Scary Harry (Band 5) - Hier scheiden sich die Geister - Sonja Kaiblinger - E-Book

Scary Harry (Band 5) - Hier scheiden sich die Geister E-Book

Sonja Kaiblinger

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Beschreibung

Es ist Halloween im Radieschenweg! Doch anstatt sich mit seinem echten Skelett-Freund unter die Verkleideten zu mischen, hockt Otto allein zu Hause. Harold macht sich rar, denn sein neuer Boss Rufus Rattlebone hat knallharte Regeln aufgestellt: Diesseitsbesuche außerhalb der Dienstzeit sind ausdrücklich verboten! Gut, dass sich wenigstens der frisch aus dem Jenseits zurückgekehrte Onkel Archibald Zeit nimmt, mit Otto und Emily die Schneekugel in Gang zu setzen und eine Verbindung zu seinen Eltern in der Zwischenwelt aufzubauen. Sie erfahren, dass Ottos Eltern von einem Sensenmann mit Holzbein dorthin verschleppt wurden. Als Otto eines Nachts ein gruseliger Schatten mit Holzbein auflauert und Harolds Boss ein ebensolches zu haben scheint, häufen sich die Zufälle ... Der fünfte Band der kultigen Kinderbuch-Reihe um den Jungen Otto, seine Freundin Emily und Sensenmann Harold – ein spannendes, lustiges und Geist-reiches Abenteuer mit witzigen Bildern für kleine und große Leser ab 10 Jahren.

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Spaghetti um Mitternacht

Also ich weiß wirklich nicht, ob die ganze Arbeit nicht umsonst ist«, jammerte Tante Sharon in Ottos Richtung und rührte Olivenöl in die Spaghetti. »Ein Sensenmann, der essen kann? Wie soll denn das funktionieren?«

Es hatte lange gedauert, bis Tante Sharon sich endlich daran gewöhnt hatte, dass Otto einen waschechten Sensenmann zum Freund hatte. Sehr lange sogar. Sie hatte Otto zwar niemals verboten, Scary Harry zu treffen, doch der Gedanke, dass ihr Neffe Otto sich Nacht für Nacht mit einem Knochengerippe unterhielt – noch dazu in ihrem eigenen Wohnzimmer –, hatte ihr zuerst gar nicht gefallen.

Dabei war Tante Sharon ansonsten eine Tante von der ziemlich coolen Sorte. Früher war sie manchmal ein wenig streng mit Otto gewesen, vor allem dann, wenn er vergessen hatte, sein Zimmer aufzuräumen, oder wenn er sich heimlich aus dem Haus geschlichen hatte. Aber seit Ottos verschollener Onkel Archibald vor einigen Monaten aus dem Jenseits zurückgekehrt war, hatte Tante Sharon ununterbrochen gute Laune. Sie schwebte förmlich auf Wolke sieben. Bestimmt war das auch der Grund, warum sie Otto erlaubt hatte, Sensenmann Harold offiziell zu einem Mitternachtsdinner in den Radieschenweg einzuladen. Sie hatte sogar sein Lieblingsgericht gekocht – Spaghetti Carbonara.

»Ein Sensenmann hat doch gar keinen Magen. Oder irre ich mich da, Archibald?«, plapperte Tante Sharon weiter. »Du musst das doch wissen, immerhin bist du Geisterforscher.«

»Na ja, bei Sir Tony, Bert und Molly plumpst das Essen einfach durch sie hindurch«, erklärte Onkel Archibald und reichte Tante Sharon für die Nudeln etwas Salz aus dem Küchenschrank. »Wer weiß, vielleicht ist das bei Sensenmännern genauso?«

Otto nahm die Teller aus dem Schrank und trug sie von der Küche in das Esszimmer. Ehrlich gesagt hatte er Scary Harry noch nie essen gesehen, obwohl er ständig davon sprach, was es in der Kantine des Seelen-Beförderungs-Instituts im Jenseits tagtäglich an schmackhaften oder nicht ganz so schmackhaften Gerichten zur Auswahl gab. Wobei es Otto heute ohnehin nicht so ums Essen, sondern vielmehr darum ging, dass Tante Sharon endlich begriff, was für ein cooler Typ Scary Harry eigentlich war. Und dass eine Freundschaft mit einem Sensenmann nichts war, worüber sie sich Sorgen machen musste.

