Satzfragmente - Karin Heuser - E-Book

Satzfragmente E-Book

Karin Heuser

4,3

Beschreibung

Nach ihrem gefährlichen Undercover-Einsatz im Drogenmilieu Hamburgs ist Kriminalhauptkommissarin Carlotta Voß gezwungen, aus Sicherheitsgründen ihre Dienststelle zu wechseln und kommt nach Bochum. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag bei der Kripo Harpen wird sie mit dem Mord an dem ehemaligen Bankdirektor, Andreas Niedermann, konfrontiert. Hans-Dieter Bauermann, ihr neuer Team-Kollege, ist ihr bei der Suche nach dem Mörder behilflich. Ihre Ermittlungen führen sie in ein Seniorenheim, wo die Bewohner sich zwar eines gesegneten Alters erfreuen, deren Aussagen aber nicht verwertbar sind. Frustriert kehren Carlotta und Hans-Dieter zu ihrer Dienststelle zurück. Dort wartet der Gerichtsmediziner, Dr. Paul Schönefeld, auf sie. Carlotta erstarrt zu Eis, denn es ist ihr Ex aus Hamburg ... Diese spannende und witzige Kriminalgeschichte ist entstanden aus Stichwörtern und Satzfragmenten, die Karin Heuser von den Bewohnern des Wichernhauses, einem Alten- und Pflegeheim in Bochum, gesammelt hat. Eine Herausforderung, die viel Fantasie und ein großes Herz für skurrile Situationen erfordert hat.

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Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Schreiben wir doch einen Krimi...

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Schreiben wir doch einen Krimi...

Stichwörter und Satzfragmente von den Bewohnern sammeln und daraus eine Kriminalgeschichte schreiben! Dies war einer meiner Vorschläge bei einem Treffen des Redaktionskreises für die Zeitung des Wichern-Hauses, einem Alten und Pflegeheim in Bochum. Die Idee war gut, fanden alle, und so begab ich mich mit einem Notizblock und einem Kugelschreiber bewaffnet auf die Suche nach geeigneten Personen, die Lust haben könnten, hierbei mitzumachen. Es waren nicht allzu viele, die mir Stichwörter oder Satzfragmente nannten, aber zum Schluss hatte ich immerhin zwölf Beiträge:

Schönes Wetter heute. Ich hatte Besuch aus Kornharpen. Ich mag Menschen, aber keine Aufdrängler.

Ich bin müde, gehe gleich ins Bett. Husten geht auch nicht so schnell weg.

Was in diesem Zimmer besprochen wird, bleibt hier. Die Wände sind so dünn. Wenn Sie hier einen Furz lassen, hört es der von nebenan.

Nee, nee. Nachher kommt die Polizei noch zu uns. Und ich habe immer noch ein Auge für schöne Frauen.

Kriminaltango. Und Charles Aznavour. Und früher immer - Calabia Kuka.

Ein Trinker/Alkoholiker, der auf der Straße bettelt und groß und dick ist. Er hat ein ungepflegtes Aussehen, und sein Name ist Anton Unbekannt.

Ich wünsche mir, dass sie sich nicht mehr an Kindern vergreifen. Das ist das Schlimmste, was ich mir denken kann. Und der Polizist muss ein hübscher Kerl sein, der Sport macht. Er spielt Handball.

Der Mörder kommt aus dem Kamin, im Schornsteinfegerkostüm. Er hat den Hausbesitzer umgebracht. Außerdem hat er eine Narbe schräg über dem Auge.

Motorsport. Ein Rennfahrer, der einen roten Audi fährt. Er ist groß und schlank und blond. Und er will Weltmeister in der Formel 1 werden.

Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett. Es gibt ein oder zwei Tote. Einen Mord in der Bank oder am Bankautomaten. Polizeiberichte.

Ich kenne nur alte Westernfilme. Garry Cooper, John Wayne, Maureen O’ Hara. Zwölf Uhr mittags. Spiel mir das Lied vom Tod. Lucky Luke ist schneller als sein Schatten. Audy Murphy war ein hochdekorierter Soldat.

Tot ist tot. Der Pfarrer wird im Beichtstuhl ermordet.

