Schattenboot - Elisabeth T. Biebl - E-Book

Schattenboot E-Book

Elisabeth T. Biebl

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Beschreibung

Die Schleuse war geöffnet und das Boot glitt hinein. Von einer unsichtbaren Kraft gesteuert segelte es gespenstisch durchs spiegelglatte Wasser. Ein richtiges Geisterschiff, irgendwie unheimlich und bedrohlich. Das Boot trieb im Nord-Ostsee-Kanal wie von Geisterhand lautlos durch die mondlose schwarze Nacht. Wie eine Fata Morgana flirrte das unwirkliche Bild und verblich einem uralten Gemälde gleich im aufsteigenden Nebel, um zunehmend gänzlich zu verschwinden. Seine Segel blähten sich im Wind, den es nicht gab. Eine Serie rätselhafter Morde stellen die Beamten gleich mehrerer Kieler Polizeireviere vor eine schier unlösbare Aufgabe.

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Das Schattenboot

Es beginnt

Zwei Tage später

Am Morgen danach

Unterdessen bei Dr. Dobrec

Auf Dem Revier In Der Tannstrasse

Zwei Nächte Danach

Ein paar Stunden später

Am gleichen Morgen

Bei Hambauer in der Wohnung

Die Befragung Hambauers

Am Nachmittag

Helene Meyer im Krankenhaus

Nah der Besprechung

Zur gleichen Zeit

Auf der Suche nach Auskünften

Der folgende Morgen

In der Nächsten Nacht

Der Suchtrupp

Fünf Stunden später

Ein Hinweis?

Um neunzehn Uhr

Die Hausdurchsuchung

Wieder bei Elsa Brandt

Das fünfte Opfer

Die letzte Besprechung am gleichen Abend

An Deck des schwarzen Segelbootes

Auf den Booten der Wasserschutzpolizei

Showdown in der Kieler Förde

Danksagung

DAS SCHATTENBOOT

Lange habe ich mich versteckt, mein wahres Ich verborgen und alles über mich ergehen lassen, was die Menschheit so an Schlechtigkeiten zu bieten hat. Ich ließ mich demütigen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich schluckte jedes böse Wort, das an mich gerichtet war, herunter. Ich ertrug das alles, um meinem Ziel näher zu kommen. Ich verfolgte einen Plan und suchte nach einem Gesellen für mich. Einen, der mich so liebte, wie ich wirklich war.

Zuerst blieb ich verborgen und beobachtete die Menschen, ihre Art sich zu bewegen, ihre Art zu sprechen und den Umgang untereinander. Langsam ahmte ich sie nach, lernte ihre Sprache und ihre Gebärden. Nach vielen Versuchen konnte ich auch menschliche Gestalt annehmen - ohne, dass meine unkontrollierten Bewegungen auffielen, wenn ich mich unter die Leute mischte. Es war anstrengend und kostete viel Kraft, aber es war nötig, um meinen Plan zu vollenden. Ich versuchte mich an der Sprache, niemals hätte ich gedacht, dass es das Schwerste an der ganzen Sache war. Jemand, der immer nur brüllte oder knurrte, sollte plötzlich richtige Wörter verwenden können und dann auch noch eine Stimme nachahmen, die zu dem Körper passte, mit dem er sich tarnte? Aber einfach kann ja jeder! Hinzu kam noch, dass die deutsche Sprache nicht zu den leicht erlernbaren Sprachen zählt. Oft ist sie seltsam und auch ziemlich widersprüchlich.

Es vergingen Jahre, bevor ich mich aus meinem Versteck traute und anfing, Kontakt zu den Menschen zu finden. Mein Körper war der einer gut aussehenden Blondine Mitte zwanzig. Jedenfalls bezeichnen die Menschen ähnlich aussehende Weibchen so. Ich gehöre einer ganz anderen Gattung an, daher fällt es mir nicht leicht, zu beurteilen, was dem derzeitigen Schönheitsideal der Menschen entspricht. Für mich war es nur wichtig, einen Gesellen zu finden. Vorzugsweise sollte es einer von den Männchen sein, obwohl sich unter den Menschen auch Paarungen von gleichgeschlechtlichen Partnern finden. Es dauerte nicht allzu lange, da hatte ich jemanden gefunden, den ich als würdig einschätzte und den ich mit allem, was mein menschlicher Körper zu bieten hatte, umgarnen konnte.

ES BEGINNT

»Hey … hallo … aufwachen!« Der Busfahrer rüttelte an dem jungen Mädchen, welches noch immer im Bus saß.

Auch beim dritten Versuch gelang es ihm nicht, eine Reaktion bei dem Mädchen hervorzurufen. Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf.

