Schattenkrieger - Luke Scull - E-Book

Schattenkrieger E-Book

Luke Scull

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Beschreibung

Der Aufstand gegen die finsteren Magierfürsten beginnt ...

Eine Welt versinkt in den Schatten. Mächtige Tyrannen haben die großen Stadtstaaten unterworfen und überziehen das Land mit Krieg. Wilde Magie fließt ungehindert und bringt abscheuliche Wesen hervor, während die Menschen in Angst und Schrecken erstarren. Doch als zwei Barbaren aus dem Norden sich mit einem jungen Rebellenkrieger zusammenschließen, flackert das Feuer des Widerstands gegen die Tyrannen neu auf. Aber der Pfad der Rebellion ist finster und blutig…

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Seitenzahl: 746

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Luke Scull

SCHATTENKRIEGER

Roman

Aus dem Englischenvon Jürgen Langowski

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen OriginalausgabeTHE GRIM COMPANY

Deutsche Erstausgabe 02/2014

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2013 by Luke Scull

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: Larry Rostant

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Datenkonvertierung E-Book: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ePub-ISBN: 978-3-641-11312-4

www.heyne-fantastisch.de

Inhalt

Gefährliches Spiel

Todesengel

Auf der Flucht

Scheideweg

Die unerbittliche Waffe

Gelächter

Rauch am Himmel

Die Reise des Helden

Eisenherz

Eine unerwartete Botschaft

Nicht mein Bruder

Harte Entscheidungen

Die endgültige Lektion

Mehr Eile als Geschwindigkeit

Hochgestellte Freunde

Die große Flucht

Unruhige Zeiten

Keine leichte Wahl

Ein Held

Der aufziehende Sturm

Ein kostbares Geschenk

Die Stadt der Türme

Der richtige Entschluss

Der Auserwählte

Das reinigende Feuer

Schlechte Aussichten

Die letzte Prüfung

Die Pflicht ruft

Blutsbande

Dunkle Vorzeichen

Nicht beachtenswert

Überlebende

Der letzte Marsch

Gute und schlechte Neuigkeiten

Sommerzeit

Die längste Nacht

Feuer und Blut

Wem die Stunde schlägt

Die Bestimmung des Helden

Der Wolf

Geister

Die Wahrheit

Zum Sterben geboren

Danksagung

Für Yesica

Gefährliches Spiel

Der Wind peitschte das Banner des ankernden Kriegsschiffs. Auf den schwarzen Untergrund war mit silbernem Faden ein stilisiertes »M« genäht. Stolz verkündete es, dass dies das Flaggschiff der siegreichen Flotte von Schattenhafen war.

Der Krieg, der die Gewässer des Trigon während der letzten sechs Monate blutrot gefärbt hatte, war vorüber. Zweihundert Meilen im Norden, jenseits des Gebrochenen Meeres, berechnete Dorminia jetzt, wie viel es gekostet hatte, seine Marine gegen die überlegene Feuerkraft der Schiffe aus der Schattenstadt in den Kampf zu schicken.

Tarn beobachtete die Besatzung der Freiheit, die gerade hinab zum Anleger stolzierte, um von der jubelnden Menge in Empfang genommen zu werden. Fröhliches Lachen und atemloses Geplapper erfüllten den Kai. Die Tränen strömten nur so, als Angehörige und Freunde die heimkehrenden Helden begrüßten.

Tarn sah noch einen Augenblick zu, dann drehte er sich um und spuckte ins dunkelblaue Wasser des Hafenbeckens. Der Klecks blieb noch einen Moment sichtbar, ehe er sich im kabbeligen Wasser auflöste. Eine Frau, die gerade vorbeikam, um die von Bord gehenden Soldaten zu begrüßen, warf ihm einen giftigen Blick zu.

Als die Feindseligkeiten mit Dorminia ausgebrochen waren, hätte er eigentlich zu den Ersten zählen sollen, die mit einem Kriegsschiff ausliefen, doch sein lahmes Bein hatte dies verhindert. Auf dem Gebrochenen Meer und auch anderswo wäre er nur nutzloser Ballast gewesen. Ein schwerer Anker, der alles hinabzog, was an ihm hing.

Unwillkürlich betrachtete er seine Hände. Verschorfte Wunden und Prellungen starrten ihn an. Schuldgefühle wallten empor wie ein ausbrechender Geysir. Er musste mit Sara sprechen und ihr erklären, wie leid es ihm tat.

Niedergeschlagen humpelte Tarn langsam nach Hause.

Um den Sieg der Stadt im Krieg um die Himmelsinseln weit im Westen des Unendlichen Meeres zu feiern, hatte Lord Marius per Erlass verfügt, dass drei Tage lang jegliche Arbeit ruhen sollte. Nun eilten die Müßiggänger durch die langen Schatten der untergehenden Sonne. So spät am Tag war sie nur noch ein roter Halbkreis, der langsam in den Wellen des Gebrochenen Meeres versank.

Als er durch das Häusergewirr hinter dem Hafen wanderte, erwachte Tarns Zorn. Marius’ Dekadenz war unbeschreiblich, und seine fleischlichen Gelüste beinahe sprichwörtlich. Wie der Tyrann von Dorminia und die geheimnisvolle Weiße Lady von Thelassa im Osten war auch Marius ein Magierfürst, ein unsterblicher Zauberer, der über gigantische Kräfte verfügte und das Zeitalter des Untergangs heraufbeschworen hatte.

Ein verdammter Gottesmörder.

Immer mehr Menschen strömten zum Hafen. Unter ihnen waren viele leicht bekleidete Dirnen, die in Wolken billigen Duftwassers einherschritten und vorhatten, den anlandenden Soldaten den Sold aus der Tasche zu ziehen.

Eine, die glaubte, den ersten Kunden erspäht zu haben, blieb vor Tarn stehen, warf sich in die Brust und strahlte ihn an. Sie hatte schiefe Zähne, aber lebhafte blaue Augen. Das graubraune Haar umrahmte ein Gesicht, das man beinahe hübsch nennen mochte.

»Bist du durstig, mein Lieber? Ich habe einen Becher, der dir ganz gewiss gut munden wird.« Einladend strich sie sich mit den Händen über die Oberschenkel und schaffte es, gleichzeitig den Rocksaum zu heben. Ihre Beine waren bleich wie der Weißkäse, den Schattenhafen bis nach Thelassa und darüber hinaus an die ganze Küste des Gebrochenen Meeres lieferte, und voller blauer Flecken. Der Anblick weckte unangenehme Erinnerungen.

Tarn räusperte sich. »Hab keine Lust. Zu Hause wartet meine Frau auf mich.« Er deutete auf den schlichten Ehering, den er am Finger trug. Das billige silberne Ding war ein wenig schartig.