Das hatte ich nun davon! Ich hatte noch nie ein Buch geschrieben, und ich fragte mich, ob ich das schaffen würde. Über reale Kriminalfälle wusste ich auch nicht viel. Als eifrige Leserin vieler Kriminalromane (meine Tochter behauptet immer aus Spaß, es müssten bestimmt 99.999 Stück gewesen sein) hatte ich allerdings ein gewisses Grundwissen.

Zu allererst musste ich aber lernen, auf einem Computer zu schreiben. Das konnte ich bis dahin nämlich auch noch nicht. Und dann die Recherche. Ich kann nur sagen, das Internet, mein Freund und Helfer, denn über DNA-Spuren, Erdrosseln oder Erwürgen und Giftspritzen wollte ich mich dann doch lieber noch einmal schlau machen.

Es gab noch einen anderen Grund für mich, dieses Buch zu schreiben. Im August des vergangenen Jahres war während eines Zeitraums von circa 30 Minuten der komplette vorherige Tagesablauf aus meinem Gedächtnis verschwunden. Einfach so! Das bedeutete natürlich Alarmstufe ROT. Stationäre Aufnahme in der sogenannten Stroke Unit, CT, MRT, Röntgenaufnahmen und neurologische Untersuchungen folgten. Es war kein Schlaganfall, Gott sei dank! Transiente, globale Amnesie nannten sie das. Der Gedanke an eine beginnende Demenz war in den darauffolgenden Monaten immer präsent, aber die Nachuntersuchungen ergaben, dass immer noch alles in Ordnung war mit meinem Gehirn.

Das Schreiben über meine Protagonistin Carlotta war nicht nur Gehirn-Jogging pur, sondern ein großes Vergnügen für mich. Ein besonderes Hochgefühl hatte ich immer, wenn ich mal wieder eines der Stichwörter und Satzfragmente pointiert untergebracht hatte.

Und was ist am Ende dabei herausgekommen? Ich habe eine Kriminalgeschichte mit über 40.000 Wörtern geschrieben, die für die vierteljährlich erscheinende Wichern-Haus-Zeitung viel zu lang geraten ist. Dafür habe ich aber nun ein kleines, richtiges Buch!

Nicht schlecht für eine Anfängerin, die demnächst 72 Jahre alt wird! Oder?

KAPITEL 1

Kommissar Hans-Dieter Bauermann arbeitete seit 35 Jahren bei der Kripo. Für sein Alter sah er immer noch ganz gut aus, wenn auch seine Haare langsam grau wurden. Früher hatte er Kampfsport betrieben, aber heute hielt er sich durch Fahrrad fahren fit. Zu seinem 60. Geburtstag hatte ihm seine Frau Monika ein neues iPhone geschenkt, aufgeladen mit Ohrwürmern aus den 60er und 70er Jahren. Er wusste eigentlich nicht so recht, warum er sich auf einmal an ein neues Smartphone gewöhnen sollte, aber mit der Musik hatte ihn seine Frau doch locken können. Nun lief er ständig mit dem Handy am Gürtel und den Stöpseln in den Ohren durch die Gegend und ließ sich von den alten Schlagern in gute Laune versetzen.

Am Morgen des 19. Oktober 2016, pünktlich um acht Uhr, betrat er seine Dienststelle, nickte seinen Kollegen zu, und steuerte sein Büro an. Er hörte gerade „...ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett...“, als er abrupt stehen blieb. An seinem Schreibtisch auf seinem Stuhl saß – seine Frau möge ihm verzeihen – das schönste weibliche Wesen, das er seit langem gesehen hatte! Sie war gertenschlank und hatte kurze schwarze Haare. Als erstes fiel ihm ihr eigenwilliges Kinn auf, dann ihre ausdrucksvollen grünen Augen. Ein Gesicht, das keine Schminke brauchte und sich einem sofort einprägte. Ihre Kleidung war leger, und ihre ausgefranste Jeans steckte in halbhohen Stiefeln, die gemütlich seitlich am Aktenberg vorbei auf seinem Schreibtisch lagen. Mit dem Schulterhalfter, in dem ihre Dienstwaffe steckte, wirkte sie außerordentlich professionell. Er schätzte ihr Alter auf Anfang bis Mitte 30, und er fragte sich, was eine solche Augenweide in seinem Büro zu suchen hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf und streckte ihm ihre unberingte, schmale Hand hin.

