Scary Harry (Band 6) - Hals- und Knochenbruch - Sonja Kaiblinger - E-Book

Scary Harry (Band 6) - Hals- und Knochenbruch E-Book

Sonja Kaiblinger

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Beschreibung

Die Befreiung von Ottos Eltern gestaltet sich schwieriger als gedacht. Trotz der Hilfe seines besten Kumpels, Sensenmann Harry, landet das Test-Teleportationsobjekt Vincent immerzu in der schäbigen Jenseitskneipe Zur Qualle statt in Qualcatraz. Zur Ablenkung organisiert Tante Sharon einen Skiurlaub für die ganze Bande. Aber dort angekommen, muss Harry so manch halsbrecherisches Pistenmanöver vollführen, denn irgendwer scheint ihn in den Urlaub verfolgt zu haben ... Ob das alles mit dem seltsamen Dr Seymour zu tun hat, der Scary Harry Aufzeichnungen über ein Mittel für ewiges Leben anvertraut hatte? Der sechste Band der kultigen Kinderbuch-Reihe um den Jungen Otto, seine Freundin Emily und Sensenmann Harold – ein spannendes, lustiges und Geist-reiches Abenteuer mit witzigen Bildern für kleine und große Leser ab 10 Jahren.

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Seitenzahl: 208

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Inhalt

Tot oder lebendig!

Traumberuf: Geisterforscher

Hip-Hop-Harold

Geisterforscher junior

Der mysteriöse Dr Rufus Seymore

Der Gammelwurst-Deal

Das Winterurlaub-Alibi

Rockos Geheimnis

Merry Scary Christmas

Ferngespräch aus Qualcatraz

Dr Seymores Memoiren

Die vermeintliche Pillen-Diebin

Die Kälte in den Knochen

Landgraf Hubertus von Ochsenreuth

Raum 006

Die Zeit wird knapp

Auf der Suche nach Hilfe

Der Gefangenentransporter

Hubertus’ neues Domizil

Tot oder lebendig!

Dieses Jahr war das erste Jahr, in dem Otto keinen Adventskalender besaß. Normalerweise machte es ihm einen Riesenspaß, sich pünktlich zum ersten Dezember mindestens fünf Stück davon zuzulegen und jeden Tag nach dem Aufstehen ein Türchen zu öffnen – das heißt, wenn Kühlschrankgeist Bert den Inhalt nicht zuvor schon gefressen hatte. Doch dieses Jahr hatte Otto seine Tradition schlichtweg vergessen. Und nicht nur das – auch an Weihnachten selbst verschwendete er den ganzen Dezember lang kaum einen Gedanken. Der Grund dafür war, dass im Radieschenweg so viel passierte, dass für den Weihnachtsmann gar keine Zeit blieb.

Da waren einerseits die nervigen Prüfungen in der Schule, die vor Weihnachten noch geschrieben werden mussten. Dann war da Onkel Archibald, mit dem sich Otto beinahe täglich nach der Schule in der Kammer unter seinem Zimmer traf, um Pläne für die Rettung seiner Eltern zu schmieden. Und dann war da natürlich noch Harold. Seit der Sensenmann wieder zum SBI zurückgekehrt war und einen neuen Dienstwagen bekommen hatte, war sein Arbeitseifer kaum zu bremsen. Abend für Abend besuchte er Otto im Diesseits, um mit seiner schicken Karre Seelen einzusammeln. Und wenn Harolds persönlicher Geisterfahrer James freihatte, durfte Otto ihn sogar hin und wieder begleiten. So auch heute.

»Moment mal, Harold«, murmelte Otto und prüfte das Display von Harolds Seelen-Messenger. Dank dieses Geräts erfuhr Harold es stets pünktlich, wenn wieder irgendwo eine Seele einzusammeln war. »Wir fahren zu MrsSandringham? Zu dieser alten, schwerreichen Lady, die seit Jahren alleine in dem großen Haus auf dem Hügel lebt?«

»Das ist kein Haus, sondern ein richtiges Schloss, Otto«, korrigierte ihn Vincent und reckte den haarigen Kopf aus Ottos Jackentasche. Natürlich war Ottos Hausfledermaus wieder mit von der Partie, auch wenn Otto ihn eigentlich gebeten hatte, zu Hause dafür zu sorgen, dass Tante Sharon nichts von dem nächtlichen Ausflug mitbekam. »Oh, ich freu mich schon auf den Besuch dort! Bei MrsSandringham im Schloss gibt’s immer richtig exotisches Essen. Mir knurrt gleich der Magen, wenn ich nur daran denke.«

