seniorpartnerin der Kanzlei die Tür ihres Büros öffnete, ohne vorher anzuklopfen.

»Was ist denn los, Abby? Mein Gott, was ist passiert?« Diane Berenson kam ins Zimmer gerauscht und hob eine vollendet nachgezogene Augenbraue. Als Abby nicht sofort antwortete, strich sie sich den Rock ihres eleganten Strickkostüms glatt und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs.

Abby wünschte sich inständig, es nicht laut aussprechen zu müssen. Wie konnte der Tod jemanden holen, der so lebendig war? Selbst mit vierundneunzig lebte Sara noch allein. Sie kaufte ein, machte Besorgungen, kochte selbst. »Meine Mom hat gerade angerufen. Meine Großmutter … ist gestern Nacht gestorben.«

»Ach, Abby, das tut mir sehr leid.« Diane faltete die Hände im Schoß. »Sagen Sie mir, wie kann ich helfen?«

Diesen Tonfall hatte Abby schon oft gehört, den benutzte Diane immer bei ihren verzweifeltsten Klienten. Eine Scheidung war schließlich eine hochemotionale Angelegenheit, und Diane war eine Meisterin der Gefühlstriage. Sie sorgte dafür, dass auf jedem Schreibtisch, jeder Anrichte und jedem Tisch in den Büros der Kanzlei Berenson & Gold Schachteln mit Papiertaschentüchern bereitstanden. Wenn ihre Klienten weinten und brüllten und fluchten, wartete Diane geduldig, bis ihnen die Luft ausging. Sagen Sie mir, wie kann ich helfen?, erkundigte sie sich dann.

Die Frage riss Abby aus ihrer Erstarrung. Sie wollte nicht behandelt werden wie eine von Dianes hysterischen Klientinnen. »Danke, aber ich komm schon klar. Wirklich.«

»Wann ist die Beerdigung?«

»Das steht noch nicht fest, aber wahrscheinlich übermorgen.«

»Also am Donnerstag? Sie sollten für heute Schluss machen; gehen Sie zu Ihrer Familie. Ihre Mutter braucht bestimmt Ihre Hilfe; wenn so etwas passiert, gibt es doch immer viel zu tun.«

»Ich gehe auch bald, aber vorher will ich noch die schriftlichen Beweisfragen für Mrs Nichols fertig machen.«

Diane schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Also, eigentlich bin ich deswegen hier. Ich habe gerade mit Michelle Nichols und ihrem Manager gesprochen. Sie können aufhören, an den Beweisfragen zu arbeiten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie sich herausgestellt hat, trennen sie und ihr Mann sich gar nicht. Ihr Pressesprecher hat falsche Storys an die Medien durchgestochen – Eheprobleme, eine Affäre mit ihrem Filmpartner  –, um Interesse am nächsten Film zu generieren. Der Pressesprecher hat sie dazu gebracht, sich mit uns zu treffen, und als die Paparazzi sie damals nicht erwischt haben, hat er noch zwei weitere Termine gemacht, nur um sicher zu sein, dass sie Fotos davon schießen, wie sie unser Gebäude betritt und wieder verlässt. Der Drecksack hat sie dazu überredet, das Ganze zu faken.«

Abbys Puls begann zu rasen. War es möglich, dass ihre Großmutter recht gehabt hatte? Für die beiden ist noch nicht Schluss, noch lange nicht. »Das soll wohl ein Witz sein? Das ist ja … unglaublich. Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Das People-Magazin bringt nächste Woche eine Story darüber, dass sie sich mit ihrem Mann versöhnt hat. Es täte ihr leid, dass sie unsere Zeit verschwendet hat, hat Michelle gesagt.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

Dianes Gesicht war eine Maske gespielter Naivität. »Sie wissen doch, wie nachsichtig ich sein kann, Abby. Ich habe Ihre Entschuldigung so liebenswürdig wie möglich akzeptiert.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen erlaubte Abby sich ein Lächeln. »Lassen Sie mich raten«, meinte sie, »sobald Michelle sich aus der Konferenzschalte verabschiedet hatte, haben Sie ihrem Manager gesagt, Sie erwarten, dass er Ihre Rechnung vollumfänglich bezahlt.«

