Saturnin - Jakub Małecki - E-Book

Saturnin E-Book

Jakub Małecki

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Beschreibung

Warschau 2014: Saturnin, ein alleinstehender Handelsvertreter und ehemaliger Leistungssportler, erhält eines Abends einen Anruf von seiner Mutter: Sein 96jähriger Großvater Tadeusz ist verschwunden. Entschlossen fährt er in sein Heimatdorf, um den Vermissten zu suchen. Wie in einer Familienchronik entfaltet sich die Geschichte dreier Generationen. Sie ist stark von den Erlebnissen eines Mannes geprägt, der vor allem eines war: ein zärtlich liebender Musiker, der nie Soldat sein wollte und wider Willen zum rächenden Partisanen wurde. Später wird er sich in tiefes Schweigen vergraben. Es ist der Enkel, der seinen Großvater zum Sprechen bringt und eine Geschichte erfährt, die seine eigene Jugend plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Jakub Małecki erzählt in den vielen Registern seiner äußerst lebendigen Sprache – anhand einfacher und selbstbewusster Landbewohner – die jüngere Geschichte Polens. Sein reifes, psychologisch fundiertes Verständnis des Menschen, sein humaner Blick und seine Vorstellungskraft machen seine Werke zu einer wichtigen, versöhnenden Stimme der europäischen Gegenwartsliteratur.

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Seitenzahl: 311

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Jakub Małecki

Saturnin

Roman

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

Jakub Małecki

Saturnin

Die Veröffentlichung dieses Buches wurde durch

©Poland Translation Program unterstützt.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom DeutschenÜbersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Saturnin.

© 202? Wydawnictwo SQN, Krakau

Erste Auflage

© 2022 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Renate Schmidgall

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Umschlagentwurf: Eva Mutter, Barcelona

Bild: Omer Salom, Unsplash

Umschlag und Inhalt gesetzt aus Crimson Text und Blaak

Satz: Eva Mutter, Barcelona

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-907336-13-7

eISBN 978-3-907336-14-4

Inhalt

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II

Kapitel 1

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil V

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil VI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil VII

Kapitel 1

Kapitel 2

Nachwort oder »Irgendwas stimmt hier nicht«

Ich weiß nicht viel – nur dass mein Bruder eine Schlange ist, dass ich selbst nicht mehr lebe und ein paar andere Dinge. Alles vermischt sich, vielleicht muss das so sein.

Mein Name war Irka, den Nachnamen erinnere ich nicht, ich glaube, er fing mit »M« an. Und ich war wohl ganz hübsch. Manchmal trug ich einen Zopf, ich lachte gern, und eine Frau, die lacht, kann sogar mittelmäßig aussehen und ist trotzdem hübsch.

Ich nahm im Leben kaum etwas ernst, es erschien mir nicht notwendig. Natürlich hätte ich einiges ernst nehmen sollen – das sollte jeder. Ich hatte dazu bisweilen mehr Gründe als andere, scheint mir.

Ich bin wie ein falsch eingestelltes Radio, das Signale von verschiedenen Stationen empfängt. Da ist ein braungebrannter Junge, der um eine Frau mit blau-weißer Tasche herumtanzt. Ein korpulenter alter Mann mit einer großen Karte auf dem Schoß. Eine verstrubbelte brünette Frau, die kniend an einem Briefkasten zerrt. Ein verschwitzter Soldat, der durchs Fenster in ein Auto kriecht. So könnte ich weiter aufzählen. Die Bilder sickern hierher durch, ich betrachte sie, was soll ich sonst tun.

Es gibt auch Momente, in denen ich mich an viele meiner Leben erinnere, nur kann ich nicht sagen, welches das wirkliche war. Ich weiß nicht viel. Nur, dass ich Irka heiße. Und dass dies eine Erzählung über mich ist.

Kapitel 1

Mama trägt anderthalb Kilo Sonne in der großen blauen Stofftasche mit den weißen Streifen, und ich tripple nebenher, ungeduldig, mit schmerzendem Kiefer. Meine Haut ist gebräunt – wie Milchkaffee, sagt Großvater manchmal. Es ist der glücklichste Tag meines Lebens.

Mama hat gesagt, wenn ich es tapfer ertrage, dass mir zwei Zähne gezogen werden, wird sie mir kaufen, was immer ich will. Ich verstehe durchaus, dass die Formulierung »was immer du willst« in Wirklichkeit eine Verkürzung des Satzes »was immer du willst, sagen wir, bis zu fünfzehn Zloty« ist, doch das ändert nichts, denn ich kann mir nicht vorstellen, was man für mehr als fünfzehn Zloty wollen könnte.

Natürlich wollte ich anderthalb Kilo Sonne. Ich wäre zwar nicht imstande gewesen, mehr als eine Packung auf einmal zu essen, doch da ich spürte, dass sich mit Mamas Erklärung die Möglichkeit ergab, Vorräte anzulegen, wollte ich die Chance nutzen. Also kauften wir Vanille, Schokolade und Toffee. Ich trippelte neben Mama her, legte hin und wieder einen Hüpfer ein und erörterte die Frage, welche Geschmacksrichtung ich nach der Heimkehr zuerst essen würde. Ich weiß nicht mehr, wie das Eis damals hieß, ich erinnere mich nur, dass die Becher aus hartem Plastik waren und auf dem Etikett eine lächelnde Sonne prangte.

Auf der Kurve meines Lebens würden sie, die Verpackungen von Eis und anderen Süßigkeiten, alle wichtigen Momente anzeigen. Leistungen, Erfolge, Niederlagen und Schwierigkeiten. Herausforderungen, Wettkämpfe, Krankheiten und Überraschungen. Manchmal denke ich, ich hinterlasse nur diese belanglose, unsichtbare Spur: Verpackungen von Produkten mit hohem Zuckergehalt.