„Guten Tag, Herr Bauermann. Ich bin Kriminalhauptkommissarin Carlotta Voß, ihre neue Mitarbeiterin!“

„Verdammt“, er hatte doch gewusst, dass die Kollegin heute anfangen würde. Er nahm die Stöpsel aus seinen Ohren und ergriff ihre Hand. Überrascht bemerkte er ihren festen Händedruck.

„Da unser Chef, Herr Seitz, ja zur Zeit im Urlaub ist, sollen Sie mir in den nächsten Tagen erst einmal hilfreich zur Seite stehen. Danach ist geplant, dass wir als Team zusammenarbeiten.“

„Ja“, antwortete er. „Ich weiß Bescheid. Herzlich willkommen erst mal.“

„Ich habe gehört, dass gestern ein neuer Todesfall hereingekommen ist. Wissen Sie schon Einzelheiten?“

Hans-Dieter setzte sich erst einmal hin und reichte ihr die oberste Akte. Carlotta überflog kurz die erste Seite. „Was bedeutet Calabia Kuka?“, fragte Carlotta.

„Keine Ahnung!“, sagte Hans-Dieter. „Das hat man dem Toten mit einem Filzstift auf die Stirn geschrieben!“

„Wer ist überhaupt der Tote?“

„Andreas Niedermann, der Gründer und Direktor der Niedermann-Bank, seit sieben Jahren im Ruhestand. Wohnt in einer großen Villa am Bockholt. Vor vielen Jahren hat er das Haus praktisch geteilt und den gesamten Ostflügel zu einem privaten Seniorenheim umbauen lassen. Seine Schwägerin, die ihm auch den Haushalt führt, hat ihn morgens gefunden. Er hat tot in seinem Sessel vor dem Kamin gesessen. Sie hat sofort den Hausarzt angerufen, und der hat plötzlichen Herztod diagnostiziert. Aber wegen der Schrift auf der Stirn hat er die Polizei benachrichtigt. Die wiederum hat daraufhin uns verständigt, und die Beamten vom Erkennungsdienst haben die Spuren gesichert und eingetütet. Danach ist die Leiche in die Gerichtsmedizin überführt worden. Der Staatsanwalt hat dann beim Amtsgericht eine Obduktion beantragt, die auch sofort genehmigt worden ist. Der Rechtsmediziner, Herr Dr. Schönefeld, hat wegen des Bekanntheitsgrades des Opfers noch gestern mit der Obduktion begonnen.“

Als Hans-Dieter zu ihr hochschaute, bemerkte er zu seinem Erstaunen einen leicht abwesenden Ausdruck in Carlottas Augen.

Er räusperte sich: „Vielleicht bekommen wir seinen Bericht ja noch heute!“

„Was sagen die Kollegen von der KTU? Gibt es da schon etwas?

„Noch nicht sehr viel. Keine Anzeichen von Kampf oder Ähnlichem. Auf dem Beistelltisch hat ein benutztes Sherry-Glas gestanden. Seine Brille hat daneben gelegen. Außerdem haben wir Rußpartikel an seiner Kleidung, in der Nähe des Kamins und hinter dem Vorhang zur Terrasse gefunden, die man bis jetzt noch nicht zuordnen kann. Die Putzfrau hat ausgesagt, dass sie vorgestern bis 18 Uhr im Haus gewesen ist. Herr Niedermann hat sich gegen 17 Uhr ins Kaminzimmer zurückgezogen und darum gebeten, nicht mehr gestört zu werden. Gemäß ihrer Aussage hat sie die Küche noch gründlich geputzt und das Geschirr gespült, bevor sie gegangen ist. Zum Schluss hat sie die Alarmanlage eingeschaltet, die die Türen und Fenster des Hauses sichert.“

„Angestellte?“

„Die Haushälterin bzw. Schwägerin kommt morgens um acht, die Putzfrau nur dreimal in der Woche, genauso wie der Gärtner und der Hausmeister, die auch für das Seniorenheim zuständig sind. Am Abend gehen alle nach Hause.“

„Haben die Nachbarn etwas gesehen?“

„Mit der Zeugenbefragung ist es nicht so ganz einfach. In der Waldstraße befinden sich nur auf der linken Seite noch ein paar weitere Häuser, und einige der Anwohner haben wir auch erreicht. Denen ist aber nichts aufgefallen. Im Seniorenheim sind wir noch nicht gewesen. Ich glaube nicht, dass eine Befragung da etwas bringt.“

Carlotta schaute ihn fragend an.