Die Dirne gab einen enttäuschten Laut von sich und wollte ihm damit wohl schmeicheln, doch die Lüge war viel zu offensichtlich, als sie den Blick über sein gerötetes Gesicht, das schüttere Haar und den Schmerbauch wandern ließ.

»Vielleicht kann ich dir anlässlich der Feiertage einen guten Preis machen. Was deine Frau nicht weiß, das macht sie nicht heiß, nicht wahr?« Freilich verriet die Stimme der Dirne, dass sie bereits das Interesse an ihm verlor, als hätte sie sich für den mageren Lohn, der von ihm zu erwarten war, schon mehr als genug ins Zeug gelegt. Diese Annahme erzürnte Tarn, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie der Wahrheit entsprach.

»Weißt du, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden? Jemanden zu haben, der immer für dich da ist, ganz egal, was passiert und welchen Unfug du auch anstellst? So eine Frau verdient einen Gemahl, der ihr immer treu bleibt.«

»Wie du meinst, guter Mann. Heute Abend kommen hier sicher noch viele andere entlang, die hoffentlich in der richtigen Stimmung sind und obendrein besser gefüllte Taschen haben.« Damit schob sich die Frau an ihm vorbei.

Tarn schnaubte gereizt. Das linke Knie tat weh, wie so oft seit dem Unfall.

Er nahm die langsame Wanderung nach Hause wieder auf.

Das Licht verblasste bereits, und in der halben Stunde, die Tarn brauchte, um das Handwerkerviertel zu erreichen, das die Einwohner als »Ost-Tar« bezeichneten, zogen dunkle Wolken auf. Die Ausdünstungen dieser Gegend legten eine weitere graue Schicht über den ohnehin schon vom Dunst verhüllten Ort. Aufgrund der Feiertage waren die Schmiedeöfen kalt und verlassen, doch in diesem Teil von Schattenhafen war nicht viel von der Festtagsstimmung zu erkennen. Ost-Tar war ein schnöder, bedrückender Ort. Für Tarn war es die Heimat.

Er fluchte über das schlimme Bein, als wieder einmal ein Stich durch das Knie fuhr. Vor Schmerzen stolperte er unversehens in einen verdächtigen feuchten Fleck.

Da hörte er einen Jungen lachen. »Sieh mal, Tomaz! Der fette Kerl wäre beinahe mit dem Gesicht in deine Pisse gefallen.«

»Wahrscheinlich ist er schon wieder betrunken.«

Tarn ballte die Hände zu Fäusten. Es waren sechs Burschen aus diesem Stadtviertel. Ein hässlicher Haufen.

Einer der Jungen kam breitbeinig zu ihm marschiert und schnüffelte. »Er ist nicht betrunken.«

»Ausnahmsweise. Dann dürfte seine Frau heute Abend vor ihm sicher sein. Hast du die blauen Flecken gesehen, die er ihr verpasst hat?«

»Und ob. Ihr Gesicht war gelb und braun wie Hundekacke.« Der Sprecher, der in den sicheren Kreis seiner Kumpane zurückgekehrt war, blickte Tarn feixend an. »Aber wenn man ihr einen Sack über den Kopf stülpt, kann man sie vielleicht gerade eben noch ertragen.« Der Bursche stieß die Hüften vor und gab Grunzlaute von sich, was der Rest der Bande begeistert zur Kenntnis nahm.

Bebend vor Zorn und mit wutverzerrtem Gesicht ging Tarn auf sie los. Sofort verflog die lässige Belustigung der Burschen, sie wurden todernst und starrten ihn mit wilden Augen an. Die Hände wanderten zu den Gürteln. Tarn wusste, dass er diesen Kampf kaum gewinnen konnte, aber das war ihm einerlei. Er wollte ihnen wehtun.

In diesem Moment fielen die ersten Regentropfen, und mit ihnen kam etwas Unsichtbares und Unfassbares über die Stadt. Mächtige Energien machten sich bemerkbar, die jeder spürte, aber niemand genau beschreiben konnte.

»Oh«, machte einer aus der Bande und sah sich zu seinen Gefährten um.

»Ich muss los«, meinte Tomaz. »Ich muss Tyro reinlassen. Er mag den Regen nicht.«

Die anderen nickten, während die Mordgelüste der Sorge um den Hund ihres Freundes Platz machten. Im Handumdrehen verschwanden sie ohne ein weiteres Wort im prasselnden Regen, nachdem sie Tarn noch einige drohende Blicke zugeworfen hatten.

Tarn senkte im beißenden Regen den Kopf und tappte unsicheren Schritts weiter durch die rutschigen Straßen. Er musste heim, Sara wartete sicher schon auf ihn. Der Wind hatte aufgefrischt und blies ihm kaltes Wasser ins Gesicht, sodass er heftig blinzeln musste. Wie eine Decke legte sich die nächtliche Dunkelheit über die Stadt.

Er hasste sich selbst für das, was aus ihm geworden war, aber was konnte er schon tun? Der Schnaps hatte ihn zerbrochen. So gründlich, wie ihm das herabfallende Frachtgut das Bein zerschmettert hatte. All das Geld, das er in den letzten zehn Jahren zur Seite gelegt hatte, ganze zehn Golddukaten, hatte er für den Arzt ausgeben müssen, der immerhin sein Bein gerettet hatte, auch wenn Tarn jetzt ein humpelnder Krüppel war. Sara hatte etwas Besseres verdient.

Inzwischen war er fast zu Hause. Wenn sie nun fortgegangen war, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu entschuldigen? Sie war jünger als er, eine Frau in den besten Jahren. Kinder hatte sie ihm nicht schenken können, doch in der Stadt gab es Apotheker, die vielleicht hätten helfen können. Vor dem Krieg hatte das gesamte Trigon die Fortschritte der Wissenschaften in Schattenhafen gerühmt.

Da seine Taschen inzwischen so gut wie leer waren, bestand jedoch keine Hoffnung mehr, einen Apotheker in Anspruch nehmen zu können.

Endlich näherte er sich der Tür seines bescheidenen Heims. Drinnen brannte kein Licht. Alles war still, wenn man von dem stetigen Prasseln des Regens auf dem Schieferdach absah. Die Tropfen rannen an der roten Backsteinwand herab und spritzten unten auf das Pflaster. Einen Augenblick lang litt Tarn große Angst.

Dann ging auf einmal ein Licht an, und die Tür öffnete sich. Sara stand vor ihm. Die Kerze, die sie in der Hand hielt, beleuchtete die abklingenden Prellungen im Gesicht. Wortlos drehte sie sich um und ging in die Küche. Er folgte ihr.

Auf dem kleinen Esstisch standen zwei Schalen. Er setzte sich, während Sara die Kerze abstellte und an den eisernen Herd trat. Sie kehrte mit dem verbeulten alten Suppentopf zurück und schöpfte eine großzügig bemessene Portion in seine und eine kleinere in ihre eigene Schale. Dann legte sie zwei Holzlöffel auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.

Eine halbe Stunde verging. Sara würdigte ihn keines Blickes und rührte ihr Essen kaum an. Sein dumpfer Kopfschmerz erwachte wieder. Er lehnte sich zurück und suchte nach den richtigen Worten, die er ihr nun sagen musste.

»Sara … ich wollte nicht die Hand gegen dich erheben. Das weißt du doch. Ich bin ein verdammter Narr. Ein nutzloser, verkrüppelter Narr. Es tut mir …«

Die Schale flog dicht an seinem Kopf vorbei und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Saras Miene war eine kalte Maske, doch ihre Hände zitterten.

»Du Dreckskerl!« Sie stand auf. »Wie konntest du mir das antun?«

»Sara, ich sagte doch schon, ich habe die Beherrschung verloren. Du hast etwas Besseres verdient.«

»Du hast verdammt recht damit, dass ich etwas Besseres verdient habe!« Wütend sah sie sich um, schnappte sich die Pfanne vom Herd und kam drohend auf ihn zu. Tarn stand auf und fluchte, weil ein stechender Schmerz in sein Knie fuhr. Sie holte aus und drosch ihm die Pfanne von der Seite gegen den Kopf.

»Aua!«, brüllte er. Vor lauter Lichtblitzen konnte er nichts mehr sehen. Das Blut lief ihm feucht die Wange hinunter und tropfte vom Kinn herab. Es tat höllisch weh. Wieder holte Sara mit der Pfanne aus.

Er packte sie am Arm und umklammerte ihn; sie musste die Pfanne loslassen. Auf einmal wallte all der Zorn empor, diese ziellose Wut, die schon den ganzen Tag in ihm gebrodelt hatte. Er drückte fester zu, bis sie keuchte, holte mit dem freien Arm aus und ballte die verschorfte Hand zur Faust. Als er ihrem Blick begegnete, zitterte die Faust.

Sie hörten es im gleichen Augenblick. Ein Krachen wie von tausend Wogen, die gleichzeitig gegen eine Klippe schlugen. Das Prasseln des Regens auf dem Dach schwoll zu einem grimmigen Trommeln an. Sogar die Decke über ihnen bebte nun, Löcher taten sich im Dach auf, und kleine Bäche ergossen sich auf den Esstisch, den Boden, die Möbel. Ringsum auf der Straße stießen die entsetzten Menschen Schreie aus, die in dem Tosen und Platschen jedoch kaum zu hören waren.

Tarn ließ den Arm seiner Frau los, zusammen stürzten sie nach draußen.

Das Wasser der Dunklen Bucht toste schrecklich laut, schäumte dreißig Schritte hoch über der Stadt und überragte von einem bis zum anderen Horizont die Häuser. Eine unermessliche Wassermasse türmte sich am Himmel auf, oben gehalten von einer unvorstellbaren Kraft, und entließ einzelne Tropfen auf die Stadt. Manche Männer und Frauen kauerten starr vor Angst auf dem Pflaster nieder, andere verrammelten sich in ihren Häusern. Ein paar Ältere schlossen die Augen und beteten zu den Göttern, obschon sie wussten, dass sie kein Gehör finden würden. Die Götter waren seit fünf Jahrhunderten tot, ermordet im Götterkrieg. Die Magierfürsten hatten ihre Leichen aus dem Himmel hinabgeworfen und herrschten nun unangefochten über den Kontinent.

Tarn starrte das unglaubliche Schauspiel an. Er empfand keine Angst und keine Sorge. Innerlich war er wie betäubt und konnte das Ausmaß dessen, was sich nun abspielte, nicht erfassen. In der Nähe bellte ein Hund wie toll und rannte verängstigt hin und her. Ein junger Mann rief einen Namen – Tyro? – und hielt das Tier mit beiden Armen fest, um es zu beruhigen.

Auf einmal spürte Tarn, wie sich eine Hand in die seine schob, weiche Finger strichen über seine vernarbten Knöchel. Sanft zog er Sara an sich.

»Es tut mir leid«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.

Sara schmiegte den Kopf an seine Brust. Er streichelte ihr nasses Haar und blinzelte in dem tobenden Unwetter. Ohne Vorwarnung hörten die Bewegungen im Wasser auf, und die Welle hing reglos über ihnen. Er konnte sogar ein Schiff erkennen; der Bug und das halbe Deck ragten fast direkt über ihm aus dem Wasser hervor. Es war die Freiheit.

Dann brach die Wand aus Wasser über ihn herein.

Todesengel

Früher an diesem Tag …

Das Wasser packte ihn wie mit einer Riesenfaust und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Verzweifelt strampelte er, schüttelte den Kopf und zwang sich, noch einen Moment länger durchzuhalten. Sein ganzer Oberkörper brannte.

Er konnte es schaffen. Drei Minuten. Das reichte schon. Noch ein paar Sekunden, und …

Es nützte nichts. Davarus Cole riss den Kopf aus dem Wasser und atmete laut schnaufend aus. Wütend schlug er mit den Fäusten auf die Ränder des eisernen Waschzubers und verfluchte den Magierfürsten, dessen Tod er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Der Tyrann, der die Stadt mit eiserner Faust regierte, musste sterben.

Salazar. Du kannst der Abrechnung nicht entgehen.

Er stemmte die Hände auf die Ränder der Wanne und drückte sich hoch. Blinzelnd, um das Wasser aus den Augen zu vertreiben, stand er da. Sein Blick wanderte zu dem kleinen Spiegel in der Ecke. So ein Ding war eine Seltenheit in Dorminia. Gewöhnlich konnten sich nur die Adligen einen solchen Luxus leisten. Garrett, sein Lehrer und Ziehvater, hatte ihn für teures Geld erstanden. Soweit es Cole anging, war das ein Aufwand, den er selbstverständlich verdiente.

Schließlich, so dachte er sich, musste ein Held auch etwas hermachen.

Im Spiegel betrachtete er seinen schlanken, drahtigen Körper, das schwarze Haar, das bis in den Nacken reichte, und den kleinen Ziegenbart, der einen scharfen Kontrast zur hellen, schimmernden Haut bildete. Das kalte Wasser im Waschzuber hatte ihm sein bisschen Farbe geraubt, und nun wirkte er beinahe wie ein Gespenst. Ein Todesengel.

Cole kniff die grauen Augen zusammen und bewunderte sich ausgiebig. Dann stellte er sich Salazars runzliges altes Gesicht vor, wenn Magierfluch sein Ziel traf – das leise seufzende Erkennen, während dem Tyrannen das Blut aus dem Mund strömte und sein Körper in sich zusammensank. Erinnerst du dich an meinen Vater, du alter Hundsfott? Weißt du noch, was du ihm angetan hast? Ich bin Davarus Cole und nehme mir nun, was mein ist.

Er runzelte die Stirn. Was war denn sein? Die Rache natürlich, aber das war doch gewiss nicht alles. Es kam keinesfalls infrage, seinen Triumph mit Zweifeln an seiner erhabenen Bestimmung zu besudeln. Andererseits würde ihm ein gerüttelt Maß an Selbstzweifeln vielleicht sogar sehr gut zu Gesicht stehen. Ein Mann voller Geheimnisse. Ja, das gefiel ihm.

Impulsiv spannte Cole sich an, sprang rückwärts aus der Wanne, überschlug sich in der Luft und landete mehrere Schritte entfernt in der Hocke. Langsam richtete er sich auf und warf einen letzten bewundernden Blick zum Spiegel. Wieder dachte er an den unausweichlichen Augenblick seines Ruhmes. Nicht jetzt. Nicht heute. Aber eines gar nicht so fernen Tages ganz gewiss.

Gedankenverloren wie er war, fingen seine sonst so scharfen Ohren nicht die sich nähernden Schritte auf, bis die Besucherin fast die Tür seiner Kammer erreicht hatte. Erschrocken erinnerte Cole sich daran, dass er nicht abgeschlossen hatte. Er war starr vor Schreck. Dann flog die Tür auf, und Sasha stürmte herein.

Sie starrten einander an. Sasha war groß und schlank und zwei Jahre älter als er. Sie hatte Augen, die jeden Mann fesseln konnten, und dunkelbraunes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Mit zunehmender Besorgnis verfolgte er ihren Blick, der über seinen nackten Körper langsam nach unten wanderte.

Sasha lächelte fast unmerklich. »Nun, das ist ja nicht besonders beeindruckend. Ich dachte, du besitzt eine Waffe, die Magie abwehren und Magierfürsten wie ein Wildschwein pfählen kann. Kaum zu glauben, dass ein Instrument wie dieses auch nur ein Bauernmädchen zur Strecke zu bringen vermag.«

Cole betrachtete seine arg geschrumpfte Männlichkeit, bedeckte sie rasch mit der linken Hand und deutete mit der Rechten auf den Waschzuber. »Das Wasser«, stotterte er. »Es ist unglaublich kalt.«

Sasha betrachtete ihn noch einen Moment. Die geweiteten Augen blitzten belustigt. »Beim nächsten Mal schließt du besser ab.« Das Lächeln verflog. »Garrett braucht uns in einer Stunde auf dem Haken. Pass auf, dass du pünktlich kommst. Ich glaube, es ist wichtig. Trödele nicht herum, Cole.«

»Ja«, antwortete er schwach, als sie schon zur Tür unterwegs war. Dann hielt sie noch einmal inne.

Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Keine Sorge. Was mich angeht, bist du immer noch ein ganz brauchbarer Gockel.« Lachend huschte sie hinaus.

Den meisten Einwohnern des Trigon war Dorminia als die Graue Stadt bekannt. Der Name war in mehr als einer Hinsicht sehr zutreffend. Fast alle Gebäude Dorminias waren aus dem Granit gebaut, der in den Höllenfeuerbergen gewonnen wurde. Dieser Höhenzug erhob sich direkt hinter der Nordmauer der Stadt. Dort hatten einst wilde Bergvölker gehaust, doch dank der unberechenbaren magischen Abscheulichkeiten und anderer Schrecken, die nach dem Götterkrieg das Land heimgesucht hatten, waren die Stämme nach Norden ins Ödland geflohen. Einige uralte Aufzeichnungen erwähnten eine Katastrophe in ferner Vergangenheit, die den Höllenfeuerbergen den Namen gegeben habe, aber die Einzelheiten blieben im Dunkeln. In den furchtbaren Wirren nach dem Göttermord war ein großer Teil der geschriebenen Geschichte untergegangen.

Ein starker Wind wehte, als Davarus Cole seine kleine Behausung verließ und zur Tyrannenstraße lief. Die breite Hauptstraße verlief leicht bergab zum Hafen im Süden. Im Norden überquerte sie den großen runden Platz, den man den Haken nannte. Dahinter lag das Edle Viertel, wo, verhätschelt und bevorzugt, die kleine Schar der Amtsträger lebte, die im Namen des Magierfürsten Salazar Dorminia regierten.

Cole konnte gerade eben die Spitze des Obelisken erkennen, die sich hinter den Häusern zum Himmel reckte. Der aus magisch verstärktem Granit im Zentrum des Edlen Viertels errichtete Monolith war ein Symbol für Salazars Tyrannei.

Der despotische Magierfürst hatte Dorminia vor fast fünfhundert Jahren gegründet, kurz nachdem der schreckliche Götterkrieg das ganze Gebiet vollständig verwüstet hatte. Der Tod Malantis’ und sein Sturz aus dem Himmel ins Blaue Meer hatte im ganzen Königreich Andarr Überschwemmungen verursacht und schließlich die unwirtliche Ertrunkene Küste hinterlassen, die sich jetzt über Hunderte Meilen südlich und westlich des Trigon erstreckte. Obwohl sie die Götter ermordet hatten, waren Salazar und die anderen Magierfürsten der einzige Schutz, den die Überlebenden im zerstörten Königreich noch besaßen, während die chaotische Magie das Land verwüstete. Die Menschen flohen nach Norden und nach Osten, nach Thelassa, das die Überschwemmungen überstanden hatte, und halfen, die Städte Schattenhafen und Dorminia aufzubauen. Das Leben unter einem Magier, der die Götter ermordet hatte, war immer noch besser als der sichere Tod.

In den Jahrhunderten nach dem Götterkrieg war das Trigon zu einer der größten Bevölkerungsansammlungen nördlich des Sonnenlandes herangewachsen. Gewiss, die Konföderation war erheblich größer als das Trigon, aber zu Pferd brauchte man einen ganzen Monat, um dieses Bündnis von Nationen zu erreichen, die nach dem Zerfall des Gharzianischen Reichs die Unabhängigkeit erlangt hatten. Dieses Gebiet lag weit jenseits des von Abscheulichkeiten heimgesuchten Freilands.

Weiter als bis zu den entlegenen Siedlungen, die Dorminia mit Nahrungsmitteln und anderen Dingen versorgten, war Cole noch nie gekommen. Einmal, vor drei Jahren, hatte er Garrett auf einer geschäftlichen Reise nach Malbrec begleitet und sich dabei schrecklich gelangweilt. In den Provinzen lebten Bauern, Bergleute und andere Gemeine, aber keine Männer wie er. Männer, denen es vorherbestimmt war, Großes zu vollbringen.

Das gurgelnde Wasser des Rotbauchflusses begleitete Cole, als er über die Tyrannenstraße schritt. Der Rotbauch kam von den Höllenfeuerbergen herunter und verlief rund hundert Schritte links von ihm fast parallel zur Straße bis zum Hafen. Zu dieser Jahreszeit kämpften nur wenige Schiffe gegen die Strömung des Flusses an. Noch lag die schneidende Winterkälte in der Frühlingsluft, und das Eis würde sich noch eine Weile halten. Außerdem war da der Krieg mit Schattenhafen. Was im letzten Herbst als Streit um die im Unendlichen Meer neu entdeckten Himmelsinseln begonnen hatte, die Hunderte Meilen entfernt im Osten lagen, war mit einer demütigenden Niederlage für Dorminia zu Ende gegangen.

Soweit es Cole betraf, war jeder Schlag gegen Salazar zugleich ein Sieg für das Volk von Dorminia, selbst wenn die Menschen dies nicht erkannten. Schließlich bewies das Scheitern der Marine, dass der Tyrann von Dorminia keineswegs unfehlbar war. Rückschläge wie diese und die Bemühungen von Männern wie Davarus Cole würden Salazars Macht im Laufe der Zeit so weit untergraben, dass sich die braven Einwohner Dorminias erheben und den unsterblichen Herrscher bezwingen konnten. Jedenfalls, sofern Cole ihn nicht schon vorher tötete.

Er musste lächeln, als er daran dachte. Eines Tages würde ihn der ganze Norden als Held verehren, wie es ihm zustand.

Als ein lautes Kreischen ertönte, blickte Cole erschrocken nach oben. Ein Geistfalke zog am Himmel seine weiten Kreise. Der silberne Kopf vibrierte leicht, die Saphiraugen erkundeten die unter ihm liegende Stadt. Die Männer und Frauen, die das Pech hatten, sich in unmittelbarer Umgebung zu befinden, suchten eilig das Weite.

Auch Cole zog sich hastig zurück. Dann fiel ihm das Mittel ein, das er kurz zuvor in seinen Gemächern eingenommen hatte, und er atmete auf. Das leichte Schlafmittel betäubte die Regionen des Gehirns, in denen die fliegenden magischen Mutanten verräterische Gedanken entdecken konnten. Am nächsten Morgen würde er Kopfschmerzen bekommen, aber das war ein geringer Preis, wenn es galt, der Schwarzen Lotterie zu entgehen. Die Rote Wache pickte willkürlich Menschen heraus, die aufrührerische Gedanken gehegt hatten; sie wurden verprügelt, eingesperrt und manchmal sogar ermordet.

Vor ihm entstand eine Unruhe, die seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße lenkte. Zwei Wächter näherten sich und scheuchten einen gebrechlichen alten Mann vor sich her. Einer der rot uniformierten Soldaten versetzte ihm von hinten einen gemeinen Stoß. Der Alte stolperte und fiel aufs Gesicht. Als der Mann wieder hochkam, bemerkte Cole, dass er einen hässlichen Kratzer davongetragen hatte, der von der Stirn bis zur Wange reichte. Der alte Mann wandte sich an die Quälgeister und wollte protestieren, doch ein Fausthieb des zweiten Wächters warf ihn zurück auf den Boden.

Cole blieb mucksmäuschenstill. Derartige Vorfälle waren nichts Ungewöhnliches. Angeblich dienten die Roten Wächter Dorminia und den beherrschten Gebieten als stehendes Heer und Stadtwache. In Wirklichkeit handelte es sich eher um eine Bande von Gaunern und Schlägern, die auf Geheiß der Magistrate und des brutalen Herrschers im Obelisken das Volk in Angst und Schrecken versetzten.

Es wäre klug gewesen, sich davonzuschleichen und keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Hatte Garrett nicht zur Vorsicht gemahnt? »Die Gemeinschaft ist wichtiger als der Einzelne«, hatte sein Ziehvater immer gepredigt. »Wir können nicht jedes Unrecht wiedergutmachen. Wenn wir voreilig handeln, geraten wir alle in Gefahr. Wähle deine Schlachten mit Bedacht und vergiss nicht, dass die Splitter im Schatten am tiefsten stechen.«

Cole runzelte die Stirn. Damit konnte Garrett doch wohl nicht auch ihn, Cole, gemeint haben. Immerhin gingen seine Fähigkeiten und sein kluger Verstand weit über die Fähigkeiten seiner Altersgenossen hinaus, und außerdem hatte Garrett doch immer betont, er werde wie sein leiblicher Vater eines Tages ein großer Held sein. Ein Mann wie er blickte dem Unrecht entschlossen ins Auge, eine verzauberte Klinge in der Hand und beseelt von einem selbstgerechten Zorn, dem ein erbärmlicher kleiner Schuft gewiss nicht widerstehen konnte.

Nachdem er sich entschlossen hatte, schlenderte Cole so selbstbewusst, wie es ihm nur möglich war, zu den Wächtern. Ihm entging nicht, dass die kleine Zuschauerschar in Windeseile geschrumpft war. Nun war er ganz und gar auf sich allein gestellt. Auf einmal wurde sein Hals sehr trocken.

Der Soldat, der vor dem Alten kniete, hob den Kopf, als Cole sich näherte. Er warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu, nahm das Schwert vom Hals des Opfers und richtete sich auf. »Und was willst du?«, fragte er kalt.

Der zweite Wächter trat näher an Cole heran und legte eine Hand auf die Schwertscheide. Boshaft sagte er: »Du solltest einen guten Grund haben, die offizielle Tätigkeit der Roten Wache zu stören, mein Junge. Sonst werfe ich deinen Arsch ins Loch.«

»Das reicht!«, befahl Cole mit einem Tonfall, von dem er inbrünstig hoffte, dass er von großer Autorität zeugte. Er griff unter den Mantel und legte eine Hand auf den Griff von Magierfluch. Aus irgendeinem Grund zitterte die Hand. Das hätte nicht passieren dürfen.

Doch er machte unverfroren weiter. »Da ihr zwei Hundesöhne zu dumm seid, um selbst darauf zu kommen, will ich euch sagen, dass ihr mit einem Augmentor redet. Dieser Mann wird im Obelisken gebraucht. Übergebt ihn mir.« Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Erfolglos versuchte er, sie mit bloßer Gedankenkraft zu vertreiben.

»Ach, wirklich?« Der Soldat auf der linken Seite schien wenig beeindruckt. Er war in mittleren Jahren und hatte ein brutales Gesicht mit kleinen, zusammengekniffenen Augen und unzähligen Pockennarben. »Dann wird es dir doch nichts ausmachen, wenn wir dich bitten, deinen Anspruch irgendwie zu belegen.« Er sah Cole erwartungsvoll an.

Cole schluckte schwer und zog Magierfluch mit einer fließenden Bewegung. Dabei achtete er darauf, dass der Dolch die zitternde Hand so gut wie möglich verdeckte. Er nickte in die Richtung der Klinge. »Die Waffe ist verzaubert. Seht ihr das Glühen? Nur ein Augmentor darf eine solche Waffe führen. Ich nehme doch an, das befriedigt eure Neugierde.«

Bitte nickt einfach und lasst mich in Frieden, betete er stumm. Laut sagte er: »Und jetzt geht mir aus den Augen, ehe ich euch den Dolch so weit in den Arsch ramme, dass euch die Spitze im Hals kitzelt.«

Die Wächter wechselten einen Blick und verständigten sich wortlos. Der Pockennarbige zuckte mit den Achseln und spuckte auf den zerschundenen Mann aus, der noch am Boden lag.

»Soll mir recht sein. Er gehört dir. Wir wünschen noch einen guten Tag.« Die beiden Wächter entfernten sich langsam in südlicher Richtung auf der Straße.

Er sah den flatternden roten Mänteln nach. Die Begeisterung übermannte ihn, und er musste über seine Improvisationskunst und seine Gerissenheit lächeln. Er war nicht nur gebildeter als die übrigen Splitter – so nannten sich die Rebellen –, sondern konnte auch fluchen wie die gröbsten Flegel unter ihnen, wenn es geboten schien. Er war überall zu Hause, konnte sich mühelos unter die Edelleute mischen und kam auch mit den schlichtesten Zeitgenossen leicht zurecht.

Nun betrachtete er den stöhnenden alten Kerl, der vor ihm lag. Das linke Auge war zugeschwollen, auf der Wange und am Hals klebte geronnenes Blut. »Kannst du aufstehen?«, fragte Cole.

»Äh …«, machte der Mann. Er versuchte sich zu erheben, doch es gelang ihm nicht. Cole verlor die Geduld.

»Hast du gesehen, was gerade geschehen ist? Ich habe dir das Leben gerettet. Sie hätten dich sonst getötet.« Er sprach leise weiter und legte dem Alten beruhigend eine Hand auf die Schulter, während er in die Hocke ging. »Auch wenn es dir nicht so erscheinen mag, es war eine Fügung des Schicksals, dass du hier bist. Du sollst mein Zeuge sein. Eines Tages wirst du zurückblicken und dich fragen, ob dies nicht die Geburtsstunde einer Legende … was? Was ist denn?«

Der Mann hatte das unverletzte Auge weit aufgerissen, als hätte er hinter Cole etwas Schreckliches bemerkt. Der junge Splitter drehte sich um.

Der Pockennarbige stand da, ein böses Lächeln auf den Lippen. Der zweite Wächter hatte das Schwert erhoben. Im letzten Moment bemerkte Cole den Knauf, der auf seinen Kopf zielte. Er wich rasch aus, sodass die Wucht des Schlages vor allem die Nase traf.

Knack. Der Schmerz explodierte. Ein unglaublicher Schmerz. Er wollte schreien, aber die Stimme brach, und er bekam nichts als das Quieken eines Ferkels heraus. Weißes Licht blendete ihn. Als er wieder sehen konnte, lag er auf dem alten Narren. Wie konnte das passieren?

Im Mund sammelte sich eine zähe Flüssigkeit, die nach Salz schmeckte. Blut. Er schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, sich zu orientieren.

Der Pockennarbige baute sich vor ihm auf. Die Sonne blitzte auf dem erhobenen Langschwert und spiegelte sich auf dem Kettenhemd. Cole hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Auf dem weißen Wappenrock sah er den Obelisken vor einem roten Sonnenuntergang. Außerdem bemerkte er Blutflecken. Ist das etwa mein Blut?

Der Soldat zog das Langschwert so schnell herunter, dass die Klinge pfeifend die Luft teilte. Cole konnte sich gerade noch abrollen. Die Klinge traf die leere Luft, wo er gerade noch gelegen hatte, und spaltete den Kopf des alten Mannes. Knochensplitter und Gehirnmasse flogen auf das Pflaster.

Zähneknirschend kämpfte Cole gegen die Kopfschmerzen an und hob Magierfluch, um nach dem Bein des Wächters zu stechen. Der glühende Dolch riss nur eine oberflächliche Wunde, und sofort hob der Soldat fluchend das mit Blut bedeckte Langschwert zum nächsten Hieb. Auch sein Gefährte näherte sich mit erhobener Klinge.

Cole krabbelte panisch zurück, als der Pockennarbige zu einem wilden beidhändigen Schlag ausholte. Das Schwert sauste herab, aber auf einmal war Magierfluch zur Stelle und wehrte die größere Waffe ab, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. Der Pockennarbige versetzte Cole einen Tritt vor die Brust. Ein dumpfer Schmerz blühte auf, und Cole flog auf den Rücken. Der Wächter sprang knurrend vor, um den Kampf zu seinen Gunsten zu beenden. Er rutschte jedoch auf einer Blutlache aus, und das verletzte Bein knickte ein. Schwer schlug er auf den Boden und stieß eine Flut wüster Flüche aus.

Steh auf! Steh auf! Cole rappelte sich auf. Aus der Nase und vom Kinn tropfte immer noch das Blut, aber wenigstens konnte er Arme und Beine ungehindert einsetzen. Der zweite Wächter näherte sich ihm rasch mit erhobenem Schwert.

Cole atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Darauf lief es nun also hinaus. Im Nahkampf konnte er den Soldaten nicht bezwingen, denn er war verletzt, und der Gegner besaß eine überlegene Rüstung. Seine eigene lederne Kleidung bot ihm kaum Schutz. Er hob die linke Hand und richtete Magierfluch aus, wie er es schon so oft getan hatte. Er konnte den Mann nicht verfehlen, das Schicksal würde das nicht zulassen. In Augenblicken wie diesem vollbrachten die Helden ihre Taten, über welche die Geschichtsschreiber dann voll Ehrfurcht berichteten.

Er warf den Dolch und sah zu, wie Magierfluch sich in der Luft um sich selbst drehte und zielstrebig zum Kopf des Soldaten flog. Es war ein wundervoller Wurf, genau wie er es sich gedacht hatte. Übung machte den Meister, vor allem, wenn ein begabter Werfer mit einem Instinkt wie dem seinen …

Das stumpfe Heft des Dolchs traf das rechte Auge des Wächters. Der Mann brüllte wütend und griff nach seinem Gesicht, als Magierfluch klappernd auf den Boden fiel. Sein Kamerad stand bereits wieder auf und humpelte, das Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrt, auf Cole zu. »Bring den Mistkerl um!«, schrie er. Der Speichel spritzte ihm bis aufs Kinn.

Cole wimmerte und rannte um sein Leben.

Nachdem er einige Minuten gelaufen war, fühlte sich sein Oberkörper an, als stünde er in Flammen. Jeder Atemzug bereitete ihm Höllenqualen.

Er hustete und spuckte Blut. In den gewundenen Gassen, die vom Haken aus nach Südosten führten, hörte er dicht hinter sich die beiden Wächter, die ihn verfolgten. Er drängte sich an den armen und verzweifelten Bewohnern des Elendsviertels vorbei und schleuderte sogar eine alte Frau auf einen Abfallhaufen. Gleich darauf zuckte er zusammen, weil ihre Schreie die Soldaten auf die richtige Fährte lenkten.

Das Atmen fiel ihm immer schwerer, mit seinen Lungen stimmte etwas nicht. Er wurde langsamer, bis er nur noch ging, schließlich blieb er ganz und gar stehen. Vor einem Lagerhaus, das nach altem Fisch stank, sank er auf die Knie und hörte, wie sich ihm der Tod näherte. Eine einsame Träne rollte ihm über die Wange.

So nimmt es nun ein trauriges Ende mit mir, dachte er verbittert.

Auf der Flucht

Er presste mit aller Kraft. Es war, als wollte er einen Kieselstein durch ein Nadelöhr zwängen. Oder einen Arm durch den Weidenkäfig des Schamanen.

Die Hohen Klippen waren unendlich weit entfernt, aber es gab Erinnerungen, die man einfach nicht abschütteln konnte. Ganz egal, wie weit man weglief.

Brodar Kayne biss die Zähne zusammen und grunzte vor Anstrengung. Die großen vernarbten Hände zitterten vor seiner Männlichkeit. Die Schmerzen waren unerträglich. Bei allen verfluchten Geistern, die Schmerzen waren wahrhaft entsetzlich. Er hatte Pfeile und Klingen in den Bauch bekommen, und die Wunden hatten lange nicht so wehgetan wie dies. Wenigstens glaubte er es. Das war das Problem, wenn man älter wurde. Manchmal spielte einem die Erinnerung einen Streich.

Konzentration. Das war der Schlüssel. Er musste den nervtötenden Straßenlärm ausblenden und sich auf das konzentrieren, was er gerade tat. In den Klippen, wo der Wind ewig flüsterte und nur hin und wieder die Wölfe oder andere Tiere heulten, war es leichter. Dort respektierte man die Privatsphäre der anderen Menschen und ließ ihnen genug Raum, um in Frieden zu pissen. Hier in der großen Stadt schien es ihm, als wollte ihn jeder bei seinem Geschäft stören. Kaufleute hielten ihm die Waren unter die Nase, als wäre er ein Freudenmädchen beim Kriegsrat der Häuptlinge. Es war der reine Wahnsinn.

Eine Weile vorher hatte er einen Händler bewusstlos geschlagen. Der Mann hatte ihn gepackt und wollte ihm offenbar ein Stück Tuch in die Hand drücken. Brodar Kayne hatte sich entschuldigt, sobald ihm bewusst geworden war, dass der Kerl ihn nicht angegriffen hatte.

Allmählich ließ der Druck in der Blase nach. Hindernisse in der Vorrichtung, mit deren Hilfe sich der Körper selbst reinigt, so hatte es ihm der Arzt erklärt und einen kleinen Einschnitt vornehmen wollen. Der Heiler war gerade noch entkommen, ohne die Metallinstrumente an allen möglichen unangenehmen Stellen seines eigenen Körpers wiederzufinden. Kayne hatte nicht so lange überlebt, um jetzt einem Mann zu erlauben, mit scharfen Objekten in seinem Körper herumzustochern.

Zehn, neun, acht, sieben … Im Geiste zählte er rückwärts, als folgte er einem stummen Ritual. Wenn er im Laufe seiner vielen Lebensjahre eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass man sich beharrlich bemühen musste, damit der menschliche Körper den Verwüstungen der Zeit widerstand. Das hatte weder mit Aberglauben noch damit zu tun, dass man eben älter wurde.

Fünf … vier … drei … Befreit seufzte er, als die Schmerzen nachließen und die Blase Anstalten machte, sich zu entleeren. Zwei … eins … »Verdammt.« Gerade als er sich endlich erleichtern wollte, hörte er einen Lärm, der nur von einer Verfolgungsjagd herrühren konnte. Ein paar Tropfen verfärbter Pisse tropften am Bein hinab, ehe sich sein Schwanz aufblähte wie der Leib eines Toten.

Kayne schob das verräterische Glied in die Hose zurück und schritt aus der Gasse heraus, um zu erkunden, was es mit dem Lärm auf sich hatte.

Dafür würde jemand büßen müssen.

Ein Stück die Straße hinauf brach ein Bursche vor einem alten Lagerhaus zusammen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und er atmete unregelmäßig, als hätte er eine innere Verletzung erlitten, die jeden Atemzug zur Qual machte. Aus Türen spähten Anwohner heraus und verzogen sich sofort, sobald Brodar Kayne sich der elenden Gestalt näherte. Er packte das schweißnasse Haar und zog den Kopf des Jungen hoch.

Ein Batzen blutiger Spucke verfehlte ihn um Haaresbreite. Eine Hand tastete nach oben und suchte verzweifelt nach einer Waffe, vollbrachte aber nichts weiter, als ihm einen schmerzhaften Stoß in den Schritt zu versetzen.

Blitzschnell packte er zu und drehte dem Burschen den Arm herum. Der junge Mann japste vor Schmerzen. Mit der zweiten Hand versetzte er dem aufsässigen Kerl einen kräftigen Schlag vor den Kopf, sodass der Schädel gleich wieder von der Wand zurückprallte. Dann griff er noch einmal zu und zog den Dummkopf auf die Beine.

»Du hast dir einen schlechten Tag ausgesucht, um mit mir Raufhändel anzufangen«, erklärte er dem Mann mit dem blutverschmierten Gesicht. Der Kerl mochte um die zwanzig Winter zählen und hatte helle Haut wie die meisten Stadtbewohner. Die stahlgrauen Augen blickten ins Leere und waren etwas wässrig, als hätte er geweint. Kayne schüttelte angewidert den Kopf.

»Ein kleiner Klaps auf den Kopf, und der Kerl fängt an zu heulen. In deinem Alter hatte ich schon mehr Männer getötet, als ich zählen konnte. Außerdem hatte ich Wunden davongetragen, an denen manch anderer verendet wäre, und bin doch immer wieder auf die Beine gekommen. Ich würde sagen, du hast dir eine Rippe gebrochen, und die Nase wird wahrscheinlich so krumm bleiben, wie sie jetzt ist. Aber immerhin, du lebst noch. Vorausgesetzt natürlich, ich lasse dich am Leben.«

Als er hinter sich das Klirren eines Kettenhemds hörte, drehte er sich um und ließ den Tiefländer los, der prompt wieder zu Boden sank.

»Aus dem Weg! Dies ist eine Angelegenheit der Roten Wache.« Der Sprecher war ein hässlicher kleiner Mann mit einem von den Pocken verwüsteten Gesicht. Beim Gehen zog er das rechte Bein nach. Hinter ihm glitzerte eine Blutspur.

Der zweite Bewaffnete hatte breitere Schultern und war jünger, aber immer noch einen halben Kopf kleiner als Kayne. Dieser Wächter hatte eine frische Prellung unter dem rechten Auge. Der Soldat mit der roten Rüstung starrte ihn finster an.

»Du bist ein Hochländer. Was treibst du so weit im Süden? Ein Mann in deinem Alter sollte Ziegen hüten oder am Lagerfeuer hocken und sich Geschichten ausdenken, damit dir ein Mädchen den Schwanz lutscht, oder was ihr Bergbewohner sonst tut. Du bist hier nicht willkommen. Lord Salazar hält nicht viel von dem Magierfürsten der Hohen Klippen.«

Kayne zuckte mit den Achseln. »Das kann ich ihm nicht verdenken«, erwiderte er. »Der Schamane und ich, wir sind uns seit einer Weile nicht mehr grün. Daher ist der frostige Norden keine sichere Gegend für einen alten Barbaren wie mich.« Der junge Bursche, der vor ihm lag, stöhnte schon wieder. »Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen und dachte mir, ich sehe mir mal die Stadt an. Sag mir, was hat der Bursche angestellt?«

»Was geht dich das an?«, entgegnete der Pockennarbige. »Ihm wird vorgeworfen, die Durchsetzung von Recht und Ordnung behindert zu haben. Der Dreckskerl hat mir den Dolch ins Bein gestochen. Es hört und hört nicht zu bluten auf.« Er deutete auf die Waffe am Gürtel und dann auf sein Bein. Seine Stimme klang beinahe panisch.

Kayne betrachtete die Waffe und bemerkte das Glühen. »Magie, wenn ich mich nicht irre. Ich bin kein Fachmann, aber ich denke, die Wunde wird sich so bald nicht von selbst schließen. Such dir lieber einen guten Arzt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, setzte eine undurchdringliche Miene auf und starrte die beiden Soldaten an.

Der jüngere Krieger griff nach dem Schwert. »Aber ohne diesen Dreckskerl gehen wir hier nicht weg. Komm schon, mach Platz.«

Kayne drehte den Kopf hin und her. Es knackte leicht. Schließlich seufzte er zufrieden. »Nein«, antwortete er.

»Dann wirst du mit ihm sterben. Merrik, du nimmst die linke Seite.«

Die Wächter rückten langsam gegen ihn vor, die roten Mäntel flatterten im Wind.

Kommt nur her, dachte er und langte hinter sich nach dem Heft des Großschwerts, das er auf dem Rücken trug. Sobald die vertraute Waffe in seiner Hand lag, entfernte er sich einen Schritt von dem liegenden Burschen und schenkte dem Kerl, der sich vor Schmerzen wand, einen gereizten Blick. Seine Gegner versuchten unterdessen, ihn in die Zange zu nehmen. Das machte die Sache nicht leichter.

Der Soldat auf der rechten Seite täuschte einen Angriff gegen die Beine vor, riss jedoch auf einmal das Schwert herum, um einen bösen Rückhandschlag loszulassen. Kayne sprang zurück und zog die Brust ein. Die Schwertspitze pfiff ein paar Fingerbreit an ihm vorbei.

Aus dem linken Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, fuhr sofort herum und ging in die Hocke. Der Stahl sauste harmlos über seinen Kopf hinweg, und sofort kam er wieder hoch und drosch dem Angreifer den Ellenbogen auf die Wange. Der Mann ging sofort zu Boden. Während er noch die Drehung vollendete, zog er das Großschwert aus der Scheide und hob es gerade rechtzeitig, um den nächsten Angriff des zweiten Soldaten zu parieren.

Der Gegner wich zurück und blinzelte. »Verdammt«, sagte er.

»Genau«, stimmte Brodar Kayne ihm nickend zu. »Lasst es uns zu Ende bringen. Ich muss pissen.«

Großschwert und Langschwert trafen aufeinander. Kayne bewegte sich kaum, während er lässig die wilden Vorstöße des Wächters abwehrte. In seiner Verzweiflung holte der Gegner zu einem Überkopfhieb aus, der Kayne den Schädel spalten sollte. Doch der Hochländer wich gewandt zur Seite aus und schlug in Hüfthöhe mit der eigenen Klinge zu.

Der Wächter starrte das Gedärm an, das dort hervorquoll, wo gerade noch sein Bauch gewesen war. Er ließ das Schwert fallen und wollte die glitzernden Schlangen mit den Händen einfangen, dann ließ er angewidert los.

So was ist immer eine üble Sache, dachte Kayne mitfühlend. Noch einmal hob er das Großschwert und hackte dem Mann den Kopf ab.

Anschließend wischte er die Klinge am Wappenrock des Toten sauber, steckte sie in die Scheide auf dem Rücken und ging zu dem zweiten Wächter, der gerade benommen auf die Beine kam. Er packte den Kopf des Soldaten und schmetterte ihn vier-, fünf-, sechsmal gegen die Außenwand des Lagerhauses. Mit einer Hand hielt er den Toten aufrecht, um ihm mit der zweiten den Dolch aus dem Gürtel zu ziehen. Dann ließ er ihn fallen.

Er drehte die Klinge in den Händen hin und her. Es war eine wirklich schöne Waffe. Heft und Parierstange waren schlicht gestaltet, doch der Knauf war mit einem großen Rubin geschmückt, und die leicht gekrümmte Klinge verströmte den blauen Schein, der auf irgendeine Art von Verzauberung schließen ließ. Er schob den Dolch hinter den Gürtel und wollte gerade in die Schenke zurückkehren, da erregte ein Husten seine Aufmerksamkeit.

»Dich hätte ich fast vergessen«, murmelte er. »Wahrscheinlich sollte ich dir dafür danken. Es könnte nur schwierig sein, hier in Dorminia einen Händler zu finden, der mir das Ding abkauft, aber woanders dürfte es mir ein hübsches Sümmchen einbringen.« Er zögerte einen Moment, dann hob er den Fuß und setzte dem Burschen den Stiefel auf den Hals. »Tut mir leid«, sagte er. »Bald werden noch mehr von diesen Dreckskerlen auftauchen. Wenn sie dich hier finden, wirst du dir hundertmal wünschen, du wärst tot, noch ehe