Otto hielt inne. »Vincent! Sag nicht, dass du dich am Essen von fremden Leuten zu schaffen machst.«

»MrsSandringhams letztes Stündchen hat geschlagen, sie kann es doch sowieso nicht mehr essen.«

Otto legte die Stirn in Falten. Vincent hatte wirklich keine Skrupel. »Trotzdem. Den Kühlschrank fremder Leute lässt man in Ruhe, verstanden?«

»Du redest vom Kühlschrank? Igitt. Ist ja alles ekelig, was da drinnen lagert. Ich spreche vom Dachboden. Der ist die reinste Fressmeile. Der weite Weg lohnt sich jedes Mal. Dort oben gibt’s Würmer, Fliegen und Spinnen der seltensten Gattungen! Besser als jeder Gourmettempel in London.«

Otto seufzte und sah rüber zu Harold, der gerade eine kurvenreiche, enge Straße entlangfuhr. In der Ferne thronte hoch oben auf einer Klippe ein schmales, dunkles Herrenhaus aus Stein mit vielen Erkern und Türmchen. »Wie lange ist denn die arme MrsSandringham schon tot?«

Harold warf einen schnellen Blick auf seinen Seelen-Messenger. »Seit vierzig Minuten ungefähr. Ihre Seele schwirrt jetzt irgendwo durch das alte Gemäuer und wartet darauf, eingefangen zu werden. Ich bin nur froh, dass sie 99Jahre alt geworden ist.«

»Ja. Sie hatte echt ein langes Leben«, stimmte Otto zu.

Harold schüttelte den knochigen Kopf. »Das meine ich nicht. Stell dir nur mal vor, sie hätte schon mit 98Jahren das Zeitliche gesegnet. Wie hätte ich mit meiner alten Schrottkarre von früher denn jemals diesen Hügel bezwingen sollen? Aber mit dem Allradantrieb vom Rolls Reaper ist das heute überhaupt kein Problem.« Er kicherte. »Hörst du den Motor, Otto? Schnurrt wie ein Kätzchen.«

Otto wunderte sich über seinen Kumpel. Harold war schon ein merkwürdiger Typ. Seit der Knochenmann herausgefunden hatte, dass er unrechtmäßig zu 999Jahren Dienst beim SBI, dem Seelen-Beförderungs-Institut, verurteilt und anschließend offiziell vom Dienst freigesprochen wurde, war er motivierter denn je. Nun, da Harold niemand mehr befahl, Seelen einzusammeln, und er seinen Dienst freiwillig verrichtete, hatte sich offenbar etwas an seiner Einstellung verändert.

Entweder das oder Harold fuhr einfach nur gern mit seinem neuen Wagen spazieren. Der schicke, glänzende Rolls Reaper war nämlich ein Geschenk des SBI, weil Harold sich entschlossen hatte, weiterhin für ihn tätig zu sein.

»Da wären wir«, verkündete Harold und parkte seinen Wagen neben einem eindrucksvollen steinernen Brunnen. »Habt ihr die Seele schon irgendwo entdeckt? Vielleicht war MrsSandringham ja eine begeisterte Gärtnerin und ihre Seele schwirrt durch den hübsch angelegten Garten hier.«

»Ich hoffe, die Seele wartet drinnen auf uns. Es fängt gerade an zu regnen.« Vincent bibberte vor Kälte. »Lasst uns reingehen. Wobei, Moment mal, Sensenmann, solltest du dich nicht vorher noch unsichtbar machen? Was ist, wenn dich jemand entdeckt?«

»Wozu denn, Klugscheißer?«, motzte Harold und warf schwungvoll die Fahrertür zu. Über seine Funkfernbedienung verriegelte er den Wagen. »MrsSandringham hat doch alleine gewohnt. Wer sollte uns denn sehen?«

