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Im Bordesholmer Altenheim "Rosengarten" überschlagen sich die Ereignisse: Kurz nach dem Giftmord an der jungen Pflegerin Helene Tischer wird der Rentner Sven Wiking grausam erdrosselt. Die beiden aus bisher zwölf Bordesholmkrimis wohl bekannten Kriminalbeamten Wilhelm Bielfeld und Erika Friedberg haben es bei ihren Ermittlungen mit Eifersucht und Rache, aber auch mit Ereignissen der Kieler Landespolitik aus den Jahren 1985 bis 2005 zu tun. Dem Autor Henning Thomsen ist es gelungen, aus einer Liebesgeschichte und einem Politthriller einen spannenden Regional-Krimi zu zaubern.
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Wilhelm Bielfeld, Kriminalhauptkommissar in Kiel
Erika Friedberg, Kriminaloberkommissarin in Kiel
Finn Friedberg, Erikas Sohn und Feuerwehrmann
Nasrin, Finns Freundin und Krankenschwester
Käthe Friedberg, Erikas Mutter
Lore Speck, Käthes Mitbewohnerin im Rosengarten
Staatsanwalt Westendorf
Sören Kühl, Heimleiter im Rosengarten
Inge Beysel, Altenpflegerin im Rosengarten
Helene Tischer, deren junge Kollegin
Mark Knopf-Eisen, Helenes Verlobter
Dr. Kunigunde Frankenstein, Gerichtsmedizinerin
Christina-Gisela Lehmann, deren Assistentin
Rita Fischer, Hundebesitzerin aus Groß Buchwald
Freddy Frischkorn, Azubi im Rosengarten
Konrad Krause, Hausmeister im Rosengarten
Hans Häusler, Immobilienmakler
Dr. Ekkehard Schlau, Oberstudienrat
Stefan Bock, Justizvollzugsbeamter
Sven Wiking, Bewohner im Rosengarten
Erik Wiking, sein Bruder
Michael Haß, Polizeikommissar aus Bordesholm
Manfred Liebe, sein Kollege
Dr. Ortwin Reinecke, Arzt in Bordesholm
Lasse Liegen, Ltd. Regierungsdirektor im Justizministerium
Admiral Paul, Zuhälter in Kiel
Klaus Tortenbecker, sein Freund und Kollege
Theodora Tusche, Verlagsleiterin der Kieler Nachrichten
Rolf Tinte, freier Mitarbeiter der Kieler Nachrichten
Horst Trench, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes von Schl.-Holstein
Melina Mavros, Hundebesitzerin aus Griechenland
Klaus Krause, Hausmeister der Wohnanlage am Moorweg
Und viele Menschen aus Fantasie und Realität. Gewisse Ähnlichkeiten zu tatsächlich lebenden Personen sind nicht immer gewollt.
Die Aufforderung zum Tanz
Das Erdbeben in Kiel
Der Porsche am Baum
Der Bus nach Negenharrie
Der Perser-Sturz
Der feurige Auflauf
Die unterzuckerte Leiche
Die muffelige Nachbarin
Der begünstigte Plattenleger
Der liebestolle Heimleiter
Die Gutmenschen vom Rosengarten
Das Haus in Plakias
Das Duzen der alten Damen
Der tote Mann auf der Bank
Die Altenpflegerin und der Teufel
Die Krankenschwester und ihr Patient
Die Gerichtsmedizinerin und ihr Gebiss
Der Mumm-Sekt und die alten Damen
Der Heimleiter und sein Sohn
Der Kommissar und sein Paket
Der tote Mann und die Aktentasche
Der DJ und seine Diabetes
Der Heimleiter und seine Panik
Dr. Frankenstein und ihr Lispeln
Dr. Schlau und die Politik
Die Käthe und der Herr Kühl
Kommt ein Mann in die Zelle
Der Kommissar und das Meer
Der Heimleiter und sein Geheimnis
So eine Scheiße
Trench und Tinte
Die Polizei - Dein Freund und Helfer
Der Kleiderschrank mit doppeltem Boden
Dr. Frankenstein und der arme Sören
Rita und ihr Gedächtnis
Wilhelm und das Netz
Lasse Liegen und der kalte Fall
Kein Alkohol ist auch keine Lösung
Frauen- und Männerphantasien
Die Verlobung im Krankenhaus
Admiral Paul und sein Jaguar
Admiral Paul und sein Alibi
Rolf Tinte und die 100.000 Euro
Käthe, Lore und die unbekannte Frau
T-Time in Kiel
Das alte Kreishaus und die Hündin Alekto
Ei, ei, ei Verpoorten
Die Lady in Black und die Tagebücher
Die Lady in Black und die Gorenje
Theater im Rosengarten
Kriminalhauptkommissar Wilhelm Bielfeld griff genervt zum Telefon: „Ich höre!“ Seine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Erika Friedberg, glänzte schon den ganzen Tag durch Abwesenheit. Angeblich hatte sie einen Termin bei Staatsanwalt Westendorf.