Ich bin jetzt dreißig, und von dem Jungen, der auf der Straße um Mama herumhüpfte, ist wohl nichts mehr übriggeblieben. Wir schreiben das Jahr 2014, ich arbeite als Vertreter und wohne in Warschau. Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.

Heute ist Dienstag, am Abend werde ich mir ein Fußballspiel ansehen, und bevor ich schlafen gehe, werde ich wie immer ein bisschen Zeit im Internet verbringen. Jetzt stehe ich auf dem Balkon und schaue, wie mein Nachbar, Herr Andrzejczak, mit einem Schwamm sein Auto wäscht. Er taucht den Schwamm geduldig in den roten Eimer voller Schaum und hebt ihn dann schnell über die Motorhaube, wobei er offensichtlich fürchtet, einen Tropfen auf den Beton zu verschwenden. Vielleicht ist er der letzte Mensch auf der Welt, der so etwas noch macht – er wäscht sein Auto vor dem Wohnblock.

Ich winke ihm zu über dem Wäscheständer mit den ausgebreiteten Flügeln, von denen einer seit einiger Zeit verbogen ist, damit ich mir endlich einen neuen kaufe, was ich immer noch nicht getan habe; und der Nachbar winkt zurück, aufgerichtet, als befände ich mich nicht auf dem Balkon, sondern in einem Zug, der den Bahnhof verlässt, und da ruft Mutter an.

Ich nehme ab, während ich noch ein T-Shirt glattstreiche und einen Socken richte, der herunterrutschen will, und die Sonne brennt mir auf Nacken und Unterarme. Herr Andrzejczak ist mit der Motorhaube fertig und macht sich, gebückt, an die Tür auf der Fahrerseite.

In diesem Augenblick, nachdem ich die nassen Kleidungsstücke auf den Ständer gehängt habe, erfahre ich, auf dem Balkon mit dem Telefon am Ohr meinen Nachbarn betrachtend, dass mein Großvater verschwunden ist.

* * *

Mutters Ton ist ruhig, als wäre dieses Verschwinden etwas ganz Normales, das hin und wieder einfach passiert.

»Morgens, das heißt, in der Nacht, verstehst du, weil morgens war er schon nicht mehr da, Satek, ich ruf nur an, damit du’s weißt, ich dachte mir, verstehst du, er ist vielleicht auf dem Feld oder am Teich, du weißt ja, dass er da gern hingeht, aber zum Mittagessen war er auch noch nicht da, da hab ich mir langsam Sorgen gemacht, verstehst du, aber ich sage mir immer wieder, vielleicht ist er ja bei einem der Nachbarn.«

Sie leidet an Satzlosigkeit, das war immer so, sie leidet an fehlenden Punkten und anderen Satzzeichen, die es erlauben würden, in ihren Aussagen einzelne Teile zu unterscheiden, daher fällt die Last, diesen Wortschwall zu bremsen, in der Regel auf den Gesprächspartner, das heißt, auf mich.

»Mama, hast du die Pieczabas angerufen?«

Das hatte sie.

»Die Karmowskis?«

Auch die.

»Papa?«

Den auch.

»Ich hab überall angerufen, na ja, warten wir noch ein bisschen, weißt du, und dann muss man wohl zur Polizei, er ist ja noch nie einfach so verschwunden, ohne alles, kein Wort, verstehst du, und morgens hätte er …« Und so weiter, ohne Ende.

* * *

Ich heiße Saturnin Markiewicz, wiege hundertachtzehn Kilo, habe leichte Geheimratsecken, benutze die Wörter »grauenvoll«, »immer« und »Freund« nicht übermäßig, würde gern weniger Süßigkeiten essen und habe eine Einzimmerwohnung in der Karmelicka-Straße in Warschau gemietet; im Dezember wurde ich am Knie operiert, manchmal nervt mich der kleine, zottelige Hund des Nachbarn aus der Nummer drei, ich mag gern Abenteuerromane, kaufe bei Carrefour in der Anielewicz-Straße ein, spiele Football Manager und bin in die Pharmazeutin der nahegelegenen Apotheke verliebt.

Ich weiß wirklich nicht, woher ich diesen idiotischen Vornamen habe.

Natürlich habe ich oft schon gefragt, Mama, Mama, warum haben alle ganz normale Namen wie Wojtek, Radek, Przemek oder Karol, und ich muss Saturnin heißen?

»Saturnin ist ein schöner Name! Gefällt er dir nicht?«

Was hätte ich darauf erwidern sollen?

* * *

Mit dem Geruch der Wäsche in der Nase, das Telefon zwischen Schulter und Kopf geklemmt, von der Sonne geblendet und hungrig wie immer, gehe ich vom Balkon in die Wohnung, der Geruch verschwindet, ich nehme den Apparat in die Hand, setze mich endlich hin, höre zu.

Ich frage, wohin Großvater gegangen sein könnte. Mutter sagt eine Weile nichts, als müsste sie die Feder aufziehen, die die nächste Wortserie in Gang bringt.

»Gegangen, weißt du, genau, eben, Satek, weißt du, er ist eben nicht zu Fuß gegangen, er hat mein Auto genommen, genau.«

Ich stehe auf.

»Wie bitte? Opa?«

* * *

Er hat mich selten wahrgenommen, aber manchmal kam es vor.

Damals wohnte ich noch in Kwilno und ging in die siebte Klasse. Ein Samstagnachmittag, mitten im Sommer. Mutter beim Einkaufen in der Stadt, Großvater mit irgendwas beschäftigt, wie immer. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich irgendwann eine Pause gegönnt hätte, ein passives Dahingleiten zwischen zwei Arbeiten oder auch nur eine Tätigkeit, die kein bestimmtes Ziel gehabt, keinen konkreten Zweck erfüllt hätte. Selbst wenn er abends mit uns die Nachrichten schaute, stopfte er in dieser Zeit Socken, säuberte das Messerchen für die Pilze oder inspizierte zumindest den Kasten mit den Tabletten auf der Suche nach denen, deren Verfallsdatum abgelaufen war.