»Auch wieder wahr!«, lachte Vincent und flatterte über Ottos Kopf im Kreis. »Na gut, ihr Seelenfänger seid ja schon so geübt, ihr bekommt das sicher auch ohne mich hin. Ich fresse mich lieber mal durch die Artenvielfalt der Krabbeltiere, verstanden? Ruft, wenn ihr mich braucht.«

»Und weg ist er«, bemerkte Harold und blickte der Fledermaus nach, die Richtung Dachgiebel davonschwirrte. Dann stieß er die wuchtige Tür zu MrsSandringhams Villa auf. Das Haus war tatsächlich ein Schloss. Von der Mitte der Eingangshalle reichte eine wuchtige Marmortreppe hinauf bis ins Obergeschoss und an den Wänden hingen prachtvolle Gemälde, die im Kerzenlicht leuchteten.

»Otto, du hättest dich zu ihren Lebzeiten echt mit der alten Lady anfreunden sollen. Vielleicht hättest du was geerbt«, stellte Harold fest.

»Pff«, machte Otto. »Ich bin doch kein Erbschleicher.«

»Oh, guck mal, da ist die Seele ja!«, rief Harold und deutete ins Esszimmer, das links neben der prunkvollen Eingangshalle lag. Harold hatte recht – denn über einem großen, reichlich gedeckten Mahagonitisch glühte ein roter Feuerball im Halbdunkel. Es schien fast so, als wollte MrsSandringhams Seele zum Abschied noch eine Dinnerparty feiern.

»Halt mal das Gurkenglas«, bat Harold und zückte sein Schmetterlingsnetz. Etwas ungeschickt kletterte er auf einen der gepolsterten Stühle und holte aus.

»Pass lieber auf, Harold. Du brichst dir gleich alle Knochen«, warnte Otto.

»Hab ich dich, Seele … oh … hoppla!«, rief Harold und beugte sich nach vorne, um die Seele mit dem Netz zu erwischen. In dem Moment machte der Feuerball einen hastigen Satz zur Seite, Harold verlor das Gleichgewicht und plumpste mit dem Schädel in eine große Schüssel Kartoffelbrei. Der Inhalt der Schüssel spritzte an die Wände und kleckerte die Tapete voll.

»Ups. Ich hab dich gewarnt, Harold«, kicherte Otto.

»Die Sache ist noch nicht gegessen!« Harold knurrte, kletterte auf den Tisch und schwenkte, einen Turnschuh im Kartoffelbrei, unheilvoll sein Netz. »Für Ihre 99Jahre haben Sie aber erstaunlich viel Energie übrig, MrsSandringham.«

Mit großen Schritten lief er über die Länge der Tischplatte der Seele hinterher, wich Gläsern und Obstschalen aus und setzte am Tischende zu einem ninjamäßigen Sprung an, während er erneut mit dem Netz ausholte. So gelang es ihm, die Seele ins Schmetterlingsnetz zu befördern.

»Hiiijaaaa!«, schrie der Sensenmann aus Leibeskräften, bevor er auf dem Boden aufschlug. »Autsch!«

Otto eilte an Harolds Seite. Seine knochigen Beine lagen komplett verdreht am Boden. »Geht es dir gut? Das hat so geklungen, als hättest du dir mehrfache Knochenbrüche zugezogen. Oder mindestens ein paar fiese Prellungen.«

»Uah. Mir schwirrt der Kopf … Aber die Mühe hat sich gelohnt, wenigstens habe ich jetzt endlich MrsSandringhams –« Harold griff sich an den Schädel, dann warf er einen Blick in sein Schmetterlingsnetz. »Ach du liebe Zeit.«

Das Schmetterlingsnetz war leer! Die Seele musste sich daraus befreit haben.

»Wo ist sie hin?«, rief Otto.

»Da!« Harold deutete zurück ins Treppenhaus. »Sie schwebt die Treppe empor! Komm, Otto, die holen wir uns!«

Wie es aussah, schienen Harolds Knochen trotz des gefährlichen Sturzes heil geblieben zu sein. Denn wie von Zauberhand hatte er sich aufgerappelt, nach dem leeren Netz gegriffen und jagte jetzt MrsSandringhams Seele über die Treppe hinterher. Im Zickzack schoss der Feuerball durch die Bibliothek, weiter ins Kaminzimmer, von dort weiter ins Ankleidezimmer, bis die Seele in einem langen, dunklen Korridor schließlich an Tempo verlor.