„Ja, hallo, ist dort die Polizei? Ich wollte Frau Friedberg sprechen.“
„Hier ist die Polizei. Mein Name ist Bielfeld.“
„Mein Name ist Käthe Friedberg. Kann ich bitte meine Tochter sprechen?“
„Leider nein. Die ist heute noch gar nicht im Büro gewesen. Soll ich ihr etwas ausrichten?“
„Aber sie ist doch heute Morgen zur Arbeit gefahren. Ihr ist doch nichts passiert?“ Wilhelm Bielfeld wurde langsam ungeduldig.
„Nein, ihrer Tochter ist nichts passiert. Sie hat ein dienstliches Gespräch außerhalb. Soll ich was bestellen?“
„Ja bitte. Können sie ihr einen Zettel hinlegen, dass heute Let’s Dance mit Jan Hofer ausgestrahlt wird. Sie möge rechtzeitig zuhause sein.“
Wilhelm Bielfeld verdrehte die Augen. ‚Gott sei Dank, dass ich keine tüddeligen Eltern mit blöden Fernsehgedanken mehr habe.‘
„Ja, mache ich Frau Friedberg. Wiederhören.“
Er kämpfte sich gequält durch den Berg der unbearbeiteten Aktenvermerke. Es gab einfach zu viel Büroarbeit bei der Polizei. Das erneute Klingeln des Telefons schreckte ihn hoch.
„Hier ist Frau Käthe Friedberg. Die Mutter von Erika.“
„Ja, Frau Friedberg, ich weiß, wer sie sind. Aber ihre Tochter ist noch nicht eingetroffen. Was kann ich für sie tun?“
„In der Tanzschau heute Abend mit Namen Let’s Dance tanzt die Schwester von Barack Obama, dem ehemaligen Präsidenten von Amerika. Erika darf das auf keinen Fall versäumen. Sagen sie ihr bitte, dass sie rechtzeitig zuhause sein soll!“
„Ja!“ Bielfeld knallte den Telefonhörer auf die Anlage. ‚Wie viele Tanzpartner wird die Alte heute noch ankündigen?‘
Erika Friedberg kam merklich aufgekratzt von ihrem Treffen mit dem Staatsanwalt zurück.
„Der Westendorf ist ja doch ein netter Mann! Er hat sowohl wegen Gefahr im Verzug die Hausdurchsuchung bei unseren Neonazis unterschrieben als auch beim Amtsgericht Kiel die Verhaftung unseres pfuschenden Orthopädie-Professors beantragt. Das gibt tolle Schlagzeilen in der lokalen Presse!“
Erika sah irritiert auf ihren mürrischen Kollegen.