„Meine 91-jährige Tante wohnt auch in dem Heim. Ich weiß, wie es dort ist!“

„O...kay.“ Carlotta stand auf und ging mit energischen Schritten zur Tür. „Schauen wir uns die Lage doch noch einmal vor Ort an. Mein Büro kann ich später immer noch beziehen. Es soll ja gleich nebenan sein!“

Hans-Dieter steckte schnell Ohrstöpsel und iPhone in die Hosentasche, steckte seine Dienstwaffe in das Holster an seinem Gürtel und folgte ihr in den Flur. Bei den Kollegen machte Carlotta Halt und bedachte sie mit einem festen Blick.

„Wir haben vorhin ja schon miteinander geredet, und ich weiß, dass Sie und das BKA vollauf damit beschäftigt sind, den Todesfall im Zusammenhang mit den Sprengungen der Bankautomaten aufzuklären. Herr Seitz hatte mir im Vorfeld Unterlagen zukommen lassen. Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, dass es sich ausschließlich um Filialen der Niedermann-Bank handelt? Das ist schon ein merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht auch? Ich hoffe, dass die Täter bald erwischt werden. Herr Bauermann und ich befassen uns jetzt mit dem toten Herrn Niedermann in der Waldstraße. Sollten wir die Ergebnisse der Obduktion um 17 Uhr schon vorliegen haben, treffen wir uns gegen 17.15 Uhr zu einer Besprechung. Meine Herren!“ Carlotta nickte ihnen zum Abschied zu.

Dann öffnete sie die Tür zum Sekretariat, wo Eva Blum wie jeden Morgen seit sieben Uhr an ihrem Schreibtisch saß. Carlotta hatte sich ihr bereits vorgestellt. Diese hatte jedoch zurückhaltend und humorlos den Arbeitsantritt der neuen Hauptkommissarin zur Kenntnis genommen und sie in Hans-Dieters Büro geführt.

„Wir sind jetzt einige Stunden unterwegs. Unsere Telefone haben wir auf unsere Handys umgestellt.“

Eva verzog keine Miene, nickte aber kurz und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Hans-Dieter und Carlotta verließen das Alte Amtshaus, welches erst kürzlich renoviert und für das Kommissariat umgebaut worden war. Vor vielen Jahren befand sich im hinteren Gebäude das Gesundheitsamt, und auch die Polizei war hier stationiert. Es gab eine große Turnhalle, wo neben Schulsport auch der Theaterverein seine Stücke aufführen konnte. Aber mit der Zeit kam das Haus in die Jahre, und für die Renovierung hatte die Gemeinde kein Geld. Bis die Stadtverwaltung sich entschloss, das Gebäude zu retten und diese Dienststelle einzurichten. Die früher mit Gras bewachsene Böschung zur Straße hin war zu einem terrassenförmigen Parkplatz umgestaltet worden.

„Ich fahre“ sagte Carlotta und steuerte zielstrebig an den Einsatzwagen vorbei auf einen nagelneuen Mazda MX5 zu. Goldmetallic mit schwarzem Stoffdach. Hans-Dieter musste schlucken. „Hoffentlich kann ich da überhaupt einsteigen“ dachte er, ließ sich dann aber einfach in den tiefen Sitz fallen und zog die Beine nach. Er hatte kaum Platz genommen, als aus den Lautsprechern das Stakkato durchgeknallter Rap-Musik auf seine Ohren prallte. Carlotta strahlte ihn an. „Kennen Sie diesen Typ?“ Hans-Dieter schüttelte wortlos den Kopf.

„Das ist Samy Deluxe, der beste Rapper aller Zeiten. Seine Texte sind einfach super. Er ist ein Wortgenie!“, erläuterte Carlotta und lächelte ihn begeistert an. Er schloss ergeben seine Augen. Die Fahrzeit verging wie im Fluge.