An jenem Samstagnachmittag hatte er beschlossen, die Wurzeln in dem Wäldchen wegzumachen, das hinter der Ruine des Schweinestalls wild wucherte. Ein paar der ältesten Bäume hatte er schon vorher gefällt, eigentlich hatte er dort gar nichts verloren, doch anscheinend störten ihn die Wurzeln, irgendwie. Der dicke, verschwitzte Herr Słodkiewicz, der Vater von Bartek, mit dem ich zur Schule ging, sollte ihm dabei helfen.

Ich war gerade damit fertig, mir heimlich die alte Nummer des Playboy mit Frau Kasia Figura anzuschauen, die einen meiner wertvollsten Schätze darstellte, aber da die Gedanken an Frau Kasia mir geradezu physische Schmerzen bereiteten, beschloss ich, mir ein bisschen die Füße zu vertreten, denn ich wusste, dass das in fünfzig Prozent aller Fälle hilft. Ich blieb am Rand des Wäldchens stehen und sah zu, wie Słodkiewicz die Kette an einem Stumpf befestigte, aus dem schon junge grüne Triebe wuchsen, und wie er in den Traktor stieg, um in einer Abgaswolke diesen kümmerlichen Rest von Baum herauszureißen, der sich an die Erde klammerte wie ein Zahn ans Zahnfleisch. Doch einige ungezogene Tentakel blieben an ihrem Platz, und der Stumpf ließ sich nicht weiter herausziehen, weil der Schweinestall im Weg war. Das heißt, die Reste des Schweinestalls.

Also machten sich die beiden, Großvater und Herr Słodkiewicz, der einige Jahrzehnte jünger war, mit den Händen an die Arbeit: Sie zogen an »diesem blöden Scheißding«, zerrten daran herum, verfluchten sich gegenseitig sowie die Wurzel, schließlich richtete Słodkiewicz sich auf, holte Luft und schlug vor:

»Tadek, verdammt, lassen wir das jetzt. Du kannst das ja später mal machen.«

Aus der Erinnerung an die heimlich betrachteten Bilder der Zeitschrift gerissen und andererseits etwas gelangweilt, hungrig nach Eindrücken, denn in Kwilno passierte ja nie etwas, ging ich näher heran.

»Darf ich’s probieren?«

Großvater reagierte auf die für ihn typische Art, das heißt, er sagte nichts, sondern trat zur Seite, als wäre das eine mehr als ausreichende Antwort. Ich ergriff den Stumpf mit beiden Händen – er war kühl, feucht – und riss ihn mit der ersten Bewegung heraus.

* * *

Eine Woche später hatte Großvater in der Scheune einen abgetrennten Platz für mich geschaffen, wo ich Übungen mit Gewichten machen konnte. Es gab eine Kugel mit einem angelöteten Griff, eine zwischen Balken befestigte Stange und eine Hantel, die er aus einem dicken Rohr und zwei Zahnrädern montiert hatte. Ich weiß nicht mehr, was er damals sagte, sicher nicht viel, doch er präsentierte mir das alles auf eine Art und Weise, dass kein Zweifel bestehen konnte: Es sollte ein Geschenk für mich sein.

Mutter nahm ihm das übel und war der Meinung, ich werde mir das Rückgrat brechen oder zumindest den Arm. Alle paar Tage schaute sie in meinen kleinen, dunklen Trainingsraum und gab beim Anblick der provisorischen Hantel einen langgezogenen Seufzer von sich, als hätte sie das Ding nicht vorher schon zwanzigmal gesehen.

* * *

Den Arm brach ich mir nach sechs Monaten Training.

Ich hob die Hantel über den Kopf, wie viele Male zuvor, aber diesmal benutzte ich, statt mit dem Daumen das Rohr zu blockieren, den Affengriff, bei dem alle Finger auf derselben Seite sind. So war es mir einfach manchmal bequemer. Das Gewicht entglitt mir, als ich es umzusetzen versuchte, ich verstauchte den Arm, das Handgelenk knallte gegen die Schulter, und im Ellbogen knirschte es so laut, dass mich das Geräusch mehr erschreckte als der Unfall selbst.

Ich schmierte mich mit einer Salbe ein, die ich in Mutters reichem Arsenal fand, und verbrachte den Rest des Tages damit, mir selbst – mit mehr oder weniger Erfolg, eher mit weniger – einzureden, dass alles in Ordnung sei. In der Nacht hatte der Arm schon die Ausmaße meines Schenkels und die Farbe einer Aubergine angenommen. Beim Notdienst erfuhr ich, es sei »ein ekelhafter Bruch«. Mutter saß im Warteraum und schaute Großvater an, als hätte er sich nachts persönlich in mein Zimmer geschlichen, um mir den Ellbogen zu zermalmen. Großvater sagte nichts, aber offensichtlich war er enttäuscht von mir.

Ich bekam einen Gips um den Arm.

* * *

Ich bin dreißig, weder jung noch alt, eigentlich fände ich es besser, wenn ich schon etwas älter oder meinetwegen auch jünger wäre, um irgendwie konkreter zu sein; doch so bringe ich wie ein Hamster im Laufrad immer weitere einförmige Tage hinter mich, die aus Arbeit, Fahrt zur Arbeit, Rückkehr von der Arbeit, einkaufen, essen, Computer schauen und Abendspaziergang bestehen.

Ich sollte wirklich aufhören, Süßigkeiten zu essen.

Bald werde ich den Zeiger der Waage über die peinliche Marke von hundertzwanzig Kilo treiben, und mir scheint, ich bin genau auf halbem Weg zwischen einem muskulösen und einem dicken Mann, was umso lästiger ist, als ich weder das eine noch das andere je sein wollte. Ich habe einfach Gewichtheben betrieben.