Bei der Abzweigung zum Korridor hielt Harold plötzlich an.

Otto runzelte die Stirn. »Was ist? Wir haben sie beinahe. Schnell, lauf ihr hinterher.«

»Schscht.« Harold hielt einen knochigen Finger vor seinen Mund. »Hast du nicht bemerkt, dass wir nicht mehr alleine sind, Otto?«

Vorsichtig spähte Otto um die Ecke. Harold hatte recht. In der Mitte des langen Gangs entdeckte er einen Schatten mit menschlichen Umrissen. Obwohl, da steckte jemand unter einem Kapuzenumhang.

»Wer zur Hölle ist das? Könnte das ein anderer Sensenmann sein?«, wollte Otto wissen.

»Guck dir den Umhang doch mal genauer an. Es fällt im schummrigen Licht nicht so auf, aber der ist über und über mit bunten Blumen, Palmen und Pelikanen bedruckt. Das ist nie und nimmer die Dienstkleidung eines Sensenmanns.«

»Vielleicht ist es ja eine Sensenfrau«, wisperte Otto zurück.

»Selbst die haben einen viel besseren Klamottengeschmack.« Harold hielt inne. »Sieh nur, die Seele fliegt direkt auf die Gestalt zu.«

Das war ja komisch. Und konnte wohl nur ein weiteres Zeichen dafür sein, dass es sich bei dem mysteriösen Gast in MrsSandringhams Palast nicht um einen Sensenmann handelte. Sonst müsste die Seele doch wie vor Harold fliehen. Oder nicht?

»Sieh nur, Harold. Der packt die Seele in eine kleine Schatulle«, stellte Otto fest. »Und jetzt verschwindet er damit in den Raum, aus dem Licht dringt. Was in aller Welt hat der Kerl nur vor?«

»Ihm nach!«, rief Harold.

So leise wie nur möglich tapsten Otto und Harold über den dunklen Korridor bis zu der Tür, durch die die merkwürdige Gestalt im gemusterten Umhang gegangen war. Vorsichtig spähte Otto in den Raum hinein.

»Was siehst du?«, wollte Harold wissen.

Otto schluckte. »Ach, du dickes Ei … das ist MrsSandringhams Schlafzimmer. Da liegt sie, die alte Lady. Sie ist leichenblass. Und der Kerl im Umhang beugt sich gerade über sie. Oh Mann, Harold, das ist total gruselig. Lass uns abhauen.«

Harold schüttelte vehement den Schädel. »Abhauen? Ich denk nicht mal daran! Sag mir lieber, was der komische Mann als Nächstes anstellt.«

»Oh, das ist gar kein Kerl«, korrigierte Otto sich jetzt. Unter dem Umhang blitzten lange schwarze Haarsträhnen hervor. »Sondern eine Frau.«

»Eine Frau?« Harold überlegte für einen Moment. »Na fein, dann sag mir, was die komische Frau anstellt!«

»Sie öffnet die Schatulle mit MrsSandringhams Seele darin«, wisperte Otto zurück. »Sie nimmt sie in beide Hände und –«

»Entwischt die Seele ihr gar nicht?«, fiel ihm Harold ins Wort. »Wie zum Geier stellt sie das denn an? Vorher war die Seele total bockig und in den Händen der komischen Tante ist sie plötzlich zahm? Das ergibt doch gar keinen Sinn!«

»Und jetzt … oh Mann, wie krass! Sie steckt sie zurück in MrsSandringhams Körper.«

»Was???«, schrie Harold viel zu laut.

»Schscht, Harold«, machte Otto.

Aber da war es schon zu spät. Die Frau im Umhang musste Harold gehört haben und warf einen unsicheren Blick zurück zum Türrahmen, hinter dem sich Otto und Harold befanden. Dann ging sie ans andere Ende des Raumes und öffnete wie aus dem Nichts ein Stück tapezierte Wand.

