Schattenfuge - Gabriele Bösch - E-Book

Schattenfuge E-Book

Gabriele Bösch

4,8

Beschreibung

Ein einziger Raum. Eine einzige Nacht. Ein Mann und eine Frau, die eine Abmachung haben: Sie will schweigend sein Porträt malen, er soll währenddessen von sich erzählen. Er, ein Architekt, der seinen Beruf an den Nagel gehängt hat, beginnt seine Erzählung mit der Schilderung seines Scheiterns. Als sie das nicht mehr aushält, schickt sie ihn fort. Er kommt zurück und beginnt, von seiner Fußwanderung nach Finisterra zu erzählen. Schritt für Schritt hört sie ihm zu, Strich für Strich entsteht das Porträt eines Liebenden, in dem sie sich selbst erkennt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 173

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriele Bösch

Schattenfuge

Roman

Für Gernot

Hohenems, April 2003

Was hatte sie erwartet?

Das Foto einer Geliebten?

Fast wäre es ihr lieber gewesen.

Sie starrte auf die Zeichnung in ihrer Hand, auf diese nackte Frau, die in wenigen einfachen Linien auf das Papier geworfen worden war: Wie lasziv sie dasaß, mit breit gespreizten, aufgestellten Beinen, das rechte viel zu kurz. Und viel zu dick. Das Gesicht war ihr seitlich vom Hals gerutscht. Es war ihr unmöglich, dieser Frau in die Augen zu sehen, der Strahlenkranz aus dicken Kohlestrichen lenkte den Blick unweigerlich auf die sanft geöffneten Lippen der Vagina.

Elenor wusste, dass sie ihm für dieses Bild nie Modell gesessen war. Sie glaubte auch zu wissen, dass er sie nie so betrachtet hatte, nicht im Bett, nicht im Auto und auch nicht unter freiem Himmel.

Mit wie viel Schwung diese Frau gezeichnet war!

Plötzlich vermisste sie etwas.

Finisterre, Juni 2003

Der Meister hatte gesagt: Zwinge dem Strich eine Wiederholung auf. Aus der Wiederholung entsteht die Bewegung. Bewegung induziert Farbe.

Er blickte auf den Strand hinunter. Die Menschen in ihren weißen Monturen sahen wie Michelinmänner aus. Sie kratzten das Öl aus den Kluften, es hatte die Fugen im Fels abgedichtet. Als hätte das Meer Schaufeln angespült anstatt Muscheln, und Fässer statt Holz. Als wäre die Zeit aus den Schuhen gekippt. Als wäre Vergangenheit an der Zukunft gestrandet und die Gegenwart untergegangen. Niemand zählte die Stunden. Man zählte lebende Vögel. Jemand sprach von Prestige.

Er zündete seine Urkunde an. Es gibt keine Irrwege oder Umwege, dachte er. Das Leben ist ein offenes Meer. Man kann es befahren. Neues Land suchen. Unentdeckte Ufer. Man kann es betauchen. Wir können es rückwärts denken, zu jenen Gipfeln, von denen wir träumen. Auf dem offenen Meer gibt es keine Linien, es gibt nur Momente wie Striche. Das Leben zeichnet nicht in Geschichten. Erst in der Wiederholung, im Erzählen, wird das Erlebte zu Küstenstrichen.

Das Meer im Rücken trat er seine Heimkehr an.

1

Als er ankam, war es dunkel. Die mittlere der drei Straßenlaternen war ausgefallen. Er hatte keine Lust, diese Tatsache zu interpretieren, sie fiel ihm nur nebenbei auf, wie der spürbare Zweifel, der ihn beim Griff zur Klinke elektrisierte. Es war offen. Er setzte einen Schritt ins Stockdunkel, die Tür hinter ihm fiel mit metallenem Klang in ihr Schloss. Links befand sich kein Lichtschalter, rechts griff er an aufgestellte Rollen und Stelen. Er tastete sich an ihnen entlang, Zentimeter für Zentimeter sich fürchtend, diese potenziellen Kunstwerke umzuwerfen. Die zweite Tür stöhnte hölzern, als er sie öffnete. Worauf hatte er sich da eingelassen? Ein Bild gegen eine Erzählung. Das konnte nur einer Frau einfallen! Er brauchte kein Porträt von sich und im Erzählen war er nicht geübt. Er hatte sich dem Schweigen verschrieben wie sie sich offensichtlich dem Dunkeln. Dass sie ihn nicht instruiert hatte, irritierte ihn. Dass sie es immer noch nicht tat, verunsicherte ihn. Sie musste ihn längst gehört haben. Er zuckte zusammen, als er das verspätete Klacken der Falle hörte. Die Tür war wohl mit einem Schließer versehen. Noch einmal überwand er sich und ging zwei Schritte weiter. Auch hier standen mannshohe Rollen, deren Bedeutung er nicht ermessen konnte, dahinter zeigte ein Lichtstreifen die Schwelle einer dritten Tür an. Er ging auf sie zu und hob seine Hand. Noch im Klopfen fragte er sich, ob er ihr „Herein!“ nicht schon kurz zuvor gehört hatte.