Beim Abnehmen hilft es überhaupt nicht, dass ich mich für so vieles schäme, und sei es für den Einkauf billiger Produkte im Lebensmittelgeschäft. Ich brauche zum Beispiel eine Tomate, alles andere habe ich in ausreichender Menge. Aber hineingehen und eine Tomate kaufen? Das grenzt ja an Belästigung. Ich sehe der Kassiererin in die Augen, und die denkt sich in meinem Kopf: »So ein Rindvieh, jetzt muss ich dem eine Tomate wiegen … Als hätte ich nichts anderes zu tun.«

Und so kaufe ich in der Regel, um meine Anwesenheit im Geschäft zu rechtfertigen, noch etwas Zusätzliches, das ich, so denke ich mir, irgendwann später brauchen kann – zum Beispiel Eis mit Salzkaramell-Geschmack. Oder Toffee-Kekse. Oder Milchschokolade mit Trockenfrüchten und Nüssen. Oder Rosinen im Schokoladenmantel. Oder Ptasie Mleczko, Dominosteine mit Vanille-Geschmack. Oder Milchreis. Oder ein paar Riegel. Cookies, Waffeln, Delicje-Kekse, Joghurt, Karamellbonbons, Erdnusspralinen. Und so weiter.

* * *

Eine Zeitlang dachte ich, alle Großväter seien so. Schweigsam. Sehnig. Wenn sie sich in der Sonne halbnackt über die bestellte Erde beugen, sehen sie aus wie ein Knoten. Sie stehen um vier auf, trinken in der dunklen Küche einen Kaffee und arbeiten dann den ganzen Tag. Am Abend gehen sie an einen mit Unkraut überwucherten Ort, wo früher angeblich ein Teich war, stehen dort wie angewurzelt herum und starren vor sich hin.

Großvaters Körper ist nicht imstande, Annehmlichkeiten zu empfinden, das einzige, was er kann, ist arbeiten, er muss permanent in Bewegung sein, als fürchtete er, was geschehen könnte, wenn er für einen Moment langsamer würde oder innehielte.

Nur einmal kam ihm sein Tempo abhanden. Ich erinnere mich, wie er in der Küche am Fenster saß, in der Hand eine nicht angezündete Zigarette. Das war nach Großmutters Tod, er war gerade vom Bestattungsunternehmen in Radziejów zurückgekommen, wohin er unbedingt allein hatte fahren wollen.

Er saß einfach da.

»Soll ich vielleicht einen Tee machen?«, fragte ich.

Jäh drehte er sich um, als hätte er gedacht, das ganze Haus sei leer. Er sah mich kurz an und richtete dann den Blick wieder aufs Fenster.

»Was mach ich bloß, Bub, wenn mich auch das Alter nicht umbringt?«

* * *

Ich war wirklich stark. Nach diesem Unfall in der Scheune dachte Mutter, sie könne jetzt beruhigt sein, denn sicherlich sei mir der Spaß vergangen; doch als ich sah, wie gefährlich das Gewichtheben sein konnte, bekam ich nur noch mehr Lust zu üben.

Sie gipsten mir den Arm ein – bis zur Hochzeit ist es wieder gut, so der Spruch. Wie viele Male der mich behandelnde Arzt das wohl schon gesagt hatte? Er klopfte mir auf die Schulter und schickte mich heim.

Kurz nachdem ich wieder gesund geworden war, trieb Großvater irgendwo Geld auf und kaufte mir eine Trainingsbank, eine richtige, glänzende Stange und Hantelscheiben. Ich kann mich nicht erinnern, mich je so gefreut zu haben wie damals. Ich trainierte zwei- bis dreimal täglich. Wenn ich morgens aufstand, tat mir alles weh, und ich aß wie ein Scheunendrescher. Im Alter von sechzehn Jahren konnte ich auf der Bank hundertsechzig Kilo stemmen.

* * *

Ich weiß gar nicht, warum das Mädchen aus der Apotheke mir so gefällt. Sie hat eigentlich ein Durchschnittsgesicht, ihre Figur ist ständig unter der Schürze verborgen, ihr Haar enganliegend, zum Pferdeschwanz gebunden, und manchmal sieht sie aus, als hätte sie im Gesicht unter der Haut überhaupt keine Muskeln.

Der Zeitplan meiner Apothekengänge ist ausgefeilt, damit die Besuche – trotz ihrer hohen Frequenz – eher zufällig erscheinen. Ich weiß schon lange nicht mehr, was ich noch kaufen soll, zumal die meisten der dort angebotenen Produkte meine Position in den Augen des Mädchens erheblich schwächen könnten; ich werde mir ja keine Tabletten gegen Mundgeruch und keine Salbe gegen Hämorrhoiden kaufen. Vitamine, Ohrstöpsel, Elektrolyte in Pulverform oder Schmerzmittel dagegen sind gute Lösungen.

In meiner Schublade habe ich etwa hundertfünfzig winzige Plastikpackungen mit Ohrstöpseln.

* * *

Die ersten – mindestens ein Dutzend – Wettkämpfe im Kraftdreikampf gewann ich, ohne auch nur in die Nähe meiner privaten Leistungen in der Scheune zu kommen. Doch dann knickte mein Ellbogen beim Bankdrücken in die falsche Richtung. In meinem Kopf explodierte etwas, ich wurde ohnmächtig.

Die drei mich absichernden Männer konnten gerade noch rechtzeitig reagieren – die Stange hätte mir angeblich fast den Kehlkopf zerquetscht. Sie sagten später, es habe wirklich dramatisch ausgesehen. Hätte es damals schon YouTube gegeben, wäre ich sicher für einen Moment der König des polnischen Internets geworden.

Im Krankenhaus zeigte sich, dass nach dem ersten Bruch, damals vor Jahren, der Arm nicht richtig wiederhergestellt worden war, was zu einer ernsthaften Degeneration des Gelenks geführt hatte. Ich brachte zwei lange Operationen hinter mich, und wieder bekam ich einen Gips.

