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Ich weiß was, das du nicht weißt ... Etwas, das du garantiert nicht glauben würdest. Etwas, das sich im Untergrund abspielt. Auf der Suche nach einer großen Sensation stößt der angehende Journalist Lars auf ein Geheimnis, das seinen Glauben an die Menschheit erschüttert. In einem Netz aus Ungerechtigkeiten und der Ignoranz der Behörden, kämpft er um das Leben etlicher Kinder, die für die Machenschaften eines riesigen Konzerns unter Tage ausgebeutet werden. Und während der Rest der Gesellschaft die Augen davor verschließt, gehen nicht nur die Eltern der betroffenen Kinder zu Grunde. Eine durch Mark und Bein gehende Geschichte über ein Thema, das leider auch im 21. Jahrhundert noch existiert: Die menschenverachtende Ausbeutung wehrloser Opfer.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Inhalt
26. Mai – 12:00 Uhr
26. Mai – 16:00 Uhr
27. Mai – 6:30 Uhr
28. Mai – 3:00 Uhr nachts
28. Mai – 16:00 Uhr
31. Mai – 10:00 Uhr
1. Juni – 6:40 Uhr
1. Juni – 13:00 Uhr
2. Juni – 15:00 Uhr
3. Juni – 10:00 Uhr
4. Juni – 6:20 Uhr
4. Juni – 18:00 Uhr
5. Juni – 8:00 Uhr
5. Juni – 9:10 Uhr
7. Juni – 9:00 Uhr
8. Juni – 6:00 Uhr
9. Juni – 21:00 Uhr
10. Juni – 8:59 Uhr
11. Juni – 10:30 Uhr
12. Juni – 16:00 Uhr
13. Juni – 19:40 Uhr
14. Juni – 6:00 Uhr
Drei Monate später
SCHACHTKINDER
Marty Knopp
Impressum
Deutsche Originalausgabe2. Auflage 2019Copyright © Marty [email protected] by epubli (ISBN: 978-3-754963-84-5)
Taschenbuch by epubli (ISBN: 978-3-746798-55-4)LektoratSimona Turini • www.textehexe.comCovergestaltungJasmin Whiscy • www.whiscy.deBei dem Lied, das Jenny ihrem Bruder vorsingt, handelt es sich um Stephen Janetzkos „Ich schenk dir einen Stern“.Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Nur noch ein kurzes Danke, dann geht es los
Ein Buchprojekt, sei es auch noch so klein, ist häufig auf ein wenig Hilfe angewiesen. Und auch die „Schachtkinder“ wären ohne Hilfe kaum möglich gewesen.
Mein erster Dank geht daher an die Schar an Testlesern, die sich durch die Rohfassung fraßen und mir die Augen für die ersten groben Schnitzer öffneten:
Antje Sommer, Claudia Kloid, Kerstin Schaub, Hailey J. Romanke und Werner Pfeil.
Und auch wenn sie sich mit Händen und Füßen gegen eine weitere Geschichte gesträubt haben, in der böse Dinge in einem Bergwerk passieren, sei den Mitgliedern des Mineralien-Forums für ihre aufklärenden Worte gedankt.
Darüber hinaus darf ich auf keinen Fall meine Antwortgeber auf Fragen zur polizeilichen Recherche vergessen:
Joachim Rieth, Werner Pfeil und Simona Turini.
Danke auch an Jasmin Whiscy, die dem Buch sein grandioses Aussehen verlieh.
Mein allergrößter Dank geht jedoch an die Textehexe Simona Turini, die mit ebenso viel Talent wie Geduld den Text mehr als nur lektorierte. Trotz, oder gerade wegen ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit hätte ich gar keine bessere Lektorin bekommen können.
Und zu guter Letzt richtet sich mein Dank an meinen Mann, der mich in der nervenaufreibenden Zeit während der Entstehung des Skriptes tapfer ertragen hat und mir mit Rat und Tat zur Seite stand.
Danke an euch alle! Ihr habt das Buch zu dem gemacht, was es jetzt ist!
26. Mai – 12:00 Uhr
(Mittwoch)
Ungeduldig tippelt Jennifer mit dem Fuß. Sie muss warten, bis ihr kleiner Bruder Benjamin endlich den Kampf gegen den offenen Schnürsenkel seines Turnschuhs gewonnen hat. Derweil verlassen alle anderen Kinder lärmend und hüpfend die Schule, um sich auf den Heimweg zu machen. Das will sie auch, sie hat Hunger.
„Benny, komm, lass mich das doch machen. Du brauchst immer ewig.“
Benjamin wendet sich empört ab. „Brauch ich gar nicht! Ich kann das allein!“, nölt er und verkündet schließlich stolz: „Siehst du! Hab’s geschafft!“
Jennifer muss zugeben, dass er das wirklich hat. Der Knoten ist fest und die Schleife für einen Fünfjährigen sogar ziemlich gut geworden. Nicht so ordentlich wie bei ihr, aber trotzdem schön gerade, findet sie.
„Lass uns endlich gehen.“ Sie hält ihrem Bruder die Hand hin und er ergreift sie. Dann schiebt er sich rasch seinen geliebten Schnuller in den Mund, auf den er immer noch nicht verzichten will, obwohl Jenny sich oft darüber lustig macht.
Gemeinsam verlassen sie als Letzte den Schulhof.
„Du Baby“, murmelt Jenny grinsend beim Anblick des eifrigen Nuckelns ihres kleinen Bruders.
Empört knufft dieser sie in die Seite. Doch das stört sie nicht. Lachend hält sie ihr Gesicht in die Sonne, als sie und Benjamin den Gehweg entlang in Richtung ihres Zuhauses gehen. Es ist so schön warm, vielleicht baut ihre Mutter sogar schon den Rasensprenger auf. Es gibt kaum etwas Tolleres, als in Badekleidung durch die Tröpfchen zu springen.
„Benny, wollen wir die Jacken ausziehen? Ich finde, heute dürfen wir.“
Gesagt, getan: Die beiden befreien sich von ihren Jacken und binden sie um die Hüften. Es sieht lustig aus, wie Bennys Jacke fast auf dem Boden schleift. Sie ist ihm noch viel zu groß. Doch ihre Mama hat gesagt: „Da wächst du rein, wart’s ab, geht ganz schnell!“
An den kleinen, hübsch angelegten Gärten biegen die Geschwister ab, doch plötzlich legt sich eine riesige Hand auf Jennys Gesicht. Gleichzeitig wird sie um die Hüfte gepackt und hochgehoben. Sie bekommt einen fürchterlichen Schreck. Als der erste Schock sich legt, wehrt sie sich verzweifelt, kann aber nicht viel ausrichten, der Griff ist viel zu fest. Sie versteht nicht, was gerade passiert. Was will dieser Mann von ihr? Instinktiv versucht sie, in seine Hand zu beißen. Die riecht ölig und schmeckt bitter. Durch die dicke Hornhaut auf der Handfläche kommt sie nicht durch. Da entfernt die Hand sich auch schon und schießt mit einem Stück klebrigem Papier zurück auf ihren Mund. Sie will schreien, kann aber ihre Lippen nicht mehr voneinander lösen.
Ihr Blick wandert panisch durch die nähere Umgebung, doch es ist niemand zu sehen. In ihrer Hilflosigkeit fluten die ersten Tränen ihre Augen.
Ein großer Mann hält Benny gepackt. Ähnlich wie sie ist ihr Bruder von hinten umklammert worden, und auf seinem Mund klebt metallisch glänzendes Klebeband. Der Mann sieht gruselig aus mit seinen Stoppelhaaren und den vielen Narben auf der Kopfhaut. Jenny hat Angst, den Mann anzusehen, der sie festhält. Bestimmt sieht der genauso gruselig aus. Und sie hat Angst um Benny, er ist noch viel kleiner als sie und weint schnell, besonders ohne seinen Schnuller. Der liegt auf dem Boden und keiner der Männer macht Anstalten, ihn aufzuheben. Stattdessen schubsen sie die Geschwister vor sich her, tiefer in die Kleingartenanlage hinein.
