Schatten der Vergangenheit - Sabine Büntig - E-Book

Schatten der Vergangenheit E-Book

Sabine Büntig

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Beschreibung

Die Kommissare Antonia Falkner und Magnus Naumann werden zu einem Mordfall in den bayerischen Bergen gerufen. Die Gegend ist Antonia wohlbekannt, da dort die Familie ihrer besten Freundin eine Pension führt. Mit dem getöteten Gynäkologen Richard Hansen verbindet Antonia unliebsame Erinnerungen. Wird es dem Team gelingen, die Vielzahl an möglichen Verdächtigen so zu analysieren, dass sie den tatsächlichen Täter zweifelsfrei ermitteln können? Hat Antonia den nötigen Abstand, um den Fall zu lösen und sind ihre Freundin und deren Familie tatsächlich so unschuldig, wie sie es sich wünscht?

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Die Kommissare Antonia Falkner und Magnus Naumann werden zu einem Mordfall in den bayerischen Bergen gerufen. Die Gegend ist Antonia wohlbekannt, da dort die Familie ihrer besten Freundin eine Pension führt. Mit dem getöteten Gynäkologen Richard Hansen verbindet Antonia unliebsame Erinnerungen.

Wird es dem Team gelingen, die Vielzahl an möglichen Verdächtigen so zu analysieren, dass sie den tatsächlichen Täter zweifelsfrei ermitteln können?

Hat Antonia den nötigen Abstand, um den Fall zu lösen und sind ihre Freundin und deren Familie tatsächlich so unschuldig, wie sie es sich wünscht?

Autorin

Sabine Büntig, geb. 1966, lebt mit ihrer Familie in Nordhessen. Das Schreiben gehört schon immer zu ihrem Leben, mehr als 1.000 Artikel sind in der Lokalredaktion der regionalen Tageszeitung sowie weiteren Zeitschriften erschienen. Als Romane veröffentlicht wurden bisher drei Bände der Sunny-Saga. Die generationsübergreifende Familiengeschichte spielt vor der Kulisse Südafrikas.

Kontakt: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1.

Gut, dass es mittlerweile wenigstens richtig hell ist, dachte Kriminalkommissar Magnus Naumann beklommen. Er klammerte sich mit aller Kraft seines 1.92 Meter großen muskulösen Körpers am Türgriff der Beifahrerseite fest, um in den Kurven nicht vom Sitz geschleudert zu werden.

Zu Beginn dieser rasanten Fahrt war es noch dämmerig gewesen. Inzwischen lag dieser Beginn – der mit dem ungeduldigen Hupen seiner Kollegin Antonia Falkner vor seiner Wohnung seinen hektischen Anfang genommen hatte, bereits geraume Zeit hinter ihm.

Seine Kollegin und er liebten den Wagen, in dem sie saßen, gleichermaßen und genau darin lag auch das Problem. Als Kommissare hatten sie Anspruch auf einen Dienstwagen, der erfreulicherweise ein Zivilfahrzeug sein musste. Das einzig Dumme an der ganzen Angelegenheit war, dass beide sich das Fahrzeug teilen mussten. Vielleicht würde sich das eines Tages ändern, aber bis dahin war wohl noch ein weiter Weg.

Der schwarze BMW Rover entsprach so genau seinen Vorstellungen eines perfekten Wagens, dass er sich nur sehr widerwillig mit einem Platz auf dem Beifahrersitz abfinden konnte.

Nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten, die sich über Wochen hinzogen, hatten Antonia und er gemeinsam ein ausgetüfteltes und in ihren Augen sehr gerechtes System entwickelt, bei dem beide auf ihre Kosten kamen. Das Modell beinhaltete einen täglichen Wechsel am Steuer, wobei selbstverständlich auch berücksichtigt wurde, ob überhaupt Fahrten anstanden.

Obwohl sie inzwischen seit fast zwei Jahren ein Team bildeten, lag diese Regelung erst wenige Monate zurück, nachdem sie festgestellt hatten, dass es andernfalls ständige Diskussionen gab, die sich negativ auf ihre Arbeit auswirkte.

Der Wagen stand auf dem bewachten Parkplatz am Revier, für ihren Heimweg brauchten ihn beide nicht. Magnus fuhr lieber sein Motorrad und Antonia war sich nicht zu schade, auch mal öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.

Sie hatte heute zwar noch früher als er aufstehen müssen, um das Fahrzeug abzuholen, aber wenn Magnus an die lange und außergewöhnlich interessante Strecke dachte, die ausnahmsweise vor ihnen lag, hätte er liebend gerne mit ihr getauscht.

Es war wirklich ungerecht, bedauerte er sich selbst, ohne zu wissen, dass sich Antonia bereits vorgenommen hatte, ihren Kollegen für diese entgangene Freude zu entschädigen. Ihm das mitzuteilen, hatte sie allerdings bisher versäumt, jetzt genoss sie erst einmal ihr Privileg.