»Fast, aber nicht ganz. Ich habe diesem Hollywood-Volltrottel erklärt, dass Berenson & Gold ihm das Doppelte berechnen werden. Und wenn er nicht sofort zahlt, habe ich gesagt, dann rufe ich selbst beim People-Magazin an.«

Abby hustete. »Klingt für mich durchaus vernünftig.«

»Ich bin immer vernünftig. Und ich toleriere es nicht, wenn man mich benutzt.« Diane erhob sich, knöpfte ihre Kostümjacke zu und strich sich ein vorwitziges Haar hinters Ohr. »Genug davon. Das Wichtigste ist jetzt, dass Sie unerwarteterweise ein wenig Freizeit haben – Zeit, die Sie mit Ihrer Familie verbringen sollten.«

»Danke, Diane«, sagte Abby. Dann zögerte sie und überlegte, ob sie ihr von dem Gespräch erzählen sollte, das sie mit ihrer Großmutter geführt hatte. »Wissen Sie«, begann sie, »als ich das letzte Mal mit meiner Großmutter geredet habe, da hat sie gesagt, sie habe den Nichols-Fall in den Nachrichten verfolgt …«

»Toll, dass sie in ihrem Alter noch an so etwas interessiert war. Aber natürlich hat ja auch das halbe Land mitgefiebert, wie sich diese verkorkste Geschichte entwickelt.«

»Das stimmt wirklich, nicht wahr? Aber meine Großmutter hatte ein ganz spezielles Interesse daran. Sie war so eine Art … Eheexpertin. Früher war sie mal Heiratsvermittlerin, aber das ist Jahrzehnte her.«

»Eine Heiratsvermittlerin? Wirklich? Wie in Anatevka?«

Abby hielt es für das Beste, nicht zu verraten, wie verhasst ihrer Großmutter dieser Vergleich gewesen war und wie heftig sie jedes Mal zusammengefahren war, wenn das Wort Yenta – Klatschbase – fiel. »Nicht direkt. Jedenfalls, sie hat die Scheidung erwähnt, weil sie überzeugt war, dass Michelle bei ihrem Mann bleiben würde. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich irrt, aber sie hat sich nicht davon abbringen lassen.«

Sobald die Worte aus Abbys Mund heraus waren, wünschte sie sich, sie hätte sie für sich behalten. Sie hatte ihre Großmutter als eine Art überkandidelte Wahrsagerin dargestellt. Das Lächeln ihrer Chefin war höflich, aber auch mitleidig. »Ich finde es rührend, dass Sie so auf die … Instinkte Ihrer Großmutter vertrauen. Und dass sie sich so für Ihre Arbeit interessiert hat. Bestimmt war sie sehr stolz auf Sie.«

Super. Jetzt hält Diane mich für übergeschnappt. »Na ja, also, es ist nett von Ihnen, das zu sagen. Natürlich weiß ich, dass das bloß ein Zufallstreffer war, was sie da gesagt hat.«

»Natürlich.«

Später, auf dem Weg zur Wohnung ihrer Mutter, dachte Abby an die Worte ihrer Großmutter. Ich sehe, was ich sehe, und ich weiß, was ich weiß. Abby wünschte, sie könnte sehen, was ihre Großmutter sah. Wünschte, sie könnte wissen, was ihre Großmutter wusste – über das Leben, über die Menschen, sogar über die Liebe.

Hätte sie nur daran gedacht, die richtigen Fragen zu stellen, hätte sie nur daran gedacht, sich die Antworten aufzuschreiben. Nach dem Tod ihrer Großmutter sah Abby nichts anderes als verpasste Gelegenheiten. Sie fühlte sich ärmer, dumpfer, leerer als vorher. Alles, was sie jetzt noch hatte, waren verblasste Erinnerungen und ein paar uralte Geschichten, die sie sich kaum noch ins Gedächtnis rufen konnte.