Der Arzt hatte einen Vogelnamen – Drossel, Schwalb, ich weiß nicht mehr – und einen komischen Dreitagebart, der aussah wie ein Knäuel Staubflocken. Auf die Frage, wann ich wieder mit dem Training beginnen könne, erwiderte er: nie.

* * *

Eigentlich geht es wohl um das Lächeln.

Ich erinnere mich, ich kaufte damals etwas gegen Husten, und als ich ihr die Karte reichte, lächelte sie auf eine Art und Weise, als wollte sie das gar nicht, als hätte sie gegen dieses Lächeln angekämpft und schließlich verloren. Ein paar Tage später träumte ich von ihr in einem ganz und gar nicht apothekenhaften Kontext, und dann kam die Phase der Vitamine, Elektrolyte und Ohrstöpsel.

Irgendwann stellte ich mir eine Armee vor, die aus Menschen wie mir bestünde. Man könnte sie mit einem einzigen Lächeln entwaffnen und dann blitzschnell abschlachten.

* * *

Hätte an jenem Samstagnachmittag Großvater nicht beschlossen, die Wurzeln loszuwerden, wäre ich wohl nie zu irgendeinem Dreikampf angetreten, hätte nie die Hoffnung auf eine große Sportkarriere gehegt und hätte mich nicht hassen müssen, als sich herausstellte, dass von einer Karriere keine Rede sein konnte. Ich hatte etwas bekommen, das sofort wieder zerstört worden war. Doch all die Träume, die in meinem Kopf gekeimt hatten, verschwanden nicht in dem Moment, als der Drucker im Krankenhaus den Ausdruck ausgespuckt hatte, auf dem mein lebenslängliches Urteil stand. Nachts ging ich nach wie vor zu den Gewichten, setzte mich hin, riss sie hoch, stieß sie nach oben, und dann stand ich auf dem Podium und hob den Pokal in die Höhe, mit schmerzenden Gelenken, die davon zeugten, wie schwierig es war.

Ich habe nie jemand anderem als mir die Schuld gegeben. Ich war es, der damals die Hantel über den Kopf hob, ich war es, der den Affengriff statt des richtigen benutzte, und schließlich war ich es, der den zunehmenden Schmerz ignorierte, der mich begleitete, wenn ich meine Rekorde beim Bankdrücken aufstellte. Mit jedem weiteren Heben der Hantel habe ich die Chance, irgendwann im Leben etwas zu erreichen, immer weiter von mir weggestoßen.

* * *

Ich spreche noch ein paar Minuten mit Mutter, stelle verschiedene Fragen, doch sie weiß auf keine eine Antwort. Großvater war immer schon seltsam, mit der Zeit ist sein Leben zu dem einer gut programmierten Arbeitsmaschine geworden. Keinerlei Spontaneität, keinerlei Abweichung vom Zeitplan des Tages, der Woche, des Jahres.

Mein Ohr ist schon ganz heiß vom erwärmten Telefon, Mutter, fortgerissen vom eigenen Wortschwall, bremst endlich, und ich frage, ob ich irgendwie helfen kann.

»Nein, Satek, ich wollte dir nur, weißt du, ich wollte dir das nur sagen, ich melde mich, wenn er wieder auftaucht.«

Später sitze ich da, drehe das Telefon in der Hand und starre auf den abgeschalteten Fernseher. Mein Großvater ist sechsundneunzig.

Kapitel 2

Ich habe eigentlich nie viel über Großvater nachgedacht. Auch nicht über die Ruinen des Schweinestalls auf der anderen Seite unseres Hofs in Kwilno. Sie waren schon immer da und nichts deutete darauf hin, dass sich das ändern sollte.

Und Großvater? Er ist sechsundneunzig, groß und hager, legt keinen Wert auf seine Kleidung, mag Zigaretten, schwarzen Kaffee und seinen alten Hund Bezo, er ruht nicht gern aus, schläft nicht gern, hasst Musik. Das war’s auch schon.

* * *

Ja, angeblich konnte er früher einmal Trompete spielen, was ich allerdings nicht glaube. Der Ausdruck »Trompete spielen« und der Name »Tadeusz Markiewicz« im selben Satz ergeben einen Missklang. Ich habe es laut ausprobiert.

Mutter hat in einem Album irgendwann ein Schwarzweißfoto entdeckt, eines mit gezackten Rändern, die sich gut anfühlen, wenn man mit der Fingerspitze darüberstreicht. Unser Haus, noch vor dem Umbau. Eine dunkle Stube, die als Küche diente, und ein paar Leute um einen massiven Tisch herum. Großvater, der noch kein Großvater ist, steht an die Wand gelehnt und bläst in die Trompete, wobei er sich leicht nach vorne beugt. Herr Pieczaba, an den ich mich nur sehr vage erinnere, sitzt mit dem Rücken zum Tisch, die Beine gespreizt, mit einem großen Akkordeon unter dem Kinn. Er lacht und schaut seinen Kumpel auf eine Art und Weise an, wie die Leute in der Regel schauen, wenn es niemand sieht.

Als ich das Foto betrachtete, konnte ich kaum glauben, dass der fröhliche Mann mit dem Akkordeon und der dicke Pieczaba mit den Zahnlücken, der immer vor der Tankstelle in Skibin saß, irgendetwas miteinander zu tun haben könnten. Der dicke Pieczaba macht seit zehn, vielleicht fünfzehn Jahren an der Tankstelle keine Nachbarn mehr an, um ein bisschen zu quatschen, weil er seit zehn, fünfzehn Jahren tot ist, doch der fröhliche junge Typ im Album in einer der Schubladen des großen Schranks in unserem alten Haus spielt weiterhin Akkordeon.

