Satin Island - Tom McCarthy - E-Book

Satin Island E-Book

Tom McCarthy

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Beschreibung

Im Bauch eines Glas- und Stahlbaus verfasst der promovierte Ethnologe U. auf internen Memos eines weltweit tätigen Beratungsunternehmens den »Großen Bericht«: Diese universale Gegenwartsdiagnose soll Trends und Tendenzen aufspüren, denn nur wer die Menschen versteht, kann sie zu Konsumenten machen. Den einen Bericht über diese Welt zu schreiben, in der man sich chronisch zwischen zwei Orten befindet, erweist sich jedoch als knifflig. Zumal die Geschichte sich zu schnell fortschreibt – und wer sie mitschreibt, kann sie nicht gleichzeitig erfassen. Als Forscher und Gegenstand zu verschwimmen und die allumfassende, sinnstiftende Erzählung zu scheitern drohen, eröffnet ein Traum von einer apokalyptischen Stadtlandschaft samt gigantischer Müllverbrennungsanlage neue Perspektiven.

Werden die besten Gegenwartsdiagnosen in den mächtigen Finanzzentren erstellt? Tom McCarthy unternimmt nichts Geringeres als den Versuch, unsere Zeit zu vermessen – und bringt dabei eine ihrer tiefenschärfsten Analysen hervor!

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Seitenzahl: 249

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Cover

Titel

Tom McCarthy

Satin Island

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Melle

Suhrkamp

Impressum

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Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Satin Island bei Alfred A. Knopf, Random House, New York.Auf Deutsch erstmals erschienen bei Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.Das Zitat am Anfang entstammt: Stéphane Mallarmé, Werke II – Kritische Schriften, herausgegeben von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, übersetzt von Gerhard Goebel unter der Mitarbeit von Christine Le Gal. Gerlingen, Schneider 1998, S. 239.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5348.

© der deutschen Übersetzung Thomas Melle, 2016© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2015 by Tom McCarthy

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung: Nora Kaszanyi

eISBN 978-3-518-77592-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Matt Parker

Motto

Äußerlich, wie den Schrei der Weite, nimmt der Reisende den Notruf der Lokomotive wahr. »Gewiß«, überzeugt er sich: »es geht durch einen Tunnel – die Epoche – den langen, letzten, hinkriechend unter der Stadt vor dem allmächtigen Bahnhof des krönenden reinen Zentralpalasts.«

Mallarmé

Satin Island

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Danksagung

Informationen zum Buch

1.

1.1In Turin wird das berühmte Grabtuch aufbewahrt, das einen Abdruck der Leiche Christi nach der Kreuzigung zeigt: auf dem Rücken liegend, die Hände über dem Geschlecht verschränkt, die Augen geschlossen, der Kopf dornengekrönt. Allerdings ist das Bild auf dem bloßen Leinen kaum erkennbar. Es tauchte erst im späten neunzehnten Jahrhundert auf, als ein Amateurfotograf sich das Negativ einer Aufnahme des Objekts ansah und die Gestalt bemerkte – blass und verblichen, aber dennoch da. Nur im Negativ: Das Negativ wurde zum Positiv, was bedeutet, dass das Leichentuch selbst faktisch schon ein Negativ war. Einige Jahrzehnte später, als das Alter des Leichentuchs qua Radiokarbonmethode bestimmt worden war, stellte sich heraus, dass es frühestens aus dem mittleren dreizehnten Jahrhundert stammen konnte; aber das störte die Gläubigen nicht. So etwas stört sie nie. Die Leute brauchen ihre Gründungsmythen, brauchen irgendeinen Stempel aus dem Jahre null, einen Bolzen, der das Gerüst absichert, welches die gesamte Architektur der Realität, der Zeit zusammenhält: Gedächtniskammern und Vergessenheitskeller, Mauern zwischen den Epochen, Korridore, die uns endzeitwärts fegen, in Richtung dessen, was da kommen mag. Wir sehen die Dinge verhangen, wie durch einen Schleier, einen verpixelten Bildschirm. Wenn das amorphe Plasma an Form und Schärfe gewinnt, wie ein Fisch, der sich uns durch trübes Wasser nähert, oder wie ein Bild, das aus dem giftigen Sud in einer Dunkelkammer hervortritt, wenn es zu einer Gestalt zusammenfließt, die erkennbar, wiewohl verschlüsselt ist, dann können wir sagen: Da ist es, es regt, nähert sich, selbst wenn es in Wirklichkeit nichts ist, selbst wenn es nur Tintenkleckse sind.

