Schatten der Vergangenheit - Antonio Fusco - E-Book + Hörbuch

Schatten der Vergangenheit Hörbuch

Antonio Fusco

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  • Herausgeber: AUDIOBUCH
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Toskana. Als Commissario Casabona am frühen Morgen die Haustür öffnet, stehen vor ihm seine Kollegen. Mit einem Durchsuchungsbefehl. Der Grund: dringender Mordverdacht. Casabona soll den Liebhaber seiner Frau getötet haben. Ihm gelingt die Flucht – aber wer hat es auf ihn abgesehen? Eine erste Spur führt nach Neapel, direkt ins Herz der Camorra. Commissario Casabona hat sich in sein Haus in der Toskana zurückgezogen, allein. Seine Frau hat einen Neuen, seine einzige Gesellschaft ist sein Schnapsvorrat. Doch dann überraschen ihn eines Morgens in aller Herrgottsfrühe seine Kollegen mit einem Durchsuchungsbefehl. Durch einen Trick findet er heraus, dass er als Verdächtiger in einem Mordfall gilt. Marco Romoli, der neue Freund seiner Frau, wurde brutal ermordet aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass Casabona die Tat begangen hat. Er muss untertauchen und herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Von einem alten Kollegen erfährt er, dass ein ehemaliges Mitglied der Camorra ihn belastet hat. Und tatsächlich, einer der großen Bosse bestätigt Casabonas Verdacht: Der Commissario soll in ein Komplott der Mafia verwickelt werden. Aber warum? Um Antworten zu erhalten, muss Casabona tief in die eigene Vergangenheit hinabsteigen. Alte Freunde entpuppen sich als Feinde, und er darf nur noch sich selbst vertrauen, wenn er den wahren Täter überführen will.

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Zeit:5 Std. 10 min

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Ein Fall für Commissario Casabona

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

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Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

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www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »La stagione del fango« im Verlag Giunti Editore S. p. A., Florenz

© 2020 by Antonio Fusco

This edition is published in agreement with Piergiorgio Nicolazzini Literary Agency (PNLA)

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: © Zero-Media.net, München

Foto: © Marco Bottigelli/Gettyimages

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50518-4

E-Book ISBN 978-3-608-11943-5

Für Giovanni Luongo und Giorgio Di Vicinodamals Freunde, heute Seelenverwandte

Prolog

Glaubst du, es reicht, fortzugehen, um dein Leben zu ändern? Glaubst du wirklich, dass du ein anderer Mensch wirst, wenn du den Wohnort wechselst, neue Kontakte knüpfst oder andere Sprachen lernst? Du täuschst dich. Die Vergangenheit ist ein Schatten, der dich nie verlässt. Sie ist der Streuner, der Straßenköter, der dir auf Schritt und Tritt folgt. Der dich zurückbringt, wenn du dich verlaufen hast. Denn wir alle brauchen einen Ort, an den wir zurückkehren können. Um zu sterben oder wieder neu anzufangen.

Neapel

1

Neapel, in einem Restaurant auf dem Posillipo

Von hier oben sah Neapel wie ein Gemälde von Caravaggio aus. Eine mondlose Nacht, schwarz wie die Seele eines reuelosen Sünders. Wie aus dem Nichts zuckten Blitze durch die Finsternis. Plötzliche grelle Risse im nachtschwarzen Dunkel. Regentropfen rannen die Scheibe hinab. Tränen auf meinem Gesicht, das sich darin spiegelte.

An diesem Abend lag Neapel wie ein Mörder auf der Lauer. Eine alte Hure, die dir die Seele aus dem Leib saugen und einen Mann aus dir machen will. Die Stadt flößte Ehrfurcht ein, faszinierend und beängstigend zugleich.

Neapel war traumhaft schön, noch schöner als in meiner Erinnerung als enttäuschter Liebhaber. Ich wollte es nicht zugeben, aber Neapel war der einzige Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause fühlte.

Unvermittelt tauchten enge Gassen auf, wie klaffende Wunden, eingeklemmt zwischen den Palazzi rechts und links. Hier war ich ein Nichts gewesen, so wie viele andere auch. Und dann hatte uns das Leben geteilt, in Wächter und Diebe, in Täter und Opfer. In Dreckskerle und Gentlemen.

Jedes Mal, wenn ich hierher zurückkomme, versuche ich zu verstehen, warum ich zu den einen und nicht zu den anderen gehöre, und nie finde ich eine überzeugende Antwort.