Ihr bisheriger Weg hatte sich endlos hingezogen. Beide Kriminalkommissare wohnten in Laufnähe voneinander mitten in München und obwohl der Verkehr um diese unchristliche Uhrzeit spärlich war, kam er in der Metropole doch nie völlig zum Erliegen.

Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, konnte Antonia das Gaspedal zwar stärker durchtreten aber es hatte immer noch eine beträchtliche Strecke vor ihnen gelegen, da sie der aktuelle Fall an die äußerste Grenze ihres Zuständigkeitsbereichs führte. Obwohl sie ihrer Ankunft entgegenfieberte, freute sie sich an dem kraftvollen Brummen des Motors und lehnte sich zufrieden in ihrem bequemen Ledersitz zurück. Ihre von dichten Wimpern umrahmten dunkelgrünen Katzenaugen blitzten begeistert, wenn der Wagen rasant um die Kurven schoss und Magnus richtete den Blick lieber auf sie, als auf die an ihm vorbeirasende Landschaft.

Er fragte sich, warum dieser zufriedene Gesichtsausdruck bei ihr eine solche Ausnahme darstellte, dass er ihm sofort auffiel. Lag es an ihrem kräfte- und nervenzehrenden Job oder war Antonia einfach ein grundsätzlich ernster und verschlossener Typ? Dabei gefiel sie ihm gut gelaunt und fröhlich lachend so viel besser, ihr deshalb häufiger das Steuer zu überlassen, kam allerdings dennoch nicht in Frage.

Zwischenzeitlich hatte sich Magnus vorsichtig erkundigt, ob sie überhaupt noch richtig seien, derart weit außerhalb Münchens waren sie noch nie zu einem Einsatz gerufen worden. Das genervte Schnauben seiner Kollegin musste ihm als Antwort genügen und er hatte es bald aufgegeben, weiter nachzuhaken. Inzwischen sah er seine Hoffnung bestätigt, dass sie sich ihrem Ziel endlich näherten.

Mittlerweile gelangte die eindrucksvolle Gebirgskette, auf die sie bereits geraume Zeit zufuhren, in greifbare Nähe. Die Straße wurde immer schmaler und schraubte sich in engen Serpentinen in die Höhe, ohne dass Antonia ihren Fahrstil auch nur ansatzweise daran anpasste.

Obwohl er wusste, dass die Bodenhaftung der Reifen auch auf der taunassen Straße optimal war, hätte er sich liebend gerne selbst ans Steuer gesetzt – ihnen beiden zuliebe, wie er eingestehen musste. Natürlich durfte er das niemals laut sagen, ohne einen Wutanfall bei Antonia zu riskieren und dafür war es definitiv selbst für einen Morgenmenschen wie ihn noch viel zu früh.

Nachdem er sich erneut einige Kilometer bemüht hatte, die kurvenreiche Fahrt mit angehaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen durchzustehen, hielt er es nicht länger aus.

„Verdammt Toni, nicht so schnell. Du tust gerade so, als könntest du noch was ändern, wenn du ein paar Minuten reinholst. Ist doch klar, dass die anderen längst da sind, wir haben schließlich den weitesten Weg. Du kennst die Strecke nicht und …“ Er verstummte und richtete seine strahlend blauen Augen auf das verbissene Profil seiner Kollegin.

Kriminalkommissarin Antonia Falkner runzelte die Stirn und entgegnete, ohne ihren Blick dabei von der Fahrbahn zu nehmen: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich bin die Strecke schon mindestens hundertmal gefahren, bei jeder Tages-und Nachtzeit und jedem Wetter.“ Sie wischte sich genervt eine Strähne ihrer rötlich-brauen Locken aus dem Gesicht, bevor sie fortfuhr. „Die Eltern meiner ältesten Freundin betreiben hier eine Pension, als Kinder waren wir unzertrennlich.“

Sie gähnte herzhaft, obwohl sie bereits geraume Zeit auf den Beinen war, hatte der Tag kaum begonnen und sie war noch längst nicht wirklich wach. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen fiel es Antonia schwer, morgens in die Gänge zu kommen, auf der anderen Seite hatte sie jedoch keine Probleme damit, bis in die Nacht hochkonzentriert zu arbeiten.

Einfluss auf ihren Fahrstil hatte ihre Müdigkeit allerdings nicht, stellte Magnus bedauernd fest und fragte sich wieder einmal, wie erschöpft sie wohl sein musste, um tatsächlich zur Ruhe zu kommen. Sie schien ständig Vollgas zu geben – und das nicht nur am Steuer eines Wagens.

Um sich abzulenken, versuchte er, sich auf das atemberaubende Panorama zu konzentrieren, das sich vor seinen Augen entfaltete. Die aufgegangene Sonne tauchte die Landschaft in ein sanftes Licht und das Rosarot des Himmels, auf den die schnell ziehenden Wolken interessante, sich ständig verändernde Muster malten, spiegelte sich in dem kleinen Bergsee zu Füßen der vor ihnen aufragenden Gipfel.

