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Herbert Smetan

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Beschreibung

Ein Mann, schwer gezeichnet vom Suizid seiner Ehefrau, die ihn mit in den Tod nehmen wollte, erfüllt sich den sehnlichsten Wunsch seiner Jugend und geht auf Reisen, umrundet gar mit der eigens von ihm rekonstruierten Yacht 'La Vie' die Welt. Gleichwohl: Auch an den entlegensten Winkeln der Erde kann er sich seines Selbst nicht entziehen. Indes trifft er bei seiner Reise auf starke Frauen, die ihn zurück ins Leben führen. Gemeinsam entwickeln sie einen genialen Schachzug, wie unser Planet Erde vor dem Klimakollaps doch noch zu bewahren sei – und halten dabei der Gesellschaft provokant den Spiegel vor. Ein leidenschaftlicher Roman über das Standhalten und über eine Flucht auf verschlungen Pfaden aus dem eigenen Versagen, von einem Autor authentisch erzählt, der aus einem reichen Fundus an Lebenserfahrung schöpft. Eine Geschichte, die auch zeigt, wie jedem Scheitern die Chance des Sich-wandeln-Könnens innewohnt.

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Seitenzahl: 1119

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-424-1

ISBN e-book: 978-3-99130-425-8

Lektorat: Dr. Angelika Moser, Thomas Ladits

Umschlagabbildungen, Umschlaggestaltung: Benno Leinen

Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für Cilly

Vorwort

Sämtliche Protagonisten und alle weiteren handelnden Charaktere in diesem Roman sind fiktional.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Prolog

Rede mit mir: Stimme! Spiegel meiner Gedanken! Sag, hast du etwa zu sprechen verlernt? Du mein Gewissen, oder zumindest das, was von dir noch übrig blieb, nach so verdammt vielen Jahren, die mir vorgaukeln, mein Leben gewesen zu sein.

Rede mit mir, zum Teufel noch mal! Rede!

Es gibt niemanden sonst, mit dem zu reden es sich für dich lohnte! Rede mit mir, Stimme aus der Tiefe meiner Seele. Und du, Ausgeburt meiner Fantasie, jenseits des trüben, milchig blinden Spiegels versteckt, gibst du doch tatsächlich vor, ich sein zu wollen? Wie in aller Welt gelangtest du zu dieser geradezu aberwitzigen Annahme?

Ich bin ich – ich bin nicht du! Ich bin Jaro! Merk dir das – ein für alle Mal!

„Nur ein Wort und du glaubst, ja du glaubst, mich zu kennen?

Nur ein Blick und du glaubst, dass du weißt, wer ich bin?

Ich bin ich! Ich bin ich, auf meine Weise!“,

heißt es im Refrain eines Songs von ‚Glasperlenspiel‘. Ich kann’s gar nicht oft genug hören!

Gemach, gemach! Langsam, nur nichts überstürzen! Ignorieren wir zunächst einmal, nur des Simplifizierens wegen, dass bei uns Menschen sechs bis sieben von zehn Anteilen Wasser sind, H2O, und dieses Wasser uns nur geliehen ist! Es gehört uns nicht, und es wird uns auch niemals gehören. Bestehen wir also weiterhin stoisch darauf, dass es sich bei mir, Jaro, tatsächlich um einen leibhaftigen Zeitgenossen des Anthropozäns handele, dann sprächen wir doch immerhin von eins Komma fünf Kilo Überbleibseln nach dem Verbrennen! Über Staub, mein Lieber, über pudrigen, mausgrauen Staub, der sich gemeinhin aus den Elementen Magnesium, Natrium, Kalium, Kalzium, Schwefel, Chlor, Phosphor und so manch anderen seltenen Elementen in Spuren zusammensetzt.

Ja, ja, gemach, gemach! Ich akzeptiere es doch. Ich kenne dieses sisyphosartige Streben der Spezies Mensch nach korinthenkackerischer Genauigkeit nur zu gut. Okay, dann bedienen wir uns ganz einfach der statistischen Methodik und legen in der letzten Konsequenz eine Gauß’sche Normalverteilung über das Gewicht dieser Asche. Dann entsteht vor unseren Augen unversehens die berühmt-berüchtigte Glockenkurve, die den jeweiligen Zeitläufen und Kulturräumen geschuldet hin- und herwabert, gallertartiger Grütze gleich, oder gar aufgeregt flattert wie eine Fahne im stürmischen Wind. In guten Zeiten der x-Achse folgend, sehr weit nach rechts ausladend – in schlechten Zeiten ganz weit links wie an einen Mast an die y-Achse geschmiegt! Mit keiner noch so ausgeklügelten Forensik wird es jemals in Erfahrung zu bringen sein, ob wir es bei diesen konkreten Überresten mit denen eines einst grausamen Despoten, denen eines gemeinen Lumpen, gönnerhaften Wohltäters, mutigen Helden oder gar eines gelehrten Pioniergeists der Wissenschaften zu tun haben sollten. Weder, ob dieser graue Staub hier einst einer Frau oder einem Manne gehörte, ob es ein Farbiger oder ein Weißer, ein Jude, ein Christ oder ein Moslem war. Nichts, rein nichts davon ist von ihr noch zu erfahren. Denn vom Fleische sind wir alle gleich! Und das Fleisch ist schwach! Und vergänglich! Und unser Geist ist doch nur ein Teil von ihm.

Diese eins Komma fünf Kilo Materie, die sich zusammenzufügen begannen, als ein Spermium meines Vaters die Plasmamembran der Eizelle meiner Mutter durchbrach, um mich zu zeugen! Um mich, Jaro, zu erschaffen. Wozu dann noch das aufwändige Werben? Das umständliche, zeitraubende Kopulieren? Weshalb lernt man dann auf alten Pferden reiten? Wenn es doch lediglich darum geht, eine Eizelle zu befruchten?

Und so reifte eben der Zellklumpen aus jenen Tagen zu meinem organischen Corpus heran, in einer zeitlichen Spanne, die nur einem Wimpernschlag gleicht, während das unendliche, grenzenlose Universum von einem Urknall in den nächsten taumelt. Dabei hatte ich noch großes Glück, dass das im Hier und im Jetzt geschah und nicht in grauer Vorzeit! In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges vielleicht oder in jener Apokalypse am Mekong-Delta gar vor weniger als einem halben Jahrhundert? Dann säßest du mit deinem fetten Arsch nicht hier auf diesem ergonomisch gestylten Schreibtischstuhl, mit exklusivem kalbsledernen Bezug. Du hämmertest dann nicht auf einem Möbel aus massivem Kirschholz, traumfängerische Kunde von den Bruchstellen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf die Tastatur deines Keyboards ein, während du an den erlesensten Whiskeys aus deiner penibel sortierten Sammlung nippst.

Jedoch, die Szenarien gleichen sich, bleiben austauschbar, ebenso wie diese verfluchten Zellhaufen in ihnen. Weshalb also überhaupt noch etwas selbst erfahren wollen, wenn man das meiste davon durch bloßes Ausdenken doch viel ungefährlicher rein virtuell erleben kann? Denn nur der geringste Teil dieser eins Komma fünf Kilo trockenen Staubs beherbergte einst jenes Bewusstsein, das deren gesamten Rest versklavte. Und wenn dann dieses große Ganze lichterloh brennt, so formt sich keineswegs ein Diamant aus jener Preziose, die dem Verstand für so lange Zeit Herberge war. Wenn du also nächtens wach liegst, nicht in den Schlaf findest, weil dieser doch kleinste physische Teil von dir nicht den Sinn und den Zweck des Ganzen erkennt, so verzweifelt er auch danach suchen mag, dann wird dir sehr schnell deutlich, wer in deinem Körper der Koch ist und wer nur der Kellner.

‚Eins Komma Fünf‘ ist auch der Name einer Ausstellung in der Kunsthalle zu Mainz, die dem Abstand in seiner Vielschichtigkeit huldigt: bildhaft verschiedene Formen der Interaktion über Distanzen hinweg hinterfragt, und das, was diese zu ändern vermag. So bewegen wir uns doch alle in einem dynamischen System, auf Achsen zwischen zwei Polen. Und diesen Raum, den nennen wir ganz simpel Abstand.

Jedenfalls wäre in diesem räumlichen Kontext der effektivste Weg von einem Pol zum anderen die Direttissima. Ohne Umschweife! Auch ohne nur den geringsten Schnörkel, von der Wiege über die Reproduktion bis hin zur Bahre – basta – und gleich nonstop weiter bis ins Krematorium. Nur weil der Koch für sich möglichst viel aus diesem Leben mitzunehmen gedenkt, hetzt er den Kellner und der zieht seine Kreise? Erforscht vielfältige Abweichungen von der Geraden, erfindet Umwege zu seinem perfiden Amüsement? Unversehens sind wir damit bei den eins Komma fünf Grad als Messzahl dessen angelangt, was unsere Generation gedenkt, als Fußabdruck im Lebensraum unserer Kinder auf dieser Erde zu hinterlassen. Und dann sind wir auch schon bei mir, jenem Zellhaufen namens Jaro angelangt, der eingekerkert zwischen dieser Erkenntnis und jenem sehnsüchtigen Verlangen nach Mehr durch sein Existieren irrt.