»Junge Dame! Hier ist Endstation! Sie müssen aussteigen!«, seine Stimme klang fordernd Er rüttelte noch etwas heftiger. Der Kopf des Mädchens kippte wie bei einer Puppe nach vorn auf die Brust. Der Busfahrer taumelte rückwärts und fiel auf einen der gegenüberliegenden Sitze. Tot! Das Mädchen war tot! Da war er sich ganz sicher. Wie erstarrt sah er minutenlang auf die Leiche. Er würgte und musste sich unmittelbar übergeben. Noch nie hatte er eine Leiche gesehen, geschweige denn angefasst. Ein paar Minuten vergingen, bis er sich wieder im Griff hatte und die Polizei rufen konnte. Da seine weichen Knie erneut drohten nachzugeben, setzte er sich zurück auf seinen Fahrerplatz. Damit wählte er unbewusst die größtmögliche Distanz zu dem toten Mädchen innerhalb des Busses. Weitere endlose Minuten vergingen. Ihm war mulmig zumute. Er hatte schon viele schräge Vögel in seinem Bus gehabt. Hier am Kieler Hauptbahnhof gab es genug Menschen, denen man nachts lieber aus dem Weg gehen sollte. Vielleicht hatte er ja sogar ein Mordopfer im Bus und der Mörder war noch in der Nähe und beobachtete ihn. Verstohlen ließ er seinen Blick nach draußen in die Runde schweifen. Erleichtert fiel ihm jedoch niemand auf, der ihn beobachten könnte.

Auch das Patrouille-Laufen der Polizei auf dem Bahnhof schreckte potenzielle Kriminelle nicht wirklich ab, ein echtes Gefühl von Sicherheit wollte sich dadurch irgendwie nicht einstellen. Tagtäglich freute sich der Busfahrer nach seiner letzten Fahrt von hier wegzukommen. Viele seiner Kollegen hatten schon einen Überfall erlebt, auf diese Erfahrung konnte er gut verzichten. Er saß in seinem Fahrerstand und versuchte seinen Blick nicht nach hinten wandern zu lassen. Er war hin- und hergerissen.

Einerseits wollte er die Leiche nicht unbedingt noch einmal sehen. Andererseits liegt in der menschlichen Natur bekanntlich auch die Neugier.

Aus dem Augenwinkel erspähte er die unverändert reglose Gestalt der Toten, die nun endlich nach einer gefühlten Ewigkeit von näherkommenden regelmäßigen blauen Schlaglichtern gestreift wurde, begleitet vom auf- und abschwellenden Ton des Martinshorns. Er drehte den Kopf in die Richtung des Polizeiwagens und wurde durch die Intensität des blauen Lichtes geblendet. Der Wagen hielt genau vor seinem Bus.

Zwei Beamte stiegen aus, gingen auf die sich in diesem Moment öffnenden Bus-Türen zu und stiegen die Stufen hinauf. Ohne auf den Schockzustand des Busfahrers zu achten, auch auf ein Grußwort verzichtend, nahmen sie umgehend ihre Arbeit auf.

»Und warum genau haben Sie nun uns gerufen?«, der Polizist blaffte schroff. Richtig Freude am Beruf schien er nicht zu haben. Sein verdrießlicher Gesichtsausdruck unterstrich die unschöne Situation. Der Busfahrer starrte einen Moment kurz in sein abweisend wirkendes Gesicht, bevor er antwortete.

»Ich ha…habe dieses junge Mädchen da …«, der Busfahrer deutete mit zitternder Hand in den hinteren Wagenbereich, »… in meinem Bus entdeckt. Sie blieb einfach sitzen, als ich „Endhaltestelle“ durchgab. Zuerst habe ich gedacht, sie schläft, a…aber sie scheint …«, er machte unwillkürlich eine Pause, bevor er das endgültige Wort aussprach: »... tot … zu sein …«

»Und dann? Haben Sie einen Notarzt gerufen?«, die Frage klang genervt.

»Nein. Man sagte mir, dass von der Zentrale der Notruf weitergeleitet wird!«, antwortete der Busfahrer eingeschüchtert.

»Also gut, dann wird der Notarzt wohl auch gleich hier eintreffen. Wie komm` Sie eigentlich drauf, dass die Person tot ist?«, ein vorwurfsvoller Unterton schwang in der Frage mit.

»Sie war nicht ansprechbar, ihr Kopf fiel einfach so nach vorne und sie atmete nicht!«, kurz und knapp war vielleicht die beste Art, diesem unfreundlichen Menschen zu antworten.

»So so…, aber zum Beispiel auch Junkies, die sich gerade einen Schuss gesetzt haben, atmen oft ganz flach! Hat sie Papiere dabei?« Sollte das etwa ein Vorwurf sein, dass der Busfahrer keinen Puls gemessen hatte? Wie kam er denn dazu? Er stand noch immer unter Schock.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen! Ich habe nicht nachgeschaut!«, er blitzte den Polizisten an. So langsam ging ihm die Amtsperson gehörig auf den Sack.

»Guter Mann, ich tu` auch nur meine Arbeit, würde auch lieber zu Hause bei meiner Frau sein! Hey Jäckels, geh mal nachschauen, ob du Papiere findest!«, wandte er sich seinem Kollegen zu. Der Busfahrer sank etwas erleichtert zurück in seinen Fahrersitz, von dem er aufgestanden war, um dem „netten“ Polizisten auf Augenhöhe begegnen zu können.