Vielleicht kann ich deshalb meinen Feind nicht hassen, nachdem ich ihn besiegt habe. Irgendwie sind wir doch alle gleich, nur eben das Resultat unterschiedlicher Möglichkeiten.

Die Zeit des Schlamms

2

Sie kamen um sechs Uhr morgens. Am Anfang dachte ich, ich träume, sie mussten mehrere Male klingeln und dann mit den Fäusten gegen die Tür hämmern, damit ich begriff, dass das die Realität war.

Ich hörte Snaus in seinem Zwinger im Garten bellen, öffnete die Augen und setzte mich im Bett auf. Mit den Füßen suchte ich nach den Pantoffeln, aber das Licht schaltete ich nicht an. Ich wartete. Noch immer hoffte ich, mich geirrt zu haben. Ich hatte seit zehn Tagen Urlaub, trotzdem glich mein Schlafrhythmus einer Achterbahnfahrt. Ich schlief in letzter Zeit sowieso schlecht. Genauer gesagt, seit ich allein war. Ich fand keine Ruhe. Die Erinnerungen, die enttäuschten Erwartungen, das Bedauern, all das summte in meinem Hirn umher, mein Kopf glich einem Bienenstock. Um meine Gedanken zu betäuben, trank ich. Manchmal war ich melancholisch und weinte, manchmal war ich wütend und fluchte. Meistens so gegen zwei oder drei Uhr nachts hatte der Schlaf dann Mitleid mit mir und nahm mich in seine Arme.

Es klingelte erneut, schrill und unerbittlich, das Blut gefror mir in den Adern. Wenn dich jemand um sechs Uhr morgens aus dem Bett klingelt, kann das nichts Gutes heißen. Ich konnte das unmöglich ignorieren.

Als Erstes dachte ich, dass jemand mir eine schlechte Nachricht überbringen wollte. Um diese Uhrzeit gab es keinen Zweifel: Niemand taucht zu nachtschlafender Stunde bei dir auf, um dir etwas Angenehmes mitzuteilen. Das Gute ist niemals dringend, es kann warten. In meinem Kopf arbeitete ich eine Art Checkliste ab, eine Rangfolge meiner Sympathien, eine verborgene Aufstellung meiner Ängste. Ich dachte an Chiara, die mit ihrem Verlobten in Mailand lebte, an Alessandro, der mit Don Angelo in Afrika auf Missionsreise war, und an Francesca, die zwar seit einigen Monaten aus meinem Leben, aber noch nicht aus meinem Kopf verschwunden war.

Gleich werde ich die Tür aufmachen, sagte ich mir, und jemand wird vor mir stehen und mich darüber informieren, dass ein geliebter Mensch einen Unfall gehabt habe, der Zustand kritisch sei und ich schnellstmöglich ins Krankenhaus fahren solle. Sie würden mich nicht gleich mit der ganzen Wahrheit konfrontieren, sondern mir die nötige Zeit geben, mich auf die dramatischen Umstände einzustellen.

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich stand auf, ging durch den Flur und näherte mich der Wohnungstür. Ich versuchte, mich zu fassen, aber auf meinem Weg wurde mir klar, wie schwierig das war. Meine Haare waren zerzaust, und ich roch aus dem Mund wie eine Maus, die in einem Rumfass ertrunken war.

Wer auch immer da auf mich wartete, dachte ich, er wird nach wenigen Worten bereuen, mich geweckt zu haben.

Diese Vorstellung zauberte so etwas wie ein Lächeln in mein Gesicht. Es half mir, auch noch andere Hypothesen in Betracht zu ziehen, an die ich vorher nicht gedacht hatte. Sie haben sich vielleicht in der Tür geirrt. Möglicherweise ist Snaus abgehauen, und sie wollen ihn zurückbringen. Oder es sind Nachbarn, die Hilfe brauchen.

Ich warf einen kurzen Blick durch den Türspion und erkannte das ausgezehrte, bebrillte Gesicht von Commissario Mauro Crisanti, dem Leiter der Kripo Florenz. Direkt dahinter standen Ispettore Fabio Proietti, mein Stellvertreter, sowie meine Mitarbeiter, Sovrintendente Stefano Bini und Assistente Franco Giordano, genannt Ciondolo. Und vier oder fünf weitere Männer, die ich nicht kannte.