Ein jeder von uns wird durch seine unersättliche Gier nach Leben gerade in jenen finsteren Stunden bestimmt, in denen das Bewusstsein in den Schlaf zu finden trachtet. Wir werden dann zum kreativen Pläneschmied, geballt mit Verlangen. Leider versteht unsere Amygdala, die schon in grauer Vorzeit entstand, nicht, reales Leben von virtuellem zu trennen. Weshalb wir ‚Sapiens‘ – ich traue mich kaum noch, dieses Qualitativ in Bezug auf mich in die Tastatur zu dreschen – unter konsequenter Ausnutzung aller uns verfügbaren Mittel möglichst weitreichende Ausschweifungen einzubauen versuchen. Denn durch dieses Mäandern, das verkündet uns der Frontallappen unserer Großhirnrinde, dehnen wir die Distanz zwischen den beiden Polen mittels unzähliger Schleifen aufs Maximalste aus. Und erst dieses Individualisieren unserer Leben macht uns zu dessen Steuermann, macht uns zum vermeintlich Agierenden in der uns unmittelbar verfügbaren Welt. Wären da nur nicht all die anderen Akteure, die ebenso auf ein selbstbestimmtes Leben pochen. Denn sind nicht sie es, die uns zu schieren Erfüllungsgehilfen deren Agenden herabwürdigen oder uns zumindest zu ihren Konkurrenten um die Ressourcen unseres gemeinsamen Lebensraums erklären wollen?

Und so, wie unter uns Milliarden von Menschen, kein einziger Fingerabdruck auch nur annähernd einem zweiten gleicht, ähneln sich ebenso wenig unsere Gene. Deswegen unterscheiden sich, von Mensch zu Mensch, nicht nur die größeren Teile dieser eins Komma fünf Kilo Asche, sondern vielmehr, viel gravierender noch, der fast überschaubarere, geringere Teil, der dereinst in sich jenes Aktivitätsmuster der Synapsen barg, das wir unser Bewusstsein nannten.

Also lasst mich jetzt im Bewusstsein Jaros, zu jenem Laborversuch aufbrechen, den die göttliche Vorsehung ihm einst als sein Schicksal zugedacht hatte. Ganz ohne sein Zutun, irgendeinem völlig idiotischen Zufall geschuldet! Mag es mir als Laborratte doch wenigstens gelingen, mich letztendlich zu emanzipieren, oder triebe ich selbst als Jaro, wie jede andere Ratte auch, am Ende zwischen all den Fäkalien und all dem Unrat um mich herum, in dieser, aus dem nur grob behauenen Fels meiner Dogmen gemauerten Kanalisation gefangen, der omnipräsenten Gravitation folgend, völlig hilflos meiner unabdingbaren Bestimmung entgegen: dem Orkus?

An welcher Stelle also, soll ich, Jaro, allseits unangefochtener, unterhaltsamer Erzähler in feuchtfröhlichen Runden, meine ganz einzigartige Geschichte zu berichten beginnen?

Natürlich ganz am Anfang! Ganz am Anfang? Klar doch!

Bemüht sich nicht jeder Chronist stets um jene Singularität in der Zeit, in der einst das Geschehene seinen Ursprung nahm? Um dann am Ende, niemals ganz ohne Zweifel sein zu können, tatsächlich auch dort begonnen zu haben, wo der Nukleus seiner Geschichte, dereinst wirklich gelegen haben mag?

Springen wir also mitten hinein in das überbordende Leben dieses überaus agilen, facettenreichen und umtriebigen Mannes, dieses Tausendsassas und Generalisten, dieses eitlen Narziss und versuchen erst folglich, jenen Elementen auf die Spur zu kommen, die bei diesem Individuum prägende Bedeutung hatten? Als Getriebener? Niemals als Treibender! Gehen wir also unmittelbar an jenen Punkt zurück, an dem ich, Jaro, damit begann, mein Leben als ungeschminktes Ganzes zu begreifen. Den ganzen Wahnsinn eben, das ganze Dilemma nunmehr. An jenen Punkt meines Lebens also, an dem mein Lebenslicht, tief unter Wasser gedrückt, fast schon erloschen war.

Zu jener entzündlich infizierten Wunde also, von der ausgehend mich Höllenqualen peinigen, sobald ich sie auch nur ganz sanft berühre oder selbst nur in Gedanken streife.

„Vergeh dich ruhig, vergeh dich an dir selbst und tu dir Gewalt an, meine Seele; doch später wirst du nicht mehr Zeit haben, dich zu achten und zu respektieren. Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es aber ist für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen … Diejenigen aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.“

Aus den Selbstbetrachtungen Marc Aurels(121 bis 180 AD)

Kapitel 1: erwachen

aus dem Jenseits

Mir ist es, als stiege ich, einem Tiefseetaucher gleich, inmitten der brodelnden Blasen meiner eigenen Atemluft aus den Tiefen des Meeres empor. Woher sonst käme wohl dieses pulsierende Dröhnen im Kopf? Woher sonst rührte bloß dieses pochende Rauschen in meinem Schädel? Er schmerzt, als könnte er jeden Augenblick bersten. In den Schläfen und tief in meinen Augenhöhlen oszilliert ein unerträglicher, stechender Schmerz. Als bohrten sich marternd Sonden tief in mein Gehirn. Und meine Netzhaut durchzucken Blitze, als blickte ich in ein heftiges Sommergewitter, das sich imposant über dem gesamten Nachthimmel entlädt. Hatte ich gestern doch die Kontrolle beim Trinken verloren?

Meine Kehle ist trocken und mein Rachen brennt wie Feuer, wenn ich würgend schlucke:

„Nein, ich will jetzt nicht wach werden, um gar keinen Preis. Ich kenne das, wenn ich zu viel getrunken habe; mein Kopfschmerz war dann immer ähnlich dumpf und pochend, aber noch niemals auch nur annähernd dermaßen unerträglich. Sobald ich die Augen öffne, sticht mir das Licht bestimmt die Augen aus! Ich kenne diesen Schmerz, von durchzechten Nächten! Grelles, gleißendes Licht! Nein, ich will jetzt nicht die Augen öffnen, auf gar keinen Fall. Nein, ich will nicht wach werden! Ich will weiter schlafen. Ich bin sehr, sehr erschöpft. Warum schmerzt mir nur der Rücken so sehr? Warum liege ich überhaupt auf dem Rücken? Vielleicht sollte ich doch besser bäuchlings schlafen, wie ich das für gewöhnlich immer tue? Doch wenn ich mich jetzt herumwälze, dann werde ich womöglich wach! Nein, ich will jetzt nicht wach werden. Nein, noch nicht jetzt! Ich will weiterschlafen, ganz einfach nur weiterschlafen, bis all diese Schmerzen irgendwann einmal vorbei sein werden!“

Die Chimären sind so plastisch, als wären sie Realität, und meine Fantasie belebt sie aufs Neue, wann immer ich einen klaren Gedanken zu fassen versuche.

„Was ist das nur für ein Traum? Ich sitze am Steuer eines Düsenflugzeugs, das immer und immer wieder in den Sturzflug übergeht und sich gen Boden schraubt. Was ist das nur für ein Höllenlärm! Meine Ohren dröhnen. Vielleicht rührt mein Kopfweh daher? Ich zerre und reiße immer wieder verzweifelt am Steuerhorn und dennoch rotieren alle Instrumente wie die Zeiger einer hysterischen Pendüle, deren Perpendikel fehlt. Alles rotiert um mich, wie in einem sich wild drehenden und kopfüber purzelnden Kirmeskarussell!“

Mir ist kotzübel, doch inzwischen hat der Druck in meinem Schädel leicht nachgelassen. Ich höre jetzt ein Piepsen und Klingeln wie in einer Spielhalle.

Ich hasse das, wenn alle möglichen Geräte hinter mir her fiepen, bimmeln und piepsen, mich andauernd an etwas erinnern wollen, an irgendwas ermahnen. Ich bin doch schließlich kein Kind! Sogar das Auto bimmelt, wenn ich zum Pinkeln aussteige und dabei die Zündung anlasse. Öffne ich während der Fahrt nur kurz den Gurt, so klingelt es aus dem Panel wie ausgelassene Messdiener aus der Sakristei zu Beginn der Heiligen Messe. Dies hier ist aber nicht mein Auto.

Plötzlich fiept es wie bei der Ankündigung eines Papierstaus im Drucker.

Bin ich am Schreibtisch eingeschlafen? Oder piepst da vielleicht mein Smartphone? Das piept doch ununterbrochen, bei allen möglichen aufgeregten Eilmeldungen der Tagesmedien tut es das. Immer wieder aufs Neue bei jeder noch so banalen Trivialität! Wegen jedes Sackes Reis, der vielleicht in China umgefallen sein könnte, rühren sie die Trommeln, als sei höchste Alarmbereitschaft vonnöten. Oder hat mir jemand eine Nachricht geschickt? Die sind doch im Geiste meist noch schlichter. Kaum eine davon ist dringend oder gar wichtig, geschweige denn beides. Meistens nur Datenmüll für mein inzwischen nach Entschleunigung gierendes Gehirn. Ich will endlich meine Ruhe, ich will doch nur schlafen! Oder bimmelt da jetzt etwa doch der Wecker? Klingt aber eher, als stünde der Kühlschrank in der Küche offen oder die Kühltruhe daneben? Doch das Geräusch gleicht eher dem eines Rauchmelders. Brennt es etwa, dann kämen die Kopfschmerzen doch wohl vom Rauch und Kohlenmonoxid? Und jetzt dringt auch noch unverständliches Stimmengewirr dumpf zu mir durch! Die Feuerwehr? Dann werde ich jetzt wohl aufwachen müssen? Aber ich bin doch noch immer so müde und erschöpft. Ich will nicht aufstehen! Ich spüre, wie meine Halsschlagadern wild pochen und irgendein Piepen hat sich jetzt sogar noch mit deren Rhythmus synchronisiert. An meinem linken Handgelenk spüre ich meine Smartwatch oder was sonst könnte es noch sein? Weckt sie mich etwa gleich mit irgendwelchen haptischen Signalen? Es ist doch noch viel zu früh, um aufzustehen, ich will nicht aufwachen! Nicht jetzt. Weshalb konnte ich überhaupt die ganze Nacht hindurch schlafen, ohne auch nur ein einziges Mal zur Toilette gegangen zu sein? Mein Herz tut weh, sticht, ein beklemmender Schmerz, der bis in die Schulter strahlt. Ich werde jetzt wohl dringend wach werden müssen. Sonst sterbe ich am Ende noch. Was klebt denn da überhaupt auf meinem rechten Handrücken? Ich öffne jetzt doch besser die Augen, langsam und vorsichtig.