1.2Vor ein paar Jahren saß ich abends einmal in Turin fest. Nicht in der Stadt, aber am Flughafen: Torino-Caselle. Viele andere saßen ebenfalls fest: Es gingen keine Flüge mehr. Der Satz »Durchsage beachten« multiplizierte sich, stapelte sich in Spalten auf den Anzeigetafeln, abwechselnd auf Englisch und Italienisch. Die Verspätung wurde von einem fehlgeleiteten devianten Flugzeug verursacht, irgendeinem Privatjet, der in idiosynkratischen Mustern über Südengland und dem Kanal herumflog und alle Anweisungen ignorierte, was dazu führte, dass kein anderes Flugzeug in diesen Korridor eindringen durfte; was sich wiederum, aufgrund der Abfolge von Änderungen und Verschiebungen und Umleitungen, zu einer riesigen Verspätungswolke über Europa ausweitete. Also saß ich wie die anderen an meinem Laptop und durchsiebte die Seiten von Fluggesellschaften und Flughäfen, um Aufklärung über die verfahrene Situation zu erhalten – und mich dann, als diese Möglichkeiten ausgereizt waren, durch Nachrichtenportale und soziale Netzwerke zu klicken, durch Flure aus Belanglosigkeiten zu mäandern und generell einfach die Zeit totzuschlagen.

1.3Da las ich über das Leichentuch. Als ich damit fertig war, fing ich an, über Drehkreuze zu lesen. Torino-Caselle ist ein Luftverkehrsdrehkreuz. Es gab eine Page auf der Website, auf der erklärt wurde, was das war. Luftverkehrsdrehkreuze sind mehr Übergangspunkte als Zielorte. Die Webpage zeigte das Diagramm eines rahmenlosen Rads mit Speichen verschiedener Längen, die alle zum Zentrum führten, sodass Verkehr zwischen jeglichen zwei Punkten auf der Radoberfläche möglich war, obwohl keine direkte Linie sie verband. Es sah, mit all den hervorstehenden Zacken, wie die Dornenkrone Jesu aus. Ein Link brachte mich auf eine externe Seite, auf der erklärt wurde, wie das Drehkreuzmodell in verschiedenen Bereichen von der Verfrachtung bis zum dezentralisierten Rechnen zum Einsatz kam. Dann las ich über Flansche, Zahnkränze und Kugellager beim Fahrradbau. Dann klickte ich auf Freilaufnabe. Diese verbanden Kerbverzahnungen – Paarfunktionen für rotierende Elemente – mit einem Sperrklinkenmechanismus, der in die Nabe selbst eingebaut war (anstatt daneben oder darauf wie in vorherigen Modellen ohne Freilaufnabe) und dessen temporäres Ausrasten den Leerlauf ermöglichte.

1.4Zu einem disparaten Soundtrack aus geloopten, aufgezeichneten Nachrichten und Glockentönen, dazu der Melodie des auf Kundschaft wartenden Spielautomaten, Gesprächsfetzen anderer Leute und dem schwankenden, unregelmäßigen Zischen, leiser oder lauter, der Dampfarme an den Kaffeemaschinen in den Espressobars, die übers Terminal verstreut waren, kam mir eine Erinnerung: wie ich als Kind im Leerlauf einen Berg hinunterfuhr, auf meinem zweiten Rad. Es war keine bestimmte Erinnerung des Hinunterfahrens an diesem oder jenem Tag: eher eine allgemeine Erinnerung, in der Hunderte von Abfahrten, die über einen Zeitraum von zwei oder drei Jahren stattgefunden hatten, zu einer einzigen verschmolzen. Während mein erstes Rad eine Rücktrittbremse hatte, die durch die Pedale aktiviert wurde, erlaubte dieses Rad dank einer Handbremse auch das Rückwärtstreten. Das war mir, erinnerte ich mich, fast schon wie ein Wunder vorgekommen. Dass man in die eine Richtung fahren konnte, während man das Pedal in die gegenläufige Richtung rotieren ließ, widersprach meinem gerade erst flügge werdenden Verständnis nicht nur von Bewegung, sondern auch von Zeit – als ob auch diese im Kern mit einem Gegenstrom abgeschnürt werden könnte. Immer wenn ich im Rückwärtstritt den Berg hinuntersauste, spürte ich ein Hoch-, aber auch ein Schwindelgefühl – ein Schwindelgefühl, das von einer leichten Übelkeit eingefärbt war. Es war kein durchweg angenehmes Gefühl. Die Erinnerung an das Manöver reproduzierte nun – im überfüllten Terminal, in meinem Kopf und meinem Bauch – dieselbe unbehagliche Empfindung, nicht im Gleichklang, nicht im Gleichgewicht zu sein.