Ich öffnete die Tür, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, wie oft ich an ihrer Stelle gewesen war. Wenn du das Opfer bist, denkst du wie das Opfer, das ist nun mal so. Das hat mit der Rollenverteilung zu tun, wie in einem Theaterstück. Dieses Mal stand ich auf der falschen Seite der Wand. In diesem Augenblick war ich nicht mehr der souveräne Commissario, der frisch geduscht und sorgfältig gekleidet das Haus verlassen, bereits mehrere Tassen Kaffee getrunken und den Einsatz mit seinem Team vorbereitet hatte. Ich war nur ein Mann um die fünfzig in Unterhose und Pantoffeln, der zu begreifen versuchte, welches Geschenk das Leben in dieser Nacht für ihn bereithielt.

Ich wandte mich an Fabio. »Was ist los?«, fragte ich. Er schwieg. Es war Crisanti, der auf meine Frage antwortete, nüchtern und professionell, offensichtlich auf Distanz bedacht. »Wir müssen deine Wohnung durchsuchen, Tommaso. Das ist keine Aktion von uns, die Anweisung kam von der Justizbehörde in Florenz. Du weißt ja, was man bei solchen Gelegenheiten sagt. Reine Routine.«

Ich ignorierte ihn und wiederholte meine Frage: »Was ist los, Fabio?«

»Ich habe keine Ahnung, Chef. Der Questore hat mich vor einer Stunde verständigt und nur gesagt, ich sollte die Kollegen aus Florenz bei einer Hausdurchsuchung bei Ihnen unterstützen, ganz diskret natürlich. Tut mir leid.«

Es half mir zwar nicht viel, aber immerhin hatte er mich »Chef« genannt. Das machte mir Mut, denn was auch immer passieren sollte, ich stand nicht ganz allein, meine Leute waren noch auf meiner Seite.

»Und wer sind die anderen? Gehören die zu dir?«, fragte ich Crisanti.

»Ja.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass zwei von ihnen die Pistole im Anschlag hatten.

»Sag ihnen, sie können die Waffen wegstecken. Das ist nicht nötig.«

Crisanti drehte sich um und nickte den beiden wortlos zu. Dann bat er mich, das Hoftor zu öffnen, damit sie ihre drei Autos parken konnten, die noch auf der Straße standen. Ich kam seinem Wunsch nach.

Dann ließ ich die Männer herein. Während ich voranging, sagte ich laut und deutlich: »Achtung, die Wohnung ist videoüberwacht.«

Das stimmte zwar nicht, aber wer weiß, wozu es gut war. Im Zweifelsfall würden sie korrekt vorgehen, hoffte ich zumindest. Nicht aus Angst, dass sie etwas mitnehmen würden, ich besaß nichts Wertvolles. Aber ich fürchtete, sie könnten falsche Spuren legen. Irgendein schmutziges Spiel spielen.

Crisanti zeigte mir den Durchsuchungsbefehl und gab den anderen ein Zeichen, dass sie beginnen sollten.

Proietti, Bini und Ciondolo standen weiterhin an meiner Seite. Ein Ausdruck der Verbundenheit, eine Geste des Respekts, ich konnte spüren, wie unangenehm ihnen das Ganze war. Eine Hausdurchsuchung ermöglicht dir, in die Intimsphäre eines Menschen zu blicken, und lässt dich Dinge entdecken, die du, wenn es sich um einen Menschen handelt, den du schätzt, lieber nicht wissen wolltest.

Crisanti trug einen blauen Anzug und eine schreckliche gelbe Krawatte. So sah er immer aus, egal, ob im Büro oder beim Einsatz. Typisch Karrierist, dachte ich. Er legte zwei Kopien des Beschlusses auf den Wohnzimmertisch und reichte mir einen Stift. Die Papiere waren so positioniert, dass ich nur die letzte Seite lesen konnte, die mit dem Stempel des Eröffnungsbescheids. Allerdings gelang es mir, beim Umdrehen einen Blick auf die erste Seite zu werfen, auf die Rechtsgrundlage, auf der die Maßnahme fußte. Artikel 575. Mord.