»Sie bleiben noch hier, falls noch Fragen auftreten! Ihre Aussage muss noch aufgenommen werden!«, der Befehlston klang, als wenn der Polizist seine Ausbildung bei der Bundeswehr absolviert hätte.

»Jawohl, Sir.…«, murmelte der Fahrer kaum hörbar und deutete ein Salutieren an, in dem er sich mit drei Fingern seitlich an die Stirn tippte. Der Polizist bedachte ihn mit einem bösen Blick und verschwand nach hinten zu seinem Kollegen.

Routiniert streiften sich beide Polizisten Handschuhe über, tasteten nach dem Puls des Mädchens und schüttelten die Köpfe. In der Handtasche, die auf dem Boden stand, fanden die Beamten ein Portemonnaie und ein Handy. Mit geübten Fingern nahm sich Jäckels die Privatsachen vor und fand einen Ausweis.

»Meike Roland, siebzehn Jahre, aus Mettenhof«, informierte er knapp. Bestimmt war er den Ton seines bärbeißigen Kollegen bereits gewohnt und wusste mit ihm umzugehen. Er warf einen bedauernden Blick auf das Mädchen, was ihm im Gegenzug einen verachtenden Blick seines Kollegen einbrachte.

Ein weiteres Fahrzeug mit Blaulicht traf ein. Diesmal ohne Sirenen-Begleitung. Der Krankenwagen. Offensichtlich um die Schaulustigen, die sich mittlerweile um den Bus versammelt hatten, zu verscheuchen, heulte jetzt doch das Martinshorn kurz auf.

Es ertönte enorm laut, besonders, wenn man genau daneben stand. Einige der Umstehenden traten zur Seite. Auch die Polizisten schauten auf.

Den Busfahrer ignorierend liefen die Sanitäter durch den Bus nach hinten. Trotz seines Schocks ärgerte sich der Busfahrer darüber. Schließlich war es doch „sein“ Bus, in dem die Leiche war. Die Polizisten winkten bereits ab, als die Sanitäter auf sie zukamen.

Pflichtgemäß prüfte einer der beiden nochmals den Puls, der andere orderte einen Leichenwagen. Noch ein Blaulicht, noch ein Martinshorn. Der Notarzt. Auch der untersuchte die Leiche, notierte etwas und fuhr dann wieder ab. Alles in allem dauerte das nur wenige Minuten. Es gab nichts mehr für ihn zu tun.

Langsam erholte sich der Busfahrer von seinem Schock und staunte über die kühle und routiniert wirkende Vorgehensweise von Polizei und Notarzt. Die konnten einfach so tun, als wäre es das normalste auf der Welt, mit einer Leiche umzugehen. Die Übelkeit überkam ihn wieder, diesmal ließ sie sich aber beherrschen. Einer der Sanitäter deutete auf den Hals der Toten. Worauf genau, war vom Fahrersitz aus nicht zu erkennen, es schien aber sehr ungewöhnlich zu sein, denn sie gestikulierten wild. Jäckels kam zu ihm nach vorn.

»Wenn der Leichenwagen gleich kommt, isses hier für Sie erstmal vorbei. Können Sie jemandem Bescheid geben, dass der Bus vorerst hier stehen bleiben muss? Die „Spusi“ muss ihn noch unter die Lupe nehmen!«, Jäckels war eindeutig netter als sein Kollege. »Ja klar, mach ich. Kann ich dann gehen?«, hoffnungsvoll sah der Busfahrer auf.

»Geht es Ihnen denn gut? Oder brauchen Sie noch einen Arzt, jemanden zum Reden?«, eindeutig war dieser Polizist der Angenehmere von beiden. Der fragte auch mal nach dem Befinden noch lebender Personen.

»Danke, ich denke, es geht schon!«, ablehnend schüttelte der Busfahrer den Kopf. Nur raus hier wollte er. Mit einem kurzen Nicken wurde er entlassen. Er wollte gerade gehen, da traf ein langer schwarzer Wagen ein. Der Leichenwagen.

Der Busfahrer trat zur Seite, um die Sargträger in den Bus zu lassen und schnappte dabei auf, wie einer dem anderen zuflüsterte, dass der Pathologe es nicht hierher schaffen würde.

»Bitte kommen Sie morgen nochmal zur Wache, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können«, bat Jäckels und reichte ihm im Gehen eine Visitenkarte. Der Busfahrer nahm sie und verließ den Bus. Er war erleichtert, dass seine Aussage nicht noch in dieser Nacht aufgenommen werden musste. Sein Chef würde in ein paar Minuten da sein und er konnte endlich nach Hause, weg von dem grauenvollen Ort. Und da kam er auch schon. Er warf einen kurzen Blick an dem Fahrer vorbei in den Bus. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Mensch, das ist ja ein echter Mist! Sowas habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt«, brummte er und reichte dem Busfahrer die Hand zur Begrüßung.

Durch diese Geste abgelenkt kam er nicht in Versuchung, den Abtransport des Mädchens zu beobachten. Mitfühlend klopfte der Chef seinem Angestellten auf die Schulter.