Unversehens blicke ich in das unscharf flirrende Antlitz eines Engels.

„Ich wusste überhaupt nicht, dass Engel so arabisch wirkende Gesichtszüge haben. Ach ja, sie waren ja einst in Palästina zu Hause, bevor sie Engel geworden waren, damals zu Christi Geburt, im Stall von Bethlehem!“

„Jaro? Jaro!“, sagt die engelsgleiche Gestalt sehr leise und mit behutsamer Stimme. „Wachen Sie jetzt auf?“, wobei sie mich mit beiden Händen an den Schultern ergreift, um meinen Kopf leicht zu schütteln. Und dann wieder, mit einem Tonfall, als wolle sie mit einem reichlich ungehorsamen Jungen schimpfen: „Wir waren schon in Sorge, dass wir Sie auch noch verlieren würden!“

Ich lese in ihren Augen wie in einem offenen Buch und scheine dort ihre übergroße Zufriedenheit mit der Situation erkennen zu können. Mit ihren Worten bestätigt sie mir meine Einschätzung: „Aber jetzt sind Sie ja da!“, und fügt lapidar hinzu: „Bleiben Sie so, ich hole jetzt den Doktor! Bleiben Sie wach!“, während die engelsgleiche Gestalt schon wieder eilenden Schrittes und wehenden Kittels flugs von dannen eilt.

Ich spüre die Schläuche am rechten Handrücken, wo ein intravenöser Zugang, eine Venenverweilkanüle, gelegt ist. Und dann das Gewirr von Kabeln auf der Brust! Und auf meinem Kopf! Überall Kabel, Kathoden, Schläuche, Kanülen und piepende Geräte. Alles blau, die Instrumente, die Wände, die Bettwäsche und der Mantel des Engels auch … alles himmelblau.

„Bin ich im Himmel angekommen? Nur das Gesicht des Engels sah etwas besorgt aus, kreidebleich, übernächtigt und seine Haare waren rabenschwarz. Engel sind doch blond, mit langen Locken? Und fröhlich frohlockend. Trotzdem, ich scheine tot und im Himmel zu sein!“

Und da kommt schon eine andere, blau gekleidete Erscheinung. Mit ihrem langen Bart und dunklem Teint sieht sie Jesus Christus gleich, so wie auf dem Altarbild in der Kirche Sankt Martin. Sicherlich treten jetzt gleich noch Petrus und der Liebe Herrgott hinzu, um mir alle meine Sünden vorzutragen. Jedoch tritt nur Jesus alleine an mein Bett, gefolgt vom besorgten Engel.

Jesus spricht mit sorgenvoller Stimme zu mir: „Kann er mich hören, versteht er mich?“, während er meine Wangen ziemlich heftig zwickt und tätschelt, links und rechts und links und wieder rechts.

„Jesus scheint ganz offensichtlich mich zu meinen!“, und so versuche ich zu nicken. Als er bestätigt sieht, dass ich offensichtlich ansprechbar bin, fährt er, jetzt mich siezend, fort:

„Sie haben sehr, sehr lange geschlafen“, und fügt nach einer kurzen rhetorischen Pause hinzu: „Wie fühlen Sie sich?“

Nur mit größter Mühe gelingt es mir, zu antworten: „Als hätte ich eine Nacht durchgezecht!“, gleichzeitig jedoch, drängen sich mir bereits die ersten Fragen auf: „Hatte ich einen Unfall? Oder einen Infarkt, etwa einen Schlaganfall?“, meine Sprache stockt, ist abgehackt, verwaschen und ich entnehme ihr ein Lallen.

Meine innere Unruhe ist kaum zu leugnen, weshalb Jesus in beruhigender Tonlage fortfährt: „Nein, nein, nichts von alledem. Lassen Sie uns später darüber reden!“

Während er zugleich noch mit dem Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand mir den Puls fühlt, hört er schon simultan mit dem Stethoskop meinen Thorax ab und spricht gelassen, jedoch mit einem deutlichen, arabischen Akzent, mir zugewandt, weiter: „Wenn es Ihnen wieder ein wenig besser geht! Die Polizei will auch mit Ihnen sprechen.“

Infolge seiner Ad-hoc-Diagnostik bedeutet er mir: „Aber jetzt befreien wir Sie erst einmal von einigen der Geräte! Wir werden Sie hoffentlich nicht mehr benötigen“, was er zugleich auch als Anweisung an den Engel verstanden wissen will: „Die Hirnsonden, die Elektroden für das EKG auf Ihrer Brust und den ganzen anderen Quatsch!“ Jetzt klopft er mir sogar noch kollegial auf die Schulter und schlussfolgert beruhigend mit den Worten: „Damit Sie sich ein wenig erholen können, von all den Strapazen!“, während jetzt Jesus auch schon zur Türe eilt. Der besorgte Engel setzt mir schnell noch eine Spritze und wechselt die Flasche am Tropf, bevor er ihm folgt.

Am nächsten Morgen kommen Jesus und der besorgte Engel auch schon wieder zur Visite. Oder war es doch etwa schon Nachmittag geworden? Ich habe hier jegliches Zeitgefühl verloren.

Jesus spricht mich mit aufgesetzter ärztlicher Besorgnis in der Stimme an: „Wie schön, dass Sie schon wieder Farbe im Gesicht haben. Ja, gestern sahen Sie noch wie ausgespuckt aus!“, und ergänzt, „Sie lagen über zehn Tage im Koma.“

Überzeugt davon, dass ich heute mental schon so weit gefestigt sei, mutet er mir den ganzen Rest der Geschichte zu, so wie sie sich ihm darlegt:

„Man hatte ihnen einen ganzen Cocktail von Substanzen verabreicht, wie wir sie normalerweise für die Einleitung eines künstlichen Komas in wesentlich geringerer Dosierung applizieren. Darunter gab man Ihnen eben auch eine sehr hohe Dosis Natrium-Pentobarbital, das vor allen Dingen in der Sterbehilfe zur Anwendung kommt. Deshalb mussten wir Sie während der ersten drei Tage auch intubieren. Sie benötigten eine künstliche Beatmung, weil sich Ihr Körper dafür als viel zu schwach erwies! Und um Ihren Organismus, vor allen Dingen das Herz, von den Giften zu entlasten, hatten wir Ihre Körpertemperatur auf 34 Grad abgesenkt.“

Der Arzt, den ich zunächst für Jesus hielt, fährt mit seiner Beschreibung meines aktuellen Zustands fort: „Aber seit drei Tagen holen wir Sie langsam wieder zurück!“, unbeirrt der Tatsache, dass ich ihm weder folgen kann, noch folgen will, redet er weiter: „Das heißt, wir schleichen die Opiate und Barbiturate langsam aus.“ Jedoch befeuert die Begeisterung für seine Tat, mich offensichtlich aussichtslosen Fall doch noch von der Schippe des Todes gerettet zu haben, seine Beredsamkeit weiter: „Wir haben vor rund 48 Stunden auch damit begonnen, Ihre Körpertemperatur langsam wieder auf 37 Grad anzuheben.“

Inzwischen hat er wohl meine apathische Reaktion etwas deutlicher wahrgenommen, weshalb er mir zu erklären versucht: „Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie sich jetzt wie ein Junkie, ein Drogensüchtiger auf Entzug fühlen! Zur Not geben wir Ihnen auch Methadon – aber wirklich nur zur Not!“

Mit fast empathischer Mine beschreibt er mir, womit ich in den nächsten Tagen zu rechnen habe: „Sie werden vermutlich jetzt ohnehin mit einer Amnesie, einem Filmriss zu kämpfen haben. Wir mussten Sie sehr, sehr behutsam zurückholen, wie aus einer Langzeitnarkose, wobei doch alle Substanzen deutlich höher dosiert waren als bei einem künstlichen Koma. Wir sind absolut sicher, dass Ihnen diese letale Dosis mit eindeutiger Tötungsabsicht verabreicht wurde.“

„Man hatte mir tödliche Substanzen verabreicht?“ „Wer?“ „Wann?“ „Wo?“ „Warum?“, kommt mir kaum vernehmbar in ungläubigem Tonfall über die Lippen.

„Dafür warten wir jetzt erst einmal, bis jemand von der Polizei kommt, um Sie über den ganzen Sachverhalt im Detail aufzuklären“, vertröstet mich der Arzt und fügt fast schon in entschuldigendem Ton hinzu: „Wir sind nur Ärzte, Mediziner, keine Kriminalisten!“

Mit dem hektischen Blick schon zum dritten Male auf seine Armbanduhr gerichtet, beginnt er es eilig zu haben und möchte offensichtlich zu einem Ende kommen. Er macht mir Hoffnung: „Sie haben jetzt wieder die Chance, völlig gesund zu werden! Seien Sie froh und glücklich darüber!“

Mit letzten Instruktionen an den Engel beendet er die Visite: „Wir geben Ihnen erst noch einmal ein leichtes Schlafmittel, denn Sie müssen sich ausruhen. Sie haben viel durchgemacht. Glauben Sie uns, ruhen Sie sich aus!“, und hastet gehetzt von dannen mit der schwarzgelockten Krankenschwester im Schlepptau.