„Freue dich doch mal mit, oder warum schaust du so genervt aus der Wäsche, mein lieber Wilhelm?“
„Deine Mutter hat schon zweimal angerufen, um dir TV-Tipps übermitteln zu lassen. Beide Male für ‚Let’s Dance‘. Wahrscheinlich ruft sie gleich zum dritten Male an.“
„Ja, tut mir leid. Wilhelm, ich kümmere mich um Mutti, sie wohnt gerade bei mir. Morgen erzähle ich dir, was genau los ist.“
‚Tiefkühlpizza von Edeka und zwei Flaschen Holsten, naja.‘ Der Kriminalhauptkommissar genoss die kulinarischen Vorteile seines Single-Lebens nicht wirklich in vollen Zügen. ‚Typisches Junggesellengericht, vielleicht sollte ich mir doch mal wieder eine feste Freundin anlachen. Auf jeden Fall eine, die gut kochen kann. Und die Biermarke wechsele ich auch!‘ Er griff zur Fernbedienung seines Sony-Heimkinos. ‚Oh, eine Corona-Sondersendung im ARD! Ich kann es nicht mehr sehen!‘ Bielfeld zappte weiter. ‚Und auch eine im NDR3. Alleine das Aussehen des Vortragenden! Und sein Name: Professor Flickenschere?‘ Er drückte auf das nächste Programm. ZDF: ‚Der Staatsanwalt. Nee, Danke! Mit den Brüdern habe ich beruflich genug zu tun. Und im RTL? Wahrscheinlich der ewige Günther!‘ Der Polizist drückte auf den Kölner Privatsender und erschrak: ‚ Oh Gott! Wie erbärmlich! Dieser arme Mensch, dass er es nötig hat, sich in aller Öffentlichkeit vor so vielen Menschen so zu blamieren.‘ Der Kriminalhauptkommissar holte sich die letzte Holsten-Bier-Flasche aus dem Kühlschrank. Aber es half nichts; als er zurück ins Wohnzimmer kam, war der hüftsteife Nachrichtensprecher immer noch bei seinen unrhythmischen Tanzbewegungen zu beobachten. Unser Freizeitmonster zappte als nächstes den SAT1-Sender. ‚LUKE! Oh, wie schrecklich! Der Untergang des Abendlandes!‘ Der Kommissar schaute, was das Internet zu bieten hatte: ‚Die Kosten einer Haartransplantation in Sören werden sie überraschen!‘ Er strich sich über sein noch relativ volles Haupthaar. ‚Warum in Sören? Aber egal, ich brauche es zum Glück noch nicht.‘ Er tippte auf die nächste Schlagzeile. ‚Hausverkäufer begeistert: Neue Website hilft Eigentümern beim Hausverkauf.‘ Wilhelm stöhnte auf: ‚Und wie wandele ich meine popelige Mietwohnung in ein schniekes Eigenheim? Das steht da leider nicht!‘ Er drückte weiter. ‚Diese Frauen aus Neumünster suchen einen Freund!‘ Er verzog das Gesicht. ‚Das wird ja immer schlimmer! Die Frauen aus Neumünster waren noch nie mein Beuteschema. Und kochen können die bestimmt auch nicht.‘ Weiter im Internet: ‚Kieler Landeshaus: Neue Erkenntnisse zu alten Geschichten erschüttern die Landespolitik!‘ Unser Internetsurfer richtete sich in seinem Fernsehsessel auf. Das könnte interessant werden, dazu gönne ich mir noch ein richtig feines Feierabendbier. Bielfeld ging zur Toilette, um seine drei Holsten wegzubringen. Und dann in die Küche, um sich sein vorletztes Carlsberg Elephantenbier zu greifen. Er war in froher Erwartung hinsichtlich der Fortsetzung des Abends mit erlesenen Getränken und spannenden Informationen. Er genoss den ersten Schluck des dänischen Starkbieres und schaute auf den Bildschirm: Holstein Kiel siegt in Osnabrück. Bielfeld freute sich. ‚Na, endlich mal nach so vielen Jahren! Aber wo ist die Meldung zur Landespolitik geblieben?‘ Er malträtierte seine Fernbedienung, aber die Schlagzeile war weg. Und sie kam nicht wieder.
Bielfeld suchte sein I-Phone und drückte die Taste für das Internet. Er tatschte und wischte, das Handy war schon ganz klebrig von seinen Bierfingern. Aber die Meldung blieb verschwunden. ‚Na, mal schauen, welche Sensationen morgen die Landespresse zu verkünden hat.‘ Enttäuscht holte sich Wilhelm das letzte Eli-Bier aus dem Kühlschrank, um sich dann mit wirren Gedanken ins kalte Bett zu legen.
