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Mit der Dunkelheit des Herbstes zieht das Unheil an der Schärenküste herauf ...
Mit dem Herbst brechen dunkle Tage über die schwedische Schärenküste herein. Die Feier einer Gruppe von Jugendlichen am Meer endet im Entsetzen, als um Mitternacht eine von ihnen bewusstlos und blutüberströmt an einem nahe gelegenen Bachlauf gefunden wird. Für Kommissarin Sofia Hjortén, selbst Mutter einer Tochter, und ihren Kollegen Fredrik Fröding wird der Fall zur Zerreißprobe. Denn die Freunde des schwer misshandelten Mädchens schweigen beharrlich. Und als die Ermittlungen kurz darauf eine erschütternde Wendung nehmen, müssen Sofia und Fredrik schnellstmöglich den perfiden Täter finden, bevor es ein weiteres Opfer gibt …
»Für alle, die die Bücher von Viveca Sten und Camilla Läckberg lieben. Lina Areklew schreibt absolut fesselnd. Herzrasen garantiert.« Nyhetsmorgon TV4
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mit dem Herbst brechen dunkle Tage über die schwedische Schärenküste herein. Die Feier einer Gruppe von Jugendlichen am Meer endet im Entsetzen, als um Mitternacht eine von ihnen bewusstlos und blutüberströmt an einem nahe gelegenen Bachlauf gefunden wird. Für Kommissarin Sofia Hjortén, selbst Mutter einer Tochter, und ihren Kollegen Fredrik Fröding wird der Fall zur Zerreißprobe. Denn die Freunde des schwer misshandelten Mädchens schweigen beharrlich. Und als die Ermittlungen kurz darauf eine erschütternde Wendung nehmen, müssen Sofia und Fredrik schnellstmöglich den perfiden Täter finden, bevor es ein weiteres Opfer gibt …
Weitere Informationen zu Lina Areklewsowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.
Lina Areklew
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Angela Beuerle
Die schwedische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Utan dig« bei Bazar Förlag, Bonnierförlagen, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2025
Copyright © 2024 Lina Areklew
First published by Bazar Förlag, Sweden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: FinePic®, München
Redaktion: Julie Hübner
KS · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32596-1V002
www.goldmann-verlag.de
Für meine geliebte Mutter Lenita.
Meine Stütze und meine beste Freundin.
Juni
Gehst du heute Abend auf die Party, Juni? Ich schaue auf die SMS, merke, wie es in meinem Bauch kribbelt, und antworte genauso kurz: Wenn ich darf… wegen der idiotischen Ida. Bekomme ein Smiley mit Herzaugen zurück. Ich lösche die Nachrichten sofort wieder, weiß, dass er es genauso macht.
Ida vertraut mir kein Stück. Ich soll immer zum Abendessen zu Hause sein, darf nicht bei Freunden übernachten, nicht auf Partys gehen. Ich weiß auch, dass sie, sobald ich von der Schule nach Hause komme, meine Taschen durchsucht und mein Handy checkt. Den Code hat sie von Oma bekommen. Ein totaler, verdammter Eingriff in mein Privatleben, aber ich traue mich nicht, mit Oma zu streiten. Wahrscheinlich macht sie sich nur Sorgen und hat Angst, dass bei mir im Kopf etwas durchknallt, wie beinahe bei allen anderen in meiner Familie.
Ich stelle das Handy lauter. Gerade läuft Hov1, so eine verdammt gute Band. Ich greife nach den Make-up-Pinseln, beginne mit Serum und Primer, dann kommen Foundation, Concealer, Bronzer und Highlighter. Oma sagt, so viel Schminke sei unnötig, aber sie lässt mich trotzdem kaufen, was ich will. Teures Zeug. Viel besser als das von Nova-Li. Sie kauft Puder von einer Billigmarke und Pinsel von H&M. Manchmal schenke ich ihr meine Parfüms und Cremes und sage Oma dann, ich hätte sie im Fitnessstudio vergessen oder verloren. Sie gibt mir immer Geld für neue.
Nova-Li ist so ungefähr die Einzige, die mich versteht. »Sisters of Tragedy« nennt sie uns immer. Ich mit meiner Mutter im Gefängnis, und sie mit ihrem toten Vater. Der hat sich eines Abends volllaufen lassen und ist mit seinem Škoda geradewegs in eine Felswand gefahren. Wohl mit Absicht.
Mein Handy macht »pling«. Ein Snap von Nova-Li. Ein Bild des Oberteils, das sie heute Abend anziehen will. Es sieht ein bisschen nuttig aus, aber ich sage nichts. Ich schicke einen hochgereckten Daumen.
Dann antworte ich ihm auf seine Nachricht: Will dich bald wiedersehen.
»Hau ab!«
Als Sofia den Schrei hörte, ließ sie den Müllsack voller Gartenabfall los und drehte sich zum Haus. Rolf, der schwarze Schäferhund, schoss an ihr vorbei den Hang hinauf zur Terrasse. Unten auf dem Bootssteg hob Rodde fragend die Schultern. Hinter ihm glitzerte das Meer in der Septembersonne.
Sofia folgte dem Hund ins Haus und sah, wie Margit sich vor dem Kühlschrank aufgebaut hatte, den Stiel der Kehrichtschaufel wie eine Lanze erhoben. Daneben stand Rolf in Bereitschaft, die Vorderpfoten weit auseinander, den Schwanz erhoben. Eine graue Maus schaute hinter dem Kühlschrank hervor und sauste pfeilschnell die Fußleisten entlang zur Terrassentür, der Freiheit entgegen. Sofias Patenonkel Tord erschien gerade noch rechtzeitig, um die Schwanzspitze des kleinen Nagers zwischen den feuchtigkeitsgeschädigten Planken des Holzbodens verschwinden zu sehen.
»Was schreist du denn so?« Er sah Margit an, die sich gegen das Spülbecken drückte.
»Als ich die Tür unter der Spüle geöffnet habe, saß sie da und hat mich angestarrt. Und hat gezischt!«
Tord ließ ein glucksendes Lachen hören. »Himmel, du bist doch auf dem Land aufgewachsen. Das war doch nur eine kleine Maus.«
Margit schüttelte den Kopf und sah besorgt zur Terrasse, wo Rolf versuchte, sich durch die Holzplanken zu graben. Rodde erschien neben dem Hund.
»Was ist los?«, fragte er.
»Eine Maus«, antworteten Sofia und Tord gleichzeitig.
Margit streckte Tord die Zunge heraus. »Eine Ratte«, korrigierte sie und schnappte sich einen Ofenhandschuh, um nach dem Heringsauflauf zu sehen. »Wie lange habt ihr da draußen noch zu tun?«
Sofia betrachtete die Birken am Uferrand, deren Laub anfing, die Farbe zu wechseln. Der Herbst war die schönste Jahreszeit auf Ulvön. Nichts ging über eine Joggingrunde in einem farbenleuchtenden Wald, den Duft von feuchter Erde und die Stille nach den turbulenten Monaten der sommerlichen Touristenzeit.
»Bis wir alle Büsche beschnitten haben, wird es mindestens noch eine Stunde dauern.«
Tord und Margit waren herübergekommen, um mitzuhelfen, alles winterfest zu machen. Bis zum ersten Schnee war es zwar noch eine Weile hin, doch Sofia wollte vorher so viel wie möglich erledigen.
»Essen müsst ihr ohnehin«, sagte Margit und schloss die Ofentür.
Backen, Kochen und der Familie auf diese Weise Energie zuzuführen, war Margits Lebensaufgabe. Seitdem sie und Tord zusammengekommen waren, hatte Sofia ein paar Kilo zugelegt.
»Was machst du im Herbst mit der Riva?«, fragte Tord und angelte die Snus-Dose aus der Brusttasche. Er mochte das schnittige Motorboot aus Holz, das Sofia von ihrem Vater geerbt hatte.
Den Spätsommer über hatten sie das Bootshaus renoviert und eine neue Winsch am Boot montiert. Beides hätte schon seit mehreren Jahren erledigt werden müssen. Tagelang hatte Rodde gehämmert und getischlert. Er war praktisch veranlagt und hatte kein Problem damit zuzupacken. Sofia vermutete, dass das einer der Gründe war, weshalb Tord ihn so toll fand. Rodde war nicht nur handwerklich geschickt, er war auch weit gereist, belesen und konnte kochen. Der perfekte Mann. Und er redete nicht so viel wie ihr früherer Freund Kaj, was Tord ebenfalls zu schätzen wusste.
Sofias Blick ging zum Bootssteg hinunter.