Die eben durchbrechenden Sonnenstrahlen schufen eine Postkartenidylle, deren Anblick unzähligen Urlaubern Jahr für Jahr ihr mühsam verdientes Geld aus der Tasche zog.

Diese friedvolle Atmosphäre schien allerdings keinerlei Einfluss auf das Verhalten der Menschen, die sich hier aufhielten, zu nehmen – ansonsten wären sie nicht gerufen worden.

„Ihr seid aber nicht hier aufgewachsen, oder?“ Magnus versuchte sich daran zu erinnern, ob seine Partnerin ihm das bereits erzählt hatte. Dabei fiel ihm auf, wie wenig er tatsächlich über sie wusste - obwohl sie Tag für Tag zusammen arbeiteten, viele Stunden miteinander verbrachten und sich seiner Meinung nach prima verstanden.

Antonia war mit Ende zwanzig ein paar Jahre jünger als er selbst und hatte vor ihrem Studium als Streifenpolizistin gearbeitet – viel mehr hatte er bislang nicht erfahren. Einen Vorwurf konnte er ihr aus ihrer Verschwiegenheit nicht machen, auch er sprach nicht gerne über sich selbst und verlor beispielsweise nach Möglichkeit keine Worte über seine jahrelange Tätigkeit als verdeckter Ermittler, geschweige denn über die eine oder andere noch weiter zurückliegende Jugendsünde, die er gerne ungeschehen gemacht hätte.

Antonia schüttelte den Kopf und erklärte, dass sie mit besagter Freundin in München in derselben Straße gelebt und gemeinsam zur Schule gegangen sei.

Ihr Gespräch endete zu seinem Bedauern sehr bald und ziemlich abrupt, als vor ihnen zahlreiche Polizei- und Rettungswagen auftauchten, die die schmale Straße säumten und ein Weiterfahren wirkungsvoll verhinderten. Antonia lenkte den Wagen an den Straßenrand. „Wir sind da, den Rest müssen wir wohl laufen.“

Es dauerte nun nicht mehr lange, bis sie ihr endgültiges Ziel erreicht hatten. Gelbes Polizeiband flatterte im Wind und am Rand der großzügig abgesperrten Fläche stand eine kleine Gruppe Wanderer, die die Personen innerhalb der Absperrung mit unverhohlenem Interesse beobachtete. Überall waren kleine gelbe Hütchen aufgestellt, ein Fotograf packte eben seine Ausrüstung zusammen und mehrere Männer gruppierten sich um einen schwarzen Leichensack.

„Die Spurensicherung scheint schon durch zu sein. Ist das da vorn der Gerichtsmediziner? Die waren ja wirklich schnell heute Morgen.“ Magnus kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, mit wem sie es zu tun hatten.

„Oder wir besonders langsam“, brummte Antonia während sie auf die Wanderer zeigte. „Geh du zu den Leuten da drüben, ich schau mir unser Opfer erstmal genauer an.“

Es war nicht der erste Tote, den sie zu sehen bekam, trotzdem würde sie sich wohl nie an diesen ersten Moment gewöhnen. In ihrer Zeit als Streifenpolizistin hatte sie häufig noch vor dem Rettungsdienst als Erste den Unfallort erreicht und der Anblick der Schwerverletzten würde sie ihr Leben lang begleiten. Aber zumindest hatten die meisten noch gelebt, wenn auch vielleicht nur gerade eben noch. Seit ihrem Wechsel zur Kriminalpolizei, Abteilung Tötungsdelikte, wurde die Kommissarin nur dann hinzugerufen, wenn jede Hilfe zu spät kam und die Todesumstände auf eine Straftat hindeuteten.

Antonia schluckte und atmete tief durch, bevor sie sich dem Kopfende der Trage näherte. „Kripo München, Kommissarin Antonia Falkner, dort drüben ist mein Kollege Kommissar Magnus Naumann“, stellte sie sich selbstbewusst vor. „Was können Sie mir sagen?“

Ein großer, schlanker Mann im weißen Overall hob den Kopf und ließ seinen Blick über die vor ihm stehende Frau gleiten. Er kannte ihren Namen bisher nur aus einigen Telefonaten und in Sekundenschnelle bemühte er sich nun, seinen Eindruck von ihr mit ihrer persönlichen Erscheinung in Einklang zu bringen.

Ohne dieser Beobachtung irgendeine Bedeutung beizumessen, stellte er fest, dass sie mindestens zehn Jahre jünger sein musste als er selbst und ihre schlanke Figur in den engen Jeans trotz der derben, halbhohen Schnürstiefel bestens zur Geltung kam.