Die Gärten, die sich links und rechts hinter teils dichtem Gestrüpp verbergen, wirken wie verwaist. Alles Leben scheint verschwunden. Und auch Jennifers Drang, sich zu wehren, schwindet. Traurigkeit und Angst mischen sich mit ihrer Verwirrung und der Sorge um den kleinen Bruder. Unter heftigem Schluchzen mustert sie die einzelnen Pflastersteine, die den Weg bedecken. Als sie durch ein Gartentörchen eine Frau entdeckt, die sich mit einem Buch in der Hand auf einer Liege sonnt, hält sie abrupt die Luft an. Dann fängt sie energisch an zu schreien, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Mmmmmh!“, presst sie, so gut es geht, durch die geschlossenen Lippen.
Doch leider vergeblich. Brutal drückt der große Mann, der dicht hinter ihr ist, ihren Kopf unter seine Jacke und geht zügig weiter. Als sie wie wild nach ihm tritt, hebt er sie kurzerhand hoch und schleppt sie unterm Arm weiter. Für Jennifer ist das nicht gerade bequem; der feste Griff tut ihr ganz schön an den Rippen weh. Und je mehr sie zappelt, desto mehr Schmerzen bereitet es ihr. Jenny hofft, dass die Frau sie bemerkt hat und ihr gleich zu Hilfe kommt, aber der Mann biegt mit ihr unter dem Arm um eine Ecke und um noch eine und nichts passiert.
Irgendwann hält der Mann an und stellt Jennifer wieder auf die Füße. Erst jetzt sieht sie sein finsteres Gesicht. Seine dicken Augenbrauen verschwinden halb unter einer schwarzen, kaputten Rollmütze und an seinen Lippen hängt Kruste von einer Wunde. Der andere Mann schubst Benny zu ihr und die Kinder klammern sich sofort Halt suchend aneinander.
„Mach auf“, befiehlt Jennys Entführer dem Narbenmann und deutet auf die Schiebetür zum Laderaum eines Kleintransporters.
Die Tür quietscht laut. Jenny kriegt davon eine Gänsehaut. Sie weiß immer noch nicht, was hier passiert und was sie jetzt tun soll. In der Schule hat man ihr erklärt, dass sie nicht mit Fremden mitgehen und nicht in fremde Autos steigen soll. Und sie soll sich wehren und laut rufen, wenn ein Erwachsener etwas macht, das sie nicht will. Aber keiner hat ihr gesagt, was sie tun soll, wenn sie nicht rufen kann. Oder wenn ihre Gegenwehr den Erwachsenen völlig egal ist.
Der Narbenmann fesselt Benny mit einem Seil, dann kommt er zu ihr, bindet auch ihre Arme auf dem Rücken zusammen und stößt sie und ihren Bruder in den Transporter. Schmerzhaft schlägt sie auf dem rauen Boden auf. Das Seil tut ihr an den Handgelenken weh. Sie rappelt sich hoch und schaut zu Benjamin. Ihr Bruder ist weiß wie eine Wand und schaut sie nur mit riesigen, runden, tränennassen Augen an. Der Anblick macht Jenny noch viel mehr Angst.
Mit einem Knall rumst die Tür ins Schloss, dann herrscht Stille. Zu hören ist nur das panische Atmen von Benjamin. Als der Motor angeht, ruckelt der Boden wie verrückt und hört stundenlang nicht mehr auf.
12:45 Uhr
Lars fährt sich grübelnd durch die Haare. Zwischen den Töpfen und Pfannen der Großküche hindurch ist er bis zur Spülmaschine gehuscht, an der er gerade Dienst hat. Nervös stapft er von links nach rechts und wieder zurück, immer an dem blechernen Ding vorbei.
„Der Austritt Deutschlands aus der EU … nein, das interessiert doch keinen“, murmelt er. „Mission zum Mars? Zu abgelutscht. Mensch, welches Thema nehme ich nur?“
Die Spülmaschine piepst. Na endlich. Mit aller Kraft stemmt er den vorstehenden Hebel nach oben und öffnet so das Gerät. Eine dicke Wolke aus heißem Dampf pufft ihm direkt ins Gesicht.
„Pah, pfui!“ Röchelnd wedelt er mit den Armen in der Luft bis schließlich fein säuberliche Reihen aus Tellern und Tassen zum Vorschein kommen.
Stück für Stück räumt er die Maschine aus und stellt die Sachen in die dafür vorgesehenen Schränke aus Edelstahl, die sich in großer Zahl aneinanderreihen. Anschließend wartet schon der nächste Schwung benutzten Geschirrs auf einer Anrichte darauf, von ihm gesäubert zu werden.
„Fortpflanzung auf dem Mars? … Ach, so ein Quatsch, nein! Los, denk nach!“, sagt er und drückt den sperrigen Hebel wieder nach unten. „Mir muss doch was …“
„Lars, hilfst du mir grad mal?“, ertönt es von weiter hinten.
„Komme!“
Während Lars völlig in Gedanken versunken zu seiner Kollegin schlurft, stößt er unvermittelt gegen irgendetwas.
„Uff.“ Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Stapel Teller, den er gerade gerammt hat, und der nun bedenklich zu schwanken anfängt. „Oh, nein!“
Schnell versucht er, seine Arme um den Turm zu legen, doch zu spät. Das schlichte Porzellan kracht mit lautem Geschepper zu Boden.
„Oh nein, das tut mir leid!“
Seine Kollegen sehen ihn kopfschüttelnd an. Da sind sie wieder, diese verständnislosen Blicke, fast schon verächtlich. So, als wolle man ihn am liebsten erwürgen. Dabei kann er doch nichts dafür, wenn ständig jemand diese sperrigen Rollwagen mit schmutzigem Geschirr kreuz und quer in der Spülküche abstellt.
Den Blick weiterhin auf den Scherbenhaufen gerichtet, geht Lars weiter zu seiner Kollegin. Aus den Augenwinkeln erkennt er, dass sie ihm etwas reicht. Ohne aufzusehen, streckt er ihr die Hand entgegen.
„Hast du’s?“, fragt sie skeptisch.
Lars nickt. „Hmm.“
Doch kaum, dass er begreift, dass ihm ein paar Tabletts in die Hand gedrückt werden, plumpsen sie auch schon zu Boden. Es ist ein höllischer Lärm. Erschrocken hält Lars sich die Hand ans Herz.
„Och Mensch, Lars!“, plärrt es sofort aus sämtlichen Richtungen.
Lars zieht den Kopf ein. „Tut mir leid.“
„Du bist nicht bei der Sache. Pass ein bisschen besser auf.“
„Ich weiß, tut mir leid, Nicole.“
Demütig bückt er sich nach den spiegelnden Tabletts, wobei ihm seine Kollegin hilft.
„Immer noch keine Pulitzerpreis-verdächtige Idee für deine Abschlussprüfung?“, fragt sie ihn mitleidig.
„Nein“, seufzt Lars. „Und die Zeit wird langsam echt knapp.“
„Dir wird schon noch was einfallen, du bist doch sonst immer so kreativ.“
„Ich weiß, aber …“
„Kuckenheim!“, schallt es plötzlich durch die Küche.
In seinem Schreck lässt Lars wieder sämtliche Utensilien fallen.
Ein rundlicher Mann mit mächtigem Bauch kommt auf ihn zu. „Was machst du denn? Das ist schon das vierte Mal heute!“
„Ich, äh, tut mir leid, ich räum das weg.“
„Spar dir das, hau ab nach Hause!“
Lars schaut ihn verdutzt an. „Was? Nein! Nein, es tut mir leid, ich passe jetzt besser auf, versprochen.“
„Komm wieder, wenn du dich konzentrieren kannst.“ Mit diesen Worten macht sich der Chefkoch zurück auf den Weg in die Kochküche.
Anschließend verlässt auch Lars mit gesenktem Blick den weiß gekachelten Raum. Beim Hinausgehen spürt er, wie ihm Nicole mitleidig über die Schulter streicht.
Draußen scheint die Sonne, viel zu schön für so einen missratenen Tag. Missmutig schleicht Lars die Straße entlang, als ihn die Titelmelodie zu „Heidi“ aus den Gedanken reißt. Als er auf dem Display seines uralten Nokia-Handys sieht, wer ihn anruft, bildet sich dicke Gänsehaut auf seinen Armen.
„Hey, Martina!“, grüßt er sie. „Musst du nicht arbeiten?“ Sein Blick wandert auf die Armbanduhr, deren leicht verbogener kleiner Zeiger in Richtung der eins zeigt.