»Die Riva kann noch ein, zwei Wochen hier liegen, dann können wir sie einwintern«, sagte Rodde. Dankbar sah Sofia ihn an, und er zog sie in eine Umarmung. Sie ließ es zu, ohne sich zu entziehen, und spürte einen kleinen Glücksschauer. Sie hatte frei, sie war auf Ulvön und würde das ganze kinderfreie Wochenende mit ihrem Freund verbringen. Weit weg vom Polizeirevier und dem nie endenden Berg immer wieder neuer Ermittlungsarbeit.
Scherzhaft wedelte Margit ihnen mit dem Ofenhandschuh zu. »Jetzt nicht hier rumstehen und schwatzen. Raus mit euch und harken. In zwanzig Minuten ist das Essen fertig.«
»Du bist zum Abendessen zu Hause, so wie wir es besprochen haben!« Idas Stimme wurde am Satzende schrill. Das laute Türenknallen, mit dem Juni hinausging, verkündete deutlich, dass sie nicht vorhatte, sich an diese Ansage zu halten.
Fredrik griff nach der Zeitung Örnsköldsviks Allehanda, um einen beschäftigten Eindruck zu erwecken. Nach einem morgendlichen Streit mit Ida wegen der aufgeschobenen Hochzeit wollte er nicht in weitere Diskussionen hineingezogen werden. Wie ein Schutzschild hob er die Teetasse. Ein Bild vom Vater der bekannten Kinderbuchfigur Willi Wiberg erschien vor seinem inneren Auge, nur die Pfeife fehlte noch. Doch Willis Vater musste sich im Unterschied zu Fredrik nicht um ein trotziges Teenagermädchen kümmern, dachte er, als Ida in die Küche stürmte, rote Wutflecken am Hals.
»Ich halte das bald nicht mehr aus. Warum bist du nicht rausgekommen und hast mit ihr geredet? Auf dich hört sie schließlich.«
Sie warf sich auf den Stuhl gegenüber und griff nach dem Brot mit Käse und Marmelade, das sie auf dem Tisch liegen gelassen hatte.
Fredrik sah von der Zeitung auf, als habe er von dem Streit im Flur nichts mitbekommen. »Habt ihr Krach?«
Ida verdrehte die Augen und legte das Brot wieder hin.
»Sag mal, Fredrik, in welcher Welt lebst du eigentlich? Kriegst du nicht mit, dass sie sich mir gegenüber die ganze Zeit vollkommen respektlos benimmt?«
Fredrik versuchte es mit einem versöhnlichen Lächeln. »Sie hat es nicht leicht gehabt. Versetz dich mal in ihre Lage. Wie würde es dir gehen, wenn deine Mutter im Knast säße?«
Streitlustig sah Ida ihn an. »Das spielt keine Rolle. Deswegen darf sie sich trotzdem nicht einfach so benehmen, wie sie will. Ich glaube, es ist Zeit, Vanja anzurufen und zu sagen …«
Fredrik unterbrach sie, indem er seine Hand auf ihre legte. »Sie hat schon so genug mit allem zu tun.«
Fredrik war kein allzu großer Freund von Junis Großmutter Vanja, doch als Cousine von Idas Vater Björn gehörte sie zur Familie, und außerdem hatte sie das Sorgerecht für Juni. Trotz ihrer Differenzen respektierte er Vanja, und nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte, verspürte Fredrik großes Mitleid mit ihr. Die Anwaltskanzlei Karling & Branth, ihr Lebenswerk, war Konkurs gegangen und die Familie zerbrochen. Nachdem ihre Tochter Rebecka zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, hatte Vanja sich um die damals fünfzehnjährige Juni kümmern müssen. Ein Kontakt zum Vater bestand schon länger nicht mehr. Kurze Zeit später war Vanjas langjähriger Partner bei einem Motorradunfall umgekommen. Das Leben der geachteten Anwältin und Vorkämpferin für Frauenrechte lag in Scherben.
Als Vanja nach einiger Zeit in ihre Heimatstadt Övertorneå zurückkehrte, war Juni in Örnsköldsvik geblieben. Die Einliegerwohnung im Untergeschoss von Fredriks und Idas Haus war die Lösung gewesen – und schwupps waren sie Eltern eines Teenagers. Anfangs waren sie beide dem Ganzen gegenüber positiv eingestellt gewesen. Junis Gesellschaft war eine willkommene Abwechslung in ihrem Leben, das sich ausschließlich um Fruchtbarkeitsuntersuchungen, In-vitro-Fertilisation sowie verschiedene Selbsthilfegruppen für unfreiwillig Kinderlose drehte.
Vor gut zwei Jahren hatten sie einen positiven Schwangerschaftstest gehabt, doch obwohl Idas Regel weiter ausblieb, war in der 13. Schwangerschaftswoche festgestellt worden, dass ihre Gebärmutter leer war. Die Enttäuschung hatte sie in eine tiefe Depression gestürzt, wegen der sie noch immer krankgeschrieben war. Sich um Juni zu kümmern, schien wie eine Art Ersatz für das verlorene Kind, doch Fredrik war klar, dass Ida dies inzwischen bitter bereute. Eine verstörte Siebzehnjährige, die ihre Mutter vermisste, war in keiner Weise dasselbe wie ein eigenes, neugeborenes Baby. Als habe Ida seine Gedanken gelesen, sah sie ihn mit tränenerfülltem Blick an.
»Wie soll ich Ruhe finden, um schwanger zu werden, wenn es hier die ganze Zeit so schrecklich ist?«
Fredrik streichelte ihr mit dem Daumen über die Hand. »Das wird schon werden, du wirst sehen. Wir machen das doch noch gar nicht so lang.«
Er hatte diese Worte so oft wiederholt, dass sie ihren Sinn verloren hatten. Ida zog ihre Hand weg.
»Es sind schon mehr als zwei Jahre, Fredrik.«
»Ja, schon, ich weiß«, versuchte er zu beschwichtigen. »Aber es wird klappen.«
Ida sah auf den Tisch und wischte sich die Nase trocken. »Was, wenn es nicht klappt?«
Idas dünne Stimme machte ihm ein schlechtes Gewissen. Ein Kind zu bekommen, ein eigenes Kind, war für Ida gerade ihr einziges Lebensziel, und er schämte sich dafür, dass er nicht eine genauso große Sehnsucht danach verspürte wie sie.
Nach der Fehlgeburt war alles auf den Kopf gestellt worden. In den ersten Monaten hatte er sie nicht anrühren, nicht lachen oder sich über etwas freuen dürfen. Natürlich hatte auch er um das verlorene Kind getrauert, doch er wollte trotzdem leben, weitergehen. Doch Ida weigerte sich. Ihre Eltern, Lotta und Björn Niemi, waren mehr oder weniger bei ihnen eingezogen, um beim Kochen und Haushalt zu helfen, und Ida hatte sich nicht mal bei ihnen bedankt. Monatelang war sie in ihrem verschlissenen rosa Morgenrock herumgeschlurft, hatte aufgehört, Sport zu treiben, und sich nicht mehr um ihre gesunde Ernährung gekümmert, von der sie davor beinahe besessen gewesen war.
Dieser gemeinsame Verlust hatte seine Gedanken, Ida zu verlassen, zum Schweigen gebracht, zumindest für eine Weile. Doch seitdem war ihre Beziehung noch zerrütteter. Was ohnehin schon brüchig war, wurde inzwischen nur noch von Schuldgefühlen und Angst zusammengehalten. Fredrik wusste, dass er schon längst hätte ehrlich sein und sagen müssen, was er fühlte, doch ihm hatte bislang der Mut gefehlt. Die Angst, das Leben zu verlieren, das er sich aufgebaut hatte, und wieder allein zu sein, hatte gesiegt.
Sie waren zu einer Psychologin gegangen, doch es hatte wenig geholfen, und es fühlte sich an, als würde der Graben zwischen ihm und Ida mit jedem Tag tiefer. Sie ernährte sich von belegten Broten und Buttermilch, trank nur Tee und Wasser. Früher hatten sie gern die eine oder andere Flasche Wein zusammen getrunken. Doch jetzt empfand sie jeden Tropfen als eine Sünde, denn der Alkohol konnte die Chance zerstören, ihren größten Traum wahr zu machen – noch einmal schwanger zu werden. Themen wie Befruchtung, Eisprung, Stellungen beim Sex und Hormonzyklen waren das Einzige, was bei Ida zurzeit irgendeinen Funken entzünden konnte.