Nur langsam löste sich die Asperin-C-Tablette im Wasserglas auf. Gierig trank Biefeld das Gesöff, aber seine Kopfschmerzen blieben. ‚Dreimal Holsten oder zweimal Eli, oder beides zusammen? Was geht mehr in die Birne? Oder war es doch die Salami-Pizza?‘ Der Kriminalhauptkommissar saß im Büro und mochte gar nicht an systematisches Arbeiten denken. Zum Glück gab es aktuell keine frischen Toten in seinem Dezernat und dementsprechend keinen besonderen Aufklärungsdruck von oben. Aber Bielfeld war erfahren genug, um zu wissen, dass sich dieses sehr schnell ändern konnte.
Er holte sich einen großen Becher Kaffee aus der Teeküche und schaltete seinen Bildschirm ein. ‚Vielleicht finde ich heute die ominöse Meldung über die Verschwörungen im Kieler Landtag?‘ Aber vergebens: Nur neue Schlagzeilen über Corona und Astra Zeneca, das Schönheitsgeheimnis eines abgehalfterten Filmsternchens und über einen Krankenpfleger, der eine 81-jährige Gelähmte missbraucht haben soll. Die Erschütterungen in der Kieler Landespolitik schienen doch nicht so schwerwiegend gewesen zu sein.
Bielfeld schlürfte seinen Kaffee zu Ende und ließ sich die Mutmaßungen über den Pfleger durch den Kopf gehen. ‚Ob es in Pflegeeinrichtungen wohl öfters derartige Verbrechen gibt? Aufgrund der Hilflosigkeit der Bewohner*innen würden die meisten Fälle bestimmt gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen.‘ Er dachte an die Worte eines ehemaligen Kollegen: ‚Lieber mit siebzig im Porsche am Baum landen als mit achtzig im Pflegeheim.‘ Der Polizist hatte seinen PS-schwachen Dienst-Passat vor Augen. ‚Wie komme ich nur an den Porsche? Aber bis siebzig habe ich noch ein wenig Zeit.‘ Während er über seine Zukunftsperspektiven grübelte, brummte sein Handy. Wilhelm schaute genervt auf die SMS. ‚Ich muss dringend mit Mutti einen Termin wahrnehmen. Näheres morgen in der Kantine. Ciao Erika!‘
„Schau mal Mutti, der Rosengarten! Wie hübsch das alte Gebäude und der prächtige Garten ringsherum. Wie ein englisches Herrenhaus. Hier wirst du dich bestimmt wohlfühlen!“ Erika strahlte ihre Mutter Käthe an.
„Naja, aber mit Kiel nicht zu vergleichen. Und mit Berlin schon gar nicht!“ Käthe Friedberg war mürrisch. Bordesholm war ihr schon bei der Ortsdurchfahrt als zu provinziell erschienen.
„Aber Mutti, die Bushaltestelle liegt direkt vor der Tür. Das hast du weder in Kiel noch in Berlin gehabt; sogar zwei Linien.“ Erika zeigte auf die beiden riesigen Gelenkbusse der Autokraft, die gegenüber von ihnen am Straßenrand hielten. Käthe Friedberg buchstabierte äußerst mühsam die Ortsnamen auf den Hinweisschildern der Busse.
„N-e-g-e-n-h-a-r-r-i-e? Und H-a-n-e-r-a-u-H-a-d-e-m-a-r-s-c-he-n? Verdammt nochmal, was soll ich da denn? Wo liegt das überhaupt?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber nun komm erstmal mit, Herr Kühl wartet bestimmt schon auf uns.“ Erika stieg aus und hielt für ihre Mutter die Beifahrertür auf. Mühsam bugsierte die alte Dame ihre gebrechlichen Knochen aus dem Auto. Mit dem rechten Arm stützte die Kriminaloberkommissarin ihre schwergängige Begleiterin, mit dem linken ruderte sie ausgleichend in der Luft herum. Langsam und vorsichtig zuckelten die beiden Frauen durch den riesigen Garten. Sie wurden freundlich von einem älteren Herrn gegrüßt, der ihnen am Rollator entgegenkam. Die Damen nickten entzückt zurück.
„Oh, Erika, schau mal, wie hübsch alles blüht. Sogar historische Rosen, meine Lieblingsblumen.“ Käthe Friedberg strahlte über ihr ganzes Gesicht. Rosen hatte sie Zeit ihres Lebens als die wahren Königinnen der Blumenwelt bezeichnet. In der Eingangstür des Alten- und Pflegeheimes wartete ein nett lächelnder Mitfünfziger auf die Beiden.