Die Frau hinter der Leinwand regte sich nicht. Waren ihre Haare immer schon so rot gewesen? Sie hatte recht. Er hatte sie nie wirklich angesehen.

Er steht immer noch auf der Schwelle, dachte sie, zwischen Licht und Dunkel. Er wird sich entscheiden müssen.

Ihr Lächeln war ein stummer Befehl, der ihn die Tür schließen hieß. Links neben dem Türblatt sah er den Haken. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Wand. Wie oft hatte er sich auf genau dieselbe Art und Weise schon umgedreht, zögernd, hoffnungsvoll und doch irgendwie leer? Wollte sie ihn denn nicht begrüßen? Fast bereute er seine Zusage. Was sollte das bringen? Was würde sie anfangen wollen, mit dem Wenigen, das er zu erzählen hatte?

„Sie sind pünktlich“, stellte sie fest, glitt von einem Stuhl, der höher sein musste als ein gewöhnlicher, genau konnte er ihn nicht sehen, weil sie sich auf ihn zu bewegte. Sie kam ihm größer vor, oder er sich selbst kleiner. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Was hatte er sich erwartet? Dass sie ihm die Hand reiche? Dass sie ihn umarme? Dass sie wenigstens ein Zeichen von Nervosität erkennen ließe? Nichts von alldem. Stattdessen zog sie einen weiteren Stuhl unter einem der Tische hervor und platzierte ihn, als hätte sie das zuvor geübt. Kein überflüssiges Rücken, kein orientierender Blick in den Raum, keine Frage in ihrem Gesicht, ob ihm dieser Ort auch recht sei.

„Setzen Sie sich doch“, sagte sie und deutete auf den Stuhl, der nun in der Mitte des Raumes stand.

Er zögerte.

Wie schwer fielen Schritte, die ein Mann auf eine Frau zugehen sollte? Erst als sich ihre unausgesprochene Frage im Raum verflüchtigte, kehrte sie ihm den Rücken zu.

Sie lächelte noch immer, als sie sich, an der Leinwand angekommen, ihm wieder zuwandte. Er ging die wenigen Schritte um eine Säule herum und ließ sich auf dem ihm zugewiesenen Stuhl nieder. Der wunde Punkt, dachte er, liegt haarscharf zwischen Schein und Sein. Er würde stürzen. Zuvor aber wollte er ihr geben, wonach sie verlangte. Nur, wie und wo sollte er beginnen?

„Wann haben Sie zeichnen gelernt?“, fragte er.

„Danach“, antwortete sie, „ich wollte wissen, wie das ist, gestrichelt zu denken. Die Welt in Linien zu zerlegen.“

Wie hatte er auch denken können, sie würde ihn schonen? Er räusperte sich, um für einen längeren Moment zu schweigen.

„Haben Sie je einen Mann von einer Brücke fallen sehen?“, fragte er dann.

„Nein.“

„Der freie Fall ist eine schnurgerade Linie. Und am Ende dieser Linie lag er. Es war ein Toter, der mich auf diese Reise gezwungen hat. Aber das ist nichts Besonderes. Wir haben wohl alle unsere Toten. Nicht wahr?“

War da ein leises Lauern in seiner Stimme? Sie holte tief Luft, straffte die Schultern, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

Sie stieg auf ihren Hocker, ihre Hände nestelten an ihrem Hemd. Und doch, sie schien sich zu konzentrieren. Ob sie nach etwas suchte? Auch er würde sie nicht schonen.