„Doch, ja, ich verlängere meine Pause.“
„Du klingst nicht gut, was ist passiert?“
Martina atmet tief aus. „Ich hasse ihn so sehr.“
„Oje, schon wieder Probleme mit deinem Typen?“
„Können wir uns treffen?“
„Was? Jetzt?“ Lars’ mitleidige Schnute verwandelt sich in ein begeistertes Grinsen. „Na klar, gern! Wo denn?“
„An unserem Treffpunkt?“
„Okay, ich bin gleich da. Bis gleich.“
Martina will ihn sehen! Heute könnte doch noch ein guter Tag werden. Kaum hat er sein Handy weggepackt, macht er sich schleunigst auf den Weg zum Zimt & Zucker, wo sie bereits auf ihn wartet. Ihre strohblonden Locken leuchten in der Sonne.
„Hey du!“, begrüßt er seine beste Freundin und nimmt sie fest in den Arm.
Seine Nase taucht tief in den fluffigen Wollstoff ihres übergroßen Kuschelpullis und atmet den herrlichen Duft von Blumen ein.
„Hi, mein Großer“, grüßt auch sie ihn freudestrahlend. Um die Umarmung zu erwidern, muss sie sich auf Zehenspitzen stellen. Dann schweift ihr Blick über die vielen Menschen in der näheren Umgebung. „Wollen wir lieber woanders hingehen?“, fragt sie.
Lars nickt. Auch wenn sie das Ambiente des urigen kleinen Cafés mit seinen bunt zusammengewürfelten Tischen und Stühlen lieben; um diese Zeit gibt es wirklich ruhigere Orte.
„Zu dir oder zu mir?“, fragt er und wird ganz hektisch. „Nein! Also, ich meine …“ Er fuchtelt mit den Armen in der Luft.
Martina wirft ihm einen belustigten Gesichtsausdruck zu. „So, so.“
„Wir können zu mir“, sagt er schließlich mit knallrotem Kopf. „Also, wenn du magst.“
„Klar, gehen wir.“
Eingehakt bei seiner alten Kindergartenfreundin stapft er mit ihr die schmale Straße entlang. Lars kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich auf diese Weise zu ihm nach Hause bewegt haben.
Er wohnt in einem hübschen kleinen Altbau, der sich zwischen zwei ebenso betagte Häuser zwängt. Dort angekommen, werden sie sofort von seinem riesigen Schildpatt-Kater begrüßt, der regelrecht über Martina herfällt.
„He, Hannibal!“, mischt Lars sich ein und nimmt das Tier hoch, um endlich ins Innere des Hauses zu gelangen.
Im Flur entledigen sie sich ihrer Schuhe und Jacken und schleichen die Treppe hoch in den ersten Stock. Den unteren Teil bewohnt seine Tante, die ihm für die Zeit seines Studiums ein Zimmer und das Bad im Obergeschoss zur Verfügung stellt. Es ist kein sehr großes Zimmer, bis auf ein altes Schlafsofa und einen kleinen Schreibtisch neben einem ausrangierten Kleiderschrank findet kaum etwas Platz. Aber Lars ist absolut zufrieden damit und kann sogar ein wenig Geld sparen. Denn obwohl er neben seinem Job als Volontär zwei bis dreimal die Woche in der Großküche eines Krankenhauses aushilft, kann er sich die Mieten in der Stuttgarter Innenstadt einfach nicht leisten.
„Setz dich doch“, bietet er seiner Freundin den Schreibtischstuhl an und lässt sich selbst auf das Sofa fallen.
Doch Martina scheint viel zu aufgebracht zu sein, als dass sie sich jetzt einfach ruhig hinsetzen könnte.
„Kannst du dir das vorstellen?“, fragt sie mit wedelnden Armen. „Da ruft mich der Kerl doch tatsächlich an, um mir zu sagen, dass er keine Zeit für unser Date hat.“
Lars sieht sie stumm an. Er hat absolut keine Ahnung, wovon sie spricht.
„Nur, weil sich ein paar Kumpels spontan mit ihm treffen wollen! Ich meine, wir planen das Date ja auch erst seit zwei Wochen, warum sollte er es dann nicht in letzter Sekunde absagen?“
„Das Treffen war heute?“
„Ja! Ist das zu fassen? Ich dachte, er freut sich auf mich, aber ich bin ihm offensichtlich scheißegal!“
Martina ist schwer damit beschäftigt, wie eine Irre durchs Zimmer zu wandern und bei jedem dritten Wort in ihr dickes, lockiges Haar zu greifen. Erst nach etwa 20 Minuten hält sie inne und schaut Zustimmung suchend zu Lars.
„Ist das zu fassen?!“, wiederholt sie ein bisschen energischer.
Erschrocken fährt Lars auf. „Ähm, ja, das ist echt das Letzte!“
Martina schaut ihn ungläubig an. „Veräppel mich nicht, Lars.“
„Entschuldige.“ Überfordert reibt er sich die Augen und seufzt schwer.
Heute ist einer dieser Tage, die er am liebsten aus den Kalender reißen und aufessen würde. So sehr er sich auch bemüht, schafft er es einfach nicht, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Nach einem weiteren schweren Seufzer setzt sich seine Freundin zu ihm aufs Sofa und kuschelt sich an ihn.
„Ärger in der Redaktion?“, fragt sie mitleidig.
Lars schüttelt den Kopf.
„Ärger im Krankenhaus?“
Lars nickt. „Einer der Köche hat mich heute rausgeschmissen. Ich wär zu tollpatschig.“
„Wie kommt der denn darauf?“, fragt Martina.
Lars beschließt, ihren ironischen Tonfall zu ignorieren. „Versteh ich auch nicht.“
„Vergiss es einfach. Beim nächsten Mal läuft’s besser.“
Ihre Arme schlingen sich ganz eng um ihn. Lars schließt die Augen und genießt diesen Moment. Auf einmal poltert es an der Tür. Und ehe Lars das Bewusstsein ganz wiedererlangt, wendet sich seine wunderbar warme Freundin von ihm ab und nimmt den neugierigen Kater auf den Arm, der gelernt hat, sich Zutritt zu allen Räumen zu verschaffen.
„Hallo, du süßes Knuddelmonster“, nuschelt sie in das bunte Fell.
Während sie es sich mit dem Schmusetiger auf dem Schoß auf dem Sofa gemütlich macht und ihn ausgiebig streichelt, beobachtet Lars die beiden mit einem schmachtenden Lächeln. Wie gerne er doch jetzt an Stelle der Katze wäre. Seit Jahren hat keine Frau mehr so innig mit ihm geschmust. In Gedanken lässt er seinen Arm um ihre Schultern gleiten und streichelt sie sanft am Nacken. Er rückt immer näher. Bald kann er ihr Gesicht ganz nah an seinem spüren, es fehlen nur noch ein paar Millimeter. Seine Lippen tasten sehnsüchtig nach ihrer samtig weichen Haut …
Eine Stimme holt ihn zurück ins Hier und Jetzt. „Lars?“
„Ja?“, fragt er verlegen und nimmt seinen Arm wieder herunter, der es nicht einmal bis zu ihrer Schulter geschafft hat.
„Ich muss langsam los.“
Lars sieht sie überrumpelt an. „Was? Warum? Nein, bleib doch noch.“
„Ich bin noch mit ’ner Freundin verabredet.“
„Oh … tut mir leid, ich wollte nicht, dass du … ich wollte, ich könnte …“
„Alles gut.“ Sie nimmt ihn in den Arm. „Wir reden morgen weiter, wenn wir dazu in der Lage sind.“
Lars atmet ihre Nähe tief ein. „Ist gut.“
Noch Stunden später sitzt Lars auf dem Sofa und überlegt krampfhaft, ob er in seiner Trance irgendwas nicht mitbekommen hat.
13:30 Uhr
Im Fahrerraum des Kleintransporters döst Sergej, während Oleg mit einer Hand hektisch im Handschuhfach wühlt. Immer wieder scharrt er die Notizzettel, gebrauchten Taschentücher und Zigaretten von einer Seite auf die andere. Dazwischen kommen mehrere leere Fläschchen zum Vorschein, die er wütend zurück in das Fach wirft. Wo zum Teufel sind die vollen Flaschen?