Der Frühnebel begann sich allmählich zu lichten aber es war noch viel zu früh, um die morgendliche Kälte zu vertreiben. Antonia hatte ihre Arme um den Körper geschlungen, obwohl die dunkelblaue Daunenjacke mit dem großen Emblem der Kripo München, die sie sich eben übergezogen hatte, sicherlich auch niedrigeren Temperaturen wirkungsvoll standhielt. Ihre lockigen, rötlichbraunen Haare waren unter einer Pudelmütze verborgen und blitzten nur in einzelnen Strähnen, die sich auf ihren blassen Wangen kringelten, hervor.

„Gerichtsmediziner Hermann Stadl, freut mich, Sie endlich mal persönlich zu treffen. Bisher gibt es nicht wirklich viel … das Opfer ist männlich, zwischen fünfzig und sechzig und eindeutig tot - seit ein paar Stunden, würde ich sagen, da die Leichenstarre bereits voll eingesetzt hat. Gestorben ist er demnach irgendwann im Laufe der Nacht, die genaue Uhrzeit und alles Weitere kann ich erst ermitteln, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“

Entschuldigend zuckte er die Achseln, er konnte der jungen Kollegin problemlos ihre Ungeduld ansehen. „Wollen Sie mal sehen?“ Bei ihrem Eintreffen war er gerade damit beschäftigt gewesen, den Reißverschluss des Leichensacks zu schließen und hielt nun kurz inne.

Antonia nickte und als sie sich über den Toten beugte, jagte der Blick auf sein Gesicht einen Schauer über ihren Körper. Unwillkürlich keuchte sie entsetzt auf und bemühte sich im nächsten Moment, ihren Schrecken hinter einem Räuspern zu verstecken. Bevor sie die Aufmerksamkeit der beteiligten Männer weiter auf sich ziehen konnte, trat sie schnell einen Schritt zurück und wandte kurz den Blick ab.

Der Tote war ihr trotz seiner geschlossenen Augen und der wächsernen Blässe vertraut und begleitete ihre schlimmsten Albträume seit etlichen Jahren. Bevor sie sich intensiver damit befassen konnte, verdrängte sie jedoch konsequent jede weitere Erinnerung - jetzt war weder der richtige Ort noch die passende Zeit dazu, zunächst galt es, sich auf ihren Job zu konzentrieren.

Um sich abzulenken, richtete sie ihren Blick auf die Umgebung. Neben dem Opfer ragte eine spärlich bewachsene Felswand auf und bei genauerem Hinsehen entdeckte sie abgebrochene Äste, Zweige und Blätter sowie Schleifspuren, die den Anschein erweckten, als sei erst kürzlich etwas Schweres und Unförmiges den Hang hinabgerutscht. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie auf dem Gipfel die weißen Overalls der Spurensicherung durch die Büsche blitzen.

„Sieht eher aus wie ein Unfall oder irre ich mich? Warum wurden wir jetzt schon gerufen?“ Die Kommissarin runzelte die Stirn und bemühte sich, ihren stockenden Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Genaueres wird uns erst die Untersuchung sagen, möglich wäre es …“, der Gerichtsmediziner wackelte nachdenklich mit dem Kopf. „Allerdings stört mich etwas an dieser Vermutung“, er machte eine deutliche Pause, bevor er fortfuhr: „Das Opfer war völlig nackt.“

Antonia schluckte, während der Mann langsam den Reißverschluss endgültig schloss und so dafür sorgte, dass sie den Anblick nicht länger ertragen musste.

„Alles in Ordnung, du bist ja ganz blass“, Magnus war unbemerkt neben sie getreten und musterte sie besorgt. Er schien die morgendliche Kälte nicht zu spüren, wie gewohnt trug er nur ein T-Shirt unter seiner abgewetzten Bikerjacke und hatte diese nicht mal geschlossen, wie Antonia neidvoll feststellte. Er war selten ohne diese Jacke unterwegs und sie hatte bisher nicht herausgefunden, ob das daran lag, dass er sie einfach liebte oder vor allem deshalb trug, um seine zahlreichen Tattoos zu verdecken.

Wenn letzteres der Grund war, gelang dies allerdings nur unzureichend, denn sowohl die Spitzen des schwarzen Tribal auf dem rechten Arm als auch die Pfote des Flammenlöwen auf dem linken Arm reichten jeweils bis über die Handgelenke. Auch wenn es für sie nie in Frage gekommen wäre, sich einer solchen Tortur auszusetzen, bewunderte sie insgeheim die Kunstwerke.

Der oder die Künstler mussten Meister ihres Fachs gewesen sein – das erkannte selbst sie als Laie. Auf ihre Fragen hatte Magnus ihr augenzwinkernd versichert, dass sein ganzer Körper ein einziges Kunstwerk sei. Sie hatte bisher versäumt, ihn darum zu bitten, es ihr zu zeigen aber allein die Vorstellung reichte aus, um ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Wie er es damit in den Kriminaldienst geschafft hatte, war ihr bislang ein Rätsel geblieben, das sie jedoch zu gegebener Zeit lüften würde. Dummerweise reagierte er auf ihre Fragen so ausweichend, dass sie sich noch eine vernünftige Strategie überlegen musste, um dieses Ziel zu erreichen.