Das würde genügen müssen.

Der Morgen der Beerdigung war kalt, aber wolkenlos und der Himmel von strahlendem, aber gefühllosem Blau. Der Friedhof von Queens erstreckte sich kilometerweit. Reihen von Grabsteinen, so weit Abby sehen konnte. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ihre Großmutter beim Besuch am Grab ihres Großvaters Gabe begleitet. Abbys Großvater war 1954 mit sechzig an Herzinsuffizienz gestorben. Abby hatte ihn nie kennengelernt, doch sie hatte all die Geschichten gehört. Sie wusste, dass er gute Zigarren geschätzt hatte und dass er seine Frau »die Schönheitskönigin« genannt hatte. Ihre Großmutter ging einmal im Jahr mit Abby auf den Friedhof, um in alten Erinnerungen zu schwelgen und Kieselsteine auf Gabes Grabstein zu legen. Gemäß der jüdischen Tradition waren Blumen nur für freudige Anlässe gedacht, niemals für Bestattungen. Es war Sitte, kleine Steine zu hinterlassen, wenn man am Grab eines geliebten Menschen gewesen war. Bei diesen Besuchen sprach Sara mit ihrem Mann, als könnte er sie hören, als wäre er noch am Leben. Hier ist Abby, Gabe. Ist sie nicht wunderbar? Schau doch nur, wie erwachsen deine älteste Enkelin ist! Außerdem brachte sie ihn gern auf den neuesten Stand, was all den wichtigen Klatsch und Tratsch betraf – die Geburten und die Todesfälle, die Kinder und Enkelkinder ihrer alten Freunde. Morris Shapiros Enkel ist Chirurg, ist das zu fassen? Der Bengel, der kein Eis essen konnte, ohne dass ein Teil davon auf dem Gehsteig gelandet ist, schnippelt jetzt am Gehirn wildfremder Leute herum!

Abbys Aufgabe bestand darin, Getränke und Snacks sowie die Klappstühle mitzubringen, die ihre Großmutter speziell für diese seltsamen Exkursionen in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte. Es gab keine Möglichkeit, die Grabbesuche zu beschleunigen; im Laufe der Jahre lernte Abby, es gar nicht erst zu versuchen. Sara plauderte abwechselnd mit Gabe, unterhielt sich mit Abby und futterte die Snacks, und sie hörte erst auf, wenn ihr die Neuigkeiten ausgingen und die letzten Nüsse und Trockenfrüchte aufgegessen waren. Erst dann stand sie von ihrem Stuhl auf, warf ihrem Mann Kusshändchen zu und verabschiedete sich. Bis bald, mein lieber, lieber Mann.

Und jetzt waren sie endlich wieder vereint, Sara und Gabe, für immer unzertrennlich. Der Gedanke, dass sie beide in der Erde lagen, war Abby verhasst; es war ihr verhasst, endgültig Abschied zu nehmen. Sie schaffte es, nicht zu weinen, bis sie an der Reihe war, eine Schaufel voll Erde auf den schlichten Kiefernsarg ihrer Großmutter zu werfen. Ganz gleich, wie oft man ihr gesagt hatte, das sei so Sitte, ihr kam es immer noch herzlos und unnötig vor.

Als die Trauergäste sich hinterher allmählich zerstreuten, tippte eine Frau, die Abby nicht kannte, ihr auf den Arm. Sie war mindestens zehn Jahre älter als Abby – ungefähr fünfunddreißig – und groß und attraktiv, ungeachtet der Tatsache, dass sie aussah, als hätte sie sich im Stockfinsteren angezogen. Die Jacke, die sie anhatte, passte nicht zu ihrer Bluse, und sie trug Sneakers zu ihrem Rock. »Entschuldigung«, sagte sie, »ich wollte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen. Ihre Großmutter war ein ganz besonderer Mensch.«

Abby gab sich alle Mühe zu lächeln. Das Gesicht der Frau war ihr nicht vertraut, aber Großmama Sara hatte auch andauernd neue Leute kennengelernt, hatte ständig Gespräche mit Wildfremden angefangen. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Woher kannten Sie meine Großmutter?«