»Sie flüchtet«, teilte Otto Harold mit. »Durch eine Art Geheimtür. Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir ihr nach?«

»Und damit die Seele in diesem Raum zurücklassen? Otto, ich hab nicht vor, meine neue Spitzenposition beim Seelen-Beförderungs-Institut gleich wieder aufzugeben, weil ich es verbockt habe, die Seele einer 99-jährigen Lady einzufangen. Zuerst holen wir uns die Seele, dann suchen wir die mysteriöse Gestalt. Los jetzt.«

Mit zittrigen Beinen schlich Otto ins schwach beleuchtete Schlafzimmer der alten MrsSandringham. Schon einmal war er dabei gewesen, als sich eine Seele aus dem Körper eines Verstorbenen gelöst hatte. Das war allerdings schon über ein Jahr her. Otto hatte eigentlich gehofft, dass es ihn beim zweiten Mal nicht mehr so gruseln würde – immerhin war er jetzt schon älter. Und trotzdem schlug ihm das Herz bis zum Hals.

Harold beugte sich vorsichtig über MrsSandringhams Körper. Auf ihrem blassen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln.

»Wo ist die Seele hin? Sie hat sie doch direkt neben dem Bett aus der Schatulle geholt, oder? Guck mal unter dem Bett nach, Otto«, bat Harold.

Otto prüfte die staubige Unterseite des Betts. »Da ist nichts. Außerdem hat es den Anschein erweckt, als hätte die Frau die Seele in MrsSandringhams Körper zurückgesteckt.«

»Zurückgesteckt?« Harold verdrehte die Augen. »Das kann doch gar nicht sein. Tot ist tot. Tote kann man nicht so einfach … uuuuaaaaah!«

Bei Harolds Schrei gefror Otto das Blut in den Adern. Und einen Augenblick später wurde ihm klar, warum Harold sich so erschrocken hatte. MrsSandringham hatte plötzlich die Augen aufgeschlagen und saß nun aufrecht im Bett. Ihre Brust unter dem weißen Nachthemd hob und senkte sich, als wäre sie aus einem aufwühlenden Albtraum erwacht.

»Sie sind … der Sensenmann!«, hauchte MrsSandringham tonlos und starrte in Harolds knochiges Gesicht.

»Besser bekannt als Scary Harry. Und Sie sind … Sie sind …«, stotterte Harold.

»Wieder am Leben!« Die alte Lady hob mit einem Mal wütend die Hand, als wollte sie ihn ohrfeigen. »Und jetzt verschwindet, ihr beiden! Raus, raus aus meinem Haus! Ich bin noch längst nicht tot, verstanden?«

Das ließ sich Otto nicht zweimal sagen. So schnell er konnte, machte er kehrt und flüchtete aus MrsSandringhams Schlafzimmer. Harold war ihm dicht auf den Fersen.

»Nichts wie weg aus dem Haus der alten Hexe«, keuchte Otto. »Die Suche nach dieser Umhang-Frau müssen wir uns wohl sparen.«

Traumberuf: Geisterforscher

Igittigitt. Sieh dir die beiden Turtelschweinchen nur mal an«, maulte Vincent und rollte mit den Augen. »Ich glaube, mir kommt die seltene australische Wanderspinne wieder hoch, die ich gestern Abend im Schloss verdrückt habe. Würg.«

»Schscht, Vincent«, ermahnte ihn Otto. »Womöglich hört Emily dich noch. Außerdem heißt es Turteltauben.«

Ja, zugegeben, Vincent hatte nicht unrecht. Es war schon ziemlich gewöhnungsbedürftig zu sehen, wie Emily und Albert Händchen haltend und sich gegenseitig anhimmelnd durch den Speisesaal der Siegmund-Schwefelkopf-Schule spazierten. Aber Otto hatte sich nun mal fest vorgenommen, sich darüber zu freuen, dass seine beste Freundin verliebt war. Auch wenn sie sich ausgerechnet einen kolossalen Klugscheißer und Besserwisser wie Albert ausgesucht hatte.

»Mahlzeit, Otto«, sagte Emily und setzte sich auf den freien Stuhl neben ihm. »Wo warst du denn den ganzen Vormittag über? Wir hatten zwar keine Stunde zusammen, aber ich hab dich noch nicht mal auf dem Schulflur entdeckt.«

Otto hatte sich absichtlich rargemacht. Aber nicht, um Emily aus dem Weg zu gehen, sondern um ein nerviges Biologiereferat zum Thema Zellteilung vorzubereiten, mit dem er leider nicht weiterkam. Und um am Schulcomputer heimlich nach den Begriffen »Seele«, »Wiederbelebung« und »Kapuzenumhang« zu suchen. Leider war die Internetrecherche nicht sehr ergiebig gewesen. Er war auf einer Vielzahl von merkwürdigen Webseiten gelandet. Und auf einem Halloween-Onlineshop mit Kapuzenumhängen im Angebot.