»Mmh … das duftet ja … exquisit«, tönte es plötzlich aus dem Kühlschrank, als Tante Sharon ihn öffnete. Berts Geisterhand reichte Tante Sharon ein Stück Käse. »Wenn du noch etwas Parmesan drüberreibst, Sharon, dann schmecken mir die Spaghetti bestimmt noch besser. Hach, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen! Ich kann es kaum erwarten.«

»Bert, die Spaghetti sind nicht für dich«, korrigierte ihn Tante Sharon streng. »Sondern für Harold. Du hast doch gestern schon die Vorräte fürs Wochenende in dich reingeschaufelt, als gäbe es eine Hungersnot.«

»Vorräte? Sharon, ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.« Bert entfuhr ein Rülpser. »Moment, jetzt weiß ich es wieder: Du meinst die Vorspeise!«

»Vorspeise? Bert, du hast drei Tafeln Schokolade, zwei Melonen und vier Becher Vanillejoghurt verdrückt. Das war mehr als nur eine Vorspeise«, unterbrach ihn Tante Sharon, nahm Bert das Stück Parmesan aus der Hand und rieb den Käse über die Spaghetti. »Danach musste ich eine Stunde lang die Fliesen wischen, um den ganzen ekeligen Matsch zu beseitigen.«

»Tut mir leid«, murmelte Bert reuevoll und schloss die Kühlschranktür. Kurz bevor sie zufiel, spähte der Hausgeist ein letztes Mal durch den Spalt in Tante Sharons Richtung und setzte dabei seinen treuesten Hundeblick auf. »Darf ich wenigstens die Reste essen, falls etwas übrig bleibt?«

»Meinetwegen«, sagte Tante Sharon, rückte die Geisterbrille auf ihrer Nase zurecht und warf einen Blick auf eine ihrer zahlreichen Uhren, die an den Wänden hingen. »Es ist schon fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Sollte dein Kumpel Harold nicht längst hier sein, Otto? Die besten Manieren hat er ja nicht gerade, uns so lange warten zu lassen.«

Insgeheim musste Otto ihr zustimmen. Dass Harold ausgerechnet heute Abend zu spät kam, gefiel ihm gar nicht und bedrückte ihn. Wusste der Sensenmann denn nicht, wie wichtig es für Otto war, dass Tante Sharon ihn besser kennenlernte? Wenn sie endlich erkannte, dass selbst ein Sensenmann nur ein Mensch war – wenn auch ein toter –, dann würde sie vielleicht etwas lockerer werden.

»Wo steckt er nur?«, wisperte Otto in Onkel Archibalds Ohr, als sie schließlich zu dritt im Esszimmer ihre Plätze einnahmen und die Nudeln auf ihren Tellern vor sich hindampften.

»Vielleicht steckt er fest … hat noch zu tun im Jenseits«, flüsterte Onkel Archibald zurück. Das Wort »Jenseits« sprach er ganz behutsam aus. Onkel Archibald hatte sich seit seiner Rückkehr nicht mehr länger mit der Geisterforschung oder mit dem Jenseits beschäftigt. Otto vermutete, dass die furchtbare Erfahrung, als Lebender über Jahre im Jenseits festzustecken, in ihm eine Art Trauma ausgelöst haben musste. Schade, fand er. Otto hätte sich gefreut, gemeinsam mit Onkel Archibald forschen zu können. Vielleicht brauchte sein Onkel auch einfach etwas Zeit, um alles zu verarbeiten, und würde seine Forschungsarbeit irgendwann weiterführen.

»Ich glaube, ich schicke ihm besser mal eine SMS«, beschloss Otto und zückte sein Telefon. Schnell tippte er: Wo steckst du? Wir erwarten dich! Essen wird kalt. Liebe Grüße, Otto. Mit einem Piepsen verkündete das Handy, dass die Nachricht gesendet wurde. Dann herrschte Stille, bis die Pendeluhr wiederum die Uhrzeit verkündete.