1.5Um mich und meinen Bildschirm herum: weitere Bildschirme, von anderen Laptops, Handys, Fernsehern. Über Letztere liefen Ticker mit Texten, die ebenfalls die Verspätung thematisierten, in die ich geraten war. Hinter den Tickern waren Nachrichtenbilder zu sehen. Ein Bildschirm zeigte die Höhepunkte eines Fußballspiels. Ein anderer zeigte die Folgen eines Autobombenanschlags auf einem Marktplatz im Mittleren Osten, die Sorte Szene, die man immer in solchen Berichten sieht: Hysterische, blutbespritzte Menschen laufen schreiend herum. Einer dieser Menschen, ein Mann, der geradewegs in die Kamera blickte, während er auf sie zulief, trug ein T-Shirt, auf dem Snoopy abgebildet war, wie er auf dem Dach seiner Hundehütte faulenzte, während das Wort Perfection in der Luft über ihm schwebte. Dann ging die Szene in eine Ölkatastrophe über, die an diesem Morgen irgendwo auf der Erde passiert war, oder in der Nacht zuvor: Luftaufnahmen einer havarierten Plattform vor der Küste, um die eine große, dunkle Wasserblume blühte; weiß gefederte Seevögel, die aus der Luft sowie vom Boden aus gefilmt wurden und auf unberührten, schneeigen Küstenstreifen umherschwirrten, nichts von der schwarzen Flut ahnend, die sich langsam auf sie zubewegte; schließlich der Bösewicht des Beitrags, von einem Unterwasserroboter aufgenommen, ein defektes Rohr, das seine endlose Ladung in den Ozean ergoss.

1.6Mein Telefon piepste und vibrierte in der Jacketttasche. Ich holte es hervor und las die Nachricht, die ich erhalten hatte. Sie war von Peyman. Peyman war mein Chef. Dort stand: Wir haben gewonnen. Mehr nicht. Zwei Jungen rannten an mir vorbei; einer stürzte hin; sein Bruder blieb abrupt stehen, ging ein paar Schritte zurück und zog ihn schroff wieder auf die Füße; sie liefen weiter. Ich blickte erneut auf den Fernsehschirm, auf dem das Fußballspiel gezeigt wurde. Das Tor, das ich einen Augenblick zuvor gesehen hatte, wurde in Zeitlupe wiederholt. Die Flugbahn des Balls, der Bogen, dem er folgte, während er an den Köpfen der Verteidiger und den Händen des Torwarts vorbeiflog, der Backspin seiner Achtecke und Sterne, die plötzliche Wölbung und Eruption der engen Maschen im Netz, als der Ball einschlug – diese Sequenz passte nun zu den Worten, die Peyman mir geschickt hatte: Wir haben gewonnen. Ich blickte auf die obere Ecke des Bildschirms, wo der Spielstand angezeigt wurde, um zu erkennen, welche Mannschaften dort spielten. Barcelona und Bayern München. Ich schrieb ihm zurück: Wer hat was gewonnen? Firma hat Projektauftrag bekommen, antwortete er dreißig Sekunden später. Das wiederum verstand ich. Die Firma war unsere Firma, Peymans Firma, die Firma, für die ich arbeitete. Das Projekt war das Koob-Sassen-Projekt; wir waren nun schon eine Weile hinter dem Auftrag her. Gut, schrieb ich. Die Antwort kam diesmal noch schneller: Gut? Das ist alles? Ich überlegte ein paar Sekunden, schickte dann eine neue Nachricht los: Sehr gut. Seine nächste SMS überkreuzte sich mit der meinen: Steckst du noch immer fest? Ich bejahte. Ich auch, setzte mich Peymann schließlich in Kenntnis; in Wien. Komm morgen früh in mein Büro. Dann traf eine Nachricht von Tapio ein. Tapio war Peymans Assistent. Firma hat KSP-Auftrag bekommen, stand da. Dann folgten zwei weitere Nachrichten von anderen Kollegen rasch hintereinander, beide desselben Inhalts. Die Bilder des Fußballspiels, das ich zufällig gesehen hatte, wirkten noch in mir nach, nachdem ich die Nachrichten gelesen hatte; und so schien es mir, als ob Bayerns Stürmer, der vor Freude in Richtung der Tribüne brüllte, nicht seiner Mannschaft oder seinen Fans zujubelte, sondern uns; und es kam mir sogar so vor, als ob das Opfer mit dem Snoopy-T-Shirt, während es schreiend auf die Kamera zulief, die Neuigkeit ebenfalls feierte: als ob er auf seinem zerbombten Markt mit dem mustergültig verbogenen Metall und dem Blut niemanden anders feierte als uns.