„Ich bin okay, die Luft ist wohl ein bisschen dünn hier oben“, versuchte sie ihren Kollegen zu beschwichtigen, während sie seinem Blick auswich. „Hast du schon irgendetwas erfahren?“

„Die Wandergruppe hat ihn gefunden, aber viel mehr ist aus ihnen nicht rauszubekommen. Sie stehen wohl alle noch unter Schock, redest du noch mal mit ihnen?“ Er wusste, dass Antonia größeres Geschick darin besaß, jede noch so unwichtig erscheinende Information aus einem Zeugen raus zu kitzeln. Seine Stärke lag hingegen definitiv in der Computerarbeit, dort blieb ihm nichts verborgen, während Antonia in aller Regel bereits beim Einloggen seine Hilfe benötigte.

2.

Als sie sich den Wanderern näherte, fiel Antonias Blick auf eine Frau, die zusammengesunken auf einem Felsen hockte und ihre Hände vors Gesicht geschlagen hatte. „Franzi?“, sie kniete sich auf die Erde und legte die Hände auf die Schultern der Wanderführerin Franziska Dahlke, mit der sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Diese hob ihr tränenüberströmtes Gesicht, über das ein erleichtertes Lächeln glitt. „Toni? Gut, dass du zuständig bist, es ist so schrecklich. Er hat mit seiner Familie in unserer Pension gewohnt. Hast du ihn …“

„Pscht, ganz ruhig, darüber reden wir später“, unterbrach die Kommissarin ihr Gestammel und fragte: „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass sie als Allererste von seinem überraschenden Auftauchen erfuhr – was konnte die Freundin davon abgehalten haben?

Während Franziska schluckte und sichtbar um Worte rang, ließ Antonia sie nicht aus den Augen und überlegte misstrauisch, was an der Frage so schwierig sein konnte, dass die Antwort so lange dauerte?

Bevor sie jedoch erneut nachhaken konnte, wurden sie von Magnus unterbrochen. „Wissen wir schon, um wen es sich handelt? Er ist wohl abgestürzt, die Spurensicherung sucht noch seine Kleidung, vielleicht hatte er Papiere bei sich.“

Franziska hatte sich inzwischen gefasst und erklärte mit ruhiger Stimme, dass es sich um den Arzt Richard Hansen handelte, der seit ein paar Tagen mit seiner Frau und den beiden Töchtern in der Pension der Dahlkes abgestiegen war, um hier den Familienurlaub zu verbringen.

Die Kommissare wechselten einen Blick. Es würde wohl an ihnen hängenbleiben, die Angehörigen zu informieren. Um diesen Job riss sich niemand, während sich die Streifenpolizisten bei vielen anderen Gelegenheiten gerne in den Vordergrund drängten.

„Okay, es hilft nichts, machen wir uns auf den Weg aber vorher lass uns noch mit der Spurensicherung reden“, seufzte Antonia und wandte sich zum Gehen. „Sollen wir dich nachher mitnehmen?“

Franzi schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss mich um meine Gruppe kümmern. Sie finden alleine nie im Leben zurück.“

Antonia zögerte und da Magnus bereits einige Schritte voraus und damit außer Hörweite war, wandte sie sich erneut an die Wanderführerin. „Über das andere reden wir später aber was hast du hier eigentlich gemacht? Das ist doch nicht deine übliche Route, stimmts?“

Franzi zuckte die Schultern und entgegnete betont gleichmütig: „Der Sonnenaufgang ist an dieser Stelle spektakulär, ich muss auch mal für ein bisschen Abwechslung sorgen.“ Im nächsten Moment war sie bereits aufgestanden und auf dem Weg zu ihrer kleinen Gruppe, die immer noch ganz verloren am Rand stand und nicht zu wissen schien, wie sie sich weiter verhalten sollte.

Die Arbeit auf dem Berg schien zunächst beendet zu sein, die zuständigen Mitarbeiter der Spurensicherung hatten sich am Rand der Absperrung versammelt und waren damit beschäftigt, ihre Sachen zusammenzupacken.

Als die Kommissare zu ihnen traten, unterbrachen sie ihr Gespräch.

„Okay, auf die Schnelle ein paar Dinge: Oben könnte ein Kampf stattgefunden haben, wir haben ein ziemliches Durcheinander an Fußspuren gefunden.“ Die Frau, die sich vor ihnen aufgebaut und das Wort ergriffen hatte, strotzte vor Selbstbewusstsein, obwohl sie den Kopf in den Nacken legen musste, um den beiden Kommissaren in die Augen sehen zu können.