Halb ein Uhr nachts.

»Also ich bin dafür, dass wir jetzt einfach mit dem Mitternachtsdinner beginnen«, beschloss Tante Sharon. »Mit oder ohne Sensenmann, mir knurrt der Magen.«

»Bin einverstanden«, kicherte Bert erfreut und schwebte herbei, die Nudeln im Kochtopf stets im Blick.

»Aber was ist mit Harold?«, wandte Otto ein. Ohne seinen Kumpel am Tisch verging ihm die Lust auf Spaghetti. »Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen? Vielleicht hat sein Auto eine Panne und er ist auf der Autobahn liegen geblieben? Oder er hat Probleme mit seiner Jenseits-App, die die Sprünge vom Diesseits ins Jenseits kontrolliert. Oder –«

»Vielleicht knutscht er auch mit Gundula rum, in die er neuerdings ach so unsterblich verliebt ist«, unterbrach ihn Vincent, der aus Ottos Zimmer geflattert kam und gerade noch auf dem Griff des Spaghettitopfs landete. Um ein Haar wäre er mitten ins Essen geplumpst.

»Gundula? Wer ist denn bitte schön Gundula?«, fragte Tante Sharon. »Und Vincent, habe ich dir nicht gesagt, dass du am Esstisch nichts verloren hast? Tierhaare sind äußerst unhygienisch. Außerdem haben wir doch Regeln aufgestellt, damit wir friedlich zusammenleben können.«

»Oh, nicht schon wieder diese zehn Gebote, die du neulich aufgestellt hast, Sharon«, jammerte Vincent, flatterte auf den Lampenschirm und murmelte dabei so etwas wie »irre, putzverrückte alte Schachtel« in seinen Bart.

»Es sind keine zehn Gebote, sondern nur drei«, korrigierte Tante Sharon ernst und hob den Zeigefinger. »Die erste Regel, keine Tierhaare im Esszimmer, kennst du ja schon, Vincent. Zweitens, kein unerlaubtes Begleiten von Otto in der Schultasche in die Schule. Und drittens, keine toten Maden, Spinnen, Fleischfliegen oder sonstige deiner Lieblingsgerichte in unserem Haus. Deine Mahlzeiten nimmst du bitte außerhalb unserer vier Wände ein. Zum Beispiel auf dem Dach. Verstanden?«

»Aye, aye, Tante Sharon«, witzelte Vincent und salutierte mit dem linken Flügel.

Otto kicherte. Die drei Regeln, die Tante Sharon nach ihrer Entdeckung der Halb-Geisterfledermaus in Ottos Schrank aufgestellt hatte, hatte Vincent allesamt schon längst gebrochen. In die Schule begleitete Vincent Otto beinahe jeden Tag und seine Leibspeisen aß er auch stets innerhalb des Hauses. Erst neulich hatte er genüsslich eine tote Spinne auf dem Küchentresen verdrückt, als Tante Sharon bei Madame Olga von gegenüber zum Kaffee eingeladen war.

»Trotzdem ist das total unfair!« Vincent ließ nicht locker, obwohl Tante Sharon dabei war, den ersten Bissen zu nehmen. »Ich muss meine Maden draußen essen. Und ihr esst eure gemütlich im Wohnzimmer!«

Tante Sharon verzog angeekelt das Gesicht und begann zu husten.

»Das sind keine Maden, sondern Spaghetti«, verbesserte Onkel Archibald. »Vielen Dank, Vincent, jetzt hast du uns allen den Appetit verdorben.«

»Regeln sind Regeln. Wenn du dich nicht daran hältst, dann musst du dir einen anderen Wandschrank zum Übernachten suchen«, drohte Tante Sharon.

»Ja, ja, schon gut. Mein Gehirn ist zwar nicht größer als eine Walnuss, aber ich hab’s gespeichert«, verkündete Vincent und rollte mit den Augen. »Und jetzt mach ich mal lieber wieder die Fliege. Wenn ich etwas noch weniger ausstehen kann als dümmliche Hausregeln, dann ist es das miesepetrige, unfreundliche Knochengerippe, das jeden Moment hier auftaucht. Ich gehe lieber schlafen.«

»Ich glaube, Harold kommt heute Nacht ohnehin nicht mehr«, verkündete Otto traurig und warf einen Blick auf Tante Sharons Pendeluhr: Nun war es beinahe Viertel vor eins. Einfach nicht aufzukreuzen und zudem nicht auf Ottos SMS zu antworten, sah dem Sensenmann gar nicht ähnlich.