1.7Jetzt begann mein Laptop zu klingeln: Jemand rief mich über Skype an. JoanofArc, meldete die Anruferbox. Ich erkannte den Nickname wieder: Er gehörte zu einer Frau namens Madison, die ich zwei Monate zuvor in Budapest kennengelernt hatte. Ich drückte auf Annehmen. Kannst du mich hören?, fragte Madisons Stimme. Ich bejahte. Schalt deine Kamera ein, wies die Stimme mich an. Ich tat es. Madison erschien im selben Moment. Sie fragte mich, wo ich war. Ich sagte es ihr. Sie erzählte mir, dass sie auch schon einmal in Torino-Caselle gewesen sei, 2001. Was hat dich hierhin verschlagen?, fragte ich sie, doch meine Frage schien in der Übertragung verloren gegangen zu sein; sie beantwortete sie jedenfalls nicht. Stattdessen fragte sie, wann ich zurück in London sein würde. Ihr Gesicht auf dem Bildschirm glitt in kleinen Bewegungskaskaden von einem Stillstand in den nächsten. Ich weiß nicht, sagte ich. Ich rief die Nachrichtenseite auf, während ich mit ihr sprach. Die Luftraumsperre war halb aufgehoben, hieß es, daneben die Meldung des Bombenanschlags auf dem Markt, in derselben Schriftgröße. Darüber, etwas größer, die Ölkatastrophe, mit einer Fotosequenz, auf der Schlepper und ölbedeckte Männer zu sehen waren, die mit Greifzügen und Ankerwinden rangen, und schwarz umrandete, entlegene Inseln, dazu die riesige Ölblume, und so weiter. Der Cutter hatte einen Überblendungseffekt gewählt, um die Aufnahmen ineinander übergehen zu lassen, und nicht die abruptere Form einer Abfolge, die an alte Diashows erinnert. Es kam mir wie die richtige Effektwahl vor, vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen.

1.8Die Jungen von vorhin rannten an mir vorbei. Erneut rutschte der kleinere aus; es musste der Winkel sein, in dem der Boden die Sitzreihe abrundete – das und die Tatsache, dass der Boden poliert war. Erneut zog sein Bruder (wenn es sein Bruder war) ihn hoch, und sie liefen weiter. Madison fragte mich noch einmal, wann ich zurück sein würde. Sie sagte, sie bräuchte ethnologische Zuwendung. Wie das?, fragte ich und schob ihr Fenster wieder zurück über die Nachrichtenseite. Mir fehlt, hob sie an – aber genau jetzt versagte der Ton. Auch ihr Gesicht fror mitten im Satz ein. Ihr Mund stand in einer asymmetrischen, sabbernden Weise offen, als ob sie nach einem Hirnschlag die Kontrolle über ihre Muskeln verloren hätte; die Augen waren nach oben gerollt, sodass die Pupillen von den Lidern halb verdeckt blieben. Ein kleiner Kreis drehte sich vor ihr, um das Buffern anzuzeigen. Mein Bildschirm blieb für eine sehr lange Zeit so, während ich auf ihn starrte und darauf wartete, dass das Buffern zu Ende ginge. Das tat es nicht: Stattdessen ersetzte eine Anruf beendet-Anzeige sowohl Gesicht als auch Kreis.

1.9Ich blickte auf und im Terminal herum. Leute, die sich nicht durch ihre Telefone und Laptops klickten und scrollten wie ich, berührten vorsichtig die Luxusartikel, die überall um uns herum aufgestapelt waren. Die wertvolleren Artikel wurden hinter polierten Glasplatten aufbewahrt, deren Oberflächen andere Oberflächen in der Lounge reflektierten, sodass die Szenerie des Bombenanschlags sich über dem Muster eines Schals abspielte und Öl auf das Ziffernblatt einer Uhr floss, immer wieder. Die Überlappung dieser verschiedenen Elemente und der dadurch entstandene Collageneffekt blieben konstant – doch änderte sich, da die Stunden voranschritten, die Gewichtung der Mixtur. Die Luxusartikel und ihre Etuis blieben natürlich so, wie sie waren – aber nach und nach verblassten die Fußballhöhepunkte und die Autobombenszene, die Clips von ihnen wurden kürzer und seltener; während im Gegenzug der Ölkatastrophe mehr und mehr Sendezeit eingeräumt wurde. Offensichtlich war es eine große Katastrophe. Um Mitternacht tauchten die ölverklebten Männer, die ich auf den Fotos der Nachrichtenseiten gesehen hatte, auch auf den Flughafenbildschirmen auf – jetzt bewegten sie sich, legten umhertreibende Ölsperren aus, versuchten, ohne erkennbaren Erfolg, die Öllache auf dem Wasser in Schach zu halten und einzupferchen, während sie sich weiter verzweigte und drehte und ausbreitete. Sie sahen wie entmutigte, abgeworfene Cowboys aus, deren schwarzes Vieh, allein durch seine schiere Masse und Umfang, gemeutert hatte, wild herumlief, unkontrollierbar geworden war. Andere Ausschnitte zeigten einfach ölgesättigtes Wasser, dunkel und behäbig. Es schien sich zu bewegen, anzuschwellen, dem Höchststand entgegen, und zwar zugleich langsamer und schneller, als Wasser dies für gewöhnlich tut – als ob es, genau wie das geschossene Tor, das sich nun auf einen einzigen Monitor in einer Sportbar zurückgezogen hatte, mit hochwertigen Zeitlupenkameras gefilmt worden sei, die Sorte, die jeden einzelnen Frame scharf vergrößert, jeden einzelnen Moment aus dem gesamten Fluss heraushebt, um ihn gleichzeitig wieder dorthin zu entlassen. Ich fand diese Dynamik faszinierend. Stunde um Stunde verfolgte ich die Bilder, mein Kopf rotierte mit ihnen, während sie sich von Bildschirm zu Bildschirm fortpflanzten.