„Scheisendreck“, murmelt er mit russischem Akzent, während er in eine Seitenstraße biegt. „Hey, du, aufwachen!“ Mit einem Stoß reißt er seinen Nebenmann aus dem Schlaf. „Dreckskerl! Wo hast du’s?“
Sergej sieht ihn verschlafen an. „Wo hab ich was?“
„Was wohl? Hast du etwa schon wieder alles leergesoffen?“ Wütend greift Oleg nach einem der Fläschchen und wirft es Sergej gegen sein schweißgetränktes Hemd. In seiner Wut gerät sogar das Fahrzeug ins Taumeln.
„Alter, was willst du von mir?“, wehrt sich Sergej. „Was kann ich dafür, wenn du zu besoffen bist, um dich zu erinnern.“
Oleg mag es nicht, verarscht zu werden. Und noch viel weniger mag er es, wenn man ihn als versoffenen Idioten abstempelt.
„Ich schwöre“, brummt er böse, „wenn ich dich erwische, wie du gehst an meine Vorräte, gnade dir Gott.“
„Ja, ja“, entgegnet Sergej. „Weiß René eigentlich, dass du während der Arbeit trinkst?“
Stille.
Die Männer fahren weiter. Oleg ist wütend auf seinen Kollegen. Scheiß doch auf René, ohne Wodka übersteht er den Tag nicht! Erst, nachdem sie die letzte Stadt hinter sich gelassen haben und durch ländliche Gefilde fahren, entspannt er sich ein wenig.
„Du, sag mal“, setzt Sergej an, wird jedoch von Oleg unterbrochen.
„Halt die Klappe!“
„Ich wollte doch nur …“
Oleg sieht finster zu ihm rüber. „Was sagte ich gerade?“
Wortlos lehnt Sergej sich in seinen Sitz. „Hast du dein Geld eigentlich schon?“, fragt er schließlich.
„Natürlich“, brummt Oleg. „René würde es nicht wagen, mir mein Anteil vorzuenthalten.“
„Dann sollte ich vielleicht mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden.“
„Wieso das?“
Sergej zögert. „Weil die Flachwichser in dieser Branche anscheinend bevorzugt behandelt werden.“
Sofort steigt Oleg in die Eisen. Die Reifen quietschen und hinterlassen schwarze Bremsspuren auf der bröckeligen Landstraße. „Was war das gerade?!“
Sein Mund beginnt beinahe zu schäumen. Niemand nennt ihn einen Flachwichser!
„Ist der Flachwichser jetzt etwa auch noch taub?“, entgegnet Sergej.
Rot vor Wut holt Oleg aus und schlägt dem Großmaul mit der Faust in sein dreckiges Mundwerk. Dieser zögert nicht lange und kontert mit einem gezielten Gegenschlag. Fast entsteht eine Prügelei, die Oleg jedoch vorzeitig durch ein Handzeichen beendet. Es ist nicht gut, vor René blutverschmiert aufzukreuzen. Wortlos wischen sie sich das Blut von der Nase und fahren weiter.
Noch eine ganze Weile murmelt Oleg auf Russisch wilde Flüche vor sich hin. Erst als aus dem Laderaum pochende Geräusche zur Fahrerkabine dringen, wird er von seinen trüben Gedanken abgelenkt.
„Seid gefälligst still!“, brüllt er nach hinten und haut selbst kräftig gegen das über die Jahre total verbeulte Blech.
Wenig später kommen sie an einer Tankstelle zum Stehen. Während Sergej den Wagen volltankt, erleichtert Oleg sich in einem Gebüsch. Außer ihnen scheint heute kaum jemand unterwegs zu sein. Lediglich ein weiteres Auto wartet an einer der Zapfsäulen, während sein Besitzer den Sprit bezahlt.
Als Oleg vom Pinkeln zurückkommt, bemerkt er den Blick eines kleinen Mädchens, das auf der Rückbank des roten Wagens an der Zapfanlage sitzt.
„Was guckst du?“, fragt er, doch die Göre lässt sich nicht beirren und starrt ihn weiter an.
Oh, wie Oleg Kinder hasst! Genervt hebt er den Mittelfinger in Richtung des Mädchens und verzieht das Gesicht zu einer Fratze. Die Kleine wendet sich entsetzt ab. Triumphierend setzt Oleg seinen Weg zum Transporter fort, als plötzlich die Polizei auftaucht. Langsam fahren sie zwischen den stehenden Fahrzeugen hindurch und mustern deren Insassen.
Der Streifenwagen kommt zum Stehen. Als die Polizisten aussteigen, hängt Sergej den Schlauch in aller Ruhe zurück in die Halterung und macht sich unter strenger Beobachtung der Wachmänner auf den Weg zur Kasse. Auch Oleg nehmen sie genau in Augenschein. Bevor er einsteigt, schließt er noch schnell seinen Hosenstall.
Endlich kommt Sergej zurück und Oleg startet den Motor, da klopft es an der Scheibe. Einer der Polizisten bittet ihn durch ein Handzeichen, das Fenster runterzukurbeln. Die beiden Russen sehen sich kurz an. Dann kommt Oleg schweren Herzens der Bitte nach.
„Guten Tag, Herr Polizei“, sagt er mit einem falschen Lächeln. „Kann ich Ihnen helfen?“
Der Wachmann betrachtet kritisch den Innenraum der Fahrerkabine. „Dies ist eine Verkehrskontrolle. Darf ich Sie um Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere bitten?“, seufzt er schließlich.
„Aber natürlich“, antwortet Oleg fast schon übertrieben charmant und überreicht die geforderten Unterlagen. Er spürt kleine Tröpfchen, die sich an seiner Schläfe bilden.
Nach einem kurzen Blick auf die Papiere nickt der Mann in Uniform. „Vielen Dank, Herr Kolesnikow.“
Olegs um das Lenkrad gekrampfte Hände entspannen sich und er atmet tief aus. Dabei bemüht er sich nach wie vor um Unauffälligkeit – bloß nicht auf den letzten Metern noch Verdacht erregen.
Aber gerade, als der Polizist ihm seine Unterlagen zurückgeben will, hört man aus dem Laderaum einen dumpfen Schlag. Oleg kneift die Augen zusammen. Ausgerechnet jetzt müssen die scheiß Blagen Lärm machen! Sofort tritt der Polizist wieder näher an das Fahrzeug und mustert die Fahrerkabine. Dann schwenkt sein Blick nach hinten.
„Würden Sie bitte den Laderaum öffnen?“, fragt er.
Oleg schluckt. Seine Kehle ist staubtrocken. Alles vorbei, jetzt ist alles vorbei.
„Selbstverständlich“, presst er hervor, steigt angespannt aus und folgt dem Polizisten zur Schiebetür. Dabei versucht er, so viel Zeit wie möglich zu schinden. Vielleicht kommt ihm ja noch eine Idee, wie er aus dieser Lage wieder rauskommt. Aber mehr, als langsam und behäbig nach hinten zu schlappen, fällt ihm nicht ein.
Er schließt auf und drückt den Griff runter. Stück für Stück öffnet sich die lange Schiebetür, bis der lackierte Kork zum Vorschein kommt.
„Reicht schon, danke“, sagt der Polizist und leuchtet mit einer Taschenlampe in den dunklen Raum.
Der Lichtstrahl wandert über den Boden, bis ganz zum Ende. Oleg kneift die Augen zusammen.
Dann geht die Taschenlampe wieder aus. „Gut, alles in Ordnung. Sie können die Tür wieder schließen.“
Oleg kann es nicht fassen. Ist der Mann blind? Misstrauisch wirft er nun selbst einen Blick in den Laderaum und tatsächlich, es ist nichts zu sehen. Langsam schiebt er die Tür zurück ins Schloss. Sein Blick schweift dabei unauffällig über die gesamte Anlage der Tankstelle.
„Altes Auto, hm?“, reißt sein Gegenüber ihn aus seinen Gedanken. „Da knackt und knarzt es an allen Ecken.“
Noch immer ist Oleg total irritiert. Sind ihm die Knirpse etwa entkommen? Ohne seine Aufmerksamkeit von der Umgebung zu lösen, nickt er. „So ist das, wenn Chef kein Geld für gutes Auto rausrückt.“
Endlich bekommt er seinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere zurück. Erleichtert schnauft er durch. Das war verdammt knapp. Aber wo zum Teufel sind die Kinder? Als er die Fahrertür öffnet, sieht er, dass Sergej die beiden zwischen den Beinen hat und ihre Köpfe nach unten drückt.