»Oh, wirklich?« Berts Augen leuchteten auf. Keine Sekunde später schoss der Hausgeist mit weit geöffnetem Mund vom Kronleuchter hinab auf den Esstisch. »Wenn das so ist, kann ich ja wohl Harolds Portion verpu… hmm … fmeckt daff lecker! Daff find die beften Fpaghetti aller Zeiten, Tante Ffaron.«

Es dauerte keine Minute und schon hatte Bert Harolds gesamte Ration verputzt – und die von Otto gleich mit. Aber der war sowieso ganz damit beschäftigt, sich um Harold zu sorgen. Der Sensenmann war zwar extrem faul, schusselig und ziemlich vergesslich – aber einfach so auf Spaghetti zu verzichten und Otto knallhart und ohne ein Sterbenswörtchen zu versetzen, war selbst für ihn mehr als ungewöhnlich. Warum war er nicht aufgetaucht?

* * *

Otto hätte es nie für möglich gehalten, dass alles noch schlimmer werden könnte. Doch das konnte es. Denn Harold gab nicht nur am nächsten Tag kein Lebenszeichen von sich, auch die ganze nächste Woche über herrschte Funkstille aus dem Jenseits. Fieberhaft überlegte Otto, wie er mit dem Sensenmann Kontakt aufnehmen könnte. Ihm blieb nur die Möglichkeit, ins Jenseits zu reisen und nach ihm zu sehen, aber das war nicht ganz einfach. Außerdem würde er dafür Harolds Jenseits-App und eine gehörige Portion Jenseits-Sonnencreme brauchen. Und zudem Onkel Archibalds Hilfe – aber der weigerte sich immer noch, sein altes Arbeitszimmer zu betreten und die Geisterforschung wieder aufzunehmen.

»Gib deinem Onkel noch ein wenig Zeit«, riet ihm Tante Sharon am Freitagnachmittag. Das Wochenende stand vor der Tür, aber Ottos Stimmung war trotzdem im Keller. »Ich weiß, du brennst darauf, noch mehr über Geister und Sensenmänner herauszufinden, aber Onkel Archibald braucht noch etwas Zeit, um sich an sein altes Leben im Diesseits zu gewöhnen, Otto. Wenn man so viele Jahre als Lebender im Jenseits gefangen war, ist das keine einfache Umstellung.«

»Onkel Archibald braucht doch gar nicht zu forschen. Mir würde es schon helfen, wenn er Harold finden könnte«, knurrte Otto zurück.

»Der Sensenmann also.« Tante Sharon verzog das Gesicht. »Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«

Otto schüttelte traurig den Kopf. »Nein, leider. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Ich mache mir echt langsam Sorgen.«

»Was soll ihm schon großartig passiert sein?« Tante Sharon lachte leise und strich Otto übers Haar. »Er ist doch schon tot. Vielleicht solltest du nicht mehr länger über diesen Harold nachdenken und Onkel Archibald stattdessen dabei helfen, sich im Radieschenweg schneller zu Hause zu fühlen und seine Zeit im Jenseits zu vergessen. Aber ich habe ja gemerkt, dass es dir nicht gut geht. Und deshalb dachte ich, dass dich ein kleiner Spielkamerad aufheitern könnte.«

»Ein Spielkamerad?«, echote Otto. Wovon um alles in der Welt sprach Tante Sharon?