Danach war ich wieder völlig apathisch in einen traumlosen Schlaf gesunken, der wohl mehrere Stunden andauerte. Mein Kopf schmerzt noch immer! Und mir ist, als wäre ich wirklich ein Junkie auf Entzug! Irgendwie scheine ich auch künstlich ernährt zu werden und fühle ebenfalls einen Blasenkatheter gelegt bekommen zu haben. Ich bin tatsächlich in einem Delirium. Es gelingt mir nicht, auch nur ansatzweise einen einzelnen klaren Gedanken zu fassen, alles verschmilzt zu einem strukturlosen Brei. Das alles fühlt sich viel schlimmer an als nach jedem Vollrausch. Doch da jetzt die Sonne durch das Fenster auf mein Bett scheint, fühle ich mich schon ein klein wenig besser, allerdings von klar sehen kann noch lange keine Rede sein!

Warum ist Kaja nicht hier an meiner Seite? Warum kommt sie mich nicht besuchen? Warum will die Polizei mit mir sprechen? Habe ich Kaja etwas angetan, hatten wir einen Streit, der eskalierte? Ich kann mich an absolut nichts mehr erinnern! Ich schlage mir mit den Fäusten heftig gegen die Stirn und beginne jämmerlich zu weinen.

Ein paar Tage später tritt unversehens Jesus Christus wieder an mein Bett, gefolgt von einem anderen, sportlich in einen leichten Parka gekleideten, jüngeren Mann, der aber blond gelockt ist und keinen Bart trägt. Jedenfalls ist das weder Petrus noch Gottvater selbst. Der junge Mann zeigt mir die Karte seiner Krankenversicherung, die er offensichtlich für seinen Dienstausweis hält. Er wirkt, als wäre er völlig durch den Wind! Aber er ist sicherlich der angekündigte Polizist. Hat zwar keine Mütze auf, doch ich glaub es ihm jetzt ganz einfach mal. Sonst wird das hier ja nie was! Er wirkt äußerst konfus, spricht aber ruhig und mit sonorer Stimme:

„So wie Ihre behandelnden Ärzte die Situation einschätzen, dürften Sie sich gerade an kaum etwas erinnern können. Sie haben sehr wahrscheinlich eine totale Blockade und Ihr Erinnerungsvermögen wird nur langsam wieder zurückkehren. Doch wir müssen Sie – ich muss Sie – jetzt darüber informieren, was passiert ist! Es ist äußerst wichtig für Sie, jetzt zu erfahren, was Ihnen passiert ist“

Er sieht mich dabei an wie jemand, der wirklich um seine Worte ringen muss. Dann blickt er nach rechts oben zur Decke und fährt fort. Der Blickrichtung nach zu urteilen, wird seine Erzählung nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, und das beruhigt mich zunächst einmal.

„Als Sie vorletzten Freitag spätabends nach Hause kamen, haben Sie da eine Flasche Rotwein mit Ihrer Frau getrunken? Wir haben die Reste in der Flasche und in den Gläsern gefunden – by the way, ein extrem teurer Tropfen, jedenfalls nicht vom Discounter.“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Ihre Frau Kaja arbeitete schon seit mehr als zwölf Monaten ehrenamtlich für einen Schweizer Sterbehilfeverein. Da hatte sie Zugang zu allen möglichen hochwirksamen Substanzen, Opiaten, Barbituraten, ganze Mixturen davon! Von denen hatte sie wohl einiges auf die Seite schaffen können. Denn sie beabsichtigte ganz offensichtlich schon seit Längerem einen erweiterten Selbstmord. Den hatte sie dann am späten Freitagabend, vermutlich sehr spontan, in die Tat umgesetzt! Ach, entschuldigen Sie, in die Tat umsetzen wollen! Denn was Sie betrifft, hat sie ihre Absicht ganz offensichtlich verfehlt. Sie waren ebenso Ziel dieser Tat, da sind wir uns sehr sicher.“

Ich schaue ihn geistesabwesend an, wortlos, ohne jedwede Reaktion in meiner Mimik. Ich muss in diesem Moment absolut schwerfällig im Denken, ja richtig phlegmatisch wirken, und in der Tat kann ich meine Gedanken nicht fokussieren. Sie bleiben unscharf wie das Bild einer Makrolinse im Display der Kamera, das man auf ein Objekt in der Ferne richtet. Deshalb fährt er fort, diesmal sieht er mich allerdings dabei an, ohne meinem Blick längere Zeit standhalten zu können.

„Ihre Frau hat den Selbstmord nicht überlebt. Und Sie wohl auch nur, weil Sie vorher überhaupt nichts gegessen hatten und aufgrund einer akuten Gastritis den Wein nicht vertrugen. Sie übergaben sich und brachen den größten Teil des Weins samt der Medikamente darin wieder aus. Aber viel entscheidender war, dass Sie auf einem Parkplatz des Autohofs Hessenland bei Kirchheim einen groben Fahrfehler begangen hatten! Sie fuhren entgegengesetzt zur Fahrtrichtung zurück zur Raststätte! Erinnern Sie sich noch? Dabei rammten Sie ein anderes Fahrzeug und begingen daraufhin Fahrerflucht. Als wir dann aufgrund des Autokennzeichens Ihre Adresse feststellen konnten, wollten wir Sie zu Hause stellen. Da das Fahrzeug als Dienstwagen in Dresden gemeldet ist, dauerte dies ein wenig. Eigentlich wollten wir schnellstmöglich bei Ihnen einen Alkoholtest machen! Glücklicherweise gab es keinen Personenschaden, sodass wir Sie aus Rücksichtnahme erst am Samstagmorgen aufsuchten. Da stand Ihr Auto immer noch mit im Standgas vor sich hin tuckerndem Motor vor der Garage und die Haustüre war bloß angelehnt. Ihre Gepäckstücke sind heute noch im besagten Fahrzeug. Als wir dann allerdings reingingen, lag Ihre Frau leblos auf der Couch im Wohnzimmer, die Totenstarre hatte längst eingesetzt. Und Sie lagen seit etlichen Stunden in einer tiefen Bewusstlosigkeit auf den Fliesen des Fußbodens. Wir haben dann das Haus weitestgehend gesichert – das heißt, die Türen und Fester verriegelt und die Haustüre abgeschlossen. Haustiere hatten wir keine vorgefunden. Ein Gerichtsmediziner hat Ihre Frau, wie vorgeschrieben, inzwischen obduziert. Und Sie hatten wir auf schnellstem Wege mit dem Helikopter hierherfliegen lassen, denn wir dachten, dass Ihnen eigentlich nur noch eine hochgradig qualifizierte und spezialisierte Universitätsklinik wie diese hier helfen könne, wenn überhaupt.“

Ich fange wieder an zu heulen, dieses Mal wie ein Schlosshund, werde regelrecht in Schüben von der Angst geschüttelt, der ganze Oberkörper vibriert, ich jammere lallend, hemmungslos vor mich hin:

„Kaja, warum nur? Warum hast du das getan? Ich dachte, wir lieben uns! Kaja, warum?“, und fahre schluchzend fort: „Nach so vielen Jahren? Ich brauche dich doch so sehr! Du bist der einzige Anker in meinem doch so ruhelosen Leben!“

Der Polizeibeamte und der Arzt waren inzwischen gegangen und ich bekam wieder sedierende Medikamente. Ich nehme an, mit mir wolle sich hier niemand mehr wirklich tiefergehend auseinandersetzen. Es ist eben wie mit jedem Kassenpatienten. Mein Zustand ist nicht länger lebensbedrohlich und von meinen vielen Zusatzversicherungen hatte in diesem ganzen Tohuwabohu wohl niemand etwas mitbekommen. Hin und wieder kommt an den folgenden Tagen der Psychiater einer Bürgerhilfe für Sozialpsychiatrie bei mir vorbei, der mir ein traumatisches Erlebnis bescheinigt, und meint, dass ich wohl nicht mehr werde arbeiten können. Aber ich sei ja ohnehin schon 64 Jahre alt, da wolle wohl auch niemand mehr so richtig arbeiten. Ich solle doch möglichst viel Zeit draußen in der freien Natur verbringen, im Wald spazieren und mich so oft wie möglich mit anderen Menschen treffen. Akut helfen könne er mir jedoch nicht. Eine Therapie sei in dieser Konstellation äußerst schwierig, außerdem gäbe es inzwischen bei allen Diensten extrem lange Wartelisten, selbst in den dringendsten Fällen. Derartige Traumata heile vor allem die Zeit. Zu einem Medikament würde er mir im Moment keinesfalls raten, das wäre in seinen Augen, als triebe man den Teufel mit dem Beelzebub aus. Daraufhin gibt er mir seine Karte und meint, so wie er mich einschätze, könne ich wohl am besten selbst beurteilen, ob und wann ich seine Hilfe wieder benötigen würde. Er ließe mich erst einmal zur Ruhe kommen. Ich solle in erster Linie zunächst einmal Distanz zu den schrecklichen Geschehnissen gewinnen.