Großvater kneift auf dem Foto die Augen zusammen, und unter der offenen Jacke sieht man die hellen Streifen eines Stoffs, mit dem man ihm den Bauch verbunden hat. Angeblich war er damals für ein paar Tage aus dem Krieg nach Hause gekommen, verwundet und abgemagert, und ging dann wieder zurück, obwohl ihn die Eltern, die Schwestern und Brüder davon abhalten wollten. Ja, das verstehe ich: Krieg und Schwarzweißfotos passen zu Großvater wie angegossen.

Aber die Trompete? Die Musik? Der freudige Blick des jungen Pieczaba?

* * *

Als ich aufs Lyzeum ging, fuhr ich mit dem Bus nach Radziejów. Der Bus war eine echte Schrottkiste, die bei jeder Unebenheit rasselte wie ein riesiger Geldbeutel voller Münzen, und die Fahrt selbst barg ein eigentümliches Geheimnis. Und zwar betrug die Strecke zwischen Kwilno und Radziejów laut der Angabe, die auf das längliche Ticket gedruckt war, sieben Kilometer, die gleiche Strecke von Radziejów nach Kwilno dagegen neun Kilometer. Diese Tatsache war Gegenstand zahlreicher Scherze unter meinen Freunden, und Mutter sagte einmal mit trauriger Stimme, dieser Unterschied sei ein unbestreitbarer Beweis für den Alkoholmissbrauch der Polen bei der Arbeit. Doch ich wusste, dass es hier um etwas anderes ging. Ich vermutete, dass unser Bus auf dem Rückweg von Radziejów eine andere Welt berührte und dort, in diesem magischen Reich, die zusätzliche Distanz von zwei Kilometern zurücklegte.

Diese Frage beschäftigte mich eigentlich die ganze Zeit, als ich aufs Lyzeum ging. Während eines meiner Besuche bei Vater zeigte ich ihm die zwei Tickets, weil ich dachte, das werde ihn vielleicht erheitern, aber er verstand überhaupt nicht, was ich von ihm wollte. Ich grinste und sagte, kein Thema, nicht so wichtig.

Auf dem Rückweg versuchte ich immer, einen Fensterplatz zu bekommen, doch selbst wenn es nicht klappte, beobachtete ich aufmerksam alle Einzelheiten der Landschaft draußen und hielt Ausschau nach der Stelle, an der die beiden Welten – unsere und die fremde – fließend ineinander übergingen, ohne dass einer der Fahrgäste es bemerken würde. Bisweilen hatte ich den Eindruck, es jetzt zu wissen: Es musste beim Bildstock gegenüber dem Feldweg sein. Oder nein. Eher an der Tankstelle, wo wir immer tankten. Nein. Es war bestimmt in der Nähe des Schildes, das die Abfahrt zur Stadt anzeigte. In der Regel erwiesen sich meine Entdeckungen schon am nächsten Tag als voreilig und falsch, und ich musste mich mit dem Gedanken abfinden, dass der zwei Kilometer lange Abschnitt der Strecke für mich weiterhin ungreifbar blieb.

Ich weiß nicht warum, doch es erschien mir offensichtlich, dass zu der geheimnisvollen Wirklichkeit, mit der ich auf der Strecke Radziejów – Kwilno jeden Tag in Berührung kam, auch mein Großvater gehörte. Und wenn ich im richtigen Moment aus dem fahrenden Bus springen und es schaffen würde, dorthin zu gelangen, würde ich auf einen ganz anderen Großvater treffen als zu Hause – er wäre fröhlich und gesprächig wie andere Großväter.

Einige wenige Situationen, in denen Großvater sich verhielt, als wäre er aus einer anderen Welt, schienen meine Theorie zu bestätigen. Am besten erinnere ich mich an den Tag, als Mama mir zum ersten Mal Frühstücksflocken mit Schokoladengeschmack gekauft hatte. Ich saugte sie eher auf, als dass ich sie aß, und war mir sicher, das Erwachsenenleben würde wunderbar, ganz toll werden, wenn es solche Dinge gab. Dabei überlegte ich, wie oft Mama mir die Flocken wohl kaufen werde und ob es Leute gebe, die sie jeden Tag essen konnten. Da drehte Großvater sich jäh zu Mama um, die am Kühlschrank stand, und sagte:

»Guck mal, Hania! Guck, wie schön er die Deutschen frisst! Hab ich’s nicht gesagt? Hab ich nicht gesagt, das ist ein guter Name?«

Ich schaute auf.

»Was?«

Großvater lächelte und drohte mir mit dem Finger.

»Wie oft hab ich in den Baumkronen nach dir Ausschau gehalten! Dabei bist du hier.«

Ich guckte zu Mama, Mama guckte zu ihm, dann zu mir und wieder zu ihm.

»Vater?«

Doch er war schon ganz woanders, weit weg, er sah und hörte nichts, auf dem Stuhl in der Küche saß nur sein braungebrannter, ausgemergelter Körper, der vor sich hin brummte, wie es manchmal seine Art war:

»Hm, hm.«

Ich wandte mich wieder meinen Schokoflocken zu, doch mit der Zeit kam ich zu der Überzeugung, dass Großvater, wenn er gedankenverloren dasaß und brummte, eben in jener anderen Welt unterwegs war, von der ich nur wusste, dass dort jeden Tag unser Bus durchfuhr.

* * *

Ich versuche Mutter klarzumachen, sie müsse zur Polizei gehen. Großvater hat das Auto genommen und ist verschwunden, er ist sechsundneunzig, er stellt eine Gefahr für sich und andere dar, Mama, stell dir vor, er fährt ein Kind auf dem Zebrastreifen an, erkläre ich, und sie verfällt in eine Taktik, die ich einerseits nicht ausstehen kann und andererseits bewundere, das heißt, sie stimmt mir absolut zu, unternimmt aber nichts.