„Diese Stadt“, fuhr er fort, „ich hielt sie nicht mehr aus. Und dieser Name: Gehmacher. Zunächst haben sie mir ja nur eine Verbindung untergeschoben. Durch das Büro. Dann aber haben sie unsere beiden Namen im Doppelpack weitergetragen. Sie haben uns zusammen in die Taschen gesteckt. In lederne Handtaschen mit Schnappverschluss, habe ich mir vorgestellt. In Brusttaschen verschwitzter Hemden. In einfache Hosentaschen, die ausgebeult an den dazugehörenden Hintern hingen. Hinter vorgehaltenen Händen, verstehen Sie, haben sie die Namen weitergereicht. Als hätten sie sich an ihnen anstecken können. Ich hätte nicht zurückkommen sollen.“

Die Frau blickte auf das Stück Kohle in ihrer Hand.

Sie sah aus, als wünschte sie sich einen Pinsel. Haare so dünn wie Fliegenbeine. Sie wollte nicht hören, was er ihr erzählte. Das ermunterte ihn.

„Sie haben unsere Namen durch die ganze Stadt getragen, durch alle verbliebenen Geschäfte. Durch das Schuhgeschäft am Schlossplatz, durch die Apotheke und das Lebensmittelgeschäft ein Eck weiter. Manche wagten sich ins Schmuckgeschäft. Kauften neue Batterien für ihre alten Uhren. Andere trugen ihre Uhren zum Optiker in der Marktstraße, weil sie die Zeiger nicht mehr sehen konnten. Der Sehtest dort war kostenlos. Und unsere Namen wurden zum Werbegeschenk. Arnold Gehmacher und sein Architekt.“

Sie stellte fest, dass er seinen eigenen Namen immer noch nicht aussprechen konnte. Entschlossen drückte sie das Stück Kohle auf die Leinwand und drehte es einmal um sich selbst. Ein leises Bürstgeräusch ertönte. Das Innere des Punktes kratzt, dachte sie, und dass Linien vielleicht tatsächlich imstande sind zu schreien.

„Als die zwei Namen allein nicht mehr ausreichten, zogen sie vom einen zum anderen eine Linie und knüpften Wörter daran. Die Geschichte entstand. Als wären sie dabei gewesen. Sie bestimmten den Preis der Schieferplatten, der Südwestverglasung, der Sicherheitsanlage und der Sarnafilfolie, die das Dach abdichten hätte sollen. Sie rechneten sich eine Summe aus, die es wert war, dafür zu sterben. Verschiedene Summen waren im Umlauf, ich konnte mir eine aussuchen. Hör nicht hin, sagte Elenor.“

Die Schultern der Frau senkten sich merklich, sie drehte den Kopf. Er hatte sie nie so bezeichnet. Aber er hatte sie auch selten bei ihrem Namen genannt. Es schien ihm Jahre her zu sein.

„Warum haben Sie nicht auf sie gehört?“, fragte sie.

„Wie hört man nicht hin?“, gab er zurück.

Sie nickte. Beim dritten Nicken blieb ihr Kopf unten. Sie drehte sich zurück. Erst vor dem Bild, oder dem, was das Bild werden sollte, hob sie ihn wieder und setzte die Kohle erneut ins Bild. Er hätte sich gern dorthin gesetzt. Ins Bild. Auch sie hatte ihn nie wirklich angesehen. Er dachte an den Magritte im Wohnzimmer. Eine einsame Pappel. Und eine Kugel darunter. Er sah auf seine Hände.

„Sie sind Architekt, fragte der Metzger, als er das Fett von meinen Hühnerbrüsten löste. Ab diesem Zeitpunkt kaufte ich im Supermarkt ein. Das hat auch andere Vorteile, sagte ich mir. Genügend Parkplätze. Und ein Geldautomat. Als ich das erste Mal dort einkaufte, habe ich das Geld im Schlitz stecken lassen. Jemand hatte mich gegrüßt. Mit Namen. Siebzig Euro für ein Grüß Gott mit meinem Namen. Das Grinsen war umsonst gewesen.“

Sie hielt die Kohle viel zu fest. Elenor hatte ihm die Todesanzeige entgegengehalten. Es war kein Foto in der Anzeige erschienen. Nur der Name. Und sie hatte ihn sich gemerkt.

Er sah sich um. Die beiden Fensterscheiben zur Straße hin waren aus Muschelglas. Ornament, Kathedral weiß, glaubte er. Ebenso wenig, wie er von draußen hereinsehen hatte können, konnte er jetzt hinaussehen. Er könnte ahnen, wenn es da etwas zu ahnen gäbe. Sein Blick blieb am Sims des rechten Fensters hängen. Ein Gefäß aus Messing stand dort, Zweige in einem Kerzenständer. Sie waren von hier nicht zu erkennen.