Nach diesem Gespräch liege ich noch einige Wochen in der Klinik. Mir war bis dahin nicht bewusst, in welch kurzer Zeit der Körper eines sonst gesunden, sportlich aktiven Menschen wie mir in diesem Alter derart brutal physisch in sich zusammenfallen kann. Aber ich arbeite verbissen mithilfe einer sehr ambitionierten Physiotherapeutin an einer raschen körperlichen Rekonvaleszenz. Und mein Verstand, wo ist der? Wie weggeblasen! Meine Scharfsinnigkeit ersetzt durch Apathie? Und meine Seele, ist die etwa schon ohne mich in den Himmel aufgefahren und hat mich hier unten nur vergessen? Dieses giftige Gebräu von Empfindungen sollte sich bis zu meiner Entlassung aus der Klinik auch nicht mehr ändern. Die Gedanken rennen um den unumstößlichen Obelisken meiner in Stein gemeißelten Überzeugungen und beißen sich doch immer wieder nur selbst in den Schwanz.

Wenige Tage später, nach meinem Erwachen aus dem Koma, kommt ein dezent gekleideter Herr, schlank, in den besten Jahren, dunkler Anzug mit Weste, weißem Hemd, schwarzer Krawatte, dessen Auftreten dem eines Geistlichen nicht unähnlich ist, zu mir und fragt mich moralinsauer, was denn mit der Urne meiner Frau geschehen solle. Sie war doch tatsächlich, ohne dass ich oder nur einer der beiden Söhne hätten Abschied nehmen können, eingeäschert worden. Da wir beide kein Mitglied einer Kirchengemeinschaft waren, wurde noch nicht einmal ein Priester hinzugezogen. Es war die rein chemische Reaktion des Verbrennens, die aus einem menschlichen Körper und seiner Seele ein Häufchen Asche mit einem Gewicht von eins Komma fünf Kilo werden ließ. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub? Oh wie wahr! Kann fehlende Empathie tatsächlich so grausam sein, nur weil das System hier auf Rentabilität getrimmt ist und inzwischen alle Menschen durch ihren Job völlig abgestumpft sind? Jemand liegt im Koma, kämpft um sein Leben, ein anderer, der geliebte Mensch an seiner Seite, mit dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, wird zeitgleich einfach beseitigt, entsorgt, in einer Blechbüchse weggesperrt? Ich ramme mir wieder und wieder beide Fäuste gegen die Stirn. Die Urne würde zu mir nach Hause gebracht. Ich könne den Ort der Beisetzung wählen, müsse diesen allerdings mit den Behörden vorher abstimmen. Meinen Fall haben inzwischen jene bürokratischen Mühlen erfasst, die ihn ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich vertretbar einordnen wollen, sodass sehr bald nichts mehr von diesem tragischen Unglück zu erkennen sein wird.

völlig losgelöst

Ich fahre mit einem Taxi nach Hause, eine Schwester steckt dem Fahrer noch schnell meine Adresse zu. Vor dem Haus mit der Nummer ‚6‘ stehe ich mir etwas unentschlossen die Beine in den Bauch. Nicht etwa, dass ich nicht mehr wissen würde, ob ich in diesem Haus wohne oder nicht, nein, ich habe nur höllische Angst davor hineinzugehen, weil ich mir unsicher bin, was mich dort erwarten wird. Hielte ich das noch aus oder würde ich daran dann heute doch noch völlig zerbrechen?

Ich fahre am besten gleich mit dem Taxi weiter ins nächste Hotel. Aber auch dort zieht mich der Strudel meiner Gefühlswelt in eine tiefe, depressive Stimmung. Ich kann in diesem Zimmer nicht alleine sein. Also wieder zurück in ein Taxi und ab ins Krankenhaus. Dort meint man aber, sie könnten mich nicht einfach so beherbergen, ich solle doch einmal in einem Alten- und Pflegeheim nachfragen, ob die mich nicht aufnehmen könnten! Und ob ich nicht doch noch nahe Verwandte hätte? Im Krankenhaus wäre zwar niemand zu Besuch gewesen oder hätte nach mir gefragt, aber das wäre heutzutage nichts Außergewöhnliches mehr. Ist das am Ende der Lohn eines verantwortungsvollen Lebens, dass, nachdem der Lebenspartner verstorben ist, einen niemand mehr auf dieser verdammten, gottlosen Welt vermisst? Warum hatten sich unsere Söhne eigentlich nicht gemeldet? Kaja und ich haben doch Söhne, oder etwa nicht?

Also wird zum Altenheim gefahren. Dort war gerade eine Einzimmerwohnung frei geworden. Gut, die Sterbenden haben keinerlei Fristen zu respektieren, wenn sie ausziehen. Ich könne ja erst einmal einziehen und dann würden wir schon sehen, ob es eine Chance für mich gäbe, hier dauerhaft verweilen zu können. Ich werde wieder ganz lethargisch, bin physisch und mental total ausgebrannt und lege mich ganz einfach auf die Zudecke ins Bett und schlummere in einer Art Dämmerschlaf eine weitere Nacht vor mich hin, lasse mich ganz einfach treiben, ganz traumlos. Im Morgengrauen dusche ich, rasiere mich aber nicht, das lohne sich bei mir wohl nicht mehr, ziehe mich an und gehe in den Speisesaal, wo es nach Kaffee riecht. Aber es gehöre in meinen Augen verboten, aus diesen prächtigen, strahlend roten Kaffeekirschen solch ein ekelerregendes Gebräu zu kochen! Es roch nicht nach Kaffee, sondern stank nach jener Plörre, die in Autobahnraststätten zur nächtlichen Stunde die Automaten in die Pappbecher füllen, gleich neben den Franchise-Toiletten. Und dann waberte da noch das typische Aroma von altem Frittenfett durch den Raum, oder sollte das etwa Rührei sein, das hier die Luft so fürchterlich verpestet? Nein, hier kann ich nichts essen und hier werde ich auch niemals eine Mahlzeit zu mir nehmen!

Ich gieße mir stilles Mineralwasser in ein großes Glas, gebe eine dünne Scheibe Zitrone hinzu und setze mich alleine an einen kleinen Bistrotisch, um die Menschen zu beobachten. Dies tue ich immer, wenn ich alleine bin. Also, eigentlich immer. Diese alten Leute hier kommen mir vor, als würden sie bewusst ihrem Ende entgegendämmern. Sie scheinen regelrecht in dieser Tristesse auszuharren, wie in einem Wartezimmer des Todes, schauen desillusioniert mit einem Blick, der nirgendshin gerichtet ist und doch missgünstig schweift. Mir fällt als Analogie nur Rilkes ‚Panther‘ ein:

Rilkes Panther

„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe, so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“

Keiner gönnt es einem anderen, dass es ihm vielleicht besser gehe, dass er etwa gesünder wäre, dass er noch immer mehr besitzen könnte, dass er glücklicher sei, dass er sein Leben womöglich sogar noch genießen würde. Diese Stimmung zwischen den Alten saugt die jüngeren Pflegekräfte zu ihnen hinab. Man kann spüren, wie deren Lebensfreude nicht reicht, um sie auch noch mit diesen alten Leuten zu teilen. Also behalten alle ihre Empathie für sich. Wenn jeder an sich selber denkt, dann ist doch wohl auch an jeden gedacht? Hier ist kein Hoffen mehr, hier gibt es nur noch bedeutungsleeres Warten. Es erinnert an das Warten Estragons und Wladimirs auf einen Unbekannten namens Godot. Diese Leute hier, die Pfründner, wie die, die sie unter ihrer Fuchtel haben, verbindet ein ereignisloses Nichtstun. Nein, auch hier kann ich nicht, ja will ich nicht bleiben. Hier schmeckt sogar das stille Wasser abgestanden. Lieber vollende ich Kajas Plan und schmeiße mich vor das nächste Bähnchen, das immer zehn vor und zehn nach jeder vollen Stunde unweit unseres Hauses meist völlig leer einem Flusslauf folgend, sich das Tal entlangschlängelt, um die kleinen Dörfchen bis hin zur französischen Grenze zu erreichen. Ich kippe den Rest des Wassers auf das blaublühende, kümmerlich vertrocknete Usambaraveilchen in einem Blumentopf aus Terrakotta, mitten auf das verkleckerte, rot-weiß-karierte Tischtuch drapiert, stehe auf und verlasse grußlos den Raum.

Ich sitze wieder im Taxi und fahre jetzt ein zweites Mal zu unserem Haus, zu meinem Haus, zu meinem Zuhause. Ohne Kaja will mir dieses bedeutungsschwere Wort allerdings nicht mehr so richtig über die Lippen gehen. Doch wenn mich mein Leben irgendetwas gelehrt hat, dann, dass man Probleme nicht löst, indem man sie ignoriert, sondern indem man sie konfrontativ an den Hörnern packt und mit ihnen kämpft. Probleme gehen nicht einfach weg, nur weil man sich innig wünscht, es gäbe sie nicht. Doch bevor ich mich ergebe und in diesem Altenheim vor mich hin vegetiere, bis ich irgendwann einmal vereinsamt verrecken werde, hole ich mir lieber weiter Blessuren und bäume mich noch einmal auf, auch wenn es das allerletzte Mal sein sollte.