Dass alles andere abgestorben und eingegangen war, spielte keine Rolle. An den bewussten Tagen hatte der Sex weiterhin stattzufinden, ob Fredrik wollte oder nicht und ohne irgendein Ergebnis. Es war zu einer mechanischen Angelegenheit geworden, die einfach vor oder nach der Arbeit zu erledigen war. Als er noch von zu Hause aus studiert hatte, war es kein Problem gewesen, die Zeiten einzuhalten, doch jetzt, da er seinen Dienst als Polizeianwärter begonnen hatte, würde es schwieriger werden.
Ida griff nach ihrem Handy und rief die App auf, die ihre fruchtbaren Tage anzeigte. »Heute Morgen hatte ich meinen Eisprung«, sagte sie, ohne seinem Blick zu begegnen.
Fredrik gab sich Mühe, nicht laut zu seufzen, doch das lange Einatmen genügte, damit Ida reagierte. Sie knallte das Handy auf den Küchentisch und stand so abrupt auf, dass ihre Tasse umfiel. Schnell rutschte er mit dem Stuhl zur Seite, dennoch bekam er eine große Menge Tee auf sein Knie.
»Denkst du vielleicht, für mich ist das so verdammt lustig?« Idas Stimme war laut und schneidend.
Fredrik griff nach dem Küchenhandtuch und begann, die Hose trocken zu reiben. Dabei passte er gut auf, keinerlei Gefühle zu zeigen.
»Mir ist völlig klar, dass das für dich nicht lustig ist, Ida«, sagte er, während er den Fleck betupfte. »Aber was glaubst du denn, wie toll es für mich ist, auf Bestellung miteinander zu schlafen? Schließlich ist es nicht meine Schuld, dass alles so gekommen ist.«
Sofort bereute er seine letzten Worte, aber es war zu spät. Als er aufsah, war Idas Gesicht vor unterdrücktem Weinen zusammengekniffen. Sie holte Luft und schaute ihn durch einen Tränenschleier an.
»Nein, denn du weißt ja schon, dass du Frauen schwängern kannst.«
Damit verließ sie das Zimmer.
»Ich starte jetzt die neue Folge!«
Im Durchgang zur Küche drängte Margit sich an ihnen vorbei, in der einen Hand eine Schüssel Chips, in der anderen eine Flasche Prosecco, und verschwand ins Wohnzimmer.
Rodde zog Sofia fester an sich, bohrte seine Nase in ihre Halsbeuge und küsste sie leicht. »Meinst du, sie merken, wenn wir uns verdrücken?«
Sofia lachte und machte sich frei. »Was denkst du?«
Aus dem Zimmer nebenan erklang die Titelmelodie einer bekannten Serie, und kurz danach war zu hören, wie eine Flasche geöffnet wurde. Als hätte Margit ihre Fluchtgedanken gespürt, kam sie wieder aus dem Wohnzimmer gefegt und scheuchte sie vor den Fernseher.
»Hört auf, hier rumzumachen wie zwei Teenager. Ich habe euch Prosecco eingeschenkt.«
Sofia fasste Roddes Hand, und er ließ sich widerwillig mit ins Wohnzimmer ziehen. Margit setzte sich neben Tord aufs Sofa und begann begeistert zu erklären, wer in der Serie wer war und worum es ging.
Rodde ließ sich im Sessel nieder, und Sofia setzte sich auf die Armlehne. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um, das endlich mal renoviert und neu eingerichtet werden müsste. Das dunkel gebeizte Bücherregal aus den Siebzigerjahren müsste durch etwas Moderneres ersetzt werden, und das Sofa hatte auch schon bessere Tage gesehen. An den beigefarbenen Wänden hingen Bilder mit Meermotiven, gerahmt mit Restholz. Für eine kurze Phase hatte Sofias Mutter Claire sich für Aquarellmalerei interessiert, und das Ergebnis war bestenfalls mittelmäßig, doch Sten war so stolz darauf gewesen, dass seine Frau sich etwas anderem als dem Weintrinken widmete, und hatte jedes einzelne Bild aufgehängt.
Vor einigen Wochenenden war Sofias Kollege und Freund, Kriminaltechniker Johan Nyström, zusammen mit seinem Lebensgefährten im Haus auf Ulvön gewesen, zur Surströmmingspremiär, dem Saisonbeginn für die typische nordschwedische Delikatesse, den eingelegten Hering. Manchmal fragte Sofia sich, was Johan an dem steifen Staatsanwalt Erik fand, aber ganz offensichtlich liebten sie sich und teilten ein Interesse für Inneneinrichtung. Seit diesem Besuch redeten die beiden unaufhörlich davon, Sofias Haus ein Makeover zu verpassen.
Sofia dachte an die Wohnung auf dem Festland, in der Johan und Erik lebten. Überall prangten teure Kunstwerke und Bilder mit uneindeutigem Motiv. Ihr erster gemeinsamer Einkauf war eine furchtbar hässliche, halbmeterhohe weiße Vase mit eingravierten Gesichtern gewesen. Seitdem hatte Sofia alle Hände voll zu tun, Astrid von dem grässlichen, 7000 Kronen teuren Stück fernzuhalten.
Ihre Tochter, die inzwischen zwei Jahre und ein halbes zählte, war ein kleiner Wildfang. Alles, was man anfassen konnte, musste sie erkunden. Sowohl auf der Insel als auch in der Wohnung in Örnsköldsvik hatte Sofia zwischen allen Zimmern Absperrungen errichten müssen, um in Ruhe auf die Toilette gehen oder um eine Ladung Wäsche in die Maschine packen zu können.
»Darf ich mal die Chips?«, fragte Rodde, und Margit reichte ihm die Schüssel, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen. »Siehst du«, flüsterte er Sofia zu und streichelte ihr über den Arm, so dicht an ihrer Brust vorbei, dass sein Zeigefinger die Brustwarze berührte. Sie erbebte. »Sie würden nicht mal merken, wenn das Haus in Flammen stünde. Wir könnten uns doch ein Weilchen davonmachen und …«
Sofia legte die Hand auf seinen Oberschenkel, spürte die Wärme der Haut unter dem Hosenbein. Astrid war bei Fredrik, und es war seit Wochen ihr erster gemeinsamer kinderfreier Abend.
Es hatte als Flirt begonnen, doch ihre Beziehung hatte sich ziemlich schnell zu mehr entwickelt. Eine etwas zu lange Berührung an der Kaffeemaschine auf der Polizeiwache, ein zu lautes Lachen bei einem schlechten Witz. Es waren unbeholfene Versuche, sich nahe zu sein. Sofia hatte gezögert, war sich schmerzlich bewusst gewesen, dass Liebe am Arbeitsplatz zu nichts Gutem führt, aber am Ende ließ es sich nicht länger verleugnen: Zwischen ihnen war etwas.
Rodde hatte den Mut gehabt, den ersten Schritt zu tun. Er hatte sie zu sich in sein Haus am Skulesjö zum Essen eingeladen. Doch aus dem Essen war nichts geworden. Sie waren beinahe sofort im Bett gelandet, und das kalt gewordene Entrecôte und die Kartoffelspalten waren am nächsten Tag von Roddes Schäferhund Rolf vertilgt worden. Das ganze kinderfreie Wochenende war sie bei Rodde geblieben, hatte sich alles geliehen, von seinen Boxershorts bis zur Zahnbürste. Sie hatte es genossen, für einige Tage eine erwachsene Frau und nicht nur eine Mutter zu sein.
Als sie es schließlich geschafft hatte, sich aus seinem Bett loszureißen, und wieder in den Alltag zurückgefunden hatte, war ihr das Leben leichter vorgekommen. Astrid bei Fredrik und Ida in deren provozierend perfekter Welt abzuholen, hatte sich beinahe in Ordnung angefühlt. Ihr Rücken war gerader und ihr Lächeln beinahe echt. Als hätte sie etwas von der Würde zurückbekommen, die sie nach dem erniedrigenden Sorgerechtsstreit vor zwei Jahren eingebüßt hatte.
Nachdem die Vaterschaftsbombe geplatzt war, hatte sich ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Kaj, ihr früherer Freund, war nicht Astrids biologischer Vater. Er und seine Frau Mette, die in einer offenen Ehe lebten, hatten die Schwangerschaft von Beginn an begrüßt, und Kaj hatte die Verantwortung für ihre Tochter übernommen, obwohl allen, die ihren dunklen Schopf und ihre olivfarbene Haut sahen, klar gewesen war, dass sie nicht von ihm stammen konnte. Doch er und Sofia waren sich einig gewesen, dass Fredrik die schlechtere Wahl war, was Vaterschaftsverpflichtungen anging. Zusammen hatten sie die Sache durchgezogen. Zu Sofias Verteidigung war zu sagen, dass Fredrik zum Zeitpunkt der Befruchtung ein menschliches Wrack gewesen war. Zerrissen von Schuld und den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, dazu abhängig von Beruhigungstabletten.