1.10Der Mann, der neben mir saß und dem die konzentrierte Andacht, mit der ich mich den Bildern widmete, aufgefallen war, versuchte dann, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mit spöttischer Missbilligung tat er in Richtung der Bilder die Meinung kund, das sei eine Tragödie. Natürlich war es genau dieses Wort, das er gebrauchte: Tragödie – ganz wie ein Fernsehexperte. Ich musterte ihn von oben bis unten, scannte seine Erscheinung. Er trug einen Anzug, hatte aber seine Krawatte ausgezogen und sie, gefaltet, auf einen Rollkoffer gelegt, der neben ihm stand. Er sprach mich auf Englisch an, aber sein Akzent war europäisch: weder französisch noch holländisch noch deutsch, sondern ein Mischmasch aus alldem und mehr, überlagert von falschem BWL-Amerikanisch. Zunächst antwortete ich nicht. Als ich es dann doch tat, erzählte ich ihm, dass das Wort Tragödie von dem altgriechischen Brauch abstamme, ein Schaf, ein tragos – meist ein schwarzes –, als Opfergabe auszusetzen, um für die Sünden einer Stadt zu büßen. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu und betrachtete ihn eine Zeit lang mit mir, als ob diese gemeinsame Tätigkeit nun Teil unseres Dialogs wäre, oder unserer neuen Freundschaft. Aber ich konnte seinen Ärger darüber spüren, nicht die Antwort erhalten zu haben, die er erwartet hatte. Ein paar Minuten später stand er auf, schnappte sich den Griff des Koffers, auf dem seine Krawatte ruhte, und ging davon.

1.11Ich für meinen Teil blieb sitzen und sah die Bohrinsel krängen, die kaputte Leitung speien, die Vögel herumflattern, die Ölblume ihre Blütenblätter entfalten, das dunkle Wasser auf den Höchststand anschwellen, immer wieder. Ich sah dem Ganzen, wie ich schon sagte, stundenlang zu; wenn kein öffentlicher Bildschirm die Szenen zeigte, verfolgte ich sie erst auf dem einen, dann auf einem anderen meiner privaten Bildschirme. Sie vereinnahmten mich völlig, bis der Luftraum in den frühen Morgenstunden wieder freigegeben und mein Flug ausgerufen wurde. Doch verließen sie mich auch dann nicht. Als ich schließlich in der Luft war und, den Kopf platt gegen das Fenster gedrückt, in einen körnigen und gesprenkelten Schlaf hinüberglitt, schien tatsächlich Öl in den Wolkenfetzen zu kleben, die von den Flügelstrahlern beleuchtet wurden: Es schien in ihrer Masse zu lauern, sie aufzublähen, wie von ihnen absorbiert, und schien auch aus ihnen zu sickern, in Klümpchen und Globuli, die auf den Rändern schwebten, in den Falten und Spalten hockten wie unzählige verrußte Cherubim.

2.

2.1Ich? Nennt mich U. Es steht nicht in meiner Absicht, hier über das Koob-Sassen-Projekt zu schreiben – eine Exegese, einen Überblick zu liefern, oder was auch immer. Dafür gibt es gesetzliche Gründe: Unterabschnitte von Verträgen, die in Schubladen von Aktenschränken liegen, welche ich mir (vielleicht nicht unabhängig von meiner Wahrnehmung des Projektes selbst) immer als aus einem glatten, postmetallischen Material gefertigt vorstelle, sagen wir Epoxid oder Kevlar, obwohl sie in Wirklichkeit auch aus Aluminium, Holz oder Faserplatte etc. sein könnten; Vertragsklauseln, die kommerzielle, staatliche und andere, eine Ebene darüber liegende Vertraulichkeiten betreffen; Verbote aller theoretisch möglichen Arten von Offenlegung. Doch selbst wenn es diese Verbote nicht gäbe, würde es Sie überhaupt interessieren? Es ist, wird mir klar, in der allgemeinen Hierarchie der Dinge doch ein eher langweiliges Thema. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Projekt war wichtig. Es wird unmittelbare Folgen für Sie gehabt haben; tatsächlich gibt es wohl nicht einen einzigen Bereich Ihres alltäglichen Lebens, den es nicht, auf die eine oder andere Weise, berührt, penetriert, verändert hätte; obwohl Sie sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst sind. Nicht dass es ein Geheimnis gewesen wäre. Solche Sachen bedürfen keiner Geheimhaltung. Sie kriechen unterm Radar hindurch, weil sie so langweilig sind. Und komplex. Koob-Sassen involvierte eine Menge Kopplungen, Schnittstellen, Umwandlungen – vom Firmen- zum Zivilrecht, vom Supranationalen zum Lokalen, vom Analogen zum Digitalen und vom Öffentlichen zum Geheimen und von harten zu weichen Faktoren und Gott weiß was noch. Es war ein Projekt, das aus vielen anderen Projekten gebaut und mit vielen anderen Projekten verbunden war – was es nachgerade unmöglich macht zu erkennen, wo es begann und wo es aufhörte, seinen »Inhalt«, Kern oder Umriss zu bestimmen. Womöglich sind heutzutage alle Projekte so – genauso langweilig, genauso unergründlich. Selbst wenn ich es also könnte, und selbst wenn Sie es sich wünschten, dass ich ein (kaum mehr als anekdotisches) Scheinwerferlicht auf die spezifischen Augenblicke der frühen Koob-Sassen-Phasen richtete, den Strahl auf jenen Übergängen und Segmenten ruhen ließe, wo die Operationen der Firma oder meine eigenen kleinen, unbedeutenden Tätigkeiten jene überkreuzten, würde das denn auf irgendeine Weise das Ganze erhellen? Ich bezweifle es.