Ich trete ein. Mitten im Wohnzimmer steht eine aquamarinblaue Ledercouch. Auf ihr starb Kaja. Nichts im Raum erinnert mehr an die Tat. Daneben, in Richtung Badezimmer, ist noch mein Erbrochenes verkrustet auf den Fliesen zu erkennen. Dort muss ich gelegen haben. Das erklärt auch, weshalb ich überlebte, denn die milde Wärme der Fußbodenheizung bewahrte mich vor der Unterkühlung. Ich denke, ich werde jemanden brauchen, der alles wegmachen wird, denn ich kann das nicht. Das würde mir Übermenschliches abverlangen. Ich gehe die Wendeltreppe hinauf zu meiner Galerie, meiner Bibliothek, in den Leitstand meines Universums, setze mich an meinen alten Schreibtisch aus massivem Kirschholz, blicke hinaus, über das Flusstal hinweg, hinüber zur Burgruine und lasse die Gedanken mit meinen Blicken schweifen.

Warum hat sie mir nur diesen Streich gespielt? Mir den Rest meines Lebens zu rauben versucht? Beginne ich doch gerade erst jetzt damit, die Früchte meiner Arbeit zu ernten und auszukosten. Ja doch, ich weiß, und dann kommt da wieder irgendeiner daher, der mich irgendwie und irgendwo ganz dringend braucht, und schon vertage ich erneut mein Leben auf später, wohl wissend, dass die Zeit für mich gekommen ist, wo aus jedem Aufgeschoben sehr leicht ein Aufgehoben werden kann. Aber es soll doch nur dieses eine Mal noch sein, dieses allerletzte Mal. Für Nanjing kann ich ja immer wieder alternierend zwei Wochen vom Homeoffice aus arbeiten und dann wieder zwei Wochen dort, vor Ort sein. Wohl wissend, dass die zwei Wochen zu Hause immer wieder aufs Neue bei jedem beliebigen Problem zur Disposition stehen und dann meistens auch geopfert werden! Irgendwie war ich inzwischen absolut unglaubwürdig geworden, durch die Konsistenz meines Handelns. Für mich war es Eigentreue, für Kaja war es nichts anderes als Verrat. Wahrscheinlich verlor Kaja auch deshalb den Glauben daran, mit mir doch noch leben zu dürfen, nicht nur immerfort auf mich warten zu müssen. Und nun zog sie wohl die Notbremse. Der Waggon steht jetzt jedenfalls still!

Hase und Igel

Sie hatte ständig Angst, ich könnte vor ihr sterben, und sie käme mit alledem alleine nicht zurecht. Deshalb wünschte sie sich, als Erste zu gehen. Und mitnehmen wollte sie mich wohl nur deshalb, weil sie sich sicher war, ich würde mir niemals verzeihen können, sie in einen Suizid getrieben zu haben. Aber genau das hatte ich jetzt getan. Wir hatten uns, um unsere Seelen zu schützen, voneinander entfremdet, denn unsere Körper waren meist getrennt, da konnten unsere Seelen auf Dauer nicht vereint bleiben. Meine nicht mit ihrer, ihre nicht mit meiner! Man ist vorher immer überzeugt, dass eine Fernbeziehung funktioniere, wenn nur beide fest dran glauben. Doch ohne Perspektive trocknet dabei die Liebe aus wie ein Wadi in der Wüste.

Prophezeiungen erfüllen sich stets selbst, weil der Geist den Gedanken folgt. Man kann einem Menschen so ziemlich alles einreden, wenn man eine ihm einleuchtende Geschichte erfindet und sie nur oft genug wiederholt. Manchmal sind diese Erzählungen derart intensiv, dass sie sich zu Religionen verdichten, zu politischen Überzeugungen werden bis hin zu Ideologien. In orthodoxen Extremen werden sie durch Insignien und Riten performativ zur Schau gestellt, sodass sie die Geschichten des jeweiligen anderen provokativ stören. Und sei es nur ein Bart zur falschen Zeit, Schläfenlocken, eine Tätowierung oder ein Piercing. Dann können sie sogar Kriege auslösen und alles zerstören, was sie zu schützen vorgegeben haben. Aber auch kleine, individuelle Erzählungen können Leben zerstören, zumindest die Betroffenen am Rand dessen entlang führen.

Man muss nur lange genug erzählt bekommen, dass man zu nichts tauge, dann wird diese Erzählung Wirklichkeit und der Erzähler wird stolz sein, wie gut er die Menschen doch taxieren und deren Schicksale voraussagen könne. Wehe denjenigen, deren leibliche Mutter dieser Erzähler ist.

Wahrscheinlich bin ich kein Wunschkind, sondern eher die Erfüllung einer Konvention. Man hatte damals eben mindestens zwei Kinder. Und wenn sich zwischen dem ersten Sohn und dem zweiten ein großer Krieg quetschte, dann hatten diese beiden Brüder eben einen Altersunterschied von zehn Jahren. Während der erste Sohn der Mutter einziger Trost war, in den Jahren des Krieges und der anschließenden Deportation aus ihrer angestammten Heimat, dem Sudetenland, wurde der zweite in das Elend der Nachkriegszeit hineingeboren, in eine zwangszugeteilte Notunterkunft im Schwäbischen. Wer der Überlebenden war damals nicht traumatisiert, bar jeder Hoffnung?

Meine Mutter nannte mich einen Einzelgänger, dabei war sie es, die mich zum Einzelgänger machte. Keine zwanzig Meter hinter dem kleinen, geduckten Häuschen, direkt am Kanal, in dem ich meine Kindheit verlebte, verlief die Bahnlinie von Stuttgart nach München. Der Bahndamm bildete praktisch unsere Grundstücksgrenze! Und nicht selten lagen Leichenteile in unserem Garten, von Menschen, die sich an der kleinen Haltestelle, wenige Hundert Meter entfernt, aus Verzweiflung vor die durchfahrenden Schnellzüge warfen. Eine alte Frau, eine Bestatterin, ging mit viel selbstgebranntem Fusel im Blut und einem verzinkten Eimer in der Hand dann die Bahnstrecke und den Bahndamm entlang, um die weit verstreut liegenden, zerfetzten Leichenteile einzusammeln. Als Kind beobachtete ich sie mit großem Grauen und Ekel, ging sie doch gleich mehrmals im Jahr genau dieser Tätigkeit nach, direkt in unserem Hinterhof zwischen den Gemüsebeeten, Kaninchenställen und den Hühnervolieren.

Da mein Vater neben seiner Schichtarbeit in einer Kammgarnspinnerei an den Wochenenden zusätzlich noch kellnerte, weil er den Traum von seinem eigenen Haus leidenschaftlich gerne noch einmal realisieren wollte – er hatte sein erstes in der Tschechei zurücklassen müssen – war er eigentlich nur ganz selten zu Hause anzutreffen. Deshalb verfiel meine Mutter, die durch die Kriegsjahre gesundheitlich stark angeschlagen war, in tiefe Depressionen. Sie hatte während des Krieges eine Mittelohrentzündung verschleppt, sodass nach den Kriegsjahren ihr Kopf aufgemeißelt werden musste, um größere Teile des Schläfenlappens und des inneren Ohrs entfernen zu können. Als sie zurückkehrte, blieb sie über Monate hinweg ein Pflegefall. Noch während sie im Krankenhaus lag, saß ich oft mutterseelenallein auf der Stiege vor der Haustüre mit meinem schwarzen Zwergspitz ‚Mohrle‘ und wartete eine ereignislose Zeit lang ziellos vor mich hin. Manchmal kam die Nachbarsfrau, die Salbers Anna, eine alte Jungfer, die nebenan ein Schuhgeschäft betrieb, um mich zu fragen „Jarole, hosch’d Hongr odr hosch’d Durschd?“ Mein Vater arbeitete permanent in Wechselschichten und mein Bruder war damals schon in der Lehre. Eine Ungarndeutsche, die vom Pfarrer geschickt worden war, bekochte uns nur rudimentär. Bei ihrem Gulasch musste sich mein Vater immer den Schweiß vom Gesicht und seiner großen Glatze wischen, so scharf war es, und wir Buben konnten das Gulasch mit Wasser verdünnen, so viel wir wollten, es blieb für uns ungenießbar.

Später, als mein Vater an Samstagen und Sonntagen auf die Kirchweihfeste zog, um Maßkrüge voll Bier, Würste und Brathendl den Besoffenen hinterher zu schleppen, drohte meine Mutter, zu Hause alleingelassen, beständig damit, sich ebenfalls vor einen der Züge zu werfen. Da traute ich mich als ihr Sohn nicht mehr aus dem Haus, wenn mein Vater kellnern ging. Und meinen Bruder band in diesem Alter ohnehin nichts mehr ans Haus; er pelle sich ein Ei drauf, wie er so schön zu sagen pflegte! So las ich viel und hütete meine Mutter, gab Acht, dass ihr nichts Schlimmes passierte. Fortwährend ging ich mit ihr Händchen haltend spazieren oder ins Kino. Ich bin überzeugt, gerade den Filmen mit Freddy Quinn verdanke ich mein bis heute unstillbares Fernweh. Oft saßen wir aber auch nur zu Hause in der Wohnküche und lasen in Büchern und in alten Illustrierten, denn das Wohnzimmer war reserviert für die Festtage und besondere Feiern. Und wenn fremde Leute uns besuchten oder auch nur Freunde und Verwandte, konnte es meine Muttern nicht lassen, jedem zu erzählen, auch denen, die es nicht zu interessieren hatte, und auch jenen, die es gar nicht hören wollten, dass ihr Jüngster ein Einzelgänger sei. Sie hatte natürlich noch nie etwas von der sich selbsterfüllenden Prophezeiung gehört, aber sie produzierte gerade in ihrem psychologischen Experiment sehr exakt den lebenden Beweis für diese These. Man sollte allerdings attestierten Einzelgängern verbieten, später eine Beziehung einzugehen und zu heiraten, um sich am Ende auch noch zu reproduzieren. Denn wer sich selbst schon genug ist, dem ist jeder andere zu viel!

immer allein

Darauf war es in meinen Augen sehr wahrscheinlich auch zurückzuführen, dass ich später sehr, sehr gerne auf geschäftliche Reisen ging, und dies bevorzugt ohne die Begleitung von irgendwelchen Kollegen tat. Ich war stolz darauf, bei den Kunden solo aufzuschlagen, wenn diese auf eine ganze Delegation seitens unserer Firma vorbereitet waren. Einmal betrat ich in Detroit einen Konferenzraum, in dem auf der einen Seite des Tisches neun Stühle freigehalten wurden, während sich auf der gegenüberliegenden Seite zwölf Personen drängten und berieten. Eigentlich konnte ich selbst in diesem Falle jede einzelne der Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit beantworten. Und wenn ich Peers aus anderen Firmen mit ihren Delegationen in den Airport Lounges dieser Welt begegnete, war ich mir niemals zu schade, ironisch frotzelnd zu bemerken, dass ich alt genug sei, um schon alleine verreisen zu dürfen.