»Mensch Heiner, alles okay mit Dir? Bist Du überhaupt in der Lage, morgen zu arbeiten? Soll ich mal abchecken, ob ich Dir vielleicht ein paar Tage freischaufeln kann?«, so viel Verständnis war Heiner von seinem Chef gar nicht gewohnt.

»Danke, ich schau mal, wie`s geht. Der erste Schock ist vorüber, aber man weiß ja nie…und morgen früh dann noch zur Aussage …«, Heiners Stimme zitterte leicht. Er blieb aber hart und bahnte sich, ohne noch mal auf den Bus zu blicken, einen Weg durch die Menschenmenge. Seinen Chef ließ er einfach stehen. Er wollte nur noch nach Hause.

Auf dem Weg zu seinem Auto grübelte er darüber nach, was sie wohl an dem Hals der Toten gefunden hatten. Er fand es auch merkwürdig, dass keiner nach seinem Namen gefragt hatte. Doch dann fiel ihm ein, dass sein Name ja über dem Fahrerstand zu lesen war, gedacht als Service für die Fahrgäste. Auch eine Beschwerde war so einfacher möglich. Aber eigentlich hätte er doch trotzdem den Ausweis zeigen müssen, oder?

In der Nacht wälzte Heiner Dietrichs sich in seinem Bett hin und her. Immer wieder sah er das tote Mädchen vor sich. Seine Frau gab ihm eine Schlaftablette, aber auch die half ihm nicht beim Einschlafen. Der Morgen graute bereits, als er endlich zur Ruhe kam. Sein Schlaf war aber weder tief noch von langer Dauer. Er stand auf und fühlte sich wie gerädert. Mit der Kaffeetasse in der Hand und einer Zigarette im Mund trat er auf die Veranda. Die Morgenluft war kühl. Heiner fröstelte und zog seinen Bademantel fester um sich. Seit er vergangene Nacht nach Hause gekommen war, hatte er nicht mehr geraucht. Der Leichenfund hatte ihm mehr zugesetzt, als ihm lieb war.

Dabei war er sicher, es würde ihm gut gehen, nachdem die erste Schockwelle abgeebbt war. Offensichtlich war das ein Irrtum.

Der Nachbar zu seiner Linken trat auf seine Veranda und wünschte Heiner einen guten Morgen. Ohne eine Antwort abzuwarten, schwafelte er gleich los. Heiner bedachte ihn mit einem ablehnenden Blick.

»Mensch, in den Nachrichten ist ja wieder was los! Da ist am Hauptbahnhof in einem Bus eine weibliche Leiche gefunden worden! Die Todesursache ist wohl mysteriös, sie soll zwei rote Punkte am Hals gehabt haben. Wenn du mich fragst, dann war das ein Junkie!«

Darüber also hatten die Sanitäter und Polizisten gestern so angeregt diskutiert, schloss Heiner daraus.

»Nein, nach einem Junkie sah das junge Mädchen eindeutig nicht aus! Sie wirkte eher sehr gepflegt!«, murmelte er leise wie beiläufig und setzte laut hinzu: »Warum müssen es denn immer gleich Junkies sein? Nur weil ich sie am Bahnhof gefunden habe? Das Mädchen ist fast die ganze Tour von Kiel-Strande an mitgefahren. Eingestiegen ist sie jedenfalls noch quicklebendig!«, fest blickte er seinen Nachbarn an. Dieser hatte erstarrt mitten in der Bewegung innegehalten und hielt seine Kaffeetasse vor seinen offenen Mund. Wäre die Situation nicht so tragisch gewesen, hätte Heiner lachen müssen. Am liebsten hätte er ein Bild von seinem Nachbarn gemacht.

Wie konnten Menschen nur so sensationsgeil sein? Da kam irgendwas in den Nachrichten, was quasi um die Ecke passiert war - und schon wurden die größten Spekulationen angestellt!

»Ich geh dann mal Nachrichten schauen!«, in Gedanken fügte er noch hinzu: »…Du alter Wichtigtuer!« Seinen verdutzten Nachbarn ließ er einfach an der Hecke stehen. Auf solche Klugscheißer hatte er echt keine Lust. Missmutig schaltete er den Fernseher ein. Tatsächlich kam dort ein Bericht über den Leichenfund. Ihm war gestern dort gar kein Reporter aufgefallen, nicht mal eine Kamera. Auch nicht, nachdem er noch einmal angestrengt nachdachte und sich die Menschentraube um seinen Bus in Erinnerung rief. Im Fernsehen sah er seinen Bus, die beiden Polizisten, den Leichenwagen – aber nicht sich selbst. Das erleichterte ihn.

Musste ja nicht sein, dass jeder auf ihn zeigte oder ihn sogar bemitleidete, vielleicht gar für den Killer hielt. Darauf konnte er getrost verzichten. Noch nie hatte er sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen. Beim Interview mit dem Polizisten Jäckels fiel ihm wieder ein, dass er sich ja noch auf dem Revier melden sollte.