Kaj hatte die Vaterschaft beim Jugendamt anerkannt, und Sofia hatte erwartet, dass Fredrik das akzeptieren und sich seinen eigenen Dingen zuwenden würde. Doch das hatte er nicht getan. Er hatte insistiert und immer wieder darum gebeten, Astrid sehen zu dürfen und einen Vaterschaftstest durchzuführen. Sofia hatte ihn lange ignoriert, sich hinter Corona-Restriktionen versteckt und gehofft, er würde aufgeben. Als in Astrids erstem Lebensjahr die Birken ausschlugen, hörten Fredriks Kontaktversuche auf. Sofia war erleichtert und zugleich gekränkt darüber, wie schnell er aufgegeben hatte. Erst lange danach hatte sie erfahren, dass Kaj sich eigenmächtig ein gefälschtes Dokument aus der Rechtsmedizin beschafft hatte, das seine Vaterschaft bewies. Das hatte er Fredrik zukommen lassen.
Erst als dieser mehrere Monate später ihre Tochter zufällig auf der Polizeiwache gesehen hatte, war die Wahrheit ans Licht gekommen. Kaj hatte sofort alles zugegeben, seine Entscheidung gerechtfertigt, indem er auf Fredriks Tablettenmissbrauch und labile psychische Verfassung hingewiesen hatte. Doch Fredrik war ein anderer geworden, frei von Angstzuständen und zur Polizeiausbildung eingeschrieben. Er führte eine stabile Beziehung und hatte einen Platz zum Wohnen. Ihm das Umgangsrecht mit Astrid zu verweigern, war nicht mehr zu rechtfertigen gewesen.
Fredrik hatte zwar das Familiengericht eingeschaltet, aber dann davon abgesehen, die Sache weiterzuverfolgen, unter der Bedingung, dass Kaj die Vaterschaft widerrief. Eine für Sofia sowohl umständliche als auch peinliche Prozedur. Sie hatte von einem Amt zum nächsten laufen müssen, bevor Fredriks Name endlich auf Astrids Geburtsurkunde stand. Sie war überzeugt, dass er die aufreibende Prozedur teilweise genossen hatte. Jetzt konnte er herumstolzieren und verkünden, Vater geworden zu sein, während sie gezwungen war, zu Kreuze zu kriechen und den Kollegen und den wenigen Freunden, die sie hatte, zu sagen, dass sie sich in Bezug auf die Vaterschaft getäuscht hatte. Sofia erinnerte sich, wie schwer es ihr gefallen war, die Wahrheit zu erzählen. Doch seltsam genug, hatten die meisten keine offene Verwunderung gezeigt. Vielleicht hatten sie, genau wie sie selbst, schon lange begriffen, dass Kaj nicht Astrids Vater sein konnte. Oder aber sie wollten ihr die Erniedrigung ersparen.
Am Ende war es dann doch gut gewesen, dass alles herausgekommen war. Sie hatte nicht mehr ständig einen Klumpen im Bauch, weil sie die Wahrheit verbergen musste, und sie wurde von Kajs und Mettes erdrückendem Engagement befreit. Vor allem musste sie sich nicht immer an Margit und Tord wenden, wenn sie Hilfe mit Astrid brauchte. Fredrik lebte nur ein paar Kilometer entfernt.
Und in ihren allerehrlichsten Momenten konnte sie vor sich zugeben, dass sie sich darüber freute, Fredrik wieder in ihrem Leben zu wissen.
»Ich gehe dann mal!«
Fredrik steckte den Kopf durch die Tür ins Wohnzimmer, doch Ida antwortete nicht.
»Astrid schläft. Ich habe sie gewickelt, bevor sie ihren Brei bekommen hat«, fügte er mit demselben sanften Tonfall hinzu, den er immer hatte, wenn er von seiner Tochter sprach.
Falls Ida ihn hörte, zeigte sie es nicht. Sie saß da in ihrem abgenutzten Morgenrock, eine Tasse Tee vor sich, und wartete, dass der Film begann. Normalerweise schauten sie jeden Freitagabend einen Film zusammen. Ida, er und Juni, doch in letzter Zeit hatte Juni immer öfter sowohl das Abendessen als auch den gemütlichen Filmabend danach verpasst. So auch heute. Es schmerzte Fredrik, Idas resignierte Haltung zu sehen. Er wusste, dass sie sich jede Woche auf diesen Moment freute. Auf dem Tisch standen mehrere kleine Schüsseln mit Karottensticks, Bio-Süßigkeiten, Chips und verschiedenen Dips. Ida hatte Leckereien vorbereitet, sich bemüht, es gemütlich zu machen, und dann erschien niemand. Er wünschte, er hätte wenigstens das Bedürfnis zu bleiben, doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte dieses Gefühl nicht hervorrufen. Heute würde er seine erste Nachtschicht übernehmen, und er freute sich darauf.
Der Anwärterdienst war bislang fantastisch gewesen, und er genoss es in vollen Zügen, wieder Uniform zu tragen. Sicherlich, er stand in der Hierarchie ganz unten, doch die Kollegen bei der Schutzpolizei hatten ihn gut aufgenommen. Ganz anders als in der kurzen Zeit damals, als er in Stockholm im Anwärterdienst gewesen war. Dort waren einige der älteren Kollegen grob und herablassend gewesen. Vielleicht war er damals nicht der Allerfleißigste gewesen, doch er konnte sich nicht an viele inspirierende oder lehrreiche Tage erinnern. Ganz anders als jetzt. Die Ausbildung war nur so vorbeigerast. Jura, Politik, Kriminologie, Fahrausbildung, Schießtraining. Obwohl er deutlich älter war als die anderen Studenten, hatte er sich hervorgetan und jedes ermunternde Wort genossen, das er von seinen Ausbildern bekommen hatte. Die zurückliegenden Ereignisse hatten ihn gestärkt, sowohl physisch als auch mental. Er würde nicht so weit gehen zu sagen, dass er wieder ganz hergestellt war, doch zumindest ging es in die Richtung. Er hatte sich das Recht erkämpft, seine Tochter bei sich zu haben, er hatte ein Zuhause, eine Verlobte und einen Beruf, den er liebte. Meist bildete er sich ein, das sei absolut ausreichend.
»Ich gehe jetzt«, wiederholte er, und Ida drehte halb den Kopf und nickte.
»Kannst du bitte Juni anrufen? Und fragen, wo sie ist?«
Er versprach, sich darum zu kümmern. Beide wussten, dass die Chance sehr viel größer war, dass Juni dranging, wenn er anrief.
Fredrik schloss die Haustür hinter sich und ging zu dem dunkelgrauen Volvo. Dabei vermied er es, die Schramme am Tankdeckel anzusehen. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie sie entstanden war. Sie hatten gepackt, um zu seinen zukünftigen Schwiegereltern in Övertorneå zu fahren. Im Kofferraum stand der Karton mit dem neu gekauften Kinderwagen. Fredrik hatte es zu diesem Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft für viel zu früh befunden, einen Kinderwagen zu kaufen, doch Ida hatte darauf bestanden und wollte unbedingt, dass der Wagen zu den Eltern transportiert wurde, damit sie ihn dort gemeinsam zusammenbauen konnten. Wie eine kleine Zeremonie, hatte sie gesagt. Doch sie waren nie losgefahren. Die Ultraschalluntersuchung am Abreisetag hatte ergeben, dass Ida kein Baby mehr in sich trug, und ihre Welt war zusammengebrochen. Als sie danach zu Hause in der Auffahrt parkten, hatte Ida den Karton mit Gewalt herausgerissen, sodass er an den Lack schrammte, und ihn dann auf die Wiese geworfen, während sie schrie, dass sie den Kinderwagen nie wieder sehen wolle.
Schon als Ida schwanger wurde, war ihre Beziehung schwierig gewesen, doch die Fehlgeburt hatte ihnen den Rest gegeben. Nun lebten sie Seite an Seite, ohne einander erreichen zu können oder es überhaupt zu wollen. Ihre frühere Unsicherheit und die jähen Stimmungswechsel waren durch ein dauerhaftes Schweigen ersetzt worden, das nur unterbrochen wurde für Gespräche über den nächsten Arztbesuch oder den nächsten Eisprung. Das nächste Gewichse in einen Plastikbecher.