Einen Moment lang glaubte ich, mir würde das Herz stehen bleiben. Ich fühlte mich wie ein Seiltänzer über dem Abgrund. Als die Versuchung, mich einfach fallen zu lassen, überwunden war, gewannen Klarheit und Konzentration plötzlich wieder die Oberhand. Die Sache war ernst. Jemand wollte mich reinreiten, aber ich hatte nicht vor, ihm dabei den Steigbügel zu halten. In Momenten wie diesen habe ich stets ein Bild vor Augen: ein Ritter, der das Visier seines Helms herunterklappt, kurz bevor er in die Schlacht zieht. Genau das tat ich jetzt. Möge der Krieg beginnen, dachte ich, ich bin bereit. Das Adrenalin flutete bereits durch meinen Körper, doch ich bemühte mich, die Gefühle, die mich zu überwältigen drohten, im Zaum zu halten.

Äußerlich gefasst, unterschrieb ich und ließ alles auf dem Tisch liegen, die Dokumente interessierten mich nicht mehr. Die Formalitäten waren erledigt.

Crisanti ahnte, dass etwas in mir vorging.

»Liest du dir den Beschluss nicht durch, Tommaso?«

»Ich vertraue euch«, sagte ich mit einer gespielten Mischung aus Selbstsicherheit und Resignation. Dann fügte ich hinzu: »Ich habe ein reines Gewissen, deshalb beunruhigt mich die Sache nicht. Und sobald auch ihr begriffen habt, dass das Ganze ein Irrtum ist, wird abgerechnet. Dann werde ich mir alles genau durchlesen, versprochen. Und nicht nur ich, sondern auch meine Anwälte. Wir werden viel Spaß haben. Hoffentlich bist du gut versichert, werter Kollege.«

Er wollte gerade antworten, aber ich ließ ihm keine Zeit: »Kann ich duschen und etwas anziehen, während ihr meine Wohnung durchsucht? Oder willst du mich weiter demütigen?«

Ohne seine Reaktion abzuwarten, ging ich in Richtung Schlafzimmer.

Crisanti folgte mir: »Aber die Tür bleibt auf.«

»Hast du Angst, ich könnte abhauen? Nach so vielen Berufsjahren solltest du unterscheiden können, ob jemand fliehen will, oder ob es nur darum geht, sich ein Minimum an Würde zu bewahren.«

Ich ließ die Tür einen Spalt offen. Das Fenster, das auf den Garten hinausging, konnte man vom Flur aus nicht sehen. Ich schlüpfte in die Klamotten, die gerade auf dem Boden und auf einem Stuhl neben meinem Bett herumlagen: Jeans, blauer Pulli, Sneakers und Lederjacke. Dann griff ich nach dem Geldbeutel, der Pistole, dem Handy und dem Schlüsselbund auf dem Nachttisch, und kletterte aus dem Fenster im ersten Stock. Ich stieg ins Auto, das auf dem Hof stand, fuhr los und schloss mit der Fernbedienung hinter mir das Tor.

Crisanti hatte einen Fehler gemacht, den ich an seiner Stelle auch gemacht hätte. Um mich in Sicherheit zu wiegen und um unvorhergesehene Reaktionen zu vermeiden – immerhin hatte ich eine Waffe im Haus –, hatte er die Hausdurchsuchung als reine Formalität abgetan. Das hatte ihm die Möglichkeit gegeben, die Wohnung zu betreten und die Situation zu kontrollieren. Jedenfalls so lange, bis ich die Verfügung lesen würde. Denn ab dem Moment, als mir klar würde, dass ich unter Mordanklage stand, wüsste ich, dass man mich festnehmen würde. Danach hätte er mir den Beschluss über die Sicherheitsmaßnahmen oder die vorläufige Festnahme vorgelegt, den er ohne Zweifel dabeihatte, und mir Handschellen angelegt.

Ab diesem Moment wäre ein Fluchtversuch ein strafrechtlich relevantes Delikt, für das ich mich würde rechtfertigen müssen, selbst wenn ich meine Unschuld in der Mordsache beweisen könnte.

Doch ich hatte die richtige Entscheidung getroffen: unterschreiben und sofort danach abhauen.

Mit dieser Vorgehensweise hatte ich mich nicht nur einer Verhaftung entzogen, sondern mich während einer Hausdurchsuchung entfernt. Nur als freier Mann konnte ich mich diesem Scheiße-Tsunami entziehen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich musste mich verteidigen.

3

Hinter der ersten Kurve auf der Straße Richtung Valdenza erwartete mich ein faszinierendes Naturschauspiel. Die Sonne ging gerade auf, die Strahlen schnitten wie eiserne Klingen durch die kahlen Äste der Buchen und verliehen diesem eiskalten Dezembertag eine strahlende Helligkeit, aber keine Wärme. So kalt war es seit Jahren nicht gewesen.