Oleg bleibt regungslos stehen. „Wie hast du …?“
„Jahrelanges Training“, antwortet Sergej grinsend. „Los, fahr jetzt, bevor sie die hier noch entdecken.“
Das lässt sich Oleg nicht zweimal sagen. Ohne weitere Zeit zu verlieren, tritt er aufs Gas und macht sich vom Acker.
26. Mai – 16:00 Uhr
(Mittwoch)
Nach einer endlos langen Fahrt hält das Auto endlich wieder an. Jennifer horcht auf. Dann öffnet sich plötzlich die Tür an der Seite. Es quietscht ganz fürchterlich. Jenny kriegt richtige Ohrenschmerzen von dem schleifenden Geräusch.
„Los, raus da!“, befiehlt der kräftige Mann mit der Mütze ihr und ihrem Bruder.
Noch bevor sie sich rühren können, greift er in den Wagen, packt sie unsanft an den Armen und zieht sie hinaus, bis sie auf den steinigen Boden fallen. Jenny rappelt sich hoch und schaut sich um. Sie befindet sich auf einem großen Platz umringt von riesigen Bäumen, Sträuchern und Felsen, die einen steilen Hang hinabklettern. Die untergehende Sonne taucht sie in ein sattes Orange. Vor ihnen türmen sich die Felsen zu einem gewaltigen Bogen, der aussieht wie ein mächtiges Dach über dem Eingang zu einer Höhle.
„Hoch mit euch!“, sagt der böse Mann und hievt die Kinder auf ihre zittrigen Beine.
Beim Anblick des wuchtigen Felsmassivs erlangt Jenny ihre Stimme wieder und schreit los. Im Wagen hat sich das Klebeband von ihrem Mund gelöst, wie ein Pflaster, wenn es zu nass wird. Aus Leibeskräften brüllt sie nach Hilfe. Aber leider nicht sehr lange, denn der böse Mann schlingt sofort seinen Arm um ihren Kopf und hält ihr den Mund zu. Es fühlt sich an, als würde er ihren Kopf zerquetschen. Jenny versucht mit aller Kraft, dem festen Griff zu entkommen, aber sie kann nichts ausrichten.
So fühlt sich das bestimmt an, wenn man von einem Bär umarmt wird. Jenny wurde noch nie von einem Bär umarmt, aber so stellt sie es sich vor. Genauso fest mit den breiten Tatzen. Panisch sieht sie, wie aus der Höhle weitere Männer auf sie zukommen. Genau wie die Kerle, die sie entführt haben, sind auch sie ziemlich schmutzig und schauen grimmig drein. Noch immer versucht sie, sich zu befreien, aber sie hat immer weniger Kraft. Und auch Benjamin sieht alles andere als in Ordnung aus. Seine sonst rosigen Wangen sind knallrot, genauso wie seine Augen.
„Stell sie endlich ruhig“, sagt jemand aus der Menge und deutet auf Jenny.
Sie schreckt zusammen. Was bedeutet das? Was werden sie jetzt mit ihr tun? Schon macht der Mann, der sie umklammert hält, kurzen Prozess. Mit einem Ruck reißt er ihr den letzten Fitzel Klebeband aus dem Mundwinkel. Jenny hat das Gefühl, als hätte man ihr die Haut gleich mit abgerissen. Es brennt wie ein heißes Bügeleisen. Dann klebt er ihr den Mund erneut zu. Wenigstens ist das neue Klebeband angenehm kalt.
„Ihr lernt jetzt euren neuen Boss kennen“, sagt der Mann schließlich mit tiefer, rauer Stimme. „Und wehe, ihr benehmt euch nicht.“
Starr vor Angst beobachtet Jenny, wie die Gestalten auf sie zukommen. Ihr Herz klopft wie wild. Wie sehr sie sich jetzt ihre starke Mama hierher wünscht. Die würde sie retten. Ihre Mama hat sogar schon mal einen bösen Hund vertrieben, der Jenny beißen wollte. Wäre sie doch jetzt nur hier.
Aus der Menge tritt ein Mann. Er sieht ganz anders aus als die anderen Männer. Wie ein Engel, findet Jenny. Seine weiße Hose leuchtet und die blonden Haare sind ordentlich zu einem Seitenscheitel gekämmt. Sogar seine Haut ist wie die eines Engels. So helle Haut hat Jenny noch nie gesehen. Sie wirkt fast weiß, genau wie seine Haare. Und seine Nase ist nicht so krumm oder breit oder höckrig wie bei den anderen Männern, sondern schön gerade mit einem leichten Schwung. Als er vor den staunenden Kindern steht, mustert er sie ausgiebig.
„Dreh dich doch bitte mal“, sagt er zu Benjamin. Seine Stimme ist glockenhell.
Jennifer bemerkt, dass Benny das nicht machen will. Er drückt sich ganz eng an sie. Doch schon reißt ihn der Mann mit den Narben von ihr los und dreht ihn gewaltsam um. Benjamin beginnt zu schreien wie am Spieß. Er beruhigt sich erst, als er sich zurückdrehen darf.
„Das sind sie also“, sagt der helle Mann freundlich. „Nehmt ihnen die Fesseln ab.“
Jenny schaut ihn noch immer wie gebannt an. Ein bisschen steigt in ihr sogar neue Hoffnung auf. Vielleicht wird er ihnen ja helfen.
„Genau, René“, antwortet der andere, während er ihre Hände befreit. „Zugriff heute Mittag.“
René nickt zufrieden, dann kniet er sich vor das Geschwisterpaar.
„Hallo, meine Kleinen“, sagt er ruhig und sanft.
Fasziniert blickt Jenny in seine eisblauen Augen.
„Ich freue mich, dass ihr da seid. Ihr werdet mir eine große Hilfe sein.“
Jenny wird skeptisch. Will er ihnen doch nicht helfen? Sie beschließt, sich erst mal nicht von der Freundlichkeit des Mannes einwickeln zu lassen. Sicher führt er etwas im Schilde. Da lässt ihr Bruder auf einmal ihre Hand los und greift nach der des Mannes.
„Ihr seid weit gefahren, nicht wahr?“, fragt René verständnisvoll, während er sanft Benjamins Hand streichelt.
Der nickt eifrig. Jennifer kann kaum glauben, was Benny da tut.
„War die Fahrt sehr schlimm?“
Die Kinder bejahen das mit einem schüchternen Nicken. Jennys Zweifel wachsen. Was will er nur von ihnen? Und wann dürfen sie endlich nach Hause?
René streicht ihnen über die Wangen und wischt Jennifers Tränen weg. „Alles ist gut. Aber ihr dürft mir jetzt keine Schwierigkeiten machen, hört ihr?“
Stumm starrt Jenny ihn an. Dabei fällt ihr auf, wie eines seiner Augen immer wieder ganz merkwürdig zuckt.
„Ich möchte, dass ihr genau tut, was man euch sagt. Extrawünsche oder Weinen gibt es hier nicht. Hier ist auch keine Mama, nach der geschrien wird. Verstanden?“
Jenny hört auf zu atmen, so, als hätte man ihnen auch das verboten. Jetzt sind ihre Zweifel weg, die Angst ganz da. Das hier ist noch nicht vorbei, sie werden nicht einfach wieder nach Hause gelassen.
René schaut sie eindringlich an. „Wir sind ab jetzt eure Familie. Darum möchten wir auf euch zählen können. Sollte das nicht möglich sein, müssen wir euch leider bestrafen.“
Von einem der Männer, die mit ihm gekommen sind, bekommt er eine dicke Eisenstange.
„Seht ihr die hier?“ Er streichelt das schwarze Ding und legt es Jennifer in die Hände.
Sie sackt von dem Gewicht in die Knie.
„Wenn jemand nicht das tut, was ihm gesagt wird, bekommt er die hier übers Fell gezogen. Das ist nicht angenehm und ich habe kein Problem damit, euch jeden Knochen im Leib zu brechen.“ Er sagt das, als wäre es etwas Gutes.