„Guten Tag die Damen! Mein Name ist Sören Kühl, ich leite hier den Rosengarten. Ich freue mich, sie kennenzulernen.“ Frau Friedberg die Ältere strahlte zurück: Sie stand schon immer auf Männer mit Vollbart und Herr Kühl hatte einen, sogar einen sehr prächtigen. Und mit seiner stattlichen Figur, man könnte auch sagen mit seinem kugelrunden Bauch, machte er einen vertrauenserweckenden und soliden Eindruck auf die alte Dame.
„Schön guten Tag, Herr Kühl. Wir freuen uns auch.“ Die Drei nahmen im etwas kärglich und altmodisch eingerichteten Büro von Herrn Kühl Platz. Bei einer Tasse Pfefferminztee und ein paar staubigen Plätzchen schilderte der Heimleiter die Geschichte und die Besonderheiten vom Rosengarten.
„Wir legen hier alle sehr viel Wert auf die Eigenständigkeit unserer Bewohner. Egal, ob sie nur zur Kurzzeitpflege verweilen wollen, wie sie es ja eventuell vorhaben, liebe Frau Friedberg. Oder ob sie bei uns ihre dauerhafte Heimat suchen. Sie genießen alle Freiheiten, die sie brauchen und die ihnen ihre Gesundheit erlaubt. Der Herr zum Beispiel, der ihnen im Garten begegnet ist, macht jeden Nachmittag seine Runde um den nahe gelegenen Bordesholmer See. Aber erzählen sie doch bitte von sich und von ihren Wünschen und Nöten.“ Käthe Friedberg schilderte ihr Leben als Witwe in Berlin-Dahlem, von ihrem Sturz in der Wohnung, vom Klinikaufenthalt in der Charité und vom kurzen Aufenthalt bei ihrer Tochter in Kiel. Kühl hörte geduldig zu.
„Wir haben erstmal ihre Unterbringung in einem sehr schönen Doppelzimmer vorgesehen, allerdings vorbehaltlich der Zu- oder Absage einer früheren Bewerberin. So könnte ihnen die mögliche Mitbewohnerin, eine sehr nette ältere Dame, bei der Eingewöhnung helfen. Wenn sie, was ich natürlich sehr hoffe, auf Dauer bleiben möchten, werden sie auf Wunsch auch ein Einzelzimmer beziehen können.“ Sören Kühl zeigte auf die Tür.
„Wenn sie einverstanden sind, zeige ich ihnen erstmal das Zimmer.“ Der Kriminaloberkommissarin, die allein aus beruflichen Gründen einige Alten- und Pflegeheime kennengelernt hatte, fiel angenehm auf, dass es im Rosengarten weder übertrieben stark nach Putzmitteln roch noch dass es irgendwie nach Urin stank. Sören Kühl bemerkte ihre aufgeblähten Nasenflügel.
„Liebe Frau Friedberg, wir legen hier sehr viel Wert auf umweltgerechte, aber trotzdem wirksame Hygiene. Wir haben zum Glück genügend und auch sehr motivierte Mitarbeiterinnen. Außer dem Hausmeister Herrn Krause, einem jungen Azubi und meiner Wenigkeit gibt es allerdings keine Männer beim Personal. Und auch bei den Bewohnern überwiegen, wie sie sich denken können, die Damen der Schöpfung.“ Sören Kühl stoppte.
„Da sind wir schon.“ Er klopfte an die Tür von Appartement Nummer 24.
„Frau Speck, dürfen wir eintreten?“ Ohne die Antwort abzuwarten, öffnete der Heimleiter die Tür. In dem von der Mittagssonne hell erleuchteten Zimmer standen zwei moderne Pflegebetten, ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen und zwei große Kleiderschränke. Die Tür an der Längsseite ging wohl zum Badezimmer. Auf dem Bett am Fenster lag eine ältere Dame mit kurzem, grauem Haar. Sie war mit einer braunen Jersey-Hose, einer beigen Seidenbluse und einer grauen Strickjacke bekleidet. In der rechten Hand hielt sie ein Taschenbuch, in das sie, ohne einen Blick auf die Eintretenden zu werfen, interessiert starrte. Erika Friedberg las schmunzelnd auf der Titelseite Bordesholm-Krimi Nr. 10 Der Mord im Seeblick-Hotel. Herr Kühl kümmerte sich nicht um das offensichtliche Desinteresse der Bewohnerin.