»Ich war ihre Augenärztin. Meine Mitarbeiterinnen haben sie heiß und innig geliebt. Jeder hat sie geliebt. Sie war immer so fröhlich und so verständnisvoll. Jedes Mal wenn ich ihre Augen untersucht habe, wie sie sich dann bei mir bedankt hat – man hätte meinen können, ich hätte gerade das ganz große Los gezogen und es ihr geschenkt.«

»Das hört sich ganz nach meiner Großmutter an. Sie hat alle ihre Ärzte verehrt.«

»Bestimmt hat man Ihnen das schon öfter gesagt, aber Sie sehen ihr ähnlich. Sie haben ihre Augen.«

Abby nickte höflich, doch sie hörte schon nicht mehr zu. Ihr Kopf schmerzte, weil sie seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen hatte. Heiser war sie auch vom Reden mit Dutzenden Leuten. Insgeheim fragte sie sich, wie lange sie noch lächeln und sich die Erinnerungen anderer Menschen an die Frau anhören musste, die sie besser gekannt hatte als jeder Einzelne von ihnen. Und schlimmer noch, wie oft sie noch die Frage würde beantworten müssen, wie es ihrem Vater ging. Abrupt unterbrach sie die Augenärztin. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss meine Schwester finden. Wir müssen nach Hause, um die Schiwa vorzubereiten.«

Die Ärztin zögerte, als hätte sie noch mehr zu sagen. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich holte sie eine Visitenkarte aus der Umhängetasche und drückte sie Abby in die Hand. »Ich will Sie nicht aufhalten, aber bitte, nehmen Sie meine Karte. Ich hoffe, Sie kommen zu mir, wenn Sie jemals Probleme mit den Augen haben. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie viel Ihre Großmutter mir bedeutet hat. Sie war wirklich … einzigartig.« Die Fremde blinzelte ein paar Tränen weg, ehe sie den anderen Trauergästen zu ihren Autos folgte.

Eine Woche später hatten bei Berenson & Gold alle die Beerdigung von Abbys Großmutter vergessen. Richard Gold, der andere Seniorpartner der Kanzlei, hatte sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Wobei Abby auch mit Leichtigkeit an einer Hand abzählen konnte, wie oft Richard mit ihr gesprochen hatte. Er und Diane arbeiteten nie für denselben Klienten, und tatsächlich ließen sie sich auch nur selten von denselben angestellten Anwälten zuarbeiten. Im Allgemeinen verhielten sie sich mehr wie Konkurrenten als wie Partner – zwei separate Lehensgüter, die sich die Büroräume teilten. Jeder hatte ein Team aus drei Anwälten, und Abby war von Diane angestellt worden. Keiner der anderen Kollegen war besonders freundlich, doch Abby sagte sich, dass sie nicht hier war, um Freundschaften zu schließen. Eine oder zwei Kolleginnen sprachen ihr ihr Beileid aus, doch Karten, Umarmungen oder ernsthafte Kondolenzen blieben aus.

Was Diane betraf, so wusste die nur noch, dass Abby sich ein paar Tage freigenommen hatte, was bedeutete, dass von ihr erwartet wurde, die Zeit wieder reinzuarbeiten. Abby hatte bereits drei neue Fälle zugewiesen bekommen, zwei Scheidungen und einen Ehevertrag. Doch sosehr sie sich auch bemühte, konzentriert zu arbeiten, ihr Blick kehrte immer wieder zu dem Foto auf ihrem Schreibtisch zurück.