Sie betraten das Seniorenheim, und im Eingangsbereich stießen sie gleich auf Tante Käthe, die es sich dort in einer gemütlichen Sitzecke bequem gemacht hatte. Sie erkannte Hans-Dieter sofort.

„Ach, Hans-Dieter, ich sach dir watt! Leider bin ich mit mein Schal für dich noch nich fertich“ und hielt ihm ihr Häkelzeug hin. Die Frau von Hans-Dieter versorgte sie pausenlos mit neuer Wolle, und die unvollendeten Werke häuften sich in ihrer Schublade. „Ich geh aber gleich ins Bett. Ich bin so müde und happ zwei Nächte nich geschlafen. Der Schornsteinfeger von vorgestern Abend hat mich bange gemacht. Und mein Husten geht auch nich weck.“

Hans-Dieter zuckte verlegen mit den Schultern und verdrehte leicht die Augen. Er antwortete ihr mit ein paar beruhigenden, jedoch knappen Worten und erklärte ihr, dass er eigentlich beruflich da sei. Seine Tante hörte ihm aber schon kaum noch zu, wieder völlig in ihrer Häkelarbeit vertieft. Als Hans-Dieter und Carlotta weitergingen, kam ihnen ein alter Mann mit einer Gehhilfe entgegen.

„Guten Tag Herr Börne, wie geht es Ihnen?“ erkundigte sich Hans-Dieter, der Herrn Börne mittlerweile ganz gut kannte, da dieser immer gerne in der Cafeteria saß und mit allen Besuchern ein Pläuschchen hielt. Carlotta fragte ihn, ob ihm in den letzten Tagen etwas Merkwürdiges aufgefallen wäre.

„Nee, nee. Ich sag nichts! Sonst kommt nachher noch die Polizei!“ erwiderte Herr Börne. Dann schaute er Carlotta prüfend an, und ein vergnügtes Blitzen trat in seine Augen. „Wissen Sie, ich bin 91 Jahre alt, aber ich habe immer noch etwas übrig für schöne Frauen!“

„Ist ja toll!“ murmelte Carlotta und ging schnell weiter, denn auf ein Gespräch mit ihm über seine Bedürfnisse wollte sie sich verständlicherweise nicht einlassen.

Inzwischen war die Heimleiterin, Frau Dr. Schulte, hinzugekommen. Carlotta sah eine Frau in den besten Jahren vor sich. Ihre Figur war etwas rundlich, doch ihr apartes Gesicht und die rötlichen Haare ergaben eine interessante Note. Sie sah ziemlich mitgenommen aus, offensichtlich war sie von Frau Niedermann schon benachrichtigt worden. „Nicht alle unsere Bewohner sind ansprechbar, aber ich bringe Sie gerne zu den Leuten, die ein Zimmer mit Blick zur Straße haben“, sagte sie.

Im Weitergehen kamen sie an einer offenen Tür vorbei.

„Im Nachbarhaus gab es einen Todesfall und wir führen eine Befragung durch. Haben Sie draußen etwas gehört oder gesehen, Herr Baumgartner?“, erkundigte sich Hans-Dieter.

Herr Baumgartner richtete sich auf und antwortete: „Was in diesem Zimmer besprochen wird, bleibt hier. Die Wände sind sehr dünn! Wenn Sie hier einen Furz lassen, hört es der von nebenan.“ Mit ernsten Gesichtern verabschiedeten sich die Kommissare. Es fiel ihnen schwer, sich ein Lachen zu verkneifen. Etwas weiter den Flur herunter stießen sie auf die gut gekleidete Frau Elvira Falkenberg, die ihnen gleich von dem Besuch ihrer guten Freundin aus Kornharpen erzählte.