Jennifer zuckt zusammen. Sie weiß, wie weh ein gebrochener Arm tut. Als sie vor ein paar Jahren mal von der Schaukel gefallen ist, tat ihr der Arm so doll weh, dass sogar ihr Bruder mit geweint hat. Und es hat lange gedauert, bis der Arm wieder gut war. Sogar einen Gips hat sie bekommen.
„Also, kann ich auf euch zählen?“, fragt René zuversichtlich, wenn auch wieder mit diesem seltsamen Augenzucken.
Jenny nickt heftig und sieht aus dem Augenwinkel, dass Benny es ihr gleich tut. Auf keinen Fall will sie riskieren, dass sie einen Fehler macht und mit dieser dicken Stange gehauen wird.
Dann richtet sich der helle Mann wieder auf und wendet sich den anderen Erwachsenen zu. „Gut, bringt sie rein.“
Die kleinen Beinchen ihres Bruders können kaum Schritt halten, als man ihn und Jenny durch scheinbar endlose Gänge tief in den Berg führt. Sie kann ihn keuchen hören und leise schluchzen. Es ist ein ganz merkwürdiger Ort. Der schmale Weg ist düster und gerade breit genug, dass eine einzige Person hindurch passt. Die großen Männer müssen sich sogar ducken. Auf dem Boden liegt viel loses Geröll, Jenny muss aufpassen, nicht zu stolpern oder auszurutschen.
Am Ende des Ganges kommen sie zu einer kleinen Kammer, in der viele Werkzeuge, Helme und Handschuhe lagern. Das Werkzeug sieht schon sehr alt aus und in den meisten Handschuhen sind große Löcher. Nur wenige sehen neu aus. Jenny hofft, welche von den Neuen zu bekommen, die sind viel hübscher als die zerfledderten alten Dinger, bei denen man nicht einmal mehr die Farbe erkennt. Aber entgegen ihren Erwartungen gibt man ihr überhaupt nichts. Stattdessen wird sie direkt weiter geschubst.
Von der kleinen Kammer gelangen sie immer tiefer in den Stollen. Der Gang wird nun von Schritt zu Schritt breiter und höher, bis die Decke schließlich viele Meter weiter oben im Dunkeln verschwindet. Hier und da erhellen Öllampen den Weg, die zwischen die Felsbrocken gerammt worden sind. Es riecht stickig und muffig und mit jedem Meter mehr nach Ruß und irgendwas Vergammeltem. Doch Jennys Erstaunen trübt das nicht. Sie schaut hoch und ist wie gefangen von dem Anblick, der sich ihr bietet. Die Höhle scheint mittlerweile ins Unendliche zu ragen. In ihre Angst und Verwirrung mischt sich Aufregung. Sie würde zu gerne wissen, was es hier im Berg alles gibt.
Benjamin hingegen scheint es gar nicht zu gefallen, ihm kullern ununterbrochen Tränen über die Wangen. Dabei sind hier auch viele andere Kinder, denen sie unterwegs begegnen. Die Kinder haben schweres Werkzeug und wühlen damit im Dreck. Jenny ist erleichtert, sie sind hier also nicht allein mit den unheimlichen Erwachsenen und dem hellen Mann. Doch die Gesichter der anderen Kinder sind ausdruckslos und von Schmutz und Schrammen bedeckt. Aus weiter Ferne hört man eines sogar weinen. Jennys Angst gewinnt wieder die Oberhand, ihre Neugier auf die Höhle ist vergessen.
Endlich bleiben die Männer stehen. Neben ihnen ist eine dicke Holztür, die der Mann mit der Mütze mühsam öffnet. Dahinter befindet sich eine winzige Ausbuchtung, viel zu klein für so eine große Tür. Jenny ahnt, was es damit auf sich hat. Ihre Mundwinkel werden immer schwerer, wie die Tür, die der Mann mit offensichtlicher Mühe offen hält. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck ändert sich auch nicht, als man ihr erneut das Klebeband vom Mund reißt.
„Los, rein da“, ächzt der Mann.
Jenny zögert. Da drin gibt es bestimmt kein Licht.
„Ich sagte, rein da!“ Mit einem kräftigen Stoß schubst er sie nach vorn.
Dann fällt auch schon die Tür zu. Jenny zuckt erschrocken zusammen und zieht den Kopf ein. Urplötzlich ist es ganz still. Das Letzte, was sie hört, sind die Schritte der Männer, die sich wortlos entfernen.
Hier drin ist es stickig und stockfinster. Jenny fällt es schwer, die Orientierung nicht zu verlieren, dabei ist die Tür nur einen Meter entfernt. Mucksmäuschenstill hockt sie da und versucht zu verarbeiten, was gerade mit ihr geschieht. Sie reibt sich über den Mund, der immer noch vom Klebeband brennt. Bestimmt blutet es. Dann fällt ihr der kleine Bruder wieder ein.
„Geht’s dir gut?“, fragt sie ins Dunkel.
„Nein“, schluchzt es zurück.
Vorsichtig tastet Jennifer nach Benjamin, traut sich aber kaum vom Fleck. „Wo bist du denn?“
„Hier.“
Sie hört ihn ganz in ihrer Nähe, bekommt ihn aber einfach nicht zu fassen. Auf einmal wird sie wieder panisch. „Sag mal noch was, damit ich dich finden kann.“
„Weiß nicht, was“, schluchzt er verzweifelt und beginnt, bitterlich zu weinen.
„Oh, Benny“, sagt Jennifer mitfühlend und fängt selbst auch an, zu weinen. Sie könnte sich dafür ohrfeigen, dass sie so große Angst im Dunkeln hat. „Warte, ich bin gleich bei dir.“
Langsam tastet sie sich Zentimeter für Zentimeter über den Boden. Er fühlt sich rau und kalt an. Und irgendwie wirkt der Raum jetzt gar nicht mehr so klein. Immer wieder greift sie ins Leere, bis sie endlich den Zipfel seiner Jacke an den Fingerkuppen spürt. Ihr Herz macht einen Sprung, sie hat ihn gefunden!
Erleichtert schließt sie Benjamins bebenden Körper in die Arme und drückt ihn fest an sich. Sie versucht, ihn mit leisen Worten und Streicheleinheiten zu beruhigen. Genau wie Mama das immer macht. Bei ihrer Mama klappt das jedes Mal. Wenn sie einen in den Arm nimmt, werden alle schlimmen Dinge viel kleiner und sind irgendwann ganz weg. Aber Mama hat auch immer einen Schnuller für Benny – Jennifer nicht. Benny weint und lässt sich nicht trösten, und der Schnuller liegt bestimmt immer noch draußen bei den Gärten im Schmutz.
21:00 Uhr
Ungeduldig wartet Marlies auf das Freizeichen des Telefons. Vom Vorbereiten des Abendessens trägt sie noch ihre grün karierte Schürze, auf der ein großes Huhn abgebildet ist.
Endlich meldet sich jemand: „Guten Tag, hier ist die Mailbox des Anschlusses von Frank Weber. Der Teilnehmer ist zurzeit leider nicht …“
„Mist!“, flucht Marlies und legt auf. Dann wählt sie die nächste Nummer auf ihrem Zettel.
„Gruber, hallo?“, meldet sich eine Frauenstimme.
Erleichtert fasst Marlies sich an die Stirn. „Ja, hi, hier ist Marlies Weber, die Mutter von Jennifer. Ich wollte nur fragen, ob die Lara Jennifer heute nach der Schule vielleicht mit nach Hause gebracht hat.“
„Hm, da müsste ich grad mal schauen, ich bin selbst eben erst nach Hause gekommen. Warten Sie bitte einen Augenblick.“
Kurz herrscht Stille. Marlies nutzt die Zeit, um die Liste durch ein paar Nummern zu ergänzen.
„Hallo?“, meldet sich Laras Mutter zurück.
„Ja, ich bin noch dran.“
„Lara sagt, sie hätte heute schon nach der vierten Stunde gehen dürfen, weil es ihr nicht gut ging.“
Marlies wird ganz blass. „Oh, okay, gut, dann weiß ich Bescheid. Dann versuche ich weiter mein Glück. Entschuldigen Sie die Störung.“
„Kein Thema“, antwortet Frau Gruber. „Viel Erfolg weiterhin! Meistens tauchen die Kleinen immer da auf, wo man am wenigsten mit ihnen rechnet.“
„Das stimmt wohl … danke schön.“
Eine kurze Weile hält Marlies den Hörer an ihre Brust. In ihren Augen sammelt sich Wasser. Das Atmen fällt ihr schwer. Lara ist die beste Freundin von Jennifer, deshalb war sie ihre größte Hoffnung.