Zwei Wochen nach der Beerdigung rief Abbys Onkel Ed sie im Büro an. Er war ein paar Jahre älter als Abbys Mutter, groß und stämmig, mit kratzigem Bart und kratziger Stimme. Abby und ihre Schwester hatten immer gesagt, er sehe aus wie ein Holzfäller. »Danke für das Kompliment«, erwiderte er dann, »aber in New York gibt’s keine Holzfäller.«

Abby hatte Onkel Ed seit dem Begräbnis nicht mehr gesehen. Sie freute sich, seine Stimme zu hören, doch er hatte sie noch nie bei der Arbeit angerufen. »Ist alles okay? Geht’s dir und Tante Judy gut?«

»Na klar, Kleines, uns geht’s bestens. Hör zu, Judy und ich sind gerade in Florida und räumen die alte Wohnung deiner Großmutter aus. In ihrem Schrank waren ein paar Kartons, auf denen dein Name steht, die schicke ich dir heute. Das wollte ich dir nur sagen, damit du vorbereitet bist.«

»Sie hat mir doch nicht etwa die Porzellanfigürchen vermacht? Die im Esszimmer?«

»Nein, die Figürchen stehen immer noch auf ihrem Board. Um ehrlich zu sein, wir haben nicht in die Kartons reingeschaut. Die sind nämlich schon zugeklebt, und wir haben zu viel anderes zu tun. Ich bringe sie nachher zur Post; in ein paar Tagen sollten sie bei dir ankommen.«

»Brauchst du meine Adresse?«

»Nein, die hat mir deine Mom schon gegeben. Ich muss jetzt Schluss machen, Kleines. Pass auf dich auf.«

Am nächsten Samstagmorgen rief der Portier bei Abby an, um zu melden, dass zwei Kartons eingetroffen waren. Als sie sie in ihre Wohnung geschafft hatte, schnitt sie mit einem Küchenmesser das Klebeband durch, mit dem der erste zugeklebt war. Sie ging davon aus, dass ein paar Kochbücher drin waren oder die Kerzenhalter ihrer Großmutter. Nichts wirklich Wertvolles, da war sie sich sicher.

Sie hätte schwören können, dass ein ganz schwacher Hauch vom Geruch der Hühnersuppe ihrer Großmutter von dem Pappdeckel aufstieg. Doch als sie ihn aufklappte, roch sie etwas anderes – Staub und Papier, eine Andeutung von Whiskey. Sechs ledergebundene Tagebücher unterschiedlicher Größe stapelten sich in dem Karton. Der andere enthielt mehr oder weniger das Gleiche, allerdings waren die Bücher neuer, und ein paar davon waren auch Ringbücher. Abbys Hände zitterten, als sie mit den Fingern über die Einbände strich.

Sie beschloss, mit den älteren Büchern anzufangen, und von jenen mit dem, das am ältesten aussah. Als sie das Datum sah, das auf der Innenseite des Einbandes stand, blinzelte sie. 1910. Das Jahr, in dem ihre Großmutter in die Vereinigten Staaten gekommen war.

Abby ließ den Blick über die jiddischen Worte wandern, die die ersten verblichenen Seiten füllten. Obgleich sie nur sehr wenig Jiddisch konnte, erkannte sie eine Handvoll Worte und Namen: Hindel Glikman, 18, Kallah. Aaron Ambromowitsch, 22, Chossen. Hindel war natürlich die Schwester ihrer Großmutter, achtzehn Jahre alt und als »Braut« gelistet. Aaron Ambromowitsch war Hindels Ehemann, den sie auf dem Deck des Schiffes nach New York kennengelernt hatte. Chossen hieß auf Jiddisch Bräutigam, das wusste Abby. Obwohl unter den Namen noch weitere Notizen standen, wurde Abby aus nichts davon schlau. Nach dem, was sie gehört hatte, hatte das Paar 1910 geheiratet, ein paar Monate nach ihrer Ankunft in Amerika.

Die nächsten Seiten waren mit Zeichnungen gefüllt – ein Bild von einem Hund, von der Williamsburg Bridge. 1910 war Abbys Großmutter gerade zehn Jahre alt gewesen.

Irgendwann gegen Ende des Buches hörten die Zeichnungen und die Kritzeleien auf. Lateinische Buchstaben ersetzten die hebräischen, und die Jahreszahl – 1913 – war mit schwarzer Tinte geschrieben worden. Abby wusste, dass ihre Großmutter, anders als viele der ärmsten Kinder ihrer Zeit, eine öffentliche Schule besucht hatte. Dort hatte sie Englisch lesen und schreiben gelernt.