Ich setzte die Ray Ban auf, die auf dem Armaturenbrett lag, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Niemand war mir gefolgt. Wahrscheinlich versuchten sie noch, das Elektrotor zu öffnen, um rausfahren zu können. Einen Moment lang kamen mir amerikanische Krimis in den Sinn, in denen es in Situationen wie dieser immer einen Superhelden gab, der mit Vollgas das Tor durchbrach und alles niedermähte. Was für ein Scheiß! Aber wenn ich mir vorstellte, wie Crisanti mit seinem Fuhrpark im Hof festsaß, musste ich schmunzeln. Ich beschloss, ihn anzurufen.

»Mauro, ich hoffe, du überlegst nicht, mit deinem Wagen das Tor zu durchbrechen? Das stelle ich dir sonst in Rechnung. Ach, übrigens, die Fernbedienung liegt neben der Gegensprechanlage.«

»Verdammt, wo bist du, Tommaso? Du reitest dich immer tiefer in die Scheiße, das macht alles nur noch schlimmer. Komm zurück.«

»Das geht leider nicht. Mir ist eingefallen, dass ich heute Morgen etwas sehr Wichtiges zu erledigen habe. Schließt einfach ab, wenn ihr fertig seid. Und wenn du schon mal da bist, tust du mir bitte den Gefallen und fütterst den Hund?«

Bevor er reagieren konnte, legte ich auf und schaltete das Handy aus. Vielleicht hatten sie es schon geortet, benutzen konnte ich es jedenfalls nicht mehr.

Ich musste auf jeden Fall vor ihnen im Büro sein, das sie ganz sicher auch durchsuchen würden. Im Safe bewahrte ich ein paar Kleinigkeiten auf, die mich in Schwierigkeiten bringen würden, wenn man sie fände. Die musste ich dringend verschwinden lassen. Nichts Besonderes, einfach Dinge für den Fall der Fälle … Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass jemand danach suchen würde: Reservepatronen für den Notfall, ein Handy, das ich während eines Einsatzes abgezweigt hatte und das nicht mit mir in Verbindung gebracht werden konnte, ein bisschen Bargeld und ein Ausweis, den ein Typ bei einem Fluchtversuch verloren hatte. Ich hatte vergessen, ihn abzugeben. Alles nicht ganz legal, aber durchaus nützlich in Situationen wie diesen.

Ich erreichte die Questura kurz nach sieben. Der Pförtner war überrascht, mich schon so früh zu sehen. Er sprang auf, um mich zu grüßen, und versuchte dabei, die Uniformjacke zu richten, die er aufgeknöpft hatte. Alles wie immer. Ich winkte ihm zu und ging weiter.

Es war gerade Schichtwechsel auf der Wache. Die Nachtschicht räumte zusammen und ging schlafen, und die Frühschicht übernahm. Ich versuchte, den Beamten, die ihre Sachen von einem Dienstwagen in den anderen räumten, möglichst aus dem Weg zu gehen.

Die Büros der Squadra Mobile waren hingegen menschenleer. Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte, und machte mich sofort ans Werk.

Ich nahm das Geld, das Handy, das dazugehörige Ladegerät und den Ausweis aus dem Safe und ging in mein Zimmer. Dann löste ich das Foto aus dem Ausweis und ersetzte es durch ein eigenes, das ich von meiner letzten Passerneuerung übrig hatte. Als amtlichen Stempel verwendete ich das Dienstsiegel der Questura. In wenigen Minuten hatte ich eine neue Identität. Ich hieß Alfonso Ruta, ein paar Jahre jünger war ich auch, denn der rechtmäßige Besitzer des Ausweises war fünfundvierzig. Der Polizei gegenüber konnte ich mich damit natürlich nicht ausweisen, dazu war die Fälschung zu plump. Aber für Gelegenheiten, wo der Ausweis eine reine Formalität war, würde es reichen. Ich konnte mir damit zum Beispiel eine SIM-Karte kaufen, ein Auto mieten oder ein Hotelzimmer nehmen.

Ich steckte alles in die Tasche, fuhr den Computer hoch und recherchierte in der Datenbank. Kein Ergebnis, noch gab es keine offizielle Untersuchung gegen mich. Es war noch zu früh, aber damit hatte ich gerechnet. Ich warf einen Blick in die Mails, auch dort fand ich nichts.