Schnell gibt sie die oberste Nummer ein, bei der sie ihr Glück jetzt schon ein paar Mal versucht hat.
„Guten Tag, hier ist die Mailbox des Anschlusses …“
Wütend drückt Marlies die Auflege-Taste. „Schalt endlich dein verflixtes Handy ein, du Idiot!“, schimpft sie.
Wie kann er sie in dieser schweren Stunde nur so allein lassen? Egal, ob geschieden oder nicht, keiner hat es verdient, so etwas alleine durchstehen zu müssen.
Auch die weiteren Telefongespräche bringen sie kein Stück weiter. Niemand hat ihre Kinder gesehen. Dafür weiß aber absolut jeder irgendeinen schlauen Rat, den Marlies sich doch bitte zu Herzen nehmen solle. Wenn sie noch einen einzigen solchen Rat zu hören kriegt, dreht sie wahrscheinlich durch. Nur eine andere Familie, auch Eltern von Mitschülern, wartet selbst noch auf ihren Nachwuchs. Der soll aber wohl mit zu Freunden gefahren sein.
Nachdem die Telefonaktion nichts gebracht hat, macht sich Marlies auf den Weg von Haus zu Haus. In zunehmender Panik sucht sie jede Ecke, jeden Kaugummiautomaten, jeden Spielplatz akribisch ab und befragt jeden Fußgänger, der ihr begegnet. Das Ergebnis fällt ernüchternd aus. Allmählich glaubt Marlies tatsächlich, wahnsinnig zu werden. Bei jedem Haus, das sie ohne Hinweise verlässt, fällt ihr das Atmen schwerer. Sie bringt kaum noch die Kraft auf, weiterzugehen.
Wie gerne würde sie mit ihrem Ex-Mann sprechen, ihm erzählen, dass ihre gemeinsamen Kinder verschwunden sind, ihre Sorgen mit ihm teilen. Sich ein wenig an ihm festhalten. Aber seit Stunden geht er nicht an sein Handy, ruft nicht zurück und ist weder zuhause noch auf der Arbeit erreichbar. Was soll sie denn noch versuchen?
An der Ecke eines kleinen Autohändlers bleibt sie schließlich stehen und überlegt, wo sie noch nicht war. In ihrer Verzweiflung wünscht sie sich sogar ihre Eltern zurück ins Leben. Sicher wären die Kinder heimlich zu ihnen gegangen und hätten sich ganz frech bei Oma Regina mit Süßkram durchgefuttert. In Wahrheit haben die beiden Zuckermäulchen ihre Großeltern aber niemals kennengelernt, da die schon früh den Kampf gegen Krebs verloren haben. Marlies sackt in die Hocke. Sie ist mit den Nerven am Ende.
„Wo seid ihr nur?“, fragt sie unter Tränen und wirft den Kopf in den Nacken, um ihre Wut gegen den Mülleimer in ihrem Rücken zu donnern.
Nachdem sie das noch zwei weitere Male gemacht hat, vibriert ihr Handy. Sofort hält sie inne und greift in ihre Tasche.
„Marlies Weber, hallo?“, fragt sie unter Herzklopfen.
„Hey du, ich bin’s. Wo steckst du denn?“
„Ach, hi, du bist es.“ So schnell, wie sie sich aufgerichtet hat, sackt sie wieder in sich zusammen. „Du, Kerstin? Kannst du mich vielleicht abholen? Ich kann nicht mehr. Ich bin Ecke Forchenstraße.“
Ohne die Antwort abzuwarten, legt Marlies auf und lässt die Arme zu Boden sinken. Ihr Handy fällt dabei auf den spröden Bordstein, aber das ist ihr egal.
Kaum zehn Minuten später steht Kerstin vor ihr, eine schlanke Frau in sportlichem Outfit. Um ihren Hals baumeln Kopfhörer. Sie atmet hastig durch.
„Was machst du denn auf dem Boden?“, fragt Kerstin und streckt ihrer Freundin die Hand entgegen.
Marlies zögert einen Moment, ergreift dann aber doch Kerstins Hand und lässt sich hochziehen.
„Alles okay mit dir?“, hakt ihre Freundin nach.
Verzweifelt schaut Marlies sie an. Ihr Kinn beginnt zu beben. Sie merkt, dass sie gleich endgültig die Fassung verlieren wird. „Jenny und Benny sind verschwunden.“
Mit einem Mal bricht all der Kummer aus ihr heraus. Unter lautem Schluchzen fällt sie Kerstin in die Arme. Zum Glück fängt ihre Freundin sie auf und streichelt sofort beruhigend ihren Rücken.
„Was? Bist du sicher? Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?“
„Heute Morgen, vor der Schule. Ich bin so blöd! Ich hätte sie nicht alleine nach Hause gehen lassen dürfen. Ich wusste, sie sind noch zu jung. Aber Jenny hat so gebettelt und eigentlich sind es ja auch keine fünfhundert Meter und bisher ging ja auch immer alles gut.“ Marlies’ Stimme überschlägt sich fast.
Kerstin hält sie auf Armeslänge von sich und schaut sie ernst an. „Hast du schon überall nachgefragt?“
„Überall.“
„Na ja, vielleicht, wer weiß, vielleicht hat Jenny schlechte Noten in einem Test und traut sich nicht nach Hause. Und der Kleine bleibt ja dann notgedrungen bei ihr.“
Daran hat Marlies noch gar nicht gedacht, aber es klingt ihr auch viel zu abwegig. Jenny ist noch viel zu jung, das Notensystem kennt sie in der zweiten Klasse noch gar nicht. Da plappert Kerstin auch schon weiter.
„Vielleicht sind sie auch einfach nur bei den Ställen. Gab es nicht letztens wieder neue Fohlen? Jenny lässt es sich doch bestimmt nicht nehmen, mit denen Freundschaft zu schließen.“
Das leuchtet Marlies schon eher ein. Auch deshalb hat sie es schon so oft bei ihrem Ex-Mann versucht. Sie will gerade antworten, da fällt Kerstin schon was Neues ein.
„Oder weißt du was? Benny steckt bestimmt wieder irgendwo mit seinem dicken Bollerkopf fest und Jenny weicht ihm nicht von der Seite.“
Endlich schafft es Marlies, sie zu unterbrechen. „Nein. Ich meine, klar, kann sein, aber … ach, ich weiß es doch auch nicht. Es ist einfach nicht ihre Art, sich nicht zu melden. Selbst wenn ihr Bruder wieder ausprobieren wollte, ob er irgendwo durchpasst.“
„Auf jeden Fall solltest du die Kinder bei der Polizei als vermisst melden.“
Marlies schaut erstaunt auf. An diese Möglichkeit hat sie auch schon gedacht, sie dann aber verworfen, weil sie annahm, dass das übertrieben wäre. „Ja? Denkst du das auch? Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht überreagiere.“
„Quatsch, natürlich nicht! So was kann man gar nicht früh genug melden! Moment, ich rufe Lutz an.“
Sofort schnappt sich Kerstin ihr Handy und wählt die Handynummer ihres Mannes.
„Hi, Süßer, stör ich grad? … Okay, ich mach’s kurz. Die beiden Kleinen von Marlies sind verschwunden, kannst du uns da irgendwie helfen? … Seit heute Morgen … Ich weiß nicht, Marlies hat schon alles versucht … Ja … Oh, okay … Ja, gut, das machen wir. Bis später dann, Schatz.“
Neugierig mustert Marlies ihre Freundin. „Was hat er gesagt?“
„Wir sollen direkt bei der Polizei anrufen, die könnten uns besser helfen.“
„Ich denke, er ist Polizist?“
„Ja, aber nicht so einer. Hier, ruf du an, du weißt eher, was zu sagen ist.“
Sie streckt Marlies das Handy entgegen.