Wo hatte er denn bloß die Visitenkarte gelassen? Da stand doch drauf, welches Revier er aufsuchen musste! Mitten auf dem Küchentisch wurde er fündig. Drittes Polizeirevier, Von-der Tann- Straße. Ihm war nicht wirklich nach Autofahren, aber um von der Britzstraße in die Von-der-Tann-Straße zu kommen, war das unerlässlich. Er könnte seine Frau bitten, ihn zu fahren, scheute sich aber davor, sie zu wecken. Durch sein Hinundherwälzen hatte auch sie die halbe Nacht wach gelegen. Vor allem wollte er ihr auch die Details ersparen, die er vielleicht erfahren würde. Während er den Fernseher ausschaltete, überlegte er sich, was er seiner Frau eigentlich erzählen sollte. Als sie ihn danach fragte, warum er so spät nach Hause gekommen sei, hatte sie es hingenommen, dass er nicht reden wollte, da er so müde war. Wie würde es aber sein, wenn er von der Polizei kam?

Noch eine Zigarette, dann würde er sich anziehen. Nur noch eine, um die Nerven zu beruhigen.

Aus einer Zigarette wurden zwei, drei … Endlich raffte er sich auf und zog sich Jeans und Shirt über. Seine Nervosität ließ ihn noch zwei weitere Zigaretten rauchen, bevor er sich endgültig auf den Weg machte. Sein alter VW Käfer stotterte beim Starten, die ganze Nachbarschaft wusste nun, das er wegfuhr. Hoffentlich stellte keiner Vermutungen an. Aufsehen um seine Person war nicht so sein Ding. Der Weg kam ihm endlos vor, der zunehmende Verkehr kostete nun auch noch Zeit. Immer wieder fluchend, weil es auf der Straße nicht voranging, kam er letztendlich auf dem Polizeirevier an. Zum Glück fand er sofort einen Parkplatz. Mit zitternden Knien stieg Heiner aus seinem Käfer aus und steckte sich gleich noch eine an.

Bevor sein Finger die Klingel berührte, um sich anzumelden und eingelassen zu werden, schwang die Tür auf. Ein Polizist kam ihm hektisch entgegen und nickte ihm kurz zu.

Das war doch einer der Polizisten von letzter Nacht, erinnerte sich Heiner auf einmal an das Gesicht. Hinter einer Glasscheibe am Eingang, saß ein weiterer Beamter. Fragend sah er Heiner an.

»Mein Name ist Heiner Dietrichs! Ich soll mich hier für eine Aussage melden«, er versuchte lässig zu klingen.

»In welcher Angelegenheit denn bitte?«, aufmerksam studierte der Mann den Ankömmling.

»Ich habe gestern Abend die Leiche im Bus gefunden!«, Heiner flüsterte fast. Er wollte diese Worte eigentlich nicht aussprechen. Mit einer Handbewegung forderte der Beamte ihn auf, ihm in den Büroraum zu folgen, welcher unmittelbar hinter der Eingangszone lag. Zögerlich trat er ein.

»Nehmen Sie schon mal Platz. Mein Kollege kommt gleich zu Ihnen. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Danke, nein!«, freundlich lehnte er das Angebot ab. Hoffentlich kommt nicht dieser unfreundliche Polizist, der am gestrigen Abend so schroff mit ihm gesprochen hatte, ging ihm durch den Kopf.

Umso erfreuter war er, als er eine Frauenstimme hinter sich vernahm.

»Guten Tag mein Name ist Julia Lever, ich vertrete meinen Kollegen. Der ist gerade zu einem Einsatz `raus«, sie hielt ihm die Hand hin, Heiner ergriff sie.

»Ich bin Heiner Dietrich! Hoffentlich kann ich Ihnen weiterhelfen!«, stellte er sich erneut vor. Er hatte sich etwas entspannt. Freundlich blickte die Polizistin ihn an und nahm dann hinter einem Computer Platz. Sie fing an, irgendetwas einzutippen.

»Haben Sie Ihren Ausweis dabei? Dann kann ich die Daten abschreiben.«

»Klar, hier bitte!«, Heiner reichte ihr das Dokument über den Tisch.

Wieder das Tippen. Sein Ausweis wurde von ihr wieder über den Tisch zurückgeschoben.

»Dann fangen Sie doch bitte mal an zu erzählen, was genau gestern in ihrem Bus vorgefallen ist, Herr Dietrich.«

»Ja also…das war so… An der Endhaltestelle habe ich bemerkt, dass hinten noch ein junges Mädchen im Bus saß. Sie musste aussteigen, denn der Bus sollte eigentlich ins Depot. Ich ging zu ihr und sprach sie an, bekam aber keine Reaktion. Ich berührte …«, er stockte, hielt kurz inne und schluckte, bevor er fortfuhr: »… sie mehrmals vorsichtig. Hätte ja sein können, dass sie fest schlief oder einen Zusammenbruch hatte. Beim dritten Mal fiel dann ihr Kopf ungewöhnlich ruckartig nach vorn …«, Heiner musste abbrechen und hart schlucken.