Was mir nicht alles durch den Kopf schoss, solange ich hier an meinem alten Schreibtisch kauerte, um mein Versagen als Ehemann und Vater zu beweinen. Ja, die Seele zieht sich zurück, wenn sie befürchtet, verletzt zu werden. Und so zogen sich die Seelen meiner Frau und die meiner Söhne von mir zurück. Ich wurde in ihrem Empfinden zum Fremden im eigenen Nest, war nur noch ein Störenfried, der an manchen Wochenenden die gewohnte Ordnung durcheinanderzubringen drohte. Am Ende war es die perfekte, sich selbstverstärkende Spirale in den Abgrund, die zwangsläufig in die Hölle führen musste, für jeden, der nicht schnell genug Schutz in einer Deckung fand. Meine Deckung war meine Unabkömmlichkeit. Auf mich traf voll und ganz die Verballhornung von Managern zu, nach dem Motto: Wo er ist, herrscht Chaos, aber Gott sei Dank, er kann nicht überall sein. Wobei ich mir schon zugutehalten möchte, dass ich deutlich mehr Chaos entflochten habe, als dass ich jemals neues gesponnen hätte. Deshalb tobte ich selbstbewusst von Fabrik zu Fabrik, war omnipräsent, auch bei den Kunden, und sah überall und immer die dringende Notwendigkeit, dort auch wirklich sein zu müssen.

Zu Hause emigrierte ein Familienmitglied nach dem anderen in ein Schneckenhaus; nachdem beide Söhne baldig das Haus verlassen hatten, blieben da nur noch ihre beiden leeren Gehäuse zurück – wir nannten sie noch über Jahre hinweg ‚Kinderzimmer‘! Eigentlich sollte das der späteste Zeitpunkt für mich gewesen sein, um dauerhaft heimzukehren. Aber selbst die schlechtesten Angewohnheiten werden irgendwann zu lieben Marotten und damit zum Bestandteil der Persönlichkeit. Dann braucht es schon eines fundamentalen Impacts, damit man seine Lage überdenkt. Diese Impulse versuchte Kaja mir regelmäßig zu setzen, doch meine Seele hatte sich bis dahin bereits eine zentimeterdicke Hornhaut zugelegt, die keine Empathie mehr zuließ. Ich erahnte das schon und erinnere mich noch, wie ich mich dafür oft selbst kasteite. Als ich bereits als freiberuflicher Berater durch die Lande zog und dabei jeweils längere Zeiten an ein und denselben Orten verweilen musste, suchte ich mir immer ganz bewusst die schäbigsten Bleiben aus, um ja nicht das Gefühl zu entwickeln, ich fühlte mich darin wohl, fühlte mich dort heimisch. Doch obwohl ich an diesen fernen Orten stets ein Fremder blieb, zog es mich an den Wochenenden immer seltener zurück nach Hause. Waren es die Strapazen der Reise und die zunehmende körperliche und emotionale Erschöpfung oder doch nur eine robuster gewordene Gleichgültigkeit? Jedenfalls getraute ich mich vor diesem Hintergrund meine Aktionsradien, wie ich sie zu nennen pflegte, immer weitere Kreise ziehen zu lassen, und verkaufte mich für gutes Geld in Projekte, wo immer es auf dieser Welt einen Bedarf für mich und mein Team gab. Und dieser Bedarf war immens! Mein Ziel dabei war immer, alternierend zwei Wochen im Homeoffice zu Hause und zwei Wochen vor Ort zu verbringen. Jedoch wog die Verantwortung so schwer auf meinen Schultern, dass sie mich zumeist doch an den fernen Orten festhielt; angekettet an eine schwere Kugel, die ich als meine vermeintliche Verantwortung, als meine ureigene Verpflichtung gegenüber den jeweiligen Auftraggebern empfand. Es war aus deren Sicht stets mein wichtigstes Asset, mein Unique Selling Point! Das im Vergleich nur zierliche Kettchen in Richtung Familie und Heimat dagegen hielt dieser Zentrifugalkraft niemals stand. Da spielte es dann auch keine Rolle mehr, wenn ich meine Familie mit Opiaten in Form von Euros, Dollars, Lira, Pesos oder Renminbi zu sedieren versuchte. Sie nahmen das Geld, gaben mir aber keine Liebe mehr zurück, noch nicht einmal mehr menschliche Wärme, weil man auch die nur für gleiche Münze bekommt. Irgendwann beherrschte dann nur noch dröhnendes, unüberhörbares Schweigen das Geschehen. Und nun das, der Suizid als Ultima Ratio! ‚Mea culpa, mea maxima culpa‘. Kaja, ich werfe dir nichts vor, und falls ich dir etwas vorzuwerfen hätte, so verzeihe ich dir. Du jedoch wirst mir nicht vergeben haben. Du weißt, dass ich an kein Leben nach dem Tode glaube und deshalb ebenso nicht daran, dass ich nach meinem Ableben auch nur irgendetwas wieder gutmachen könne. Nicht an dir, nicht an unseren Söhnen, noch an irgendeinem anderen Menschen, an dem ich mich schuldig gemacht habe, und derer gibt es viele. Diese Last wird mir bleiben bis an mein Lebensende. Erst mein Tod wird auch mich letztendlich von dieser Bürde befreien.

INGORATHA

Sobald ich mich aus meiner Kauerstellung im kalbsledernen, schwarzen Schreibtischsessel befreie und aufrichte, um meinen Blick wieder über die Galerie schweifen zu lassen, hält dieser bei einer gerahmten Fotografie inne. Sie zeigt mich zweifellos am Steuer einer Segelyacht. Ganz offensichtlich jagten wir mit halbem Wind über die verbleibende Dünung eines vorangegangenen, schweren Sturms, die ich voller Freude abritt. Dieser Kurs, bei dieser Welle, bringt selbst manchen alten Kahn ins Gleiten und der Rudergänger erlebt dabei unvergessliche Glücksgefühle, wie sonst nur beim Bullriding auf einem Rodeo oder in intimen Stunden. Hinter mir wehte der ‚Adenauer‘ in der aufschäumenden Gischt des Heckwassers! Wir nannten die schwarz-rot-goldene Flagge im Verein ‚Adenauer‘, die Nationalflagge unseres Schiffes, die wir im Hafen, vor Anker und in Fahrt stolz an einem Flaggenstock führten, der möglichst in der Mitte des Hecks platziert etwas nach achtern geneigt ist, damit die Flagge auch bei Windstille klarfällt und für alle erkennbar bleibt. Nachts im Hafen wird diese Flagge geborgen, wobei sich die Crew in einer kleinen Zeremonie meistens einen beliebigen Sundowner gönnt. Morgens, beim Wachwechsel um elf Uhr Greenwich-Time, hieß es für uns dann immer ‚Sherry-Time‘, der erste Drink des Tages, denn dabei trafen sich die beiden Wachen, ‚All Hands on Deck‘, regelmäßig zum Austausch der wesentlichen Informationen und leerten eine Flasche guten Sherry, wobei der letzte Schluck immer Poseidon zugeschrieben war, um ihn auf diese Weise uns gewogen zu machen. Und mit diesem ‚Adenauer‘ grüßten wir natürlich auch andere Schiffe. Ganz besonders auf der Flensburger Förde mit Kurs auf Glücksburg begegneten wir so manchem Schiff der Deutschen Bundesmarine. Es entspricht nun einmal der Etikette, diesen Schiffen unseres Souveräns die Ehre zu erweisen und sie folglich zu grüßen, indem man den ‚Adenauer‘ dippte; hierzu nahmen wir den Flaggenstock ganz einfach aus seiner Halterung und senkten ihn kurz ein wenig ab. Auf dem Marineschiff hingegen musste der Flaggenmaat die Leiter hoch zum Turm hasten, um die Flagge vom Mast zu holen und sie auch gleich darauf auch schon wieder erneut zu hissen. Das konnte bei dem allabendlichen Schiffsverkehr auf der Förde für ihn schnell in Stress austarten, und so hörte ich beim Passieren so manchen Flaggenmaat laut fluchen. Wir hingegen ersparten es uns, den Flaggenstock selbst nur mit einem Bändsel zu sichern, so oft wie wir ihn aus seiner Halterung zu nehmen hatten.