2.2Was ich mache? Ich bin Anthropologe. Verwandtschaftsstrukturen; Tauschsysteme, Geschenk und Gegengeschenk; symbolische Operationen, die auf der Kehrseite des Habituellen und des Banalen lauern: diese zu identifizieren, herauszulösen und, während sie zappeln und sich winden, gegen das Licht zu halten – das ist mein Job. Als sich jene Ereignisse (Ereignisse! Sind Sie hinter solchen her, hören Sie am besten gleich auf zu lesen) zutrugen, war ich nicht in irgendeinem fernen Dschungel, einer Steppe oder Tundra im Einsatz, sondern in einem Unternehmen. Und zwar nicht im Namen des strengen Gebots einer Königlichen Anthropologischen Gesellschaft oder Staatlichen Universität dort postiert, sondern von ebendemselben Unternehmen, zu dem ich entsandt worden war: Ich war der hausinterne Anthropologe einer Unternehmensberatung. Die Firma (nennen wir sie weiter so) beriet andere Firmen dabei, ihre Serviceleistungen und Produkte zu kontextualisieren und nuancieren. Sie beriet Städte in Sachen Branding und Rebranding; sie unterstützte Regionen dabei, ihre erneuerbaren Strategien zu erweitern und auszugestalten; Regierungen, ihren politischen Agenden das passende Narrativ zu liefern – für die Presse, die Öffentlichkeit und, nicht zuletzt, für sie selbst. Wir handelten, wie Peyman es gerne ausdrückte, mit Narrativen.

2.3Wenn man in jenen Tagen die Geschäftsräume der Firma im Zentrum Londons betrat und das häufig wechselnde, aber stets attraktive Personal am Empfang passierte, wurde man von einem Aufzug nach oben in mehrere Etagen voller Konferenzsäle und Monitor-Sitzecken und Studios gefahren. Voneinander durch vom Boden zur Decke reichende Trennwände aus Glas separiert, auf denen kleingeschriebene Buchstaben in dem firmeneigenen, typischen Font gedruckt waren, gingen diese Abteile ineinander über und boten so eine expansive Aussicht, in der Entwürfe, Diagramme und ähnliche Konglomerate aus wertvollen Daten, mit der Schriftseite nach oben auf gekrümmten Tischflächen liegend oder an Wände gepinnt oder auf Tafeln gezeichnet oder gelegentlich (und das ließ die Daten noch wertvoller, ja zerbrechlich erscheinen) auch auf das Glas selbst, miteinander Dialog zu halten schienen, in einer reichen und esoterischen Sprache, sodass die Szenerie den Eindruck vermittelte, das hier sei nicht nur ein Ort der Geschäfte, sondern darüber hinaus auch eine hermetische Zone, eine Zone der Alchemie, ein Schmelztiegel, in dem ganze Welten miteinander vermengt wurden. Derselbe Aufzug jedoch, der einen nach hier oben brachte, fuhr auch mich in einen glaslosen Keller aus Ziegeln und Putz hinunter, in dem mein Büro lag.