Fredrik hatte sich häufig gefragt, warum Ida die Beziehung nicht einfach beendete. Sie hatte alle Trümpfe in der Hand – die Unterstützung ihrer Familie, das Wohnrecht in dem Haus und einen gut bezahlten Job, in den sie zurückkehren konnte. Sie könnte sich eine Zukunft suchen mit jemandem, der sie nicht verletzt hatte. Mit jemandem, der kein Kind mit einer anderen Frau hatte, auch wenn es zu der Schwangerschaft gekommen war, bevor Ida und er sich begegnet waren. Er wusste, dass sie das innerlich zerriss. Und jetzt war sie gezwungen, dieses Kind, das er bekommen hatte, jede zweite Woche zu sehen, Astrid zu füttern und ihre Windeln zu wechseln, während die Kleine jemand anderen Mama nannte. Es musste eine Tortur sein.
Fredrik startete den Motor und wartete, dass das Handy sich mit der Freisprechanlage verband. Nach sechsmal Klingeln nahm Juni ab.
»Ja?«
»Wo bist du?«
»Weg mit Freunden.«
Fredrik hörte mehrere Personen im Hintergrund lachen und das Geräusch von Musik aus einem blechernen Handylautsprecher.
»Wo seid ihr?«
»Was willst du denn?« Der Tonfall war beißend. Es war derselbe, den sie gegenüber Ida an den Tag legte, doch sie wurde schnell wieder weich, wusste, sie standen auf derselben Seite. »Wir sind bei Nässjöbäcken.«
»Wo dort?«
Jemand johlte im Hintergrund, und Juni lachte auf.
»Beim Badeplatz auf Köpmanholmen«, sagte Juni und lachte weiter über jemanden, der in ihrer unmittelbaren Nähe mit irgendetwas zugange war.
»Wer fährt?«
Einige von Junis Freunden hatten den Führerschein gemacht, und es waren bereits einige Fahrten sowohl nach Sundsvall als auch nach Umeå unternommen worden. Fredrik mochte es nicht, dass sie mit jungen, unerfahrenen Autofahrern mitfuhr, doch er konnte nichts dagegen sagen. Solange sie nüchtern hinter dem Steuer saßen und die Verkehrsregeln befolgten, konnte er es ihr nicht verbieten. Im Dezember wurde sie achtzehn, und er war weder Junis Vormund noch sorgeberechtigt. Woran sie zumindest Ida nie zu erinnern vergaß.
»Heute Abend fährt niemand von uns. Wir werden gebracht.«
»Ich glaube, Ida hätte gerne, dass du heute nach Hause kommst«, versuchte er, doch sie schlug sofort zurück.
»Wie soll man es aushalten, einen ganzen Abend bei ihr zu sitzen!« Sie verstummte, hörte vielleicht selbst, wie hart sie klang. »Ich komme morgen«, fügte sie in etwas sanfterem Ton hinzu. »Ich übernachte bei Nova-Li.«
Fredrik öffnete den Mund, um die eine Frage zu stellen, doch sie kam ihm zuvor.
»Und nein, wir trinken nicht.«
Es war weit nach Mitternacht, als Sofia und Rodde die Fassade nicht länger aufrechterhalten konnten. Margit hing nach wie vor in der Soap fest, bei der man die alkoholgeschwängerten Abenteuer junger Männer und Frauen in Hollywood mitverfolgte. Sie wollte mindestens noch eine weitere Folge schauen. Rodde hatte behutsam vorgeschlagen, dass sie vielleicht zu sich nach Hause gehen und dort weiterschauen könnten, doch Margit behauptete, der große Flachbildschirm, den Tord für Sofia gekauft hatte, als Astrid geboren wurde, habe ein besseres Bild.
»Wir gehen jetzt schlafen«, sagte Rodde und zog Sofia auf die Füße.
Margit bedeutete ihnen, ruhig zu sein, und winkte mit der Hand. »Das ist Raquel«, sagte sie zu Tord, der halbschlafend neben ihr saß. Sie nahm einen schnellen Schluck Prosecco aus ihrem frisch gefüllten Glas. Es war die dritte Flasche, die sie an diesem Abend geöffnet hatte. »Sie ist eine richtige Zicke.«
»Wenn die beiden ins Bett gehen dürfen, darf ich das auch«, stellte Tord fest, dem bereits nach Verklingen der Titelmelodie zur ersten Folge langweilig geworden war. Er stand auf, die Hände auf den Knien, setzte die rote, abgewetzte Kappe auf, die Margit ihm noch nicht hatte abgewöhnen können, und steuerte auf die Haustür zu.
»Ihr könntet vielleicht dafür sorgen, dass Margit vor der Morgendämmerung nach Hause kommt«, murmelte er, bevor die Tür hinter ihm zufiel.
»Ich mache die Lichter aus, wenn ich gehe«, sagte Margit und bedeutete ihnen, sie sollten aufhören zu reden. Das Haus, in dem Margit wohnte, lag weniger als hundert Meter von Sofias entfernt. Sie hatten jeweils Schlüssel für das Haus der anderen, wobei das eigentlich nicht nötig war, da niemand auf der Insel seine Haustür verschloss.
Den ganzen Weg die Treppe hinauf hielt Rodde Sofias Hand. Als sie ins Schlafzimmer kamen, zog er sie an sich und küsste sie. Sie schob ihn weg.
»Nicht jetzt. Margit ist doch da unten.«
Rodde überhörte ihren Protest und begann, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, einen nach dem anderen. »Sie hört nichts«, flüsterte er mit einer vor Begehren heiseren Stimme.
Von Anfang an war ihre Beziehung leidenschaftlich gewesen, und Sofia hatte sich von der prickelnden Verliebtheit willig mitreißen lassen. Doch nach wenigen Wochen wollte Rodde weiter gehen, es den Kollegen erzählen, Freunden und Verwandten vorgestellt werden. Vor allen Dingen wollte er auch gerne mit Astrid zusammen sein. Natürlich war Sofia glücklich, dass ihr neuer Freund – ja, doch, sie musste immerhin zugeben, dass er das inzwischen war – Zeit mit ihr und ihrer Tochter verbringen wollte, doch mit allem, was um Astrid herum passierte, hätte sie gerne noch etwas gewartet, ihn bei ihr einzuführen. Doch nun war es eben geschehen, und Astrid war Roddes Charme vollkommen verfallen. Freudig warf sie sich ihm in die Arme, sobald sie ihn sah. Von den Malen, bei denen er den Hund dabeihatte, ganz zu schweigen. Rolf, den schwarzen Schäferhund, der sich stundenlang geduldig streicheln und mit Spiel-Essen füttern ließ, liebte Astrid abgöttisch.
Selbst Tord und Margit waren von Rodde eingenommen. Sie ließen das Debakel mit Kaj und der Vaterschaft hinter sich, und Sofia wusste, dass Tord froh war, dass alles ans Licht gekommen war. Er hatte die ganze Zeit gewusst, wie die Dinge lagen, und dass er Kaj nicht mochte, war kein Geheimnis gewesen. Rodde hingegen hatte er beinahe unmittelbar akzeptiert. Tord und Margit hatten sie zum Essen eingeladen und Sofia angeboten, danach zu babysitten. »Damit die Turteltauben etwas Zeit für sich bekommen«, hatte Tord gesagt und ihr zugezwinkert. Früher war Liebe nichts gewesen, was er an erste Stelle gesetzt hatte, weder bei sich noch bei anderen. Doch seit er Margit begegnet war, hatte er sich verändert. Er hatte sich mehr geöffnet und sich neue Kleider zugelegt. Und dann die neueste Idee: eine Weltreise. Tord, der Ulvön kaum und die Region absolut niemals verließ, würde nun zusammen mit Margit um die Welt reisen. Im Laufe von sechs Monaten wollten sie Tokyo, Manila, Los Angeles und um die zwanzig weitere Orte besuchen.
Im späteren Herbst sollte die Reise losgehen, und Sofia fürchtete sich ein bisschen, wenn sie daran dachte, wie einsam es nach ihrer Abreise werden würde. Seit Tord und Margit zusammen waren, hatte er sein rotes Häuschen unten im Dorf mehr oder weniger aufgegeben und wohnte nun Vollzeit bei Margit. Einmal pro Woche fuhr er nach Hause, goss die Blumen und sah nach der Post, doch ansonsten stand das Häuschen leer. Im Sommer würde es verkauft werden. Der Gedanke, dass irgendwelche großspurigen Stockholmer in der Küche herumhantierten, in der Sofia mehr oder weniger aufgewachsen war, fühlte sich seltsam an. Obgleich sie Margit liebte und mehr als glücklich darüber war, dass Tord die Liebe gefunden hatte, war sie doch keine Freundin von Veränderungen. Vielleicht kam ihr die Situation jetzt mit Rodde deshalb manchmal so schwierig vor? Indem das Leben weiterging, verließ es die sicheren und wohlbekannten Bahnen.