„Wir haben vorgestern im Eingangsbereich gesessen und plötzlich sind wir von einem dreisten Schornsteinfeger gestört worden. Wissen Sie, ich mag Menschen, aber ich mag keine Aufdrängler! Er hat eine Blume aus der Vase gezogen und sie meiner Freundin überreicht. Und dabei hat er noch nicht einmal gut ausgesehen! Schräg über seinem Auge hatte er nämlich eine ganz hässliche Narbe gehabt!“

Carlotta sah Hans-Dieter an und schüttelte den Kopf. „So kommen wir nicht weiter! Ich schlage vor, ich gehe ums Haus und mache mir ein Bild von der Größe des Grundstücks. Und Sie klingeln bei den Nachbarn, die gestern nicht zu Hause gewesen sind.“

„In Ordnung!“ Hans-Dieter verließ das Heim und machte sich auf den Weg.

Sobald er außer Sichtweite war, steckte er sich die Stöpsel in die Ohren, drückte auf Play und schon hörte er „...und sie tanzen einen Tango, Jacky Brown und Baby...“ und „bums!“ stieß er voll mit einem großen, übel nach Alkohol riechenden und sichtlich heruntergekommenen Kerl zusammen. Hans-Dieter nahm die Ohrstöpsel wieder heraus. „Halt! Stopp! Wie heißen Sie? Was machen Sie hier?“, und baute sich vor ihm auf.

„Ich bin Anton Unbekannt, und was ich hier mache, geht Sie einen Dreck an!“ Mit einem frechen Grinsen tippte er sich an die Stirn und ging pfeifend weiter. Hans-Dieter schüttelte den Kopf, und auch er setzte seinen Weg fort.

Es stellte sich heraus, dass die paar Leute, die sie noch nicht erreicht hatten, wieder nicht zu Hause waren. Unzufrieden ging er zurück. Carlotta hatte inzwischen festgestellt, dass sich auf beiden Seiten des Gebäudes große Terrassen befanden. Eine weitläufige Gartenanlage im hinteren Bereich verband die beiden Haushälften und führte außerdem zu einem Gärtnerhaus, das neben dem Geräteraum offensichtlich noch eine kleine Wohnung beherbergte. Und auf der linken Seite konnte sie eine große Doppelgarage sehen, deren Zufahrt wohl von dem dahinter liegenden Buchenweg aus möglich war. Das Grundstück selbst war von einer hohen Efeuhecke umgeben. Carlotta ging durch das noch feuchte Gras bis zum Ende des Grundstücks. Der vor ihr befindliche bunte Herbstwald, der gerade von der Morgensonne angestrahlt wurde, verströmte einen leicht modrigen Geruch. Ganz anders als in Hamburg, wo sie in den letzten Jahren gelebt hatte. Dort roch die Luft salzig und immer frisch.

Nun, jetzt war sie in Bochum-Harpen und hatte einen Mord aufzuklären. Sie riss sich von dem Anblick des Farbenspiels der Blätter los und ging wieder nach vorne.

Als Hans-Dieter ihr von seiner erfolglosen Aktion berichtete, sagte sie verärgert: „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wir sind vollkommen umsonst hierhergekommen. OK, dann lassen Sie uns wenigstens noch einmal mit den Niedermanns reden. Die Schwägerin ist zwar gestern schon befragt worden, doch ich möchte sie gerne selbst kennen lernen!“

Nach mehrmaligem Klingeln wurde die Tür von einer gepflegt aussehenden, blonden Frau geöffnet. Carlotta schätzte ihr Alter zwischen 50 und 60 Jahre, und Figur wie auch Frisur sprachen eine deutliche Sprache: „Ich bin mehr als eine Haushälterin.“

„Bitte kommen Sie mit in den Salon. Ich bin Frau Niedermann und stehe seit vielen Jahren dem Haushalt meines Schwagers vor.“, sagte sie herablassend. Dort wandte sie sich einem schlanken jungen Schönling zu, der sich in einem pompösen Sessel räkelte und ihnen blasiert entgegensah. Seine Haare waren ebenfalls blond und an den Seiten kurz geschnitten und oben gegelt. Seine Kleidung war sportlich und eindeutig teuer. An seinem Handgelenk trug er einen auffälligen Breitling-Chronometer, und ein schwerer Silberring zierte seinen linken Daumen.

„Und dies ist mein Sohn Gisbert.“, stellte sie vor.

Dieser machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Ein anzügliches Grinsen trat in sein Gesicht, und mit dreistem Blick begutachtete er Carlottas Figur von oben bis unten.