Abbys Herz machte einen Satz, als sie die Schriftzüge sah. Was wäre das für ein Geschenk, die Tagebücher ihrer Großmutter zu besitzen und in Saras eigenen Worten etwas über ihre Kindheit und Jugend zu erfahren!

Doch der Inhalt war nicht unbedingt das, worauf Abby gehofft hatte. Das Ganze las sich mehr wie ein Katalog als wie ein Tagebuch. Der erste Eintrag begann mit zwei Namen, die oben auf der Seite unterstrichen worden waren. Miryam Nachman, 20, Braut, Jacob Tunchel, 21, Bräutigam. Ein buntes Sammelsurium an Informationen folgte: Miryam war das jüngste von drei Kindern. Der Beruf ihres Vaters wurde als »Schreiber« angegeben, ein Kunsthandwerker, der traditionelle hebräische Kalligrafie für religiöse Dinge wie Mesusa-Schriftrollen oder Heiratsurkunden erstellte. Laut den Aufzeichnungen war Miryam »künstlerisch veranlagt«. Sie las gern, sie war »elegant«. Sie arbeitete bei einer Hutmacherin.

Jacob Tunchel wohnte in der Stanton Street. Seine Mutter war am 30. Mai 1912 gestorben. Laut Saras Notizen studierte er Optometrie und arbeitete mit seinem Vater in dessen Brillengeschäft. Anscheinend hatte er einen »unterhaltsamen Sinn für Humor«. Ganz unten auf der Seite waren in unsauberer, winziger Schrift ein paar kryptische Worte hingekritzelt worden. Das Herz ist groß genug für Trauer und Liebe.

Als sie den Rest des Buches durchblätterte, fand Abby ein halbes Dutzend ähnliche Einträge – Paare mit Namen aus der alten Welt und Details über ihren familiären Hintergrund, ihre Berufe, die Geschichte ihrer Familie. Andere Bücher waren statt mit Paaren mit Beschreibungen geeigneter Männer oder heiratsfähiger Frauen gefüllt. Fotografien und Karten und Zeitungsausschnitte steckten zwischen den Seiten.

Abby sank auf das billige Parkett ihres Apartments und schlang ihre dünnen Arme um die Knie. Sie fühlte, wie sie eine große Erschöpfung überkam, als wäre sie zu einem langen Wettlauf angetreten und hätte eben erst gemerkt, dass jemand die Ziellinie nach hinten verschoben hatte. Eigentlich hatte sie nach dem Tod ihrer Großmutter ein wenig Frieden gefunden, jetzt jedoch warfen diese Bücher tausend neue Fragen auf. Was sollte Abby daraus lernen? Wie konnte sie hoffen, in all diesen hinterlassenen Seiten einen Sinn zu erkennen? Allein Abbys Neugier hinderte sie daran, sich aufs Neue dem Kummer zu ergeben.

Sie stand auf und betrachtete den Haufen ledergebundene Bücher. Irgendwo in diesem Stapel verblasster Kritzeleien waren die Geschichten, die Abbys Großmutter erzählen wollte. Sara hatte sich darauf verlassen, dass Abby sie fand, hatte darauf gebaut, dass sie sich durch den Papierberg wühlen würde, um die Geschichten zusammenzufügen. Irgendwo in dieser bemerkenswerten Bibliothek versteckten sich die Lektionen, die Abby lernen sollte.

Eines Tages, meine kluge Skeptikerin, werde ich nicht mehr da sein, und alle meine Geschichten werden dir gehören. Wenn die Zeit gekommen ist, versuch, dich daran zu erinnern, was ich dich gelehrt habe. Wer weiß? Vielleicht vermittelst du ja selber mal ein paar Liebesheiraten.

3. Kapitel

Sara

1913

Wollt Ihr ein Kind wegen eines Stückchens Huhn verklagen?