»Danach haben Sie gleich die Polizei gerufen oder passierte noch etwas dazwischen?«, ruhig und verständnisvoll sprach die Beamtin.

Ich hab vor Schreck meinen Bus vollgekotzt! Er erinnerte sich unangenehm berührt, sprach es aber nicht aus, sondern schüttelte nur energisch den Kopf.

»Gut, dann kamen also meine Kollegen bei Ihnen an. Haben Sie bei dem Mädchen sonst noch irgendjemanden gesehen. Stieg sie in Begleitung in den Bus ein?«, die Polizistin sah ihn auffordernd an.

»Das kann ich nicht sagen! Da steigen so viele Menschen ein und aus, dass ich nicht noch auf sowas achten kann.

Ich meine, mich zu erinnern, dass sie die ganze Strecke über bereits im Bus gesessen hatte«, seine Stimme klang sicher.

Sein unsteter Blick verriet ihn aber doch. Seine Augen konnten die Polizistin nicht lange ruhig anschauen. Sie tippte wieder. Aus den Augenwinkeln behielt sie den Mann ihr gegenüber aber immer im Blick. Es kam gar nicht so selten vor, dass sich Befragte durch ihre Körpersprache verdächtig machten.

»Gekannt haben Sie das Opfer auch nicht?«, die Beamtin sprach es eher wie eine Feststellung aus, anstatt wie eine Frage. Heiner schüttelte den Kopf, ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Tasten wurden angeschlagen und kurz darauf sprang ein Drucker an.

»Bitte durchlesen und dann unterschreiben! Ich hole schon mal das Tablet für die Fingerabdrücke!«, sachlich teilte ihm das Frau Lever mit, als er gerade das Blatt Papier in die Hand nahm. Verdutzt sah er auf und glaubte, sich verhört zu haben. Etwas klapperte und schon war die Beamtin mit den benötigten Utensilien zurück.

»Wofür brauchen Sie denn meine Fingerabdrücke? Meinen Sie etwa, ich hätte das Mädchen gebissen?!«, das kam härter über seine Lippen als gewollt. Erschrocken über sich selbst, unterschrieb er lieber schnell seine Aussage, um sich das nicht anmerken zu lassen. »Wir ermitteln in alle Richtungen! Wie kommen Sie denn darauf, dass das Mädchen gebissen wurde?«, ihr Ton war forschend und achtsam. Die Freundlichkeit der Polizistin ließ merklich nach und ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch breitete sich noch mehr aus. Ihm kam es vor, als hätte Frau Lever bei dem Wort „gebissen“ etwas gezuckt. Es könnte aber auch sein, dass er sich getäuscht hatte. Dass er zu den Verdächtigen zählte, dessen war er sich nun aber sicher.

»In den Nachrichten haben sie gesagt, sie hätten zwei rote Male am Hals der Leiche gefunden. Da ging wohl die Phantasie mit mir durch …«, kleinlaut versuchte er seine unüberlegte Formulierung zu vertuschen. Durchdringend musterte ihn die Polizistin. Man konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete.

Am liebsten wäre er aus dem Büro gestürmt oder im Erdboden versunken. Gesagt war gesagt, da gab es nichts mehr zu ändern.

»Sie haben da aber eine blühende Phantasie! Das könnten auch Einstiche sein«, ihr Tonfall war kalt. Eindeutig wollte sie von den Wundmalen am Hals der Toten ablenken. Resigniert und auch um sich nicht weiter verdächtig zu machen, gab er seine Fingerabdrücke ab. Er brauchte jetzt eine Zigarette, um sein eh schon angeschlagenes Nervenkostüm zu beruhigen. Endlich entlassen, konnte er es nicht erwarten auf die Straße zu kommen. Ein tiefer Zug und seine Hände zitterten nicht mehr. Langsam fuhr er vom Parkplatz. Er würde seiner Frau einfach die Wahrheit erzählen, ohne etwas auszulassen. Dann würde sie auch verstehen, warum er vielleicht schon bald in Handschellen abgeführt werden könnte.

ZWEI TAGE SPÄTER

Sie ging mit ihrem Hund Gassi. Wie jeden Abend, bevor sie ins Bett ging. Ein Ritual, welches seit Jahren nicht fehlen durfte. Beide waren sie nicht mehr die Jüngsten, so hielten sie sich fit. Die Abendluft half ihnen beim Einschlafen, egal wie das Wetter draußen war. An diesem Abend war der Labrador aufgeregt. Er schnüffelte mehr als sonst und zog an der Leine. Frauchen schimpfte und konnte dem Tempo kaum folgen. Ihr Weg ging durch einen kleinen Park.

Schon oft wollte sie die Runde mal abändern, doch ihr Hund weigerte sich, schlug immer wieder die Strecke zum Park ein. Leider war das nicht mehr so ungefährlich wie zu ihren besseren Zeiten. In der Handtasche führte sie immer eine Dose Pfefferspray mit sich, in der Hoffnung es nie benutzen zu müssen. Sie wusste ja, dass es verboten war, aber auf ihren Hund allein wollte sie sich auch nicht verlassen.