»Ich … ähm … war ziemlich beschäftigt«, redete sich Otto heraus und schlürfte seine Himbeerlimonade. »Übrigens gibt es Neuigkeiten von … na, du weißt schon, von wem.« Otto warf einen kurzen Seitenblick auf Albert, vor dem er lieber nicht offen reden wollte. »Von unserem Freund mit den verschiedenfarbigen Turnschuhen.«

»Verschiedenfarbige Turnschuhe?«, mischte sich Albert ein. »Was habt ihr denn für seltsame Freunde?«

»Du würdest dich wundern.« Otto lächelte schief, dann wandte er sich wieder Emily zu. »Wenn du heute Nachmittag Zeit hast, erzähle ich dir gerne bis ins kleinste Detail, was ich gestern Abend erlebt –«

»Soll ich dir vielleicht was von der Ausgabe mitbringen, Emily?«, unterbrach Albert Otto mitten im Satz. Offenbar konnte der Typ es nicht ertragen, dass einmal ein Gespräch ohne ihn stattfand.

Emily schien das gar nicht aufzustoßen. »Au ja! Einen Karamellkuchen mit Sahne, bitte.«

Albert verzog angewidert das Gesicht. »Karamellkuchen? Der hat sicher über 500Kalorien und reichlich wenig Nährwert. Außerdem schädigt so viel Zucker den Zahnschmelz und verursacht Karies. Willst du nicht stattdessen einen Apfelteller essen, Mausepfötchen?«

Emilys Lächeln verschwand für einen Moment. »Äh, nein, Bärchen. Ich hätte wirklich gerne einen Karamellkuchen. Mit Sahne. Und ja, ich weiß, dass Zucker ungesund ist.«

Albert kostete das fröhliche »Wird gemacht« einiges an Überwindung, aber er verschwand in der Schlange vor der Essensausgabe.

»Erst die Sache mit dem Karamellkuchen und dann auch noch Mausepfötchen?«, wollte Otto wissen. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Ist das etwa sein Ernst?«

Emily wurde plötzlich rot wie eine Tomate. »Ja, du hast schon recht. Die Spitznamen, die wir uns geben, sind ein bisschen schnulzig. Aber dass er sich um meine Ernährung sorgt, ist schon in Ordnung, denke ich.«

»Also, wenn ich du wäre, Emily, würde ich Albert ins Ohr beißen, und zwar so fest, dass er sich einen Ohrring durchstecken kann«, meldete sich Vincent zu Wort. »Ich würde durchdrehen, wenn ich statt Maden nur noch Rosenkohl fressen dürfte. Pah.«

»Sei still, Vincent. Wir sind hier in der Öffentlichkeit«, wisperte Otto. In der Cafeteria war es zwar richtig laut, aber man konnte sich trotzdem nie ganz sicher sein, ob die sprechende Fledermaus nicht doch Aufsehen erregte.

»Jetzt, wo Albert weg ist, kannst du mir ja gleich erzählen, was du vorhin gemeint hast. Betreffen die Neuigkeiten etwa Operation Pestbeule?«, fragte Emily nun und beugte sich näher. Operation Pestbeule war eine groß angelegte Verschwörung beim Seelen-Beförderungs-Institut, in die angeblich sogar der Oberboss des SBI involviert war. Weil Ottos Eltern zu viel darüber wussten, wurden sie vor Jahren vom SBI ins Jenseits-Gefängnis Qualcatraz gesperrt, das sich in einer Zwischenwelt befand. »Hast du etwas von deinen Eltern gehört?«

Otto schluckte und schüttelte den Kopf. Das Thema bereitete ihm schon die längste Zeit Kopfzerbrechen. »Leider nicht viel, Em. Onkel Archibald und ich haben noch einige Male versucht, mithilfe der Schneekugel Kontakt mit Mum und Dad herzustellen. Aber wir haben es nicht geschafft. Sie haben bisher auch nicht angerufen.«