Betont charmant machte er die Damen gegenseitig bekannt: „Darf ich ihnen Frau Lore Speck vorstellen? Sie wohnt schon seit drei Jahren bei uns im Rosengarten. Liebe Frau Speck, dies hier sind Frau Käthe Friedberg und ihre Tochter Erika Friedberg. Frau Friedberg beabsichtigt, sich im Rahmen der Kurzzeitpflege bei uns aufpäppeln zu lassen. Sie werden sich beide bestimmt gut verstehen.“
„Moin.“ Frau Speck grüßte nur ganz kurz und las weiter in ihrem Krimi. Käthe Friedberg war der Blick in den farbig blühenden Garten wichtiger als der auf ihre grau-braune Nachbarin.
„Ach lieber Herr Kühl, ich werde mich bestimmt bei ihnen sehr wohl fühlen. Ich hoffe sehr stark, dass es auch von ihrer Seite klappt.“ Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als die Zimmertür abrupt aufgerissen wurde. Draußen stand eine dickliche, ungefähr fünfzig Jahre alte Frau mit ängstlichem Blick.
„Herr Kühl, sie müssen ganz schnell kommen!“
„Frau Beysel, was ist los? Ist das Mittagessen angebrannt?“ Inge Beysel schaute verständnislos ihren Vorgesetzten an.
„Ach Quatsch! Viel schlimmer: Unsere junge Kollegin Helene Tischer liegt nicht ansprechbar im Personalraum. Der Rettungswagen müsste gleich hier sein.“ Der Chef der Altenpflege verabschiedete sich höflich von den Damen – „wir telefonieren morgen miteinander“ – und eilte mit seiner Mitarbeiterin Inge Beysel aus dem Zimmer. Mutter und Tochter Friedberg sagten Tschüs zu Frau Speck, ohne allerdings eine Antwort zu bekommen, und fuhren zurück nach Kiel.
„Currywurst Pommes! Das perfekte Kantinen-Essen!“ Wilhelm Bielfeld strahlte über sein ganzes Gesicht. „Da kann auch der dämlichste Koch nichts verkehrt machen.“
Während er mit Begeisterung die ersten Pommes in die Tomatensauce eintunkte, musterte seine Begleitung skeptisch ihr Vegan-Menü auf dem Tablett.
„Beim Frühlings-Risotto mit Spargel und Tomaten ist das wohl leider nicht der Fall.“ Erika Friedberg stocherte lustlos mit der Gabel in der klebrigen Reispampe. „Ich glaube, das Essen kommt vom Baumarkt, Abteilung Fensterkitt.“ ‚Du hast ja selber schuld, hättest ja etwas Vernünftiges bestellen können. Außerdem ist denn überhaupt noch Spargelzeit?‘, überlegte Bielfeld.
„Du wolltest doch von deiner Mutter erzählen.“ Er biss mit großem Appetit in die leckeren, kross gebratenen Wurststücke.
„Ja, stimmt. Aber das verbessert meine Laune auch nicht. Mutti hat ja auch nach Vatis Tod sehr gerne und sehr selbständig in ihrer Altbauwohnung in Berlin-Dahlem gewohnt. Nette Geschäfte zum Einkaufen, einladende, gepflegte Parkanlagen zum Spazierengehen und Entenfüttern und alte Freundinnen in der Nachbarschaft: Alles perfekt für ein erfülltes und glückliches Rentnerleben.“
„Und dann, was ist dann passiert? Ist sie von einem amerikanischen Immobilientycoon aus der Wohnung vertrieben worden, damit sich Mister Trump dort für etliche Millionen eine zusätzliche Luxusbaulöwenhöhle schaffen kann?“
„Nein, von einem alten Perser!“ Erika trank einen großen Schluck Mineralwasser, um den Geschmack ihres Essens im Mund loszuwerden. Wilhelm Bielfelds Gesichtsausdruck zeigte großes Unverständnis.