„Da haben Sie alles aufgegeben? Wegen eines Siebzigeurolächelns?“

Sie biss sich auf die Lippen. Um nichts in der Welt hatte sie ihn unterbrechen wollen.

Wie sollte er ihr erklären, was nicht zu erklären war? Wie er manchmal versucht gewesen war, an seinem eigenen Bett ein Namensschild anzubringen. Weiß, mit einem schlichten schwarzen Rahmen. Kein Foto. Nur ein Name. Sein Name. Losgelöst von jenem anderen, jenem Geist, der seine Träume teilte. Die Träume davor und die Träume danach. Danach hatte er in Schwarz-Weiß geträumt. Er hatte Angst vor Farben. Und im Traum ohne Farben traten die Linien hervor. Unbarmherzig. Grundrisse gewesener Wirklichkeiten. Aufrisse seiner Wünsche, die im Aufwachen einstürzten. Lautlos wie die Luftschlösser, die er als Kind in den Himmel gezeichnet hatte. Spurlos. Was blieb, war dieses Engegefühl zwischen Brustbein und linker Schulter. Als hätte dort jemand eine Linie gezogen, wo ein Herzschlag im Abklingen den nächsten nach sich zog. Das Stolpern hatte ihm die Luft genommen. Er hatte wenig Luft verbraucht seit damals. Er hatte gelernt, sie anzuhalten.

„Ich hatte schon vorher gekündigt“, antwortete er.

Ja, dachte sie, und dass sie sich diesen Abend ganz anders vorgestellt hatte. Kein Auffrischen des Alten. Ein Neubeginn. Ein Porträt wollte sie malen. So wie sie ihn sah. Trotz allem. Doch die senkrechte Falte auf seiner Stirn legte sich nicht. Das muskulöse Gesicht holte die Augen ein wie tot gestrandete Fische. Das Glitzern in ihren Schuppen war erloschen.

Ratlos betrachtete sie die Skizze.

Unser Leben hatte sich erst eingespielt, dachte er. Meine Kündigung war wie ein verunglückter Wurf. All unsere Bedürfnisse lagen plötzlich da wie Mikadostäbe. Auf einem Haufen. Wenn wir an sie rührten, brachten wir uns gegenseitig ins Wanken. Mein Bedürfnis nach Auflösung lag zuunterst. Ein König mit roten Streifen. So sollte sie mich malen.

Er hatte dieses Schild nie gemacht, er war anonym geblieben in seinem Bett. Auf der Fensterseite des Schlafzimmers. Nah an den Vorhängen, an denen die Tage sich verfingen, als sähen sie ihn nicht. Als spiele er in ihrem Wechsel keine Rolle. Sie waren gnädig, die Tage. Sie trugen keine Namen, keine Nummern. Sie waren ungnädig in ihrem Spiel. Sie verkleideten sich in den gleichen Kostümen. Er hatte sie nicht auseinanderhalten können. Die Jahreszeiten hatte er am Birnbaum vor dem Fenster gelesen. Damals trug er mitten im Winter Blüten.

Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Von rechts nach links. Aus ihrer Sicht genau umgekehrt.

Er entfernte sich von ihr im selben Maß wie von sich selbst. Sie nahm es neben der Leinwand, neben dem entstehenden Bild wahr. Sie setzte noch einen Punkt, legte die Kohle auf das Brett und begann, seinen Rückzug auszugleichen. Sie trat vor die Staffelei. Seinen gekreuzten Beinen begegnete sie mit verschränkten Armen, seinem Sitzen mit aufrechtem Stand.

Punkte, dachte er, sie endet in Punkten, gleich wird sie welche vergeben, oder abziehen, je nachdem.

Irgendwo schlug eine Tür.

Langsam ließ sie die Arme sinken, vorbei an den Hosentaschen, an den Schenkeln, sie legte sie von hinten auf ihr Gesäß. Im Einatmen kam sie ihm näher, die Brust wölbte sich merkbar vor. Einen Schritt setzte sie, noch einen, so viele, bis sie vor ihm stand.

Da sie die Schritte setzte, wechselte er die Stellung der Beine, langsam, als wären sie frisch gemalt und noch nicht trocken. Da sie die Hände am Gesäß hatte, legte er die seinen in den Schoß und den Blick kurz dazu.