„Seit wann gibt es denn so gut gebaute Bräute bei der Kripo?“

„Wahrscheinlich seit es die Quotenregelung gibt!“, antwortete sie und ging mit wiegenden Schritten auf ihn zu. Sie streckte ihm ihre schmale Hand zur Begrüßung hin. Gisbert nahm sie, und verzog dann aber schmerzhaft sein Gesicht. Carlotta hatte ihm ihren härtesten Händedruck verpasst und lächelte in sich hinein. Dann wandte sie sich Frau Niedermann zu und begrüßte auch diese.

Mit vor der Brust verschränkten Armen und auf den Zehenspitzen wippend hatte sich Hans-Dieter in dem Türrahmen postiert und sein offizielles und strenges Polizeigesicht aufgesetzt. Er hatte die ganze Szene kommentarlos beobachtet und sagte dann in einem überaus trockenen Tonfall:

„Wir haben uns gestern ja schon kennengelernt, Frau Niedermann. Eine unserer Fragen betrifft ein mögliches Testament des Toten. Es scheint, dass Sie und Ihr Sohn die Erben sind. Oder gibt es noch andere Personen, die dafür in Frage kommen?“

„Nein, niemand“, antwortete sie etwas verhalten. „Andreas hat immer gesagt, dass ein Testament zu unseren Gunsten bei seinem Anwalt hinterlegt ist. Schließlich habe ich mich all die Jahre aufopfernd um ihn gekümmert. Seitdem seine Osteoporose sich verschlimmert hat, ist er aus Angst vor Stürzen und Knochenbrüchen kaum noch aus dem Haus gegangen.“

„Haben Sie das Testament persönlich in der Hand gehabt?“, fragte Carlotta.

„Nein, aber ich vertraue meinem Schwager hundertprozentig!“

„Wann wird eigentlich die Leiche freigegeben? Schließlich müssen wir die Beerdigung planen!“, fragte Gisbert Niedermann aus der Tiefe seines Sessels heraus.

„Nun“, sagte Carlotta. „Sobald die Todesursache eindeutig feststeht. Auf jeden Fall muss jemand im Haus gewesen sein, der Calabia Kuka auf die Stirn Ihres Onkels geschrieben hat. Wo sind Sie und Ihre Mutter vorgestern eigentlich in der Zeit von 17 bis 19 Uhr gewesen?“

„Ich habe den Nachmittag und den Abend mit ein paar Freundinnen verbracht“ antwortete Frau Niedermann.

„Und ich bin am Mittwoch den ganzen Tag zum Training am Nürburgring gewesen. Dort haben mich jede Menge Leute gesehen und ich bin erst gegen 21 Uhr nach Hause gekommen“, sagte ihr Sohn.

„Sie fahren Autorennen?“, wurde Hans-Dieter plötzlich hellhörig, denn er war ein begeisterter Motorsport-Fan.

„Ja, ich fahre den heißen roten Audi TT, der vor der Tür steht, und irgendwann fahre ich in der Formel 1 und werde dort Weltmeister. Oder ich lege mir einen eigenen Rennstall zu.“, meinte er großspurig.

Carlotta wandte sich zur Tür. „Sie werden verstehen, dass wir selbstverständlich Ihre Alibis überprüfen müssen. Heute Nachmittag haben wir wahrscheinlich schon erste Ergebnisse von der Gerichtsmedizin und vielleicht auch bald von der KTU. Sobald diese grünes Licht geben, kann die Leiche freigegeben werden. Nichts spricht dann gegen eine Beerdigung. Auf Wiedersehen!“

Draußen blickte Carlotta Hans-Dieter fragend an: „Spielen Sie eigentlich immer den bösen Bullen? Es ist doch nur eine einfache Befragung gewesen!“

Hans-Dieter schaute zerknirscht zurück. „Ich weiß! Die Macht der Gewohnheit! In meinen Anfangszeiten bei der Polizei schickte man grundsätzlich mich zu Einsätzen, wo häusliche Gewalt oder Straßen- und Wirtshausschlägereien im Spiel waren. Ich hatte schon als Teenager mit dem Kampfsport angefangen. Boxen, Kickboxen und Karate und so. Als hätten die bösen Buben einen siebten Sinn dafür, brauchte ich mich nur so hinzustellen, und die heiße Luft um sie herum kühlte sich merklich ab. Und später machte ich die Erfahrung, dass durch meine Pose die Wahrheit meist eher ans Licht kam. Sie müssen also entschuldigen, wenn die alten Reflexe hin und wieder ans Tageslicht kommen. Sie sind doch bestimmt auch ganz fit im Kampfsport, oder etwa nicht?“