„Drängen jetzt schon die Iraner auf den Berliner Immobilienmarkt?“
„Nein!“ Erika Friedberg musste lachen. „Es war ihr Kelim.“
„Häh?“ Bielfeld verstand überhaupt nichts mehr.
„Ein Kelim ist ein wunderschöner, handgewebter Teppich aus dem Orient. Aus reiner Schafswolle und durch seinen grau-beigen Farbton herrlich passend zu ihren alten Eichenmöbeln.“
„Und dann? Was ist passiert?“
„Mutti ist nachts auf dem Gang zur Toilette über den Kelim gestolpert. Sie war aufgrund ihrer Schmerzen nicht in der Lage aufzustehen und hat dort die ganze Nacht gelegen.“
„Hat deine Mutter denn keinen Notfall-Knopf?“
„Doch vom DRK, aber der lag warm und trocken auf ihrem Nachttisch. Zum Glück hatte morgens in der Frühe die Zeitungsfrau ihr Wimmern gehört und geistesgegenwärtig Polizei und Rettungsdienst verständigt.“
„Scheiße!“ Wilhelm Bielfeld schmeckte seine Currywurst nur noch halb so gut.
„Sie ist dann in die Charité eingeliefert worden. Dort wurde noch am gleichen Tag der Oberschenkelhalsbruch operiert. Zum Glück hat sie trotz ihres hohen Alters alles einigermaßen gut überstanden. Der wochenlange Klinikaufenthalt war zuerst sehr belastend, bis sie dann bei ihrem ersten Rollstuhlausflug im Krankenhaus ein Erlebnis der besonderen Art hatte.“ Erika Friedberg genoss sichtlich die angespannte Aufmerksamkeit ihres Kollegen.
„Wieso, was war denn nun wieder passiert?“
„Sie hatte im Treppenhaus ihren heimlichen TV-Star gesehen!“
„Florian Silbereisen?“
„Um Gottes Willen nein! Herrn Professor Dr. Christian Drosten, der ihr durch seine bezaubernden ARD-Auftritte die Pandemie-Zeit zum besonderen Covid-19-Genuss gemacht hatte.“
„Und was hatte der im dortigen Treppenhaus zu erledigen?“
„Der verdient doch sein Geld, wenn er nicht gerade im Fernsehen zu sehen ist, als Leiter der Virologie in der Charité.“ Wilhelm Bielfeld musste lachen.
„Da sieht man den Unterschied zwischen Bundes- und Landeshauptstadt! Von Berlin aus begeistert Corona-Drosten fast die gesamte Nation; von einigen Quermenschen und Leerdenkern mal abgesehen. Und wir in der Provinz können Herrn Professor Dr. Flickenschere bewundern. Ob der nun irgendwen vom Fernsehsessel reißt, wage ich aber zu bezweifeln.“
„Ach Wilhelm, Hauptsache für mich ist doch, dass Mutti wieder einigermaßen gesund ist. Nur das Gehen fällt ihr natürlich noch sehr schwer. Treppensteigen geht gar nicht. Und da sowohl ihre Wohnung in Berlin als auch meine in der Goethestraße im dritten Stock liegen und keinen Fahrstuhl haben, kamen wir jetzt auf die Idee mit der Kurzzeitpflege. Und der gestrige Besuch im Rosengarten in Bordesholm verlief ja auch ganz nett.“ Erika griff erneut zum Wasserglas, den noch fast vollen Teller hatte sie zur Seite geschoben. Wilhelm wollte gerade das Gehörte kommentieren, als Erikas I-Phone brummte.
„Herr Kühl, nett, dass sie anrufen! Wie stehen die Chancen für meine Mutter, in den Rosengarten zu kommen?“… „Oh, Klasse, das freut mich sehr. Und meine Mutter wird begeistert sein. Wir kommen dann morgen Nachmittag bei ihnen vorbei. Wie geht es übrigens ihrer Mitarbeiterin Frau Tischer?“… Erikas Gesicht nahm die Farbe des Frühlings-Risottos an. … „Oh Gott, wie schrecklich, das tut mir leid!“… „Ja, das stimmt wohl. Wir sehen uns morgen.“ Erika Bielfeld drehte nervös ihr Wasserglas hin und her.
„Erika, was ist los?“