Diese Haltung schien ihr zu missfallen, weshalb sie stattdessen damit fortfuhr, ihren weißen Overall abzustreifen, während sie weitersprach. „Wenn es so war, könnten sie da oben miteinander gerangelt haben, vielleicht ist unser Opfer dabei abgerutscht – oder gestoßen worden. Die Fußspuren zuzuordnen wird wegen des steinigen Untergrundes nicht einfach, die ohne Schuhe scheinen zu ihm zu gehören“, sie zeigte auf den Toten. „Bei den anderen geht es ziemlich durcheinander, wir müssen erst einmal feststellen, ob sie zu mehreren Personen gehören und welche zu den Schuhen passen, die wir gefunden haben.“

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf und brachte damit ihre hellbraunen Haare, die sie von der enganliegenden Haube befreit hatte, wieder in Form. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er vor seinem Absturz ganz alleine wie ein Wilder dort rumgetrampelt ist, sich dann ausgezogen hat, die Klamotten ein ganzes Stück von der Klippe entfernt unter einem Dornenbusch versteckt hat, wieder zurückgelaufen und dann freiwillig runtergehüpft ist … Naja, ist glücklicherweise nicht mein Job, Ordnung in das Chaos zu bringen. Den ausführlichen Bericht mit Fotos bekommen Sie spätestens Anfang nächster Woche.“ Sie wandte sich wieder ihren Kollegen zu und zeigte damit deutlich, dass das Gespräch für sie beendet war.

„Du fährst, ich sag dir den Weg.“ Antonia warf Magnus den Autoschlüssel zu und beeilte sich, auf der Beifahrerseite einzusteigen.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Magnus versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, ob seine Kollegin ihm jemals freiwillig das Steuer überlassen hatte. „Irgendwie bist du komisch drauf, liegt es an der Gegend oder am Opfer?“

„Nun mach schon, ich möchte auch nochmal fertigwerden.“ Die Kommissarin warf ihm einen Blick zu, bevor sie fragte: „Was denkst du? Ein Unfall, Selbstmord oder Mord?“

Während er überlegte, lenkte Magnus den Wagen vorsichtig die Serpentinen hinunter und fühlte sich am Steuer entschieden sicherer, als zuvor auf dem Beifahrersitz. „Keine Ahnung, wir müssen wohl zunächst alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“

Trotz seines defensiven Fahrstils dauerte die Fahrt nicht annähernd lange genug, um ihnen die Zeit zu verschaffen, ihre Gedanken zu ordnen. Auf den ersten Blick mochte es wie ein Unfall aussehen, aber die Tatsache, dass das Opfer unbekleidet war, sprach ebenso dagegen, wie die Spuren am Abhang. Außerdem befand sich die Stelle nicht an einem der ausgeschilderten Wanderwege, ein Fremder hätte sich zunächst ziemlich verlaufen müssen, um dorthin zu gelangen. Auch das war vielleicht nicht gänzlich auszuschließen, aber was hatte er dort mitten in der Nacht zu suchen gehabt?

Magnus sprach als Erster aus, was beiden im Kopf herumspukte. „Und wenn er freiwillig gesprungen ist? Selbstmörder ticken ja irgendwie komisch, vielleicht wollte er seine Klamotten für die Nachwelt schonen?“

Antonia nickte zustimmend, aber wirklich anfreunden konnte sie sich mit dem Gedanken nicht - ohne weitere Informationen ließ sich der Tathergang unmöglich ermitteln.

Umrahmt von Bergen, idyllisch am Ufer des Lunasees, der ihm seinen Namen gegeben hatte, lag der kleine Ort Lunau, in dem sich die Pension befand. Momentan platzte er aus allen Nähten, aber Antonia versicherte ihrem Kollegen, dass sich hier außerhalb der Saison deutlich weniger Leute aufhielten.

Alles war auf den Tourismus ausgerichtet, egal, ob Sommer- oder Wintergäste – das reichhaltige Angebot ließ keine Wünsche offen. In der Hauptstraße, die sie nur im Schritttempo passieren konnten, wechselten sich Kosmetikstudios und Wellnesstempel mit Lokalen, Kneipen und Bars sowie diversen weiteren Angeboten ab, die lediglich dazu dienten, den Besuchern ihr Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Schaufensterfront des exklusiven Bekleidungsgeschäftes Traumtrachten, dessen Namen Magnus nur aus protzigen Anzeigen kannte, erstreckte sich über etliche Meter. Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu erkennen, dass er diese Art Kleidung auch zu einem erschwinglichen Preis nie gewählt hätte. Er konnte sich keinen Mann vorstellen, der in dem ausgestellten Trachtenlook eine auch nur halbwegs vernünftige Figur machte, wobei die Dirndl im Schaufenster ein Mädel mit der passenden Figur schon vorteilhaft kleiden mochten. Grinsend stellte er sich Antonia darin vor, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Selbst im Hochsommer trug sie ausschließlich Hosen und das hatte mit Sicherheit nicht nur praktische Gründe.