„Natürlich!“, antwortete Carlotta. „In Hamburg habe ich viele Jahre Krav-Maga-Selbstverteidigung erlernt und später auch Frauen und Kinder trainiert.“

„Ja, das kenne ich auch. Kontaktkampf! Kommt aus Israel und wird mittlerweile bei der Polizei und dem Militär auf der ganzen Welt angewandt!“ Er lachte sie an. „Dann sind wir beide ja jetzt ein unschlagbares Team!“

„Scheint so!“ Ein leicht amüsiertes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Fahren wir also wieder zurück. Mal sehen, ob bereits Ergebnisse auf uns warten.“

In diesem Moment kam Frau Dr. Schulte um die Ecke geeilt.

„Der Herr Börne ist uns entwischt!“, rief sie ihnen mit ärgerlicher Stimme entgegen. „Wir haben das ganze Haus durchsucht, und zwei meiner Pflegeschwestern habe ich ins Bockholt geschickt, um dort nachzusehen. Ich selbst habe gerade das Haus noch einmal umrundet. Jetzt bleibt nur noch die Straße übrig. Wahrscheinlich sitzt er gemütlich auf einer Bank in irgendeinem Vorgarten!“

„Oder er hat den Bus genommen!“, meinte Hans-Dieter.

Carlotta runzelte ihre Stirn. „Es scheint, dass diese Situation nichts Neues für Sie ist, Herr Bauermann!“

„Das ist es in der Tat nicht! Hin und wieder versucht schon mal einer der dementen Bewohner, sein altes Zuhause wiederzufinden, besonders wenn er noch nicht lange im Heim wohnt und völlig verwirrt ist!“

„Dann sollten Sie umgehend die Polizei benachrichtigen. Die kennt sich doch mit dem Einsammeln von Ausreißern bestens aus!“, sagte Carlotta.

„Vor ein paar Wochen war er schon einmal weg!“, sagte Frau Dr. Schulte und man konnte deutlich ihre Erschöpfung in der Stimme hören. „Aber damals ist er nach einer Stunde wieder aufgetaucht!“

Hans-Dieter schaute Carlotta bittend an. „Wir könnten doch einmal um den Block fahren. Vielleicht haben wir Glück und finden ihn!“

Als Carlotta sah, dass es ihm wichtig war, zuckte sie mit ihren Schultern. „Na gut! Von mir aus! Wenn wir ihn aber nicht finden, benachrichtigen Sie sofort die Polizei, Frau Dr. Schulte!“

Mit einem strengen Blick zu der Heimleiterin stieg sie in ihr Auto. Hans-Dieter folgte ihr. Im Auto schaute er sie entschuldigend an.

„Bei der Vorstellung, dass sich meine Tante in den nächsten Bus setzen könnte, sträuben sich mir die Nackenhaare!“

„Das geht schon in Ordnung. Dann starten wir eben eine kleine Suchaktion!“, sagte Carlotta mit einem leichten Seufzen.

Nach einigen Metern erinnerte sich Carlotta: „Dieser Herr Börne, ist das nicht der, der befürchtet hat, dass die Polizei käme, wenn er reden würde?“

„Ja“, sagte Hans-Dieter. „Der ist das!“

„Und der trotz seiner 91 Jahre immer noch, hm, gewisse Gefühle hat?“, fragte Carlotta mit lachender Stimme.

„Sieht so aus!“, lachte nun auch er.

Langsam fuhren sie die Waldstraße rauf und runter und achteten besonders auf die Vorgärten. Allerdings gab es ganz in der Nähe des Heims auch noch Häuser hinter den Häusern. Durch die breiten Einfahrten hindurch konnte man sie sehen. Carlotta hielt an.

„Kommen Sie, wir gehen auch mal da hinten nachsehen!“