Sie überschüttet mich mit Wörtern, und es ist unmöglich, diejenigen herauszufischen, die sie wirklich sagen will, denn sie sind mit dem ganzen Rest vermischt, mit all den Ausstopfwörtern, die ihr, seit ich denken kann, dazu dienen, sämtliche Ritzen und Risse zu schließen, all das, was sie nicht sehen will. Sie hat den jungen Karmowski gebeten, ihr zwanzig Aushänge mit einem Foto von Großvater auszudrucken, und diese an Laternenpfählen auf der Straße angebracht, mehr habe ich nicht verstanden.

»Mama.«

Sie verspricht, anzurufen, falls Großvater am Tag darauf noch nicht da sein sollte. Weißt du, Satek, vielleicht werde ich einfach noch mal, weißt du, irgendwo nachfragen, oder jemand ruft an, und wenn was sein sollte, auf jeden Fall melde ich mich morgen, weißt du, ich hab richtig Angst.

»Mama, morgen kann Opa schon …«

Doch sie weiß es besser.

* * *

Mein größter Traum ist – war – es, beim Dreikampf tausend Kilo zu schaffen. Das ist nicht ganz unmöglich. Ich müsste beim Kreuzheben vierhundert stemmen, beim Kniebeugen dreihundertfünfzig und beim Bankdrücken zweihundertfünfzig. Ein unmenschliches Gewicht – aber zu machen.

Beim Training hob ich mehrmals vierhundertfünfzehn vom Boden. Auf der Bank schaffte ich zweihundertzwanzig bis zweihundertdreißig. Am schlechtesten war ich beim Kniebeugen: Es gelang mir kein einziges Mal, dreihundert Kilo zu stemmen, ganz zu schweigen von dreihundertfünfzig. Doch träumen darf man schließlich, ich war jung, das ganze Leben lag vor mir. Konsequenz ist das Wichtigste, ein Ziel zu haben ist schon der halbe Erfolg, du wirst dich entwickeln, man darf nicht aufgeben und so weiter. Unter der Haut kicherte heimlich mein verletzter Ellbogen, wenn er die ganzen Beteuerungen und Floskeln hörte.

* * *

Einmal, kann ich mich erinnern, hatte ich vor Großvater Angst.

Ich saß auf einem Baum und kämpfte den ewigen Kampf gegen die Langeweile – der konnte verschiedene Formen annehmen, meist bestand er im scharfen Ausschauhalten nach einem großen Abenteuer –, da hörte ich ein Rascheln direkt unter mir. Großvater war in das Wäldchen gekommen, lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und steckte sich eine Zigarette an. Ich hörte ein tiefes, lautes Stöhnen, als bereitete er sich auf eine Ansprache vor.

Mir war klar, dass ich nicht hier sein sollte, aber es war zu spät – ich konnte nicht hinunterklettern, ohne dass er mich bemerkte.

Er schien anders zu rauchen als sonst, seine Bewegungen erschienen weniger steif. Langsam zog er an der Zigarette, zweimal spuckte er einen Krümel Tabak aus und gab dabei einen leisen Laut von sich. Ich presste die Finger der rechten Hand so fest um den Ast, dass sie allmählich taub wurden. Als er zu Ende geraucht hatte, steckte er die Hände in die tiefen Taschen der sackartigen beigen Hose und blieb weiter so stehen, durch die Blätter hindurch konnte ich ihn von oben sehen. Ich wartete und wartete. Mein ganzer Körper wurde steif. Momentweise hatte ich den Eindruck, dass ich meine Beine nicht mehr spürte, als hätte man ihnen soeben eine Betäubung verpasst. Wenn er doch bloß gehen würde, flehte ich in Gedanken, in dem Gefühl, dass ich gleich etwas Schlimmes erfahren würde. Dass ich gleich sehen würde, wer Großvater wirklich war. Und er wäre keineswegs der schweigsame, braungebrannte Mann, den ich jeden Tag zu Gesicht bekam.

Ruhig stand er da und schaute in Richtung unseres Hauses, das durch die wenige Tage zuvor weiß erblühten Fliederbüsche undeutlich zu sehen war. Ich versuchte mir vorzustellen, worüber Großvater nachdachte – bisher war ich überzeugt gewesen, dass er nie über etwas nachdachte. Schließlich löste er sich mit einer jähen Bewegung vom Baumstamm und ging zurück. Ich saß noch lange auf dem Baum, bevor ich mich traute, hinunterzuklettern.

* * *

Mein Name ist Saturnin Markiewicz, und ich werde mir nie meinen einzigen Traum erfüllen können, werde nie Profisportler werden. Ich bin Handelsvertreter, wie der Rest der Welt. Ich sitze im Auto und nehme Telefongespräche entgegen. Ich denke mir witzige Sprüche aus, die nicht witzig sind. Zusammen mit einer Schar ähnlicher Menschen sorge ich dafür, dass so viele Kunden wie möglich eine bestimmte Art Kokoswasser kaufen. Eine konkrete Marke Wiener Würstchen. Einen ganz bestimmten Frühstücksquark. Makrelenpaste. Lutscher.

Ich bin dreißig, lebe allein und warte ständig auf etwas, das nicht passiert.

Ich bin ein ärgerlicher kleiner Junge, dem jemand befohlen hat, hundert Mal an die Tafel zu schreiben: »Es gibt eine Welt ohne Gewichtheben.«

Kapitel 3

Die Einzimmerwohnung, die ich gemietet habe, trennen zweihundertsieben Kilometer von dem Haus in Kwilno, wenn ich die weniger frequentierte Landesstraße Nummer 62 nehme, oder zweihundertfünfunddreißig Kilometer, wenn ich mich für die Autobahn entscheide, was in der Regel der Fall ist – so auch heute.