Trotz der verblüffenden Feststellung des Rabbi dachte Sara erst wieder ans Ehestiften, als drei Jahre vergangen waren. Während dieser Zeit war ihr die widersprüchliche Natur ihrer neuen Heimat klar geworden: New York war gleichzeitig ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten und des erschreckenden Mangels.

Sie wohnten zu acht (einschließlich Hindel und ihrem Mann) in der Cannon Street, in einem Drei-Zimmer-Apartment mit einer Toilette auf dem Flur, die sich zu viele Hausbewohner teilten. Das mittlere Zimmer unterschied sich von den anderen durch einen schweren eisernen Herd und ein trogartiges Spülbecken, das an der Wand angebracht war. »So schrecklich ist es doch gar nicht«, behauptete ihre Mutter beharrlich. Ihre Augen jedoch sagten etwas anderes, sie verweilten auf der abblätternden Farbe, den staubigen Fußböden, den Wasserflecken an der Zimmerdecke.

Die ersten drei Monate bevor Hindel heiratete, schlief Sara in der Küche neben ihrer Schwester. Jeden Abend schrubbten sie den hölzernen Esstisch, legten eine Decke darüber und rollten sich wie Katzen darauf zusammen. Ihre Eltern nahmen das kleinste, fensterlose Zimmer – das einzige mit einem richtigen Bett –, und die drei Jungen teilten sich zwei Feldbetten im Wohnzimmer. Doch nachdem Hindel und Aaron vermählt worden waren, war Sara gezwungen, sich mit ihrem jüngsten Bruder George ein Feldbett zu teilen. Nacht um Nacht lag sie im Dunkeln wach und lauschte dem fürchterlichen Dauerschnarchkonzert ihrer Brüder, dem Seufzen ihrer Schwester und dem Gebrüll, das von der Straße hereindrang. Morgens wachte sie steif und erschöpft auf, aß ein paar Bissen Brot und ging mit George zur Schule in der East Fourth Street.

Ganz gleich, wie wenig sie gegessen hatte oder wie müde sie war, verspürte Sara doch immer einen Energieschub, wenn sie das Klassenzimmer betrat. Gemeinschaftskunde und Geschichte, Rechnen und Lesen – es gab kein Fach, das sie nicht interessierte. In Kalarasch gingen nur Jungen zur Schule, in Amerika jedoch bestand ihre Klasse zur Hälfte aus Mädchen. Sie waren nicht besonders nett zu Sara mit ihren abgetragenen Kleidern und den unordentlichen Zöpfen, doch die störte das nicht im Geringsten. Mit ihrer Familie in so beengten Verhältnissen zu leben, hieß, dass sie sich mehr nach Privatsphäre sehnte als nach Freunden. Alleinsein war ein unvorstellbarer Luxus.

Dank ihrer Begeisterung für die Schule lernte Sara schneller Englisch zu sprechen als ihre Geschwister. Bald lieh sie sich Bücher von ihrer Lehrerin und ging einmal in der Woche in die Bibliothek am Tompkins Square. Nachts saß sie am Fenster, während ihre Brüder im Schlaf ächzten, und las beim gedämpften Schein der Straßenlaterne. Die Geschichten löschten den Lärm im Hausflur aus. Sie ließen das Trampeln der Nachbarn über ihnen verstummen. Sie bezauberten sie und lenkten sie gerade genug ab, dass sie den Aufruhr in ihrem Kopf loslassen konnte.

Der Nachteil daran war natürlich, dass sie noch weniger schlief, und das Blinzeln im Laternenlicht schwächte ihre Augen. Als ihre Lehrerin bemerkte, dass sie Mühe hatte, die Schrift an der Tafel zu lesen, setzte sie Sara in die erste Reihe und gab ihr eine Nachricht für zu Hause mit.