»Hattest du dir nicht vor zwei Jahren an Weihnachten sehnlichst ein Haustier gewünscht?« Tante Sharon war zur Eingangstür gelaufen und schleppte nun eine rote Tragebox mit ins Wohnzimmer. »Deshalb habe ich noch mal nachgedacht und dir ein Haustier besorgt. Das ist Nelson. Ich habe ihn heute Nachmittag aus dem Tierheim geholt. Madame Olga hat mir beim Aussuchen geholfen.«

Ein Haustier? Otto sah zu, wie Tante Sharon das Gitter der Tragebox zur Seite schob und ein dicker Kater hinauskletterte. Er hatte schwarzes Fell, nur über seinem rechten Auge saß ein großer weißer Fleck – wie die Augenklappe eines Piraten. Als er Vincent sah, der draußen vor dem Fenster herumflatterte, begann der Kater zu fauchen, dann kehrte er um und versteckte sich wieder im Dunkel der Tragebox.

»Eine Katze? Du hast wirklich eine Katze aus dem Tierheim geholt?«, staunte Otto. »Aber ich habe doch schon ein Haustier. Vincent.«

»Vincent ist doch eine Fledermaus«, winkte Tante Sharon ab, als würden Fledermäuse nicht gelten. »Außerdem hat Madame Olga gemeint, eine Katze könnte Onkel Archibald dabei helfen, sich hier schneller wieder wohlzufühlen.« Sie biss sich auf die Lippe. »Otto, ich dachte, du freust dich.«

»Wer zum Henker ist denn DAS?«, dröhnte Sir Tonys laute Stimme durch das Treppenhaus. Tante Sharon aber plapperte ungestört weiter, was ohne Zweifel daran lag, dass sie Sir Tony nicht hören konnte. »Ein neues Haustier? Ihr wisst doch, dass ich eine fiese Allergie habe. Die Katzenhaare kitzeln in meiner Nase. Schafft das Tier hier weg, sofort!«

»Was ist los, Otto?«, fragte Tante Sharon, die offenbar begriff, dass sich ein Geist im Zimmer aufhalten musste. Schnell griff sie nach der Geisterbrille, die auf der Kommode lag.

»Es ist Sir Tony, Tante Sharon«, erklärte Otto und deutete auf die Stelle im Treppenhaus, wo der Hausgeist schwebte. »Ich glaube, er mag das neue Haustier nicht besonders.«

»Nicht besonders? NICHT BESONDERS? Ich hasse Katzen!«, brüllte der Hausgeist und schoss auf Tante Sharon zu. »Man hätte mich zumindest fragen können, immerhin ist das hier mein Anwesen. Macht sich hier keiner Sorgen um die Gesundheit meiner Atemwege?«

»Ach, krieg dich ein, Tony.« Otto rollte mit den Augen. »Du hast keine Tierhaar-, sondern eine Stauballergie, schon vergessen?«

»Tierhaare, Staub, ist doch alles das Gleiche«, plapperte der Hausgeist vor sich hin, während Molly, Ottos einziger weiblicher Hausgeist, von der Waschküche im Keller in den Flur schwebte. In ihren Haaren steckte eine gepunktete Socke – das Ding musste sich entweder in ihren Haaren verfangen haben oder es war Mollys neuestes Modeaccessoire, so sicher konnte man sich da nicht sein.

»Oh, eine Katze! Mann, ist die flauschig!«, rief sie und flog vergnügt im Kreis, während Otto sich bückte und in die Katzenbox spähte. Langsam tapste der Kater aus der Tragebox in Ottos Richtung, bis er schließlich vor ihm anhielt und sich streicheln ließ.

»Na siehst du, ihr seid schon Freunde.« Tante Sharon klatschte zufrieden in die Hände. »Ich bin mir sicher, Nelson wird sich schnell hier einleben. Bleibt zu hoffen, dass Nelson und Vincent sich genauso schnell anfreunden werden.«

Otto blickte auf den schnurrenden, dicken Kater, der sich nun zufrieden über den Teppich rollte und Ottos Streicheleinheiten genoss. Eigentlich war Nelson ziemlich niedlich. Aber ob Vincent das genauso sehen würde? Sein Gefühl verriet ihm, dass die Fledermaus und der Kater wohl eher keine dicken Freunde werden würden.