2.4Das Lüftungssystem. Es hätte sein eigenes Buch verdient. Ein dröhnendes Höhlengeflecht, war die Lüftungsanlage wie ich im Keller untergebracht – eine Reihe grauer Kästen, miteinander verbunden wie Bestandteile eines mechanischen Elefanten, ein blecherner Zuluftkanal, der sich aus der vorderen Box nach oben zu einem hochgestellten Rumpf hinaufbog. Die Spulen, Gebläse, Luftklappen, Filter und so weiter, die Innereien der Boxen also, gaben ein konstantes Summen und Klappern von sich, das die ganze Etage durchdrang, in Tonhöhe und Schwingung variierte und in die Ecken ging, gegen die Wände prallte, von den Teppichen aufgesogen und wieder ausgespuckt wurde. Bevor er aus dem Keller führte, gabelte sich der Zuluftkanal, verzweigte sich dann weiter in Diffusoren, Gitter und Register, welche die anderen Etagen mit Luft versorgten, bevor Rückkanäle sie durch eine zentrale Luftkammer hindurch zum Rektum des Elefanten hinunterschickte, um dort wieder gefiltert, wieder gekühlt, wieder gereinigt und dann zurück ins Gebäude trompetet zu werden. Manchmal, wenn jemand auf einem höheren Stockwerk laut sprach, während er zufällig neben einem Rückluftkanal stand, wurden seine Worte zu mir heruntergeleitet wie die eines Schiffskapitäns, der durch ein Rohr zu den Maschinenräumen spricht – Befehle jedoch, deren Inhalt verrauschte, verloren ging bei der Zustellung. Andere, undeutlichere Stimmen drifteten durch den allgemeinen Lärm – und wenn nicht Stimmen, so doch akustische Muster, mit Höhen und Tiefen, mit Wiederholungsrhythmen, Kadenzen und Codas. Bisweilen nahmen diese Muster visuelle Formen an, wie jene, die Wissenschaftler im achtzehnten Jahrhundert so verzauberten, als sie Salz auf Chladni-Platten streuten, diese dann verschiedenen akustischen Stimuli aussetzten und schließlich die zarten Muster beobachteten, die sich abzeichneten – geometrisch und symmetrisch und insgesamt so vollkommen, dass sie eine universelle, unter der Oberfläche der Natur liegende Struktur preiszugeben schienen, die kurz sichtbar wurde; und auch ich, in meinem Keller, vermeinte manchmal, den Plan, die Formel, die Lösung zu sehen, in Kräuselungen auf der Oberfläche einer längst kalten Tasse Kaffee oder in der Nahaufnahme einer Choreografie von Staubpartikeln, die auf einem ungewischten Tisch tanzten, oder sogar auf der fleischlichen Innenseite meiner eigenen müden Augenlider – eine Lösung nicht nur des Problems, mit dem ich mich gerade herumplagte, sondern die Lösung von allem, von dem ganzen Kram – bis ich erschrocken aufwachte und es alles wieder verdunsten sah wie Salz in einer ruhigen Brise.

2.5Als ich aus Turin zurückkehrte, schlief ich ein paar Stunden, duschte dann und machte mich auf den Weg ins Büro. Es war ein klarer Tag, einer dieser knackigen Tage im Winter, wenn das Sonnenlicht die dünne, kalte Luft schärfer zu durchschneiden scheint; der Glas- und Metallpanzer des Firmengebäudes strahlte blau und silbern, wie von elektrischer Ladung durchzogen. Auch innen schien der Ort völlig elektrisiert: Die Leute bewegten sich zügig, mit Schwung und Zielgerichtetheit im Gang. Es war natürlich der Projektauftrag, die Punktlandung der Firma, die diese Aufgeregtheit ausgelöst hatte. Überall war von Koob-Sassen die Rede, in der Lobby, im Aufzug, auf den Fluren; selbst wo niemand den Namen aussprach, schien er in der Luft zu hängen und sich selbst auszusprechen. In meinem Zimmer angekommen, rief ich Peymans Büro oben im fünften Stock an und wurde zu Tapio durchgestellt. U., sagte Tapio, du bist also zurück. Er sprach mit der roboterhaften Monotonie des Finnen, der er war, schien aber dennoch überrascht. Ja, sagte ich. Peyman ist noch nicht zurück, sagte er mir; er hängt noch immer in Wien fest. (Der Luftraum dort war, wie sich herausstellte, sehr viel verstopfter, als der in Italien es gewesen war.) Er wird aber morgen zurück sein, fuhr Tapio fort; komm dann vorbei und rede mit ihm. Er legte auf und ließ mich alleine in meinem Keller, isoliert und ernüchtert.