Während ich mein Büro abschloss und gerade gehen wollte, hörte ich die Stimme von Sovrintendente Michela Paolozzi, die für das Sekretariat und das Personalwesen zuständig war. Sie kam immer etwas früher als die anderen, um den morgendlichen Bericht an den Questore zu schicken, eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse des Vortags.

Überrascht stand sie hinter mir.

»Guten Morgen, Dottore. Was machen Sie denn um diese Uhrzeit schon hier?« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Sie sind doch im Urlaub, oder irre ich mich?«

»Ich schaue nur kurz vorbei, ich brauche ein paar Unterlagen«, antwortete ich. Dann versuchte ich, das Terrain zu sondieren, vielleicht wusste sie schon mehr: »Gibt’s was Neues, Michela?«

»Nein, nichts Besonderes. Ich will nichts heraufbeschwören, aber in diesem Jahr dürfte es über die Weihnachtstage ruhig bleiben. Wir wünschen uns noch nicht frohe Weihnachten, oder? Sie sind ja in ein paar Tagen wieder im Dienst.«

Jetzt konnte ich mir sicher sein, dass sie keine Ahnung hatte.

»Oh ja, sicher, Michela. Wir sehen uns und wünschen uns persönlich frohe Weihnachten. Aber jetzt muss ich los.«

Ich ging auf die Treppe zu.

»Dottore, wissen Sie schon, dass es einen Toten gegeben hat?«

Ich blieb abrupt stehen und fuhr herum.

»Wer?«

»Romoli. Marco Romoli.«

Sie bemerkte, wie ich erstarrte, und dachte wohl, dass ich den Namen nicht gleich einordnen konnte. Deshalb fügte sie erklärend hinzu: »Sie kennen ihn doch … Dottor Marco Romoli, der Onkologe, der Ihre Frau behandelt hat.«

Und wer weiß, ob sie in Gedanken noch hinzufügte: »Und in den sie sich verliebt und für den sie Sie verlassen hat.« Als sie bemerkte, dass ich wusste, um wen es ging, bremste sie sich noch rechtzeitig.

»Ja, Michela, ich weiß, wer das ist. Was ist passiert?«

»Er wurde erschossen, man hat die Leiche in einem Wald im Mugello gefunden. Die Kripo aus Florenz hat den Fall übernommen. Noch haben wir nichts Offizielles, aber ich weiß es von einem Bekannten der mobilen Einheit, die gestern Abend am Tatort war. Ich habe ihn beim Abendessen mit ein paar Kollegen getroffen.«

Sie kam näher und musterte mich: »Geht es Ihnen gut, Dottore? Sie sind so weiß wie ein frisch gewaschenes Bettlaken.«

»Ja, alles in Ordnung, Michela. Mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.«

4

Wenn ich mit der Wahrheit konfrontiert werde, bin ich immer skeptisch. Ich kann nichts dafür. Ich lehne sie nicht von vornherein ab, ich stelle sie nur einen Moment lang in Frage und mache mich auf die Suche nach einer anderen möglichen Erklärung. Die Philosophen nennen das Beweis durch Widerspruch, aber für mich ist das nur ein instinktives Misstrauen gegenüber allzu einfachen Lösungen. In diesem Fall jedoch gab es wenig Zweifel: Wenn der Mann, der dir deine Frau ausgespannt hat, umgebracht wird, und die Polizei mit einer Mordanklage vor deiner Tür steht, dann müssen die beiden Ereignisse miteinander verknüpft sein.

Während ich mich aus dem Staub machte, bevor die Kollegen in die Questura kamen, analysierte ich die Lage: Sie mussten stichhaltige Verdachtsmomente gegen mich haben, um die Durchsuchung zu rechtfertigen, die gerade in meiner Wohnung stattgefunden hatte.

Diese Erkenntnis verstärkte meine Niedergeschlagenheit. Auf dem Weg von meiner Wohnung in die Questura war ich überzeugt gewesen, das Opfer einer teuflischen Intrige zu sein, organisiert von dunklen Mächten, im Auftrag irgendwelcher Krimineller, die ich durch meine Ermittlungen in Bedrängnis gebracht hatte. Stattdessen ging es um eine ganz banale Beziehungstat.

Der Klassiker: er, sie und der andere. In Neapel würde man sagen: »Isso, essa e o’ malamente«. Eine Dreieckskonstellation, die in keinem Drehbuch fehlen durfte. Schande über Schande.