Roddes Küsse hatten nun Sofias Hals erreicht. Als sie sich ihm entziehen wollte, hielt er sie fest, nahm ihr Gesicht in seine Hände und betrachtete sie lange. »Du bist so schön. Weißt du das? Wie schön du bist?«
Verlegen schüttelte Sofia den Kopf. Sie fühlte sich jedes Mal unangenehm berührt von seiner Art, ihr Aussehen zu loben. Leidenschaft in allen Ehren, aber sie sollte still vor sich gehen, fand sie. Keine unnötigen Liebesbezeugungen und definitiv kein Bettgeflüster. Sie wusste, dass Rodde sich wünschte, sie könnte ihre Gefühle besser in Worte fassen. Das hatte er einmal gesagt, als Sofia lauthals loslachte, weil er sie beim gemeinsamen Duschen als sexy bezeichnet hatte.
»Warum kannst du bloß keine Komplimente annehmen? Oder machen?«, hatte er hinzugefügt und sie in der dampfenden Wärme allein gelassen. Darauf hatte Sofia keine Antwort. Sie war einfach so. Auch ihr Vater Sten hatte sich schwer damit getan, über Gefühle zu sprechen, genauso wie ihre Mutter Claire. Zumindest solange es um etwas Positives gegangen war. Gut hingegen war sie bei alkoholgeschwängerten Reden über die Steifheit der Schweden gewesen, über die Trägheit der Gesellschaft und die Überlegenheit der Franzosen. Doch Umarmungen und Lob waren rar, auch von Stens Seite. Sofia wusste, dass er stolz auf sie gewesen war, doch darüber gesprochen hatten sie selten. Es ergab sich einfach nicht in natürlicher Weise.
»Du bist auch schön«, sagte Sofia zu Rodde und versuchte, nicht so verlegen zu klingen, wie sie sich fühlte. Die Worte lagen ihr ungewohnt im Mund.
Er presste sich enger an sie und zog ihr die Bluse von einer Schulter, küsste sie wieder am Hals. Gerade als er begonnen hatte, ihre Jeans zu öffnen, klingelte das Handy.
»Wie fandest du dieses erste Mal?«, fragte Lennart Börjesson, während er den Sicherheitsgurt schloss. Sie hatten sich gerade wieder in den Einsatzwagen gesetzt, um weiterzufahren, nachdem sie einen betrunkenen Fünfzehnjährigen in Polizeigewahrsam gebracht hatten. Mit ihnen im Wagen saß eine weitere Kollegin, Sara Larsson, eine Frau in fortgeschrittenem Alter mit blondem, kurzem Haar. Genau wie Lennart war sie herzlich und offen gewesen, als Fredrik zum ersten Mal auf die Wache gekommen war.
»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht«, unterbrach Sara, bevor Fredrik antworten konnte. »Aber ich habe eigentlich keinen Hunger mehr.«
Lennart nickte zustimmend. Sie hatten vorgehabt, bei Circle K unten beim Kreisverkehr vorbeizufahren und sich ein Würstchen zu holen, aber der Geruch des Erbrochenen, das sich über Lennarts Schuhe ergossen hatte, nahm ihnen jeglichen Appetit.
Fredrik startete den Motor, um die Garage unter der Polizeiwache zu verlassen. Während sie darauf warteten, dass das Tor sich öffnete, schob er seine Ausrüstung am Gürtel zurecht. Obwohl er es liebte, Uniform zu tragen, kam ihm das Gewicht noch ungewohnt vor. Schlagstock, Handschuhe, Taschenlampe, Handschellen, Pfefferspray und Multifunktionswerkzeug wogen mehr, als er in Erinnerung hatte. Auch eine Dienstwaffe zu tragen, war neu für ihn. Trotz zahlloser Schießübungen und theoretischer Unterrichtsstunden zum Umgang mit der Waffe, fiel es ihm schwer zu realisieren, dass er etwas bei sich trug, das potenziell einem anderen Menschen das Leben nehmen konnte.
Er sah Lennart an, um ihm auf seine Frage zu antworten. »Ja, schon, ich fange an, mich an die Arbeit zu gewöhnen. Bislang war es ja noch ziemlich ruhig.«
Lennart lächelte. »Sehnst du dich nach Action?«
Fredrik überlegte, während er in die Viktoriaesplanade einbog.
Nein, eigentlich tat er das nicht. Davon hatte er in seinem Leben mehr gehabt als die meisten jemals in ihrem ganzen Leben, egal ob sie Polizisten waren oder nicht. Die berufliche Laufbahn einschlagen zu dürfen, nach der er sich schon immer gesehnt hatte, war mehr als genug. Dieses Mal hatte er es geschafft. Er hatte in der Ausbildung sehr gute Noten bekommen und in der Stadt, in der er wohnte, einen Platz als Polizeianwärter ergattert. Was konnte er mehr wollen?
»Nicht direkt nach Action. Vielleicht mehr danach, mich nützlich zu machen.«
Bislang hatten die Tage vor allen Dingen aus Verkehrskontrollen bestanden sowie aus einer unendlichen Menge an Notrufen wegen Einbrüchen und Diebstahl, bei denen die Ermittlungen beinahe umgehend eingestellt worden waren. Ein paarmal hatte er auch mitgeholfen, betrunkene Personen nach der Sperrstunde in den Kneipen unten am Hafen aufzugreifen.
Lennart nickte, den Blick durch das Fenster auf der Beifahrerseite gerichtet. »Manchmal hilft man, indem man einfach da ist. Du weißt schon, Sicherheit schaffen durch Sichtbarkeit auf den Straßen. Zeigen, dass es uns gibt.«
Der schlanke, grauhaarige Kollege, dem die Rolle als Fredriks Ausbilder zugefallen war, hatte sein ganzes Leben lang als Schutzpolizist gearbeitet. Als er jung gewesen war, hatte er ein paar Jahre lang sein Glück in Göteborg versucht, war aber nach Örnsköldsvik zurückgekehrt, sobald eine Stelle frei geworden war. Hier gefalle es ihm, hatte er erklärt, mit Kleinstadtproblemen und der Gewissheit, lebendig zu Frau und Kind wieder nach Hause zu kommen. Weit weg von Bandenkriegen und Bombenattentaten. Im nächsten Jahr würde er in Pension gehen, und er freute sich schon auf mehr Zeit zum Angeln, für Padel-Tennis und für die Enkelkinder.
»Hast du Kinder?«, fragte Lennart und fischte eine Box mit Läkerol-Pastillen aus der Brusttasche, die er Fredrik hinhielt.
Fredrik schüttelte den Kopf zu den Pastillen und antwortete, er habe eine zweieinhalbjährige Tochter und eine siebzehnjährige.
»Ui, da hast du ja was zu tun«, gluckste Lennart und warf sich eine Pastille in den Mund. »Teenager können … na ja, eben Teenager sein.«
Fredrik lachte. »Ja, allerdings.« Eine Weile war es still. »Wie viele Kinder hast du?«
»Drei«, antwortete Lennart. »Aber sie sind jetzt alle erwachsen.«
»Die Siebzehnjährige ist nicht von uns. Ich meine, sie ist nicht mein biologisches Kind«, sagte Fredrik zur Verdeutlichung. »Sie wohnt bei uns, bis sie das Gymnasium beendet hat.« Fredrik wusste nicht, ob der Kollege über Junis Hintergrund Bescheid wusste. Er nahm an, dass der Niedergang der Familie Branth unter den Bewohnern der Stadt allgemein bekannt war, doch wenn Lennart wusste, dass von Juni Branth die Rede war, so zeigte er es jedenfalls nicht.
»Ich verstehe«, sagte er und öffnete erneut die Pastillenschachtel. »Wie nett von dir und deiner Frau, sie aufzunehmen.«
»Wir sind nicht verheiratet«, antwortete Fredrik etwas zu schnell. Als sei das wichtig zu betonen.
Lennart nickte. »Funktioniert es denn gut? Ich meine, mit dem Mädchen?«
Fredrik ließ die Luft durch die Lippen entweichen. »Nicht wirklich. Sie geht viel aus, trifft Freunde und so. Es gibt eine Menge Reibereien. Besonders zwischen ihr und Ida, meiner Freundin.«
Lennart lachte, dann wurde er wieder ernst. »Wenn ich an diese Zeit zurückdenke … Ich habe kein Auge zugetan in den Jahren, als meine Mädchen in der Stadt unterwegs waren. So wie die Gesellschaft heute aussieht, kann man froh sein, wenn sie durch die Teenagerjahre kommen, ohne vergewaltigt, unter Drogen gesetzt oder misshandelt zu werden.«
Das klang hart, doch Fredrik wusste, dass Lennart recht hatte. Wenn er in seiner ersten Zeit als Polizeianwärter etwas gelernt hatte, dann, dass junge Frauen besonders gefährdet waren.