Der Feind auf vier Pfoten

Während Harold noch immer verschollen blieb, lief es für alle anderen in Ottos Leben wie am Schnürchen: Vincent hatte beste Laune, weil MrsSingh von ihrer Hochzeitsreise in Indien zurückgekehrt war und in diesem Schuljahr wieder Kunst unterrichtete. Und Emily war Feuer und Flamme für ein neues, freiwilliges Biologieprojekt, an dem sie außerhalb des Unterrichts teilnehmen durfte – gemeinsam mit Albert, dem neuen Mitschüler, der Ende des letzten Schuljahres in Ottos Klasse gekommen war.

»Oh Otto, ist das nicht aufregend? Die besten Projekte werden sogar mit einem Preis vom staatlichen Jugendforschungsinstitut prämiert. Wäre es nicht toll, wenn Albert und ich gewinnen würden? Damit kämen wir bestimmt in die Schülerzeitung«, schwärmte Emily in der Pause. Schon seit dem Morgen sprach sie unentwegt von diesem Projekt – und von Albert, der zwei Reihen vor Otto und Emily saß und das Gesicht in einem Lexikon vergraben hatte.

»Em, hast du mir eigentlich zugehört?«, erkundigte sich Otto genervt. »Bei mir zu Hause geht es drunter und drüber! Harold ist verschwunden und reagiert nicht auf meine SMS. Und das nun schon seit einer Woche. Onkel Archibald will mir nicht helfen, weil er mit sich selbst beschäftigt ist und von der Geisterforschung und dem Jenseits nichts wissen will. Noch dazu hat Tante Sharon eine Katze aus dem Tierheim geholt, die Sir Tony auf den Tod nicht ausstehen kann. Und du redest seit Tagen von nichts anderem als Albert.« Jetzt flüsterte er, damit ihn Albert nicht hörte. »Dabei kommt mir Albert nun wirklich nicht sonderlich aufregend vor. Eher sterbenslangweilig.«

»Ich finde Albert überhaupt nicht sterbenslangweilig«, antwortete Emily ernst. »Außerdem rede ich nicht die ganze Zeit von ihm.«

»Oh doch, Emily«, mischte sich Vincent ein, der in der Tasche von Ottos Sweatshirt saß und das Gespräch der beiden mithören konnte. »Du redest von nichts anderem. Alberts Auszeichnungen, Alberts gute Noten, Alberts niedliche Sommersprossen –«

»Sagt ausgerechnet der, der in MrsSingh verliebt ist und nicht damit klarkommt, dass sie längst verheiratet ist!«, feuerte Emily zurück und wurde ein kleines bisschen rot. Ihre gute Laune schien verflogen zu sein.

»Verliebte Mädchen sind wirklich das Letzte. Noch anstrengender als verknallte Sensenmänner und das will was heißen …«, schimpfte Vincent und verkroch sich verlegen in Ottos Schultasche.

Otto zuckte zusammen. War das wirklich wahr, was Vincent behauptet hatte? War Emily wirklich in Albert verknallt? Bis jetzt hatte sie sich in keinster Weise für Jungs interessiert, sondern nur für Naturwissenschaften und Geisterforschung.

»Okay, Schluss jetzt mit Albert«, befahl Emily und blickte Otto ernst an. »Ich habe einen Plan, wie wir es schaffen könnten, Harold zu erreichen.«

Otto seufzte erleichtert. »Gott sei Dank. Mir gehen nämlich langsam die Ideen aus.«

Emily war die Kreativere der beiden und hatte immer einen Plan in der Hinterhand. Nicht auszudenken, was er machen würde, wenn sie tatsächlich nur mehr mit diesem durchgeknallten Albert rumhängen würde. Seine beste Freundin würde er keinesfalls an einen superintelligenten Streber verlieren, mit dem er in den letzten Monaten vielleicht zwei Sätze gewechselt hatte. Emily hatte zwar gehofft, er und Albert würden sich anfreunden, aber das war leider gründlich schiefgegangen. Dafür waren Otto und Albert einfach zu verschieden.