2.6Ausgerechnet an diesem Tag verließ ich das Büro früher als sonst. Anstatt nach Hause in meine Wohnung ging ich zu Madison. Sie wohnte in Westbourne Grove. In der U-Bahn schnappte ich mir eine der kostenlosen Zeitungen, die auf den Sitzen herumlagen. Auf der Titelseite gab es Neuigkeiten zur Ölkatastrophe. Die Eindämmung durch Barrieren hatte nicht funktioniert; das Öl breitete sich langsam, aber unaufhaltsam Richtung Küste aus. Die Zeitung hatte eine Karte nachgebaut, die zeigte, wie die Strömungen an dieser bestimmten Stelle zirkulierten: Sie bewegten sich in einem großen Kreis oder, genauer, in einer Ellipse, deren eines in die Länge gezogenes Ende sich mit der Küste überschnitt, während am Gegenpol die kaputte Ölleitung lag, weshalb die Verschmutzung, auch durch die perfekte Korrespondenz der Küste mit der Kreislinie, umso intensiver und konzentrierter war. (Ironischerweise gab es Flächen sauberen Meereswassers, die viel näher an der Ölleitung lagen und nicht kontaminiert worden waren.) Während ich die Karte und ihre Richtungspfeile studierte, dachte ich an die beiden Jungen, die Brüder oder Nichtbrüder: Ich stellte mir vor, wie sie noch immer herumrannten, schlitterten, in ihrer ovalen Schleife hingen – nicht mehr im Flughafen, aber auf irgendeinem anderen Untergrund, dem einer Küche oder einer Schulmensa oder eines Spielplatzes. Als ich weiter durch die Zeitung blätterte, blieb ich auf halber Strecke an einem kleinen Artikel hängen. Ein Fallschirmspringer war beim Sprung aus einem Flugzeug gestorben. Sein Fallschirm hatte sich abgelöst, und er war auf die Erde gedonnert. Obwohl erst fünfundzwanzig, war er ein erfahrener Fallschirmspringer gewesen, ein aktives Mitglied des Vereins, unter dessen Schirmherrschaft der fatale Sprung stattgefunden hatte. Die Polizei stufte seinen Tod als verdächtig ein.

2.7Wie schon erwähnt, hatte ich Madison zwei Monate zuvor in Budapest kennengelernt. Ich war auf einer Konferenz gewesen, sie mit ein paar Freundinnen unterwegs. Wir waren an einer Hotelbar ins Gespräch gekommen. Ein Anthropologe, hatte sie gesagt; das sei – exotisch. Gar nicht, hatte ich geantwortet; ich arbeite für ein eingetragenes Unternehmen, in einem Keller. Ja, sagte sie, aber… – Aber was?, fragte ich. Tänze und Masken und Federn, antwortete sie schließlich: Daraus besteht im Wesentlichen deine Arbeit, oder? Ich meine, selbst wenn du einen Bericht über die Benimmregeln am Arbeitsplatz schreibst oder wie man Angestellte motiviert oder was auch immer, siehst du das alles im Hinblick auf Rituale und Riten, und so. Es muss einem den Alltag total primitiv und seltsam erscheinen lassen – richtig? Ich verstand, was sie sagen wollte; aber sie lag falsch. Für Anthropologen ist selbst das Exotische nicht exotisch, geschweige denn der Alltag. In seinem Hauptwerk Traurige Tropen beschreibt Claude Lévi-Strauss, der brillanteste Ethnograf des zwanzigsten Jahrhunderts, wie er irgendwann in den Fünfzigerjahren durch die Straßen der Altstadt von Lahore ging, die gerade mit neuen Stromkabeln ausgestattet worden waren, und dabei versuchte, einem längst verschwundenen Zustand der Reinheit nachzuspüren – der regionalen Farbe, der Textur, der Bräuche, allgemein des Lebens –, aus nichts heraus als aus Überbleibseln und Geröll. Er beschreibt dann, wie sich schlagartig derselbe Eindruck einstellte, den er hatte, als er mit dem Amazonasstamm der Nambikwara lebte: die Empfindung, »zu spät« gekommen zu sein – obwohl er durch die Lektüre eines älteren Berichts über das Leben unter den Nambikwara weiß, dass der Anthropologe (der Autor des Berichts), der fünfzig Jahre vor ihm und also auch vor den Gummihändlern und dem Telegrafen dorthin gekommen war, genau denselben Eindruck hatte; und ebenfalls weiß, dass der Anthropologe, der, von dem Bericht inspiriert, den Lévi-Strauss selbst über diese Reise schreiben würde, fünfzig Jahre später dorthin kommen wird, ebenfalls diesen Eindruck haben und sich – wäre, hätte! – wünschen wird, fünfzig Jahre früher dort gewesen zu sein (also jetzt, oder eher: dann), um zu sehen, was er, Lévi-Strauss, gesehen oder übersehen hat. Das veranlasst ihn dazu, eine Art »Double Bind« zu diagnostizieren, dem alle Anthropologen und die Anthropologie selbst ihrem Wesen nach zum Opfer fallen: die »Reinheit«, nach der sie sich sehnen, ist nichts weiter als ein Zustand, dem alle Dimensionen des Verstehens, der Interpretation und der Analyse fehlen; kommen diese erst einmal zum Zuge, verschwindet das Mysterium, das den Anthropologen ursprünglich zu seinem Thema drängte. Das erklärte ich ihr; und sie schien trotz der Tatsache, dass sie betrunken war, zu verstehen, was ich meinte. Wow, murmelte sie; das ist irgendwie abgefuckt.

2.8Als ich bei Madison war, hatten wir Sex. Danach lagen wir im Bett, und ich fragte sie, was sie in Turin getan habe. Ich war nicht in Turin, sagte sie; das warstdu