Sie mussten mehrere Runden fahren, bevor sie endlich einen Parkplatz in der Nähe der Pension Bergglück fanden.

„Naja, der Name ist schon irgendwie der Hohn, wenn man bedenkt, was wir der Familie gleich mitteilen müssen“, meinte Magnus, bevor er sich erkundigte, ob die Pension tatsächlich genügend Gewinn abwarf, um sich damit über Wasser halten zu können.

„Es ist ein klassischer Familienbetrieb, meine Freundin hilft hier, wenn sie keine Gruppen betreut. Ihr Bruder kümmert sich um alles Geschäftliche und die Eltern sind auch noch nicht so alt“, berichtete Antonia und erzählte Magnus, wie alles begonnen hatte.

Familie Dahlke hatte zuvor jahrzehntelang ein kleines Hotel in München geführt. Hier hatte sich Antonia als Zimmermädchen, Kellnerin oder an der Rezeption gemeinsam mit Franziska ihr Taschengeld verdient – wobei die Freundin in der Regel im Gegensatz zu ihr selbst bereits damals unentgeltlich arbeiten musste.

Nach und nach waren in der näheren Umgebung immer mehr Hotels entstanden – sehr viele, sehr große und sehr moderne. Mit deren Ausstattung und Angeboten hatte die Familie nicht mithalten können und da es sich zumeist um große Ketten handelte, waren zudem die Preise günstig und eine Buchung mit weiteren Vorteilen, wie Gutscheinen oder Ermäßigungen für Fahrkarten, Eintritten und Ähnlichem verbunden gewesen.

Zuletzt waren nur noch eine Handvoll Stammgäste bei ihnen abgestiegen – Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel – hatte Papa Dahlke ihre Situation treffend zusammengefasst. Gemeinsam hatte die Familie zu dem Zeitpunkt beschlossen, das Hotel in der Stadt aufzugeben und noch mal ganz von vorne anzufangen.

Diese Entscheidung lag bereits einige Jahre zurück und mittlerweile war aus der kleinen Pension in den Bergen ein echtes Schmuckstück geworden. Reich würden sie auch hier nicht werden, aber die ganze Familie hatte ihr Auskommen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, wenn Zimmer zwischendurch auch mal leer standen.

Für Antonia blieb unklar, ob tatsächlich beide Geschwister hier ihr ganzes Leben verbringen würden. Nicht nur Franziska, sondern auch ihr älterer Bruder Theo schienen daran selbst keine Zweifel zu haben. Beide waren ungebunden und sie überlegte nicht zum ersten Mal, wer in Lunau als Partner in Frage käme – außer vielleicht ein Urlaubsgast? Selbst das erschien jedoch eher unwahrscheinlich, nur sehr selten verirrten sich gleichaltrige Single hierher, entweder waren die Gäste bereits Rentner oder es handelte sich um junge Familien. Theo hatte sich inzwischen aus Mangel an langfristig passenden Partnerinnen darauf spezialisiert, jedes hübsche Mädchen anzubaggern und mit seinem Charme und seinem Aussehen hatte er in aller Regel schnell Erfolg. Oft handelte es sich um Saisonarbeiterinnen und sobald deren Job erledigt war, verschwanden sie sang- und klanglos aus Lunau und Theos Leben. Franziska tat sich in der Hinsicht schwerer, aber Antonia ging davon aus, dass auch ihre Freundin die eine oder andere Gelegenheit nutzte.

Aber das sollte nicht ihre Sorge sein, schob sie jeden weiteren Gedanken an das Liebesleben ihrer Freunde beiseite und wartete am Eingang auf Magnus, der sich vom äußeren Anblick der Pension nicht losreißen konnte und die Fassade mit offenem Mund bewunderte.

Die strahlend weiße Front musste erst kürzlich neu verputzt worden sein und bot einen reizvollen Kontrast zu den Fachwerkbalken, Fensterläden und Blumenkästen. Diese ließen sich allerdings nur erahnen, da sie komplett von Blumen überwuchert waren. Antonia hatte inzwischen so viele Vorträge von Franziskas Mutter gehört, dass sie problemlos die verschiedenen Pflanzen unterscheiden konnte.

Um mit ihrem Wissen ein wenig anzugeben, stellte sie sich neben ihren Kollegen und zeigte auf einen der Blumenkästen. „Siehst du diese kleineren roten, blauen, gelben, lila und pinkfarbenen Blüten dort? Das sind Zauberglöckchen, die gibt es wirklich in allen Farben. Daneben wachsen Petunien, die erkennst du daran, dass sie deutlich größere Blüten haben und überhängend wachsen. Wenn man sie nicht schneidet, wuchern sie bis zum darunterliegenden Fenster.“ Sie vergewisserte sich, dass Magnus auch aufmerksam zuhörte, bevor sie fortfuhr. „Und dort wachsen Geranien, die gibt es sogar zweifarbig, entweder gestreift – wie dort in blauweiß oder gefleckt.“ Sie zeigte auf einen Kasten, in dem es so intensiv Rosa-Pink leuchtete, dass sie die Augen zusammenkneifen musste.