Unsicher starrt Marlies auf das metallisch-blaue Mobiltelefon. Dieser Anruf macht das Ganze so offiziell. Die Polizei … wenn die darüber informiert werden, gelten ihre Kinder wirklich als verschwunden. Vielleicht sollte sie erst noch warten, bis sie mit Frank gesprochen hat. Schließlich wählt sie dann aber doch die 110.
22:00 Uhr
Nach mehrmaligem Klingeln hebt endlich jemand ab. „Engelmann hier.“
„Ja, guten Abend, Herr Engelmann“, meldet sich René, „ich bin untröstlich, Sie so spät noch zu stören, der Anruf ließ sich leider nicht eher einrichten.“
„Ach, Sie sind’s, Herr Vena. Was wollen Sie denn?“, antwortet sein Gesprächspartner seufzend.
René atmet einmal tief durch und setzt sein grazilstes Lächeln auf. Das überträgt gute Laune, sogar am Telefon. „Es dürfte Sie interessieren, dass wir die Abholung vorverlegen können. Wir haben das Soll für diesen Monat erreicht und stehen für die Übergabe bereit. Wenn von Ihrer Seite nichts dagegen spricht, schon morgen. Am besten klären Sie das direkt mit Ihrer Spedition, damit es schnellstmöglich über die Bühne geht.“
„Gut. Das ist gut“, zeigt sich Herr Engelmann nun ein wenig enthusiastischer. „Sonst noch was?“
Die schmalen Lippen Renés pressen sich aufeinander. Er kann Engelmanns Unzufriedenheit förmlich durch das Telefon spüren. „Nein, nichts“, antwortet er deshalb, obwohl es eigentlich eine Menge zu klären gäbe. „Das war alles. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und bitte noch einmal um Verzeihung. Der Tag heute war ein einziges Chaos.“
„Aha“, kommt es betont uninteressiert aus der Leitung zurück. „Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn die Ware abholbereit ist, dann schicke ich meine Truppe los.“
Mit diesen Worten legt er auf.
René reibt sich mit seiner blassen Hand das Gesicht. So kann doch kein Tag enden! Telefonate mit seinem Geschäftspartner – seinem wichtigsten Kunden, wenn man so will – mag er gar nicht. Es ist schwer, Bernhard Engelmann für irgendetwas zu begeistern, es sei denn, es geht um gewonnenes Kapital. Und davon bekam er in den letzten Jahren reichlich.
Erschöpft greift René sich mit jeweils zwei Fingern an die Schläfen und massiert sie. Einen gut eingerichteten Arbeitsplatz, um den Papierkram zu erledigen, hat er hier unten tief im Berg nicht. Lediglich zwei Absperrstützen, die eine alte Holzplatte tragen, bilden den Schreibtisch.
René legt keinen Wert auf großartiges Brimborium wie massive Möbel oder ein bequemes Bett. Denn obwohl ihm sein Unternehmen beachtliche Einnahmen beschert, fühlt er sich in solch einer spartanischen Umgebung heimisch. Für mollige Wärme sorgt ein Heizlüfter. Seine einzigen Computer sind ein uralter Taschenrechner und ein kompliziert verdrahtetes Telefon, mit dem er die meisten Außengeschäfte abwickelt. Verträge und sonstige Unterlagen werden draußen angefertigt und ihm zugereicht. Aufwendigere Technik wäre schlicht zu umständlich ans Stromnetz zu bekommen. Zwar gibt es Generatoren, die bestimmte Bereiche im Bergwerk mit Strom für Arbeitsgeräte versorgen, doch Internet vermögen sie nicht bereitzustellen.
Auf einmal hört René ein dumpfes Geräusch im Flur. Es klingt, als hätte jemand einen Sack voller Kartoffeln fallen lassen. Kopfschüttelnd widmet er sich weiter seiner Massage, die heute aber einfach nicht zu wirken scheint. Vielleicht sollte er doch mal eines der Kinder hinzuziehen, das sich um so etwas kümmert. Deren Fingerchen sind zart und feinfühlig. Die rauen Hände seiner erwachsenen Mitarbeiter würden nur Furchen in seine sensible Haut ritzen.
Wieder hört er dieses merkwürdige Geräusch.
„Was um alles in der Welt ist denn da los?“
Genervt erhebt er sich von seinem Stuhl und folgt den Stimmen, die zu zwei seiner Angestellten führen. Er hätte es wissen müssen.
„Was bitte treibt ihr da?“, fragt er Sergej, der betroffen vor Oleg steht und versucht, ihm aufzuhelfen.
„Nichts, wir machen nur Spaß“, antwortet Sergej schnell und stößt Oleg leicht mit dem Fuß an. „Stimmt’s? Los, steh wieder auf.“
Neugierig stellt René sich daneben und streicht sich übers Kinn.
„Hey, Oleg, los steh auf“, sagt Sergej halb flüsternd und tritt ihn erneut, dieses Mal etwas fester.
Vom Boden dringt ein unverständliches Gemurmel nach oben.
„Bist du sicher, dass der noch aufstehen kann?“, fragt René.
„Ach, klar, der will mich nur verarschen.“
Nachdem sich Oleg immer noch nicht regt, hievt Sergej ihn schließlich hoch. Unter großer Mühe versucht er, den muskelbepackten Kerl aufzurichten. Dann gewinnt Oleg sein Bewusstsein wieder. René hingegen verliert allmählich die Geduld. So sollte wirklich kein Tag enden.
„Was hat das hier zu bedeuten?“, fragt er das schwankende Wrack.
Oleg versucht, seinen Chef anzusehen. „Das wüsschte ich auch gerne“, lallt er und lacht einmal auf.
Nachdem von ihm offenbar keine aussagekräftige Antwort zu erwarten ist, wandert Renés Blick zu Sergej.
„Wir sind gerade auf dem Weg ins Bett“, sagt dieser eilig und will seinen Kollegen zu den Schlafkammern der Aufseher zerren, doch Oleg weigert sich.
„Ich hab Hunger“, nuschelt er. „Lass uns gehen was zu essen.“
„Nein, wir haben schon gegessen. Komm jetzt gefälligst.“ Immer wieder versucht Sergej, ihn zum Weitergehen zu animieren.
„Lass mich, du Muschi“, sagt Oleg und fängt wieder an zu lachen.
Er will sich lässig an einem Felsvorsprung anlehnen, verliert dabei jedoch das Gleichgewicht und fällt zurück auf den Boden.
Genervt fasst sich René an die Schläfe. Nicht mehr lange, und die Kopfschmerzen bringen ihn um. Während seine Sorgenkinder anfangen zu diskutieren, wer wann ins Bett gehen soll und wann es denn überhaupt endlich Essen gäbe, entdeckt René einen Spaten, der an eine Wand gelehnt steht. Ohne, dass die beiden es merken, schnappt er sich das Werkzeug und haut es dem Erstbesten gegen den Schädel. Getroffen wird Sergej, der zu Boden fällt und regungslos liegen bleibt. Oleg, der mit zu Boden gerissen wurde, erhebt sich schwerfällig und hält seine verschmierten Hände schützend vor sich.
„Genug“, sagt René ruhig, während der Spaten – mit beiden Händen fest umklammert – eine ganz andere Sprache spricht. „Ich ertrage das nicht mehr.“
„Aber wir …“, will Oleg antworten, wird aber sofort unterbrochen.
„Und noch weniger ertrage ich euer sinnloses Gesaufe.“
„Ich haabe niechts getrunken“, wirft Oleg ein.
„Ach, ich bitte dich! Was du heute zum Abendessen hattest, riecht man drei Meilen gegen den Wind! Ich habe mir das nun lange genug angesehen. Du weißt, dass ich dich sehr schätze, sonst würde ich dich nicht hier verstecken. Aber so geht das auf keinen Fall weiter. Was soll ich deiner Meinung nach mit einer alkoholisierten Aufsichtskraft anfangen, die nicht mal mehr richtig stehen kann?“
„Du verrätst mich doch nicht bei Polizei, oder?“, fragt Oleg.
In Renés Augen macht sich ein Funkeln breit. Schlagartig glätten sich die Krater auf seiner Stirn. Er hätte nicht gedacht, in seinem langjährigen Mitarbeiter so etwas wie Vernunft zu finden. „Na, da sieh mal einer an.“ Der Spaten senkt sich. „Du erinnerst dich also, was für dich auf dem Spiel steht.“
„Natürlich“, entgegnet der Russe unterwürfig.