»Harolds Handy muss wohl den Geist aufgegeben haben«, verkündete Emily. »Das war doch schon mal so, als die Seelen-Messenger keine Todesmeldungen mehr empfangen konnten, weißt du noch, Otto? Ich schlage vor, wir schnappen uns ganz einfach die Jenseits-Schneekugel und lassen Harold über das Ding eine Botschaft zukommen. Bisher hat das zwar nur bei Onkel Archibald geklappt, aber wer weiß, vielleicht hört uns Harold ja trotzdem.«

Die Idee, Harold durch die Schneekugel zu kontaktieren, war gar nicht so übel und brachte Otto auf eine andere: »Außerdem ist heute Abend doch Halloween. Warum schmeißen wir nicht eine kleine Halloweenparty und laden ihn über die Jenseits-Schneekugel dazu ein? Harold steht doch total auf Partys, und eine im Diesseits würde er nie im Leben verpassen wollen. Wenn wir ihn damit hergelockt haben, können wir ihn ja fragen, warum er mich in letzter Zeit ständig ignoriert.«

Emily war begeistert. Zum Glück stand während der nächsten zwei Stunden nur Musik auf dem Stundenplan, noch dazu zeigte Ottos Musiklehrerin heute einen Musicalausschnitt aus »Cats« und so hatten Otto und Emily im abgedunkelten Klassenzimmer genügend Zeit, heimlich die Halloweenparty zu planen.

Zuerst mussten Kostüme her. Weil die Zeit drängte, wollte Emily nach der Schule Plastikvampirzähne kaufen, etwas Kunstblut besorgen und außerdem noch ein zerlumptes Kleid und einen Umhang vom Dachboden ihrer Oma stibitzen, um aus sich ein möglichst gruselig aussehendes Vampirmädchen zu machen. Otto wollte sich als Frankensteins Monster verkleiden. Dazu brauchte er bloß grüne Theaterschminke und Tante Sharons schwarzen Eyeliner, um sich damit ein paar dicke Narben auf die Stirn zu malen. Und dann mussten natürlich noch übergroße Klamotten her, aber da hatte Onkel Archibald bestimmt so einiges im Schrank. Als die Kostümfrage gelöst war, fehlten bloß noch Musik, Dekoration sowie gruselig aussehende Snacks und die Party konnte starten.

Jede Wette, dass Harold keinesfalls absagen und dieses Mal garantiert erscheinen würde. Und erst recht nicht, wenn er seine Gundula mitbringen durfte. Die beiden könnten sogar im Sichtbar-Modus mit Otto und Emily in der Nachbarschaft des Radieschenwegs an den Türen klingeln, um Süßigkeiten zu sammeln. Süßes oder Saures mit einem echten Sensenmann? Das würde das beste Halloween aller Zeiten werden!

* * *

»Ich fasse es nicht. Emily hat meine Kostümidee geklaut«, beschwerte sich Vincent, als Emily schließlich am späten Nachmittag in einem Vampirmädchen-Kostüm an Ottos Haustür klingelte und Otto sie hereinbat. Wütend schleuderte Vincent seinen Umhang von sich, den er sich mit einem schwarzen Halstuch von Tante Sharon gebunden hatte. »Frechheit! Ich habe mich zuerst als Vampir verkleidet.«

»Du brauchst doch gar kein Kostüm, Vincent.« Emily lachte und strich über Vincents Fell. »Eine sprechende Fledermaus ist doch schon unheimlich genug.«

»Wie bitte? Du meinst also, ich soll mich heute Abend gar nicht verkleiden? Das ist doch langweilig«, befand Vincent und flatterte missmutig aus dem Flur ins Bad. »Zum Glück habe ich noch eine Idee. Jetzt muss ich halt improvisieren und mir schnell das andere Kostüm basteln.«

»Vincent? Was hast du denn auf dem Klo verloren?«, rief Otto ihm hinterher, aber da kam Vincent schon zurückgeflogen und hatte seinen haarigen Fledermauskörper mit Klopapier umwickelt.

»Na, was sagt ihr jetzt? Eine mumifizierte Fledermaus«, erklärte er stolz und landete auf dem Schuhschrank. »Genauer gesagt eine sprechende mumifizierte Halb-Geisterfledermaus. Ich wette, dieses Kostüm hat kein anderer hier in der Stadt.«

»Ha! Das ist genial«, lobte ihn Otto. Eigentlich sah Vincent nicht aus wie eine mumifizierte Geisterfledermaus, sondern eher wie eine Klopapierrolle mit Flügeln, aber Otto fand es besser, ihn nicht weiter zu verärgern.