„Woher weißt du das alles?“ Magnus war die Bewunderung deutlich anzuhören.

Antonia zuckte die Achseln. „Man ist eben vielseitig interessiert, als Frau von Welt.“

Lachend legten sie die wenigen Schritte bis zur wuchtigen Eingangstür zurück, auf der ein großer Löwenkopf aus Messing als Türklopfer diente. Bevor ihr Kollege die Hand danach ausstrecken konnte, schob sich Antonia an ihm vorbei. „Es ist immer offen, es sei denn, daran hat sich was geändert“.

3.

Als sie das Foyer betraten, glitt ein Strahlen über das Gesicht des älteren Mannes hinter der Rezeption, während er sich beeilte, um den Tresen herum zu den Kommissaren zu gelangen. Erst als er vor ihnen stand, erkannte Magnus, wie klein und kugelrund er war. Nach Antonias Erzählungen schätzte er ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig, obwohl er trotz seiner Körperfülle wesentlich jünger wirkte. Die ebenmäßigen Gesichtszüge passten eher zu einem Vierzigjährigen und das lag bestimmt nicht am entspannten Leben als Gastronom.

Wahrscheinlich sorgte sein überschüssiges Gewicht dafür, dass die Haut keine Falten schlug, überlegte der Kommissar, schämte sich aber im nächsten Moment für seine gehässigen Gedanken, als er sah, wie liebevoll der Mann Antonia in die Arme schloss. Trotz seiner Leibesfülle bewegte er sich erstaunlich schnell, wie Magnus amüsiert feststellte während er versuchte, nicht im Wege zu sein.

„Toni, Mädchen, dich habe ich aber lange nicht gesehen, wie geht es dir, kommt doch erst mal rein …“, sprudelte Manfred Dahlke hervor und zog Antonia hinter sich her.

Im Laufen machte sie die Männer miteinander bekannt und stellte Dahlke als Hausherrn und Vater ihrer Freundin Franziska vor. Suchend blickte sie sich dabei um, normalerweise besetzte Franzis Bruder Theo den Empfang, aber von ihm war nichts zu sehen.

„Guten Morgen Herr Dahlke, ich freue mich auch – wenngleich der Anlass nicht erfreulich ist.“ Schnell setzte sie ihn über die Vorkommnisse in Kenntnis und beobachtete bedauernd, wie bei ihren Worten sein freundliches Lächeln wie eine niedergebrannte Kerze erlosch.

„Meine Güte, das ist ja furchtbar“, stammelte Dahlke und fuhr sich mit der Hand über sein schütteres Haar. „Und so etwas hier … ich weiß gar nicht, was ich meiner Frau sagen soll … habt ihr schon irgendwelche Spuren?“ Bevor sie antworten konnten, winkte er ab. „… schon klar, ihr dürft nichts sagen. Wie kann ich euch helfen?“

„Wo ist Theo eigentlich? Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals nicht hier angetroffen zu haben“, fragte Antonia.

„Gute Frage, als ich heute Morgen runterkam, war niemand da. Es lag nur ein Zettel auf dem Tresen, auf dem stand, dass er etwas erledigen müsse und nicht wüsste, wie lange es dauert. Vielleicht weiß Franzi etwas, die beiden hatten noch nie Geheimnisse voreinander.“

Der Hotelbesitzer versuchte vergeblich, seine Erschütterung hinter einem unbeschwerten Tonfall zu verbergen. Auch er wusste, dass sein Sohn wahrscheinlich in einem fremden Bett lag und wollte lieber nicht so genau darüber Bescheid wissen – zumal sich der Aufenthaltsort ohnehin ständig änderte.

Die Kommissarin speicherte diese Informationen zunächst ab, ohne näher darauf einzugehen. Auch sie kannte Theos liebstes Hobby, ihres Wissens nach hatte er dabei jedoch noch nie seinen Job vernachlässigt. Aber damit würde sie sich später beschäftigen, zunächst gab es Wichtigeres zu tun.

Zehn Minuten später befanden sie sich mit Klara Hansen und den beiden Töchtern Anette und Beate in einem kleinen Nebenraum, den Dahlke ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Er war für kleinere Familienfeiern vorgesehen. An den fünf Tischen konnten bis zu sechs Personen sitzen, es bestand aber auch die Möglichkeit, sie zu einer großen Tafel zu stellen, wie Antonia vom sechzigsten Geburtstag des Hausherrn wusste.

Im größten Nebenraum konnten bis zu achtzig Gäste bewirtet werden. Solch eine umfangreiche