Ich beschloss, das Auto auf dem Parkplatz stehen zu lassen, mit ihm würde ich ohnehin nicht weit kommen. Bald würden die Beschreibung und das Kennzeichen an alle Dienststellen des Landes rausgehen. Sovrintendente Paolozzi hatte gesagt, dass man Marco Romoli in einem Wald im Mugello gefunden hatte. Da der Tote Arzt und kein Waldarbeiter war, konnte man davon ausgehen, dass Fundort nicht gleich Tatort war. Oder man hatte ihn lebend dort hingebracht und dann getötet. Und wenn ich verdächtigt wurde, nahm man wahrscheinlich an, dass ich ihn im Auto transportiert hatte, und hoffte, dort DNA-Spuren von ihm zu finden. Dann konnte ich die Karre gleich dort stehen lassen, damit sie rasch die Beweise sichern konnten. Und wer weiß, vielleicht kam mir das zugute, denn Romoli war nie in meinem Auto gewesen, zumindest ging ich davon aus.

Dann machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof Valdenza. Zum Glück funktionierten die meisten Überwachungskameras dort nicht. Sie wurden zwar ständig gewartet, aber offensichtlich ohne Erfolg. Wie oft hatte ich mich bei der Stadtverwaltung darüber beschwert, heute hätte ich den Beamten dafür die Füße küssen können.

Ich schaltete mein Handy ein und setzte es auf die Werkseinstellungen zurück. Auf diese Weise löschte ich den Speicher, und man konnte es mir nicht mehr zuordnen. Dann schaltete ich es stumm, damit niemand mitbekam, wenn ich angerufen würde.

An der Anzeigetafel am Bahnhof las ich, dass die Frecciarossa von Rom nach Mailand gleich eintreffen würde. Als der Zug zum Halten kam, stieg ich ein und versteckte das Telefon hinter einem der Feuerlöscher zwischen zwei Wagen. Dann stieg ich wieder aus, die Wut auf diese Schwachmaten, die mich in diese Sache hineingezogen hatten, kochte in mir hoch. Ich schwor mir, dass ich es ihnen heimzahlen würde. Natürlich würde ich ihnen auch die Rechnung für mein Handy präsentieren, das ich erst vor wenigen Monaten gekauft hatte und für das ich noch immer die Raten abbezahlte.

Langsam fuhr die Frecciarossa aus dem Bahnhof, und mit ihr machte sich meine digitale Identität auf den Weg nach Mailand.

In wenigen Minuten würde ein Beamter vor einem Bildschirm im Beobachtungsraum der Kripo Florenz bemerken, dass sich das Zielobjekt, also mein Handy, entlang der Bahngleise bewegte. Nachdem er die Fahrpläne abgeglichen hätte und ihm klar würde, welcher Zug in Frage kam, würde er seinem Chef Bescheid geben. Der wiederum würde seinen Kollegen von der mobilen Einheit in Mailand bitten, mich in Empfang zu nehmen. Ohne Erfolg. Er würde noch nicht mal mein Handy finden, denn ich hatte es so programmiert, dass es sich um zehn ausschaltete, also etwa eine Stunde vor meiner vermeintlichen Ankunft in Mailand. Für Crisanti war das die einzige heiße Spur, mit der Folge, dass er seine Leute in Valdenza abziehen müsste. Die allgemeine Verwirrung würde mir eine Verschnaufpause verschaffen.

Das Spiel hatte gerade erst begonnen. Er war der Jäger, ich der Gejagte, aber ich hatte den Vorteil, die Stärken und Schwächen meines Gegners genau zu kennen, und war mit der Vorgehensweise in solchen Fällen bestens vertraut. Das würde ich ausnutzen.

Aber ich musste auf dem Laufenden bleiben, ich brauchte Verbündete. Wie sollte ich sonst an aktuelle Informationen kommen? Genau darin lag jedoch mein erstes großes Problem: Wem konnte ich vertrauen? Wer war bereit, einem Mordverdächtigen zu helfen, nur weil der seine Unschuld beteuerte? Und tat das nicht jeder Mordverdächtige? Wer würde dieses Risiko auf sich nehmen?