Er dachte wieder an Juni und an all das, was sie in ihrem jungen Leben schon hatte durchmachen müssen. Als ihre Mutter im Gefängnis gelandet war, hatte Fredrik geglaubt, Juni könne Abstand von ihr nehmen, doch das Gegenteil war der Fall. Das Mädchen hatte ihre Großmutter überredet, ihren Nachnamen ändern zu dürfen, von Karling, dem Namen ihres Vaters, zum Familiennamen Branth. Vielleicht betrachtete sie die Taten ihrer Mutter so wie diese sie selbst für sich eingeordnet hatte: als Einsatz für die Ehre der Familie. Fredrik verstand nicht, wie, aber Juni hatte, allen Widrigkeiten zum Trotz, eine positive Wandlung durchgemacht. Seit sie bei Ida und ihm lebte, hatte sie sich von einem stillen Emo-Mädchen zu einer aufgeschlosseneren jungen Frau entwickelt. Er war froh gewesen, als sie die schwarzen Kleidungsstücke mit Totenköpfen durch Markenkleider und einen feineren Stil ersetzt hatte. Ida protestierte, wenn sie die Preisschilder an den gekauften Schuhen und Taschen sah, doch solange Junis Großmutter die Einkäufe finanzierte, konnte sie nichts dazu sagen. Vanja Branth stand für alle Unkosten ein und überwies außerdem eine großzügige Summe für Kost und Logis auf Idas Konto.
Doch all das änderte sich schnell wieder. In letzter Zeit hatte Juni begonnen, sich für Yoga und Spiritualität zu interessieren. Die Wolken von Designerparfüm aus ihrem Zimmer waren durch schwere Rauchdüfte ersetzt worden. Ihr Freundeskreis war gewachsen. Fredrik hatte nur ein paar von ihren neuen Freunden kennengelernt. Die meisten wirkten aufgeräumt, besuchten den humanistischen oder künstlerischen Zweig des Gymnasiums und schienen keine Partylöwen zu sein. Einige von ihnen besuchten dasselbe Yogastudio, in das Juni nun auch ging. Fredrik hätte sie gern näher kennengelernt, doch Juni brachte nie jemanden mit nach Hause, und wenn er nach ihren Freunden fragte, waren ihre Antworten kurz und einsilbig.
Lennart und Sara schwiegen, während Fredrik weiter Richtung Örnpark fuhr. Er schaute auf die Uhr des Autodisplays und fragte sich, ob Juni inzwischen bei ihrer Freundin zu Hause war.
Fredrik hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der Polizeifunk knisterte.
»Junges Mädchen schwer verletzt auf Köpmanholmen aufgefunden. Alle verfügbaren Wagen werden gebeten, sich umgehend dorthin zu begeben!«
»Habe ich dich geweckt?«, fragte Kriminalhauptkommissarin Vera Nordlund. Sofia schob den BH-Träger zurück auf die Schulter, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Kinn und knöpfte die Jeans zu.
»Kein Problem, wir waren noch wach. Wir sind auf der Insel.«
Rodde streichelte weiter über ihren Rücken, die Schenkel und den Po, während er zugleich ihren Hals küsste. Als ihr das Handy beinahe entglitt, warf sie ihm im Scherz einen strengen Blick zu und stieß ihn mit ihrer freien Schulter weg.
»Ja, entschuldige, dass ich so spät anrufe, aber wir haben einen Notruf hereinbekommen wegen einer Sache draußen auf Köpmanholmen. Dort beim Badeplatz neben einem kleinen Fluss ist eine junge Frau schwer misshandelt aufgefunden worden.«
Als Roddes Hände wieder anfingen, über ihren Körper zu wandern, schob sie ihn weg und setzte sich aufs Bett. Er blieb auf dem Teppich stehen, sichtlich erregt und mit enttäuschtem Blick.
»Lebt sie noch?«
»Kaum«, antwortete Vera. »Wir wissen bisher noch nichts. Offenbar war da irgend so eine große Jugendparty. Sowohl Alkohol als auch Drogen scheinen eine Rolle gespielt zu haben. Eine Streife ist gerade dorthin geschickt worden.«
Sofia fragte sich, warum Vera sie um diese nächtliche Zeit und noch dazu an ihrem freien Wochenende anrief, um von einem Notruf zu berichten, über den sie bisher kaum etwas wussten.
»Die Anruferin schien der Meinung, dass das Mädchen einem sexuellen Übergriff ausgesetzt war«, fuhr Vera fort, als Sofia nichts sagte.
»Wie kam die Zeugin darauf?«
»Das Mädchen blutete am Unterleib. Mehr weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Der Rettungswagen ist natürlich auch dorthin unterwegs. Kriminaltechniker ebenso. Ich fahre hin.«
Sofia sah hinüber zu ihrem Wecker auf dem Nachttisch. Es war Viertel nach eins. »Warum?«
»Ich war ohnehin wach, und es wird sowieso auf unserem Tisch landen. Ich will wissen, womit wir es zu tun haben.«
»Willst du, dass ich auch dorthin komme?«, fragte Sofia pflichtschuldig.
Sie hörte, wie ihre Chefin den Reißverschluss der Jacke hochzog. Das Türschloss rasselte, und Sofia verstand, dass sie bereits auf dem Sprung war. Sie wartete ab, während die Schritte auf dem Marmorboden im Treppenhaus hallten. Erst als die Tür hinter Vera zuschlug, kam die Antwort: »Nein, es ist in Ordnung, wenn du dich morgen mit der Sache befasst.«
Ratlos hielt sich Sofia das Handy ans Ohr. Warum hatte ihre Chefin sie dann zu dieser Zeit angerufen?
Vera räusperte sich. »Hast du vielleicht eine Ahnung, wie ich Rodde erreichen kann? Sein Handy ist aus.«
Sofia biss sich auf die Lippen und merkte, wie sie rot wurde. Warum konnte sie nicht wie eine erwachsene Frau zu ihrem Liebesleben stehen?
»Ich werde ihm ausrichten, dass er kommen soll«, sagte sie, und ihre Stimme klang harscher, als sie beabsichtigt hatte.
»In Ordnung«, sagte Vera nur, doch Sofia meinte, ihr Grinsen durch das Telefon zu hören.
Rodde, der zu diesem Zeitpunkt den Gedanken an amouröse Aktivitäten offenbar aufgegeben und das Zimmer verlassen hatte, lief mit Rolf im Schlepptau an der offenen Tür vorbei. Er hatte eine Zahnbürste im Mund und streckte ihr seine zahnpastaschäumende Zunge heraus.
Im Hintergrund hörte sie, wie Veras Auto startete. Monoton verkündete das Navi das von Vera eingegebene Ziel: Ankunft Köpmanholmen in neunzehn Minuten.
Sofia lächelte und wurde von einem Gefühl erfüllt, das am ehesten Liebe glich. Oder zumindest Zärtlichkeit. Rodde, der selbst bei der Polizei arbeitete, begriff ihre Arbeit besser als irgendjemand anderer. Gestörte Pläne waren nichts, worüber er sich aufregte. Und auch nicht darüber, dass Tage, manchmal Wochen vergehen konnten, ohne dass Sofia Zeit für ihn hatte. Er wusste, was es bedeutete, bei der Polizei zu sein, und dass Verbrechen sich nicht in Dienstpläne einfügen ließen.
Seit dem Anruf fuhr Fredrik schweigend, die Hände fest am Lenkrad, während Lennart weitere Informationen einholte. Kilometer um Kilometer dunkelgrüner Wald rauschte vorbei, und doch schien Köpmanholmen unerreichbar. Bilder von einer zusammengeschlagenen und blutigen Juni flimmerten vor seinem inneren Auge, und er tat sein Bestes, sie zu verscheuchen.
Lennart machte einen Anruf und erreichte die Notrufzentrale direkt.
»Haben wir mehr Informationen darüber, wer sich vor Ort aufhält? Kommen.«
Plötzlich erschien ein Paar leuchtender, gelbgrüner Augen am Straßenrand, und Fredrik trat auf die Bremse. Das Auto flog zur Seite, und Lennart packte den Griff über der Fahrertür. Der erschrockene Fuchs kam mit dem Leben davon, und Sara hinter ihnen räusperte sich verärgert.