Emily tätschelte Ottos Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, Onkel Archibald hat noch einen ausgeklügelten Masterplan in der Hinterhand. Oder wer weiß, vielleicht tüftelt auch Scary Harry selbst an einer Rettungsaktion für die beiden.«

Otto brummte. »Ich fürchte, der hat zurzeit ganz andere Sorgen.«

»Was denn für Sorgen? Aber sollte der nicht auf Wolke sieben schweben? Er geht regelmäßig mit Gundula aus, die doch die Sensenfrau seiner Träume ist. Und neuerdings hat er es nicht nur zu Ruhm und Ehre beim SBI gebracht, sondern sogar einen eigenen Geisterfahrer bekommen. Welchen Grund hat er zur Sorge?«

»Weißt du, Em, gestern ist etwas ganz Seltsames passiert«, begann Otto leise. In Abwesenheit von Albert gab es keinen Grund mehr, Emily unnötig auf die Folter zu spannen. »Ich war mit Harold in seinem neuen Auto zum Seelenfangen unterwegs. Zu MrsSandringham, du weißt schon, der alten Lady, die auf der Klippe lebt.«

Emily riss die Augen auf. »Oh. Sag nicht, dass sie tot ist.«

»Das war sie.«

»War?« Emily runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz.«

Otto sah sich um, bevor er weitersprach. Die Luft war rein. Die anderen Schüler der Siegmund-Schwefelkopf-Schule verputzten entweder gerade ihr Mittagessen oder schrieben noch schnell Hausaufgaben für den Nachmittagsunterricht ab. Niemand schien sie zu belauschen. »Harold und ich hatten es beinahe geschafft, MrsSandringhams Seele einzufangen. Aber dann geschah etwas richtig Merkwürdiges. Da war noch jemand in ihrer Villa.«

»Etwa ihr Ehemann? Wobei, der ist doch schon seit ein paar Jahren tot. Vielleicht ein Butler? Oder ein anderer Bediensteter?«

»Weder noch. Es war eine fremde Frau in einem quietschbunten Umhang. Und jetzt kommt’s, Emily. Die Frau hat MrsSandringhams Seele zu fassen bekommen und sie kurzerhand wieder zurück –«

»Karamellkuchen mit Sahne für mein Mausepfötchen«, unterbrach sie Alberts Stimme.

Erschrocken fuhren die beiden auseinander.

»Danke, Albert«, murmelte Emily und zwang sich zu einem Lächeln.

»Huch! Du siehst ja ganz blass aus, Emily«, bemerkte Albert. »Fast so, als hättest du einen Geist gesehen. Ist alles in Ordnung?«

»Äh, ja. Alles bestens«, bestätigte Emily und nahm sich eine Gabel voll vom Karamellkuchen.

»Apropos Geister.« Ungefragt zog sich Albert einen Stuhl heran und schob ihn zwischen Otto und Emily. »Ich glaube, ich habe endlich herausgefunden, auf welche Disziplin der Wissenschaft ich mich zukünftig stürzen möchte. Und zwar auf paranormale Forschungen, besser bekannt als Geisterforschung. Ist das nicht aufregend?«

Emily verschluckte sich beinahe an ihrem Karamellkuchen. »Warte mal. Du willst Geisterforscher werden? Ist das dein Ernst, Albert?«

»Warum nicht?« Albert grinste aufgeregt. »Geheimnisvolle Wesen. Unerklärliche Phänomene. Unsichtbare Kraftfelder –«

»Pah. Ich glaube, der Typ hat einen an der Waffel«, tönte es unüberhörbar laut aus Ottos Rucksack.

Albert runzelte die Stirn. »Hast du was gesagt, Otto?«

»Ich sagte … ähm … ich hätte jetzt gerne eine belgische Waffel«, korrigierte Otto und verpasste seinem Schulrucksack einen Klaps.

Albert wirkte irritiert. »Ich hatte gehofft, du würdest mich verstehen, Otto. Immerhin ist dein Onkel doch Geisterforscher, nicht wahr?«

»Mh…hm«, stotterte Otto und nahm einen großen Schluck von der Himbeerlimonade. Bisher waren Geister, Jenseitsbewohner und Sensenmänner etwas, was nur Otto und Emily zu gehören schien. Ein Thema, über das Otto sich mit seiner besten Freundin stundenlang unterhalten konnte. Dass jetzt plötzlich Albert in ihrem kleinen Club mitmachen wollte, gefiel ihm gar nicht. Als Nächstes wollte er sich vielleicht noch mit Scary Harry anfreunden.