In Neapel an der Uni hatte ich einen jungen Palästinenser kennengelernt, der Ingenieurwissenschaften studierte. Wir wurden Freunde, und ich lernte viel über arabische Kultur und palästinensische Traditionen. Eines Abends erzählte er mir, dass man in seiner Heimat von wahrer Freundschaft sprach, wenn man jemandem Unterschlupf gewährte, der nachts, mit einem blutigen Messer in der Hand, an der Tür klopfte und gestand, dass er jemanden umgebracht habe und ein Versteck brauche.

Und genau in so einer Situation war ich jetzt. Ich musste nur noch entscheiden, an welche Tür ich klopfen würde.

5

Nach Abschluss der Hausdurchsuchung bei Casabona in den Hügeln von Valdenza kehrte die Ermittlungsgruppe mit Commissario Mauro Crisanti an der Spitze in die Questura zurück.

Auf der Fahrt herrschte Schweigen, keine Kommentare, keine Hypothesen, warum die Aktion gescheitert war. Die Stimmung war zappenduster. Sie hatten nichts Interessantes gefunden, zudem war der Verdächtige, den sie hatten verhaften wollen, auch noch geflohen. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Diese unheilvolle Stille war die Ouvertüre vor dem Sturm, der über sie hereinbrechen würde. Die Beamten waren angespannt, es hatten sich zwei Lager gebildet, die Kripobeamten aus Florenz und die Einsatztruppe aus Valdenza, also Casabonas Leute.

Sie saßen jetzt im Büro von Ispettore Proietti zusammen.

»Diese Schweine haben ihn entkommen lassen, das war Absicht«, flüsterte ein junger Kriminalbeamter seinem älteren Kollegen zu, der in einer Ecke stand. Es sollte niemand sonst hören, aber dieser Plan ging nicht auf. Seine Worte waren der Funke, der das Pulverfass zum Explodieren brachte.

Ciondolo, der ohnehin keinem Konflikt aus dem Weg ging, spürte das Knistern sofort. Diese Chance konnte er sich nicht entgehen lassen.

»Du Milchgesicht, du bist doch noch nicht mal trocken hinter den Ohren, was bildest du dir ein? Sag deinem Vater, dass er Scheiße gebaut hat, es wäre besser gewesen, sich einen runterzuholen, als einen Idioten wie dich in die Welt zu setzen.«

Der ältere Kollege, der ursprünglich aus Rom kam, versuchte zu vermitteln. »’A secco, komm wieder runter. Der Kollege hat nur das ausgesprochen, was alle denken.« Er schaute in die Runde und wartete auf Zustimmung, die aber ausblieb. Die Beamten aus Florenz hielten sich in Deckung.

Ganz anders Sovrintendente Bini, ein waschechter Toskaner, der aber einige Zeit in Rom gelebt hatte und alle Sprüche kannte: »Ciccio«, begann er und spielte damit auf die Leibesfülle seines Gegenübers an, »wisst ihr, was ich euch rate, dir und deinen kleinen Freunden?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Lutscht euch doch gegenseitig den Schwanz. Und dann spült euch den Mund mit Seife aus, bevor ihr über die Squadra Mobile von Valdenza sprecht.«

Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, trat Commissario Crisanti dazwischen.

»Schluss jetzt!«, brüllte er Bini und Ciondolo an.

»Ach, wir sind also schuld?«, keifte Bini zurück.

»Halten Sie den Mund. Noch ein Wort, und Sie haben ein Disziplinarverfahren am Hals.«

»Das geht ja gut los! Der Unparteiische hat sich vom Gegner schmieren lassen«, maulte Ciondolo.

Crisanti fuhr herum: »Was haben Sie gesagt, Ispettore?«

»Zu viel der Ehre, Dottore. Ich bin nur Assistente Capo. Und zwar schon sehr lange. Die haben angefangen und uns beleidigt und gemeint, wir würden nicht korrekt arbeiten, und Sie machen uns Vorwürfe?«

Der Commissario wusste sofort, worauf Ciondolo anspielte. Er war zwar kein brillanter Ermittler, aber dass man sich besser nicht mit einem erfahrenen Polizeihauptwachtmeister anlegen sollte, war ihm durchaus bewusst. Altgediente Beamte am Ende ihrer Karriere hatten nichts mehr zu verlieren. Sie hatten keine Beförderungschancen mehr und saßen fest im Sattel. Einmal in die Enge getrieben, würden sie sogar dem Polizeichef Paroli bieten. Deshalb hielt er es für schlauer, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Wir beruhigen uns jetzt alle mal wieder«, versuchte er, die Wogen zu glätten.