»Vielen Dank, Otto! Ach, sehe ich nicht toll aus?« Vincent betrachtete sich im Garderobenspiegel und zog dabei den Fledermausbauch ein. »Ich finde, das Klopapier schmeichelt meiner Figur. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ich schon 326Jahre auf dem Buckel habe.«

»Natürlich nicht, Vincent.« Wie es aussah, war Vincent heute wieder mal ganz besonders selbstverliebt. »Du siehst keinen Tag älter aus … als 300Jahre. Nicht wahr, Emily?«

»Oh, hallihallo, Emily! Was für eine nette Idee, zu zweit eine kleine Halloweenparty zu machen. Dass ihr mir aber ja keinen Unfug anstellt!« In diesem Moment betrat Tante Sharon mit einem Tablett voller Würstchen den Flur. Auf die Enden der Würstchen hatte sie Mandelblättchen gesteckt und den Teller außerdem mit Ketchup verziert. »Hier, ich nenne sie ›Blutige Monsterfinger‹. Sieht echt gruselig aus, nicht wahr?«

»Ach du krumme Knackwurst, das ist ja echt widerlich … ich meine natürlich lecker!« Vincent leckte sich über das Maul. »Da schwöre ich glatt meinen Maden ab. Tante Sharon, darf ich einen dieser Wurstfinger gleich mal probieren … Huch?!« Vincents Blick wanderte vom Tablett zu Tante Sharons Füßen, zwischen die sich Nelson schlängelte und ein zufriedenes Schnurren von sich gab. »Es … es ist also wahr. Ihr habt euch ein Haustier zugelegt.«

Oh, oh. Otto hatte gestern schon vermutetet, dass Vincent ganz und gar nicht erfreut sein würde, wenn er erfuhr, dass Tante Sharon eine Katze aus dem Tierheim geholt hatte, die ihm seine Rolle als Lieblingshaustier streitig machen könnte. Aber was könnte er schon tun? Einen Tobsuchtsanfall bekommen? Nelson in den Schwanz beißen?

Otto wurde plötzlich nervös.

»Ähm … tja, Vincent, das ist der neue Kater hier im Haus«, murmelte Otto möglichst beiläufig und deutete auf Nelson, der sich gerade an Ottos Bein kuschelte.

»Aha«, meinte Vincent bloß und hob eine Augenbraue. »Er ist ein bisschen fett. Aber eigentlich ganz süß.«

Otto und Tante Sharon sahen sich verdutzt an. Moment mal, hatte Vincent eben tatsächlich gesagt, dass er den neuen Kater ganz süß fand? Otto hatte eher erwartet, dass Vincent durchdrehen und Tante Sharon vorwerfen würde, ihn durch einen gefräßigen Stubentiger ersetzen zu wollen. Aber dass Vincent so entspannt, ja beinahe freundlich reagieren würde, passte gar nicht zu seinem Charakter. Vielleicht hatte er sich in seiner Hausfledermaus getäuscht und Vincent und der Kater würden doch Freunde?

»Na, das überrascht mich aber«, verkündete jetzt auch Tante Sharon und stellte das Tablett mit den Würstchen auf der Kommode ab. »Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet euch nicht ausstehen können und euch wie Tom und Jerry einen Kleinkrieg liefern.«

»Kleinkrieg? Mit einem einfältigen Wesen wie diesem, das den ganzen Tag lang nur faul herumliegt und sich den Bauch mit vorgewürfeltem Supermarktfraß vollschlägt, anstatt sich das Futter so wie ich selbst zu jagen? Das ist unter meiner Würde«, erklärte Vincent, landete auf dem Schuhschrank und spähte von dort hinab zu Nelson. Auch Nelson richtete den Kopf nach oben und betrachtete Vincent neugierig.

»Ähem, Vincent! Herumliegen und Futtern gehören auch zu deinen Lieblingsbeschäftigungen«, ergänzte Emily, aber das überhörte Vincent ganz zufällig.