»Du musst auch gar nichts sagen, Otto«, sprach Albert weiter. »Ich habe deinen Onkel neulich zufällig in der Stadtbücherei getroffen. Und ich habe ihm erzählt, dass wir beide dicke Freunde sind und ich mich auch brennend für Geisterforschung interessiere. Und jetzt rate mal – er hat mich für morgen zu euch nach Hause eingeladen.«

»Wa…was?« Otto verschluckte sich an seiner Himbeerlimonade. Onkel Archibald hatte tatsächlich Albert zu ihnen nach Hause eingeladen? Und seit wann waren er und Albert dicke Freunde? Hatte er irgendwas nicht mitbekommen?

»Ja, ich weiß, das kommt überraschend«, räumte Albert ein. »Aber ich dachte mir, ich könnte dir ja dafür mit deinem Biologiereferat helfen. Ich habe tolle Unterlagen zum Thema Zellteilung.«

»Das klingt doch nach einem guten Deal, nicht wahr, Otto?«, sagte Emily und lächelte. Wie es aussah, wollte sie nichts lieber, als dass Otto und Albert sich endlich anfreundeten. Aber da fror eher die Hölle zu.

Für Otto wurde das Ganze auch ohne die Freundschaftsnummer mit Albert zu einer ziemlichen Zwickmühle! Einerseits war es zwar nicht übel, dieses elende Biologiereferat für MrWalker endlich abhaken zu können, andererseits musste er dafür diesen Schwachkopf Albert in seinen eigenen vier Wänden erdulden. Zumindest war es nur für einen Nachmittag lang. Jede Wette, dass Onkel Archibald erkennen würde, dass Albert nichts als eine Nervensäge war. Und dass er in der Stadtbücherei zukünftig einen großen Bogen um ihn machen würde.

»Na gut, einverstanden«, gab sich Otto schließlich geschlagen. Nach dem, was in den letzten Monaten alles passiert war, konnte ihn so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Er hatte eine ganze Menge ertragen: einen hinterhältigen Poltergeist, einen Lehrer aus dem Jenseits und zuletzt einen gruseligen Sensenmann, der ihn nachts nicht schlafen ließ. Mit einem notorischen Besserwisser würde er auch noch klarkommen.

* * *

Am Nachmittag kam Harold zu Besuch. Eigentlich hatte Otto erwartet, dass sie über die merkwürdigen Vorkommnisse des letzten Abends sprechen würden, aber Harold schien etwas ganz anderes zu beschäftigen. Und zwar sein neues Hobby.

»Schau mal, Otto«, begann er und ließ sich auf Ottos Bett fallen. Dann holte er einen schwarzen Fidget Spinner aus der Tasche und begann, das Ding zwischen seinen knochigen Fingern kreisen zu lassen. »Ich muss dir etwas zeigen!«

»Oh, ein Fidget Spinner. Wusste gar nicht, dass du dir auch einen zugelegt hast.«

»Ach, das Ding? Das gab’s ganz billig im Jenseits-Spielwarenladen. Nein, das meine ich nicht. Das hilft mir bloß, mich zu entspannen.« Harold hielt Otto ein Blatt Papier unter die Nase. »Das hier wollte ich dir zeigen. Ich habe meinen ersten eigenen Rapsong geschrieben. Mit dem Rhythmus bin ich mir noch nicht ganz sicher. Ich dachte eher an etwas Entspanntes mit einem soften Beat wie Bum-Chi-Bum-Bum-Bum-Chi …«

Otto nahm das Blatt entgegen und überflog Harolds selbst verfassten Song. Der Titel war dreimal unterstrichen und lautete 1Life in Schwarz-Weiß und er handelte von einem Sensenmann, der sich selbst für den Größten hielt und einen angeberischen Wagen fuhr. In seinen Song hatte Harold Dutzende Ausdrücke wie »YOLO« oder »gechillt« eingebaut, die Otto zwar selbst nicht benutzte, aber in der Schule immer wieder aufschnappte. Erstaunlich, dass ein 522Jahre alter Sensenmann mehr Ahnung von Trendwörtern hatte als er selbst.