Die Hände von Saras Mutter zitterten, als sie das Blatt Papier auseinanderfaltete. »Was steht da drauf?«, fragte sie ihre Tochter. »Was ist passiert?«

»Gar nichts ist passiert. Mrs Stewart sagt, ich bin eine ausgezeichnete Schülerin. Sie hat dir und Papa geschrieben, weil sie glaubt, dass ich vielleicht eine Brille brauche. Ihr ist aufgefallen, dass ich manchmal nur schwer sehen kann.«

Da es bei den Glikmans acht Mäuler zu stopfen und die Miete zu zahlen galt, war kein Geld übrig. Saras Mutter faltete die Nachricht der Lehrerin wieder zusammen und schob sie stirnrunzelnd in die Schürzentasche. »Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte Sara. »Mrs Shapiro schuldet mir ein bisschen Geld dafür, dass ich ihr mit dem Baby geholfen habe. In der Orchard Street gibt es Brillenverkäufer. Ich frage Aaron, ob er weiß, wer von denen die besten Preise hat.«

Am nächsten Tag lag der Geruch von Essig und Salz schwer in der Luft des Marktes. Fässer mit eingelegten Pilzen, Rettichen, Gurken und Kohl verstellten die Straße. Auf Schubkarren türmten sich Karotten, reife rote Äpfel und süße goldene Zwiebeln. Kinder drängten sich um Karren mit Erdnüssen, während ihre Mütter um den Preis frischer Eier feilschten. Sosehr sie auch versucht war, sich eine Schale Borschtsch zu kaufen, achtete Sara doch nicht auf das Knurren ihres Magens. Bevor sie sich etwas zu essen gönnte, musste sie wissen, wie viel die Brille kosten würde.

Endlich erblickte Sara den Mann, den sie suchte. Baruch Tunchel verkaufte von einem Handkarren an der Ecke Orchard und Rivington Street Brillen mit Drahtgestell. Ein schwarzer Filzhut thronte hoch oben auf seinem Kopf, und ein silbriger Bart wogte unter seinem Kinn. Irgendwo in der Mitte zwischen Hut und Bart waren ein nichtssagender Mund und eine unauffällige Nase, und hinter einer dicken Brille hielten gierige Augen nach Kunden Ausschau. Tunchels Karren klemmte zwischen einem Blechschmied mit Wucherpreisen und einer einäugigen Frau, die Bananen feilbot. Sara gab sich Mühe, die ausgefranste Klappe nicht anzustarren, die die Höhle bedeckte, in der das Auge der Frau hätte sein sollen. »Ist nicht leicht, einer Blinden eine Brille zu verkaufen«, bemerkte Tunchel halblaut. »Sag mir, junge Dame, wie kann ich dir helfen?«

»Meine Lehrerin hat meiner Mutter wegen meiner Augen geschrieben. Ich kann in der Schule die Wörter an der Tafel nicht richtig sehen.«

»Da hast du aber Glück, so eine nette Lehrerin zu haben. Sie hat dir mich also empfohlen, wie?«

»Nein – mein Schwager Aaron hat mir Ihren Namen gesagt. Ich habe nicht viel Geld.« Sie warf einen raschen Blick auf die Haufen aus Draht und Gläsern. »Welche von denen ist die Billigste?«

Tunchel schnaubte. »Bevor du nach dem Preis fragst, brauchst du die richtige Stärke. Du sagst, es fällt dir schwer, in der Ferne etwas genau zu erkennen? Und in der Nähe? Wie ist es denn, wenn du liest?«

»Lesen ist eigentlich ganz leicht«, antwortete sie. »Aber nachts werden manchmal meine Augen müde.«

Tunchel ließ Sara zehn Schritte zurücktreten. Dann hielt er eine Karte mit großen und kleinen Buchstaben darauf hoch und bat sie, sie ihm vorzulesen, eine Zeile nach der anderen. Danach gab er ihr eine Brille zum Ausprobieren und ließ sie die Buchstaben noch einmal vorlesen.

Diese Übung wiederholten sie mehrere Male mit einem halben Dutzend Brillen, bis Sara auch die kleinsten Buchstaben mit Leichtigkeit lesen konnte. »Das ist die richtige!«, rief Tunchel. »Behalt sie ein bisschen auf, sieh dich gut um.«...Ende der Leseprobe