Sie sah auf ihn hinunter, nahm mit beiden Händen seinen Kragen, öffnete den dritten, den vierten Knopf, schob ihm das Hemd auseinander, weit nach hinten, umfasste mit beiden Händen, was für ihre Hände nicht zu fassen war: seinen Hals.

Er blickte auf den ihren. Ein dünnes Lederband baumelte da, aus bunten Glassteinen das Kreuz. An ihr ist es wie Schmuck, dachte er. Der Rest des Denkens verebbte an ihren Schlüsselbeinen. Was tut sie da, fragte er diese stumm.

„Keine Angst“, sagte sie, „ich nehme nur Maß.“

Maß. Ja. Er wünschte sich Höhen, Tiefen, Breiten, Längen und eine Aussicht von hier bis zur Straße. Es schien ihm herinnen dunkler als draußen. Das lag vermutlich am Schnee. Am Schnee, der draußen die Nacht erhellte.

Es gibt Augen, die betrachten die Zukunft. Sie scheinen dich ständig zu überholen, während du um ein Wort ringst. Es gibt Augen, die betrachten dich als ein Bild aus der Vergangenheit. Sie verstecken sich hinter einem Schleier, versuchen, sich interessant zu machen, und fragen dich doch immer dasselbe.

Ihre Augen blieben offen für die Gegenwart. Die Fragen, die er ihr nicht stellte, erschienen in diesen ruhigen Seen wie das klare Spiegelbild einer Landschaft. Konnte es sein, dass seine Fragen auch die ihren waren? Konnte es sein, dass ihrer beider Gedanken sich verbanden, dass sie zusammenliefen wie zwei Rinnsale, dass sie sich mischten wie zwei Farben?

Ihre Augen waren braun, stellte er fest, von einem Braun, das lange genug blau gewesen war, und sie hatte sich die Haare nicht gefärbt. Vereinzelt blinkte Silber an ihren Schläfen auf.

Er hielt das alles fest. Er wollte nicht hoffen. Und doch. Sie stand im Norden. Der ganze Raum war genordet. Das beste Licht zum Arbeiten. Tagsüber.

Wie verloren er aussah. Ein Hals, der einmal dick gewesen war. Die übrig gebliebene Haut schien stehend zu tropfen. Das sah sehr unentschlossen aus. Sie wollte sie angreifen. Stützen. Stattdessen faltete sie sanft seinen Kragen ein bisschen besser zurück. Zuvor war er gelegen, jetzt stand er. Sie knöpfte den vierten Knopf wieder zu und ließ den dritten offen, legte nur die Leisten übereinander und ihre Hand dorthin.

„Werden Sie ein bisschen Rot in meine Bindehaut mischen?“, fragte er.

Sie nahm ihre Hand von seiner Brust, als zöge sie sie ihm von den Augen.

„Nein, nicht Rot“, sagte sie. „Statt des Rot schreibe ich ein Wort in Ihre Bindehaut.“

„Das hat noch nie jemand getan.“

„Ich bin nicht jemand.“

„Ich weiß“, sagte er, als hole er verlorene Jahre ein. Elenor hatte sich stets gegen sein ich weiß nicht gewehrt. Jetzt wartete er auf ihre Reaktion.

„Das freut mich“, sagte sie. Ganz kurz war ein Lächeln zu sehen.

„Was freut Sie?“

„Dass Sie sagen: Ich weiß.“

„Das ist ein Übergriff“, stellte er fest.

„Ich weiß“, sagte sie, „ich neige zu Übertretungen. Das war schon immer so. Sonst würde ich vielleicht auch nicht machen, was ich mache.“

Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete ihn.

„Welches Wort?“, fragte er.

Ihre Hand nahm das Kreuz und schob es auf dem Lederband in langsamem Rhythmus von links nach rechts und wieder zurück. Dann drehte sie sich um, ging auf das linke Fenster zu und verrückte auf dem Sims ein paar Dinge, die er nicht sehen konnte.

Er hatte sie nicht vertreiben wollen. Seine Augen irrten ihr nach. Jahrzehntelang hatte dieser Raum zu einer Schuhfabrik gehört. Der Name stand noch außen an der Fassade. Für eine Werkshalle aber schien ihm der Raum zu klein, selbst für ein Atelier. Ob es ein Verkaufsraum gewesen war? Er konnte keine Spuren von ehemaligen Regalen erkennen, war vielleicht auch zu lange her. Das Licht, dachte er wieder, es musste schön sein, hier zu arbeiten. Tagsüber.