Ich beginne derweil, still in mich hinein zu lachen. Denn während ich so, versunken in das Bild und meinen Assoziationen zugewandt, tief in diese Vergangenheit eintauche, lassen die seelische Pein und meine Kümmernis spürbar nach. Wie hieß denn dieses Schiff damals noch, wohin waren wir damit eigentlich unterwegs und wie hieß noch mal der Skipper? Nachdem draußen die Sonne Feuer speiend hinter den Wolken in den Hügeln des Saargaus versunken ist und jetzt langsam die Dämmerung voranschreitet, gehen meine Gedanken weiter spazieren und sind längst schon auf dem Weg nach Glücksburg. Vielleicht ist es ja doch mehr als nur ein Strohhalm in der tosenden Sturmsee meines gegenwärtigen Existierens.

Der Skipper, daran erinnere ich mich jetzt, war ‚Harry Kaputt‘. Eigentlich hieß er Harry Lorenz, doch er bekam irgendwann den Beinamen Kaputt, nachdem er mit der ‚Albatros‘ im Sturm mit einem in der See treibenden Container kollidierte. Den Untergang der wertvollen, 1913 gänzlich aus edlen Tropenhölzern gebauten Yacht verfolgte er zusammen mit der versammelten, zwölfköpfigen Crew vom Deck eines Fischtrawlers, der zu ihrer Rettung herbeigeeilt war. Ja, und dann war da noch sein Assistent Rudi Ratlos. Den nannten wir so, weil er den Wassertank versehentlich so lange mit Diesel befüllte, bis der sich aus dem überlaufenden Tank in die Bilge ergoss. Harrys todschicke Lammlederstiefel hatten dadurch plötzlich Hochwassermarken weit oben am Schaft, so hoch war das Gemisch aus Wasser und Diesel im Rumpf gestiegen. Danach hatten wir noch einiges an Prothesenreiniger gebraucht, um den Wassertank und die Bilge wieder klar zu bekommen, geschweige denn den ekelhaften Dieselgestank aus der Kajüte und den Kojen weitestgehend wieder vertreiben zu können. Trotz allem segelten wir noch bis in den hohen Norden Schottlands, weit über die Hebriden, die Shetlands, die Orkneys und die Fair Isle hinaus. Aber verdammt noch mal, wie hieß denn das Schiff damals? Plötzlich ist es da. Es hieß INGORATHA, wurde 1928 in Travemünde auf Kiel gelegt und hatte bis zu unserem Törn schon ein außerordentlich bewegtes Leben hinter sich gebracht. Wenn es also etwas gab, das wir Dilettanten der Seemannschaft, wie Harry uns zu bezeichnen pflegte, nicht aus der Ruhe bringen konnte, dann war es diese alte Dame. Ich erinnere mich sogar wieder an die Bedeutung ihres Namens, der aus vier germanischen Silben zusammengesetzt war. IN steht für ‚Norden‘, GO für ‚geboren sein‘; RA für die ‚Sonne‘ und THA für ‚dort‘, was in der nordischen Mythologie so viel bedeutet wie ‚Dort, wo die Sonne im Norden ihre Wiedergeburt erfährt‘. Für mich war das mehr als ein vergängliches Omen, für mich kam dies einem kategorischen Imperativ gleich! Nimm dein endlos beschissenes Leben verdammt noch mal wieder selbst in die Hand und ändere dich endlich grundlegend! Denn du bist die Ursache all dessen! Nur dann wäre der Tod deiner Frau nicht vergebens.

Es ist inzwischen dunkel geworden vor den Fenstern, nur noch einige Sterne funkeln vom Firmament und der Mond verströmt sein fahles Licht über das Tal bis hinüber zur Burgruine. Ich, in mich gekehrt in meiner Andacht, hatte noch nicht einmal die Lampe auf meinem Schreibtisch angeknipst. Doch ich hatte wieder einen Plan, der mehr war als eine mit Bleistift gezeichnete Kurslinie auf der Seekarte meines Lebens, die jederzeit wieder ausradiert werden konnte, sollten Wind und Wetter sich wenden. Ich rasierte mich vor dem Zubettgehen noch, denn ab jetzt bin ich wieder jemand, dessen Leben nicht länger ein ereignisloses Nichtstun bleiben wird und auch nicht nur aus bedeutungsleerem Warten besteht. Ich lege mich ins Bett und schlafe rasch ohne Medikamente ein, tauche hinab in den langen, tiefen und erholsamen Schlaf eines zufriedenen Menschen, der hinübergleitet in eine neue, vielleicht schon morgen wieder erlebenswerteren Zukunft. Es wird noch immens viel Schutt wegzuräumen sein von meiner Seele und von meinen Wechselbeziehungen zu anderen Menschen, zu all jenen, die ich enttäuschte, weil ich sie vernachlässigte; und wenn ich sie nicht vernachlässigte, dann stieß ich sie so manches Mal mit meiner Rastlosigkeit, ja Besessenheit, brachial vor den Kopf. All jene, die ich verachtete, ignorierte und glaubte, sie damit bestrafen zu müssen, indem ich ihnen meine Aufmerksamkeit entzog; jene, die ich aus dem Ensemble meiner Darsteller strich, denen ich ungeachtet der jeweiligen Dramaturgie niemals mehr eine Rolle zuteilen wollte. Ob sie mir im Gegenzug jemals wieder eine Einzelstimme erlauben werden im Orchester unseres Miteinanders, in der Partitur ihrer Leben? Oder haben mein ewiges und rücksichtsloses Fortissimo des ständigen Getriebenseins und des manischen Fortschreitenmüssens, die andauernde Disharmonie in der Interpretation meiner Musica sie für immer aus dem Takt gebracht? Sind sie verstummt wie Kaja oder intonieren sie fortan ihre Instrumente nur noch im Verborgenen oder gar derart piano und von mir abgewandt, dass ich sie niemals mehr vernehmen werde?

Kapitel 2: erkennen

zu Hause sein

Der melodiöse Reviergesang der Amseln weckt mich schon zum ersten Morgengrauen. Der weiße Fliederbaum vor dem Schlafzimmerfenster verströmt einen betörenden Geruch. Als ich erwache, ist das Bett neben dem meinen leer. Dieses blieb allerdings niemals leer in den letzten Jahrzehnten – meines dagegen fortwährend. Einmal, als ich ganz wild darauf war, für uns endlich ein Ferienhaus zu erwerben, meinte Kaja nur lakonisch:

„Ich weiß ja gar nicht, was du hast, wir haben doch schon seit vielen Jahren ein schönes, großes Ferienhaus. Genau dieses Haus hier! Du hast ein Ferienhaus, sogar inklusive einer Hauswirtschafterin! Bestenfalls bist du über die Wochenenden hier. Sonst turnst du, soweit ich das beurteilen kann, zwischen Arktis und Antarktis auf so ziemlich allen Breiten- und Längengraden gleichzeitig umher! Sogar deine Sekretärin hat es neulich ziemlich verwirrt, dir für eine Nacht jeweils ein Hotelzimmer auf zwei unterschiedlichen Kontinenten buchen zu müssen, weil du an jenem Tag die Datumsgrenze überquert hast, als du von Australien nonstop in die USA flogst. Aber wie jeder Albatros findest auch du wenigsten jedes zweite Wochenende für ein paar Stunden zurück ins Nest. Ich möchte ja gar nicht wissen, was du in der Zeit dazwischen so alles ausbrütest, wenn du gerade nicht arbeitest! Aber wir vertrauen einander ja, nicht wahr?“

Kajas Nonchalance, wie in dieser Andeutung, schmolz allerdings so rapide dahin wie der Schnee eines Winters in der Frühjahrssonne, während ich mich derweil mit großen Schritten dem Rentenalter näherte. Als Gegenfrage wurde dann kleinlaut von mir das Stereotyp in den Raum geworfen, wann denn eigentlich der prähistorische Homo sapiens dereinst hätte damit aufhören dürfen, den Mammuts hinterherzujagen, mit denen er seine Sippe zu ernähren versuchte. Langsam aber sicher nutzte sich dieses klischeehafte Argument allerdings ab, ganz besonders wenn ich bemüht war, meine Wochenarbeitszeiten zu rechtfertigen. Nach wie vielen Stunden etwa dürfe denn ein Neandertaler einen Säbelzahntiger einen Säbelzahntiger sein lassen, nachdem er ihn schon stundenlang verfolgt hatte? Nach 7, 8 oder etwa erst nach 12 Stunden? Und wer bezahlte ihm danach auch noch die Zuschläge für die Überzeit und die Nachtstunden, vor allen Dingen auch dann, wenn er nach erfolgloser Jagd dessen Fell nicht nach Hause trüge? Diese höchst denkwürdige Standpauke konnte sich auch kaum einer meiner Mitarbeiter entziehen, denn sie bekamen derartige Thesen in hochfrequenter Regelmäßigkeit genauso von mir vorgetragen.

Für mich ist es nichts anderes als eine Art spätrömischer Dekadenz, mit der nicht wenige unserer Zeitgenossen heutzutage versuchen, die jeweilige Grundlage ihres Lebensunterhalts dermaßen von dem durch sie individuell erbrachten Beitrag dazu zu entkoppeln. Nun gut, vielleicht bin ich ja auch nur einer jener letzten steinzeitlichen Höhlenbewohner, der nicht nur so viel erbeutet, dass er damit seine eigene Sippe ernähren kann, sondern darüber hinaus noch einen ganzen Stamm gleich mit? Ist es nicht jedermanns moralische Verpflichtung, vorausgesetzt natürlich gegen eine adäquate Vergütung, all seine Begabungen und Leistungsfähigkeit uneingeschränkt dem Wohle der Gemeinschaft zu widmen?