Was kam denn da für eine alte Frau sonst anderes in Frage? Früher war der Alte Botanische Garten beliebt bei Joggern und Spaziergängern, in der letzten Zeit tummelten sich da aber immer mehr Dealer jeder Art und andere skurrile Gestalten.

In den dunklen Nischen versteckten sie sich. Als ältere Dame mit Hund war es wirklich kein Spaß mehr hier zu spazieren. Den Hund schien das nicht zu stören, es war einfach seine gewohnte Abendrunde, schon seit er ein Welpe war. An diesem Abend war er nicht er selbst, jaulte, schnüffelte, zog an der Leine.

»Nun ist aber wirklich mal gut Bobby! Aus jetzt!«, außer Atem schimpfte sie mit ihrem Hund. Zur Antwort bekam sie nur ein Schnaufen. Reden konnte er ja nicht. Sie bogen um die nächste dunkle Ecke. Da wurde es ganz schlimm mit Bobby. Er zog so an der Leine, dass sein Frauchen ihn nicht mehr halten konnte. Unsanft fiel die Dame auf den Kieselsteinweg. Ihr linkes Knie blutete und auch am Kinn hatte sie eine Wunde. Die Brille war von der Nase gerutscht und lag ein paar Zentimeter vor ihr im Dreck, dass eine Glas gesprungen. Etwas weiter vorn bellte Bobby wie verrückt. Die Frau fluchte vor sich hin und hatte vor Schmerzen Tränen in den Augen. Das Schimpfen mit ihrem Hund war vermutlich im ganzen Park zu hören. Hinter ihrem Rücken waren Schritte zu vernehmen, sie nahm all ihre Kraft zusammen und rappelte sie sich hoch. So schnell sie konnte, humpelte sie zu ihrem Hund. Hinter ihr beschleunigten sich die Schritte. In ihrer Brust begann ihr Herz wie wild zu schlagen.

»Bobby komm her! Komm zu Frauchen, Bobby. Sei ein braver Kerl! «, die Stimme der Frau überschlug sich fast vor Angst und Schmerzen. Irgendetwas bellte der Hund an. Was genau es war, konnte sie jedoch nicht erkennen. Das kaputte Brillenglas machte ihren Blick unscharf und sie kam erneut ins Straucheln. Die Hecke, welche Bobby noch immer aus Leibeskräften anbellte, bot etwas Halt. So konnte die ältere Dame sich wenigstens vor einem erneuten Sturz retten. Dann sah sie, warum ihr Bobby die ganze Zeit so komisch war: Eine Hand lugte unter dem Strauch hervor. Sie erfasste es nicht sofort, aber dann fasste sie sich vor Schreck an ihr Herz und ließ sich einfach zu Boden fallen. Die Schritte hatten neben ihr angehalten.

»Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie vielleicht einen Arzt?«, eine sanfte weibliche Stimme sprach sie an. Kopfschüttelnd, unfähig etwas zu sagen, blickte sie zu der großen Frau auf. Mit der Hand deutete sie zu ihrem Hund, der noch immer unablässig bellte.

»Ich glaube, dort braucht eher jemand einen Arzt!«, ihre Stimme zitterte und brach.

»Der Hund? Dem geht’s doch gut! Ist das Ih…«, weiter sprechen konnte die Jüngere nicht.

»Ja, ist es, er scheint jemanden gefunden zu haben. Für mich sieht die Hand aber doch irgendwie leblos aus«, leise kamen die Worte aus dem Mund der Älteren. Ein wenig Sarkasmus war ihr trotz des Schreckens geblieben.

»Bleiben Sie hier, ich geh mal schauen!«, schon war die andere bei dem Hund.

»Bobby …«, krächzte seine Besitzerin.

»Du bist also Bobby. Das hast Du aber ganz brav gemacht. Mach schön Sitz jetzt und lass mich mal schauen!«, streichelte sie den Hund bei den Worten sanft und beruhigend. Knieend schob sie den Labrador langsam zur Seite und griff beherzt nach der Hand. Mit der Hand hob sie ohne Absicht den Arm der hinter der Hecke liegenden und offensichtlich leblosen Person dabei ein wenig an. Die Hand war noch warm, hatte aber keinen Puls! Brechreiz überkam sie, schnell holte sie dreimal tief Luft und schluckte, das half. Einen Schrei konnte sie aber nicht unterdrücken. Entsetzen hatte ihr hübsches, jugendliches Gesicht entstellt. Eine vernünftige Reaktion war ihr nicht möglich. Um das Gesehene in ihrem Kopf erst einmal zu verarbeiten, ließ sie sich von den Knien auf ihren Po fallen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Ekel packte sie, Würgen folgte, doch das Erbrechen blieb aus. Es dauerte, bis sie zu der Älteren zurück gehen konnte. Wie neben sich stehend, stellte sie sich erstmal vor.