»Warte, Mama.«

Sie rief um fünf Uhr morgens an, ich nahm noch halb im Schlaf ab, überzeugt, es werde eine der beiden Informationen sein: Großvater ist tot, oder Großvater ist zurück. Zu hören bekam ich:

»Hör zu, Satek, ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber weißt du, weil ich nicht schlafen konnte, bin ich ums Haus herumgegangen, und in dem Wäldchen, du weißt, da wo du immer gerne gespielt hast, da ist jetzt ein Loch ausgegraben, nicht besonders tief, und daneben liegt Großvaters alte Trompete, verstehst du, ich hab sie gerade hier vor mir, auf dem Tisch, Ehrenwort, ich dachte, die sei im Krieg gestohlen worden, tja, und jetzt weiß ich nicht, was das zu bedeuten hat.«

Ein paar Minuten lang versuchte ich sie zu beruhigen, und dann sagte ich, was ich schon am Tag zuvor hätte sagen sollen:

»Ich bin in drei Stunden bei dir.«

»Wirklich?«

Ich atmete aus und sah auf die Uhr.

»Wirklich.«

Dusche, die Tasche über die Schulter, Frühstück auf der Treppe. Über Warschau ein verfilzter grauer Zottelkopf statt eines Himmels.

Das Verlassen meines mit immer größeren Schwierigkeiten errungenen Parkplatzes fügt mir in letzter Zeit echtes existentielles Leid zu. Ich fühle mich, als hätte ich wirklich etwas verloren. Das Parken in meiner Gegend ist eine mühsame Jagd: Ich fahre endlos durch immer dieselben kleinen Einbahnstraßen, halte nach Lücken zwischen den Autos Ausschau und zweifle daran, je eine zu finden, und wenn es dann doch geschieht und ich einen wundersam freien Platz sehe, hat ihn in der Regel auch jemand anders gesehen, der zwei Meter näher dran ist. Ich schlucke die schmerzliche Niederlage und drossle zugleich das Tempo, um dem anderen einen traurig-verächtlichen Blick zuzuwerfen und ihm so zu verstehen zu geben, das sei eine Schweinerei.

Wenn ich unseren Nachbarn in Kwilno sagen würde, dass ich manchmal mehr als eine Stunde nach einem Parkplatz suche, würden sie das wahrscheinlich gar nicht verstehen.

* * *

Die Stadtlandschaft hinter der Fensterscheibe dünnt schnell aus und flacht schließlich fast vollkommen ab. Ich mochte es immer gern, große leere Felder anzuschauen. Unter den Rädern verschwindet der glatte Asphalt im Tempo von hundertvierzig Stundenkilometern, und meine sechzigjährige Mutter sitzt irgendwo weit da vorne, in unserem Haus in Kwilno, und betrachtet die vor ihr liegende Trompete, die sie gefunden hat – ausgegraben und hingeworfen. Wenn man Mutter glaubt, lag diese Trompete fünfundsiebzig Jahre lang an einem Ort, über den ich Hunderte, Tausende Male gegangen bin, den ich immer wieder festgetreten habe während meines ewigen Kampfes gegen die Langeweile.

Wie viele Male hätte ich auf die Trompete stoßen können. Zum Beispiel damals, als ich beschloss, nach Kohle zu suchen. Es waren Ferien, und ich dachte mir, wenn ich mich um Brennmaterial für den Winter kümmere, würden Mutter und Großvater mich für ein nützliches, geschicktes, vielleicht sogar erwachsenes Familienmitglied halten. Ich war mir sicher, die größte Wahrscheinlichkeit, Kohle zu finden, wäre in dem kleinen Wäldchen. Zwei bis drei Minuten, nachdem die Idee, uns einen sicheren Winter zu gewährleisten, in meinem Kopf aufgetaucht war, machte ich mich ans Werk.

Der erste Tag meiner Ausgrabungsarbeiten verlief unter größeren und kleineren Enttäuschungen, doch am zweiten Tag fand ich drei Stück Kohle, drei echte Brocken Kohle, mit denen ich ins Haus einschlug wie eine Kanonenkugel, schreiend und die Beute hochhaltend. Auf Großvater machte das kaum Eindruck, und auch Mama – o Wunder – war nicht besonders begeistert von meiner Entdeckung. Sie lächelte freundlich und gratulierte mir mit einer abgegriffenen Floskel im Stil von: »Sehr schön, Satek!« oder »Super, bravo, mein Sohn!« Erst als ich wieder auf den Hof hinausging, wobei ich kaum wusste, wohin mit den Emotionen, bemerkte ich, dass die Brocken erstaunliche Ähnlichkeit mit denjenigen hatten, die in einem riesigen Haufen bei uns in der Scheune lagen. Mama hatte sie wohl dort hingelegt.

Der Blinker misst die Sekunden, während ich – hinter einem Lastwagen gefangen – mit dem Blick den aggressiven Motorhauben folge, die im linken Spiegel näherkommen und wieder verschwinden. Wenn ich damals das Loch ein paar Meter weiter gegraben hätte, in die eine oder andere Richtung, hätte ich Großvaters Trompete finden können. Den unmöglichen Beweis dafür, dass Großvater früher ein anderer war.

* * *

Als mich die nächsten Lärmschutzwände immer mehr von den Wäldern und Feldern abschneiden und die durchbrochenen weißen Linien zwischen den Fahrspuren mich allmählich hypnotisieren, kehrt das Gefühl zurück, das mich während der ganzen Studienzeit begleitete.

Jedes Mal, wenn ich nach einem in Kwilno verbrachten Wochenende wieder nach Warschau abfuhr, fühlte ich mich wie in einem Jetlag. Es kam meist unerwartet, in der Regel im Bus, wenn ich meinen Platz eingenommen hatte, der Fahrer aber noch stand: In mir brach der heftige Wunsch aus, hinauszuspringen, zurückzulaufen und mich zu Hause zu verbarrikadieren. Genauso fühlte ich mich, wenn ich in die andere Richtung, von Warschau nach Kwilno fuhr: Die beiden Welten waren einfach zu unterschiedlich, als dass dieselbe Person sie bewohnen könnte.