Er blickte hinter sich. Den beiden Fenstern zur Straße hin lagen zwei Fenster im Süden gegenüber. Sie waren mit klarem Glas gefüllt, gingen auf den Hof hinaus. Links davon, an der Wand, lehnte hochkant eine Matratze. In den vier Fenstern nach Westen hingen mehrere Skizzen. Diese Fensterfront hatte kein Gegenüber aus Glas. Die vierte Seite des Raumes wirkte wie ein Verräter an diesem Raum. Sie sprang um den Kamin vor und zurück, die Tür war viel zu weit im Süden. Vielleicht sollte er sich das merken: eine Wand als Verräter am Glashaus. Dass er in einem solchen saß, war ihm längst klar geworden. Fragte sich nur, wer den Stein werfen würde.

Die Decke wurde zusätzlich von vier Säulen gestützt. An der Säule links neben ihm stand ein kleines Tischchen. Darauf lagen zwei vertrocknete Granatäpfel und ein gelber Maiskolben. In einem viereckigen Glas waren Ahornblätter aufbewahrt. Es war schon März und sie waren immer noch rot. Wieso sind die nicht braun geworden, fragte er sich.

Dann ging das Licht aus. Was übrig blieb, war ein gelblicher Schein. Sie hatte Kerzen angezündet, dort vor dem Fenster. Jetzt setzte sie sich wieder auf ihren Barhocker, einen Fuß auf dem Boden, den anderen auf der unteren Querleiste abgestellt.

Sie hatte die Kerzen gut positioniert, an einem strategisch günstigen Ort: hinter sich. Sie wirkte größer. Und: Sie wurde vom Flackern der Flammen bewegt. Darum beneidete er sie.

„So geht das nicht“, sagte sie und rutschte vom Hocker. Ihr langes Hemd umfing das Polster, das Ungetüm von Stuhl wankte mit ihr nach vorn. Für einen Moment sah er einen Zentaur. Er musste lachen. Er ahnte, dass sie rot wurde. Das nahm ihm ein bisschen die Unsicherheit. Sie drehte sich hastig um und wie in einem Tanz drehte sich der Hocker mit ihr. Jetzt war sie die Gefangene ihres Hemds. Er sprang zu schnell auf, doch wie wenn sich etwas verlagert hätte, war sie es, die stolperte. Er machte weitere Schritte nach vor, zu ihr hin, aber er zählte sie nicht, dachte nur, er habe ihr seine Ahnung in den Weg gelegt, wie eine der lästigen Falten in diesem ausgedünnten, abgetretenen Teppich. Er kam zu spät, sie richtete sich schon auf, dennoch reichte er ihr die Hand, zögerlich, fast zart.

Viel zu nah, dachte er, sein Blickfeld war unstet. Es knisterte, in ihrem Rücken stieg Rauch auf. Ihm war, als würden sie beide flacher atmen, um nicht einen Brand zu riskieren.

Dass auch ihr Blick schwer war, erkannte er im Senken der Lider: Der ganze Kopf senkte sich mit. Ein grünes Band schimmerte in ihrem Haar, eine Seidenstrumpfhose. Das hatte er noch nie gesehen. Er hatte nicht gewusst, dass er eine erkennen würde, wenn er eine sähe. Und er hätte nie vermutet, dass er eine Seidenstrumpfhose an einem solchen Ort finden würde. Die Ferse baumelte über ihrem rechten Ohr. Nein, es war ihr linkes. Die Seide war dort dichter gewoben. Es war die Spitze. Zehen gehörten dort hinein. Rot lackierte, stellte er sich vor und griff mit Zeige- und Mittelfinger hin. Als sie den Kopf hob, wanderten seine Finger mit, steckten ihr die Ferse, die Spitze hinter dem Ohr fest. Sie hatte ihre Locken nie bändigen können. Er sollte eigentlich loslassen.

„Wir haben eine Abmachung“, sagte sie.

Es war kein Flüstern. Es hörte sich nicht an wie eine Bitte. Es war nur ein stiller Satz, wie aus einer vertrauten Zeit gefallen.

„Ich erzähle, Sie malen“, sagte er und ließ die Ferse, die Spitze los, das ganze Haarband, ihr Ohr, sie selbst.

„Es sind die Kerzen. Ich hätte nicht … Ich wollte nur …“, sagte sie und jetzt war es ein Flüstern. „Manchmal … tue ich mir leichter, die Umrisse zu zeichnen, wenn sie verschwimmen …“