»Mein Name ist Elsa Brandt, ich glaube Ihr Hund hat da etwas Grausames entdeckt«, ihre Stimme zitterte.

»Ich bin Helene Meyer, Bobby kennen sie ja schon«, die beiden gaben sich die Hand. Hilflos saßen die beiden Frauen vor dem Gebüsch, aus dem die Hand hervorlugte, keine wusste, was sie sagen oder tun sollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit griff Elsa Brandt nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

In Helene Meyer stieg wieder Panik auf.

Sie fasste sich an ihr Herz und hatte das Gefühl, ihr würde die Luft wegbleiben. Ungläubig stierte sie auf die Hand. Eine tote Hand. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Leiche gesehen. Sie nahm es als Omen. Geistesabwesend streichelte sie ihren Bobby. Das Atmen fiel ihr immer schwerer und sie japste nach Luft, der Hund jaulte. Elsa Brandts Aufmerksamkeit war geweckt.

Sie sah die alte Frau an und vermutete sofort, dass sie einen Herzinfarkt hatte. Erneut wählte sie den Notruf, um einen Krankenwagen zu bestellen, der Frau Meyer ins Krankenhaus bringen sollte. Ihre Blicke trafen sich.

»Keine Sorge Frau Meyer, ich habe gerade einen Krankenwagen für sie gerufen! Er wird gleich da sein, dann wird Ihnen geholfen«, sprach Elsa Brandt beruhigend auf die Frau ein. Sie erreichte damit sogar, dass Helene Meyer sich entspannte und das Atmen wieder etwas leichter ging.

Das alles war einfach nur skurril. Elsa Brandt konnte die Situation kaum aushalten, sie versuchte ihre Anspannung und Hilflosigkeit zu überspielen, in dem sie immer wieder beruhigend auf Frau Meyer einredete. Bobby fiepte auf, als wenn auch er die Spannung am Fundort nicht mehr ertragen konnte.

»Alles ist gut, mein Großer. Frauchen geht es gleich wieder besser und dann gehen wir nach Hause!«, Helene Meyer fielen die Worte schwer, sie kamen nur gepresst über ihre Lippen, es schien ihr aber doch etwas besser zu gehen. Ein wenig erleichtert, atmete Elsa Brandt tief durch.

Noch war aber die Polizei nicht eingetroffen. Sie musste weiter ausharren. Frau Brandt beobachtete die Ältere. Aus den Wunden an Kinn und Knie sickerte noch immer leicht Blut. Und dann auch noch der vermutete Herzinfarkt. Bei diesem Anblick krampfte sich ihr Magen zusammen.

Zu allem Überfluss hatte sie die Frau auch noch so erschreckt, so dass sie fast ein zweites Mal hingefallen wäre. Das hätte sie sich nicht verzeihen können. Um die Lage etwas zu entspannen, setzte sie sich zu Frau Meyer auf den kalten Boden.

»Geht es Ihnen besser?«, Frau Brandts Stimme war nach außen hin ruhig.

»Es geht schon. Um ehrlich zu sein, ist mir ganz schön übel und mein Herz tut weh. Ich habe noch nie eine … Leiche gesehen«, Helene Meyer sprach mit einem Kloß im Hals.

Sie konnte nicht mehr verbergen, was in ihr vorging. Schniefend heulte sie los. Angst, Trauer, Schreck - alles strömte auf sie ein. Auch ihren Hund konnte sie nicht mehr beruhigen. Sie fing an zu schreien, wollte die vielen negativen Gefühle loswerden.

»Wer tut sowas, wie kann man nur einem Menschen das Leben nehmen? Damit kann man doch nicht weitermachen! Diese Welt ist einfach nur schlecht! Niemand hat mehr wirklich Respekt und es wird immer schlimmer!«, laute Schluchzer begleiteten ihre Worte.

Frau Brandt war erschrocken. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wer Menschen umbrachte und einfach unter Hecken versteckte. Sie wollte auch nicht daran denken, ob der Mörder Schuldgefühle hatte oder nicht. Ihr eigenes Leben geriet gerade völlig aus den Fugen und auch ihr war nach Heulen und Schreien, das war aber nicht ihre Art. Alles machte sie mit sich selbst aus, so auch den aufsteigenden Schauer beim Gedanken daran, dass sie die Leiche angefasst hatte. Schon als Kind war sie darauf gedrillt, immer die Fassung zu behalten und Gefühle zu verbergen. Helene Meyer heulte immer noch. In der Ferne war ein Martinshorn zu hören. Es kam schnell näher. Frau Brandt hoffte, dass es der Krankenwagen für Frau Meyer war, damit sie etwas zur Beruhigung bekam. Tatsächlich hielt nur etwa eine Minute später der Krankenwagen auf der Wiese, die ihnen gegenüber lag. Die Sanitäter sprangen schnell aus dem Wagen und stürmten auf die beiden Frauen zu. Bobby kläffte, wurde aber ignoriert. Frau Brandt schilderte kurz und knapp, was vorgefallen war, wie Frau Meyer sich an ihr Herz gefasst hatte und schwer Luft bekam.