»Wir haben keine weiteren Angaben«, antwortete die Frau von der Notrufzentrale. »Der Rettungswagen ist bald vor Ort. Die Handynummer und die Telefonnummer des Anrufers wurden gespeichert, kommen.«
»Wir sind unterwegs, Ende.«
Sie fuhren an Bjästa und Åmynnet vorbei, und Fredrik drückte etwas mehr aufs Gas. Die Straßen waren leer, und hinter dem dunklen Wald lag nur weiterer dunkler Wald.
Er meinte, Lennart und Sara erzählen zu müssen, dass er Juni dort vermutete, doch er wusste nicht, was das zur Folge hätte. Vielleicht müssten sie dann umkehren. Doch wer würde stattdessen fahren? Der nächste Wagen war in Husum, und die Kollegen dort würden sicher noch eine halbe Stunde länger brauchen, um vor Ort zu sein, selbst mit eingeschaltetem Blaulicht.
Nach weiteren ewig erscheinenden Minuten fuhren sie auf den mit Schotter bedeckten Parkplatz der Badestelle. Ein junger Mann mit Daunenweste und Kappe, der dort auf sie gewartet hatte, rief ihnen etwas zu: »Dort oben«, zeigte er. »Beim Wasserfall.«
Fredrik schaute an der Fahrerseite zum Fenster hinaus und sah ungefähr hundert Meter entfernt das Blaulicht des Rettungswagens durch den Wald blinken.
»Du checkst hier die Lage«, sagte Lennart zu Sara und zeigte zur Feuerstelle, die unten am Ufer zu sehen war. Er öffnete ihr die hintere Tür, und Sara machte sich auf den Weg. »Wir fahren hoch«, fuhr er fort und wies auf einen Weg, der in den Wald führte.
Als sie den Hügelkamm hinaufkamen, sahen sie den Rettungswagen bereits dort stehen, die hinteren Türen waren offen. Die Blaulichter der beiden Fahrzeuge erleuchteten den Wald mit pulsierenden Blitzen. Die gelbgrün gekleideten Sanitäter, ein Mann und eine Frau mit großen, viereckigen Rucksäcken und robusten Stiefeln, standen bereit. Zwischen ihnen auf dem Boden konnten sie eine Trage erkennen. Die Frau nickte ihnen zu und stellte sich als Karin und den männlichen Kollegen als Marcus vor.
»Wo ist sie?«, fragte Fredrik.
Karin nickte in den Wald hinein. »Sie soll dort im Wald liegen, direkt unterhalb der Brücke, die über den Fluss führt. Als wir gesehen haben, dass ihr kommt, haben wir beschlossen, noch kurz auf euch zu warten«, erklärte sie als Antwort auf Fredriks unausgesprochene Frage.
»Ist hier jemand vorbeigekommen?«, fragte Lennart und zeigte zu dem Weg, der zu einem kleinen Fluss führte.
Karin nickte. »Als wir gerade ankamen, lief uns eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Zwei von ihnen sind in ein Auto gesprungen, das dort unten gewartet hat«, sie zeigte auf den Schotterweg unterhalb. »Wir konnten leider keinerlei Personalien aufnehmen.«
»Habt ihr das Nummernsch…«, begann Lennart, aber Karin unterbrach ihn, indem sie den Kopf schüttelte.
»Aber es war ein roter Škoda«, sagte sie.
»Wir haben also weder eine Ahnung, ob der Täter noch vor Ort ist, noch was im Wald gerade passiert?«
»Nein«, sagte Karin. »Ich hatte den Eindruck, dass Leute geflohen sind, als wir kamen. Der Anrufer, der den Notruf abgesetzt hat, geht nicht ans Telefon. Wir wissen nicht, ob ein möglicher Täter noch dort ist. Daher haben wir auf euch gewartet.«
Ungeduldig trat Fredrik auf der Stelle. Die Sorge trieb ihn um. Die Luft war kalt, und die Mücken bewegten sich schon unter seinen Hemdkragen. Er konnte nicht länger unnütz hier herumstehen.
»Wir gehen rein«, sagte Lennart und schaute die Sanitäter an.
Karin und Marcus fuhren die Trage aus und rollten sie schnell über den Weg. Bald wurde der Wald dichter, und sie mussten sie tragen. Lennart ging zuerst, Fredrik folgte, dann kamen die Sanitäter. Je tiefer sie in den Wald hineinkamen, desto stiller wurde die Nacht. Nur das Rauschen des Flusses war zu hören, das immer stärker wurde, je näher sie kamen.
Sie liefen weiter, und Lennart holte seine Taschenlampe hervor. Der Schein des Vollmondes, der die Meeresbucht erhellt hatte, drang nicht bis in den dichten Wald hinein. Auch Fredrik schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete vor sich auf den Weg. Einige Dutzend Meter weiter erreichten sie einen steilen Abhang, und dann sahen sie endlich den Fluss. Genau dort, wo eine Holzbrücke einen kleinen Wasserfall überquerte, war der Wald lichter, und im Schein der Taschenlampen sahen sie unten auf der Sandbank am Wasser einen Körper liegen. Marcus und Karin drängten sich an ihnen vorbei und eilten, so schnell sie konnten mit der Trage zwischen sich, über die rutschigen Wurzeln. Fredrik und Lennart folgten mit schnellen Schritten.
Bitte, lass es nicht Juni sein.
Er sah, wie die Sanitäter die Trage abstellten, die Rucksäcke neben sich warfen und sich zu dem Körper hinabbeugten. Zwischen ihnen lag ein Paar schmaler weißer Beine. Die Füße waren bloß. Der Rock war hochgerutscht und enthüllte einen weißen, blutbefleckten Slip.
Bitte nicht Juni. Bitte nicht Juni.
Lennart lauschte einer Nachricht über Funk und wandte sich dann zu Fredrik. »Eine weitere Streife ist unterwegs. Auch Hundeführer.«
Fredrik nickte, ging ein paar Schritte näher und spürte, wie die Stiefel in den nassen Sand einsanken. Er schauderte, als er die schlaffen Hände sah, die seitlich am Körper des Mädchens lagen. Um das eine Handgelenk trug sie ein Armband aus Silber mit Anhängern daran. Es kam ihm nicht bekannt vor. Der eine ihrer weißen Turnschuhe lag am Wasser unterhalb der Brücke. Kannte er die Schuhe? Gehörten sie Juni? Er wusste es nicht.
Fredrik schmeckte Blut im Mund. Er versuchte, sich zu sammeln, an das zu denken, was sein Beruf von ihm verlangte.
»Kannst du dafür sorgen, dass sie in Ruhe arbeiten können?«, fragte Lennart.
Fredrik nickte, ohne den Blick von dem weißen Schuh zu wenden. Er war blutbefleckt.
»Ich fahre den Einsatzwagen auf den Badeplatz runter und versuche, dafür zu sorgen, dass niemand von dort verschwindet«, sagte der Kollege.
Fredrik machte einen weiteren Schritt nach vorne.
Er wollte nicht hinsehen.
Langes Haar, blutgetränkt. Dieselbe blonde Farbe wie Juni.
Ein weiterer Schritt, und dann sah er ihr Gesicht.
Nicht Juni.
Fredrik stand wie versteinert und schaute das Mädchen an. Kurz sah er ihren Hinterkopf, als die Sanitäter den Kopf vorsichtig anhoben, um einen Druckverband anzulegen. Die Teile des Schädelknochens auf der rechten Seite sahen aus, als seien sie eingedrückt, die Wundränder klafften auseinander. Er schauderte.
Die Sanitäter arbeiteten schnell und effektiv. Er hatte gesehen, wie Polizeikollegen in Stresssituationen ihre Tätigkeiten wie im Autopilot verrichteten. Bei Karin und Marcus schien es ebenso zu funktionieren. Keiner musste dem anderen sagen, was zu tun war. Es passierte einfach.
Vorsichtig legten sie das Mädchen auf die Trage und breiteten eine goldene Rettungsdecke über sie. Karin lehnte sich vor und spannte mithilfe eines Klettbandes ein rotes Stützkissen um den Kopf. Dann holte sie einen Gürtel heraus und sicherte so den Körper auf der Trage. Als alle Bänder befestigt waren, sah es aus, als strecke sich eine riesige Spinne über die Decke, unter der das Mädchen lag.
»Die Atmung ist beeinträchtigt, röchelnd«, hörte er Karin zu Marcus sagen. »Wir müssen intubieren.«
Marcus nickte.
»Es wird ein Rettungsflug nach Umeå.«
Karin, die ihre Hand unter das Kinn des Mädchens hielt, um die Luftwege frei zu machen, zog das Funkgerät von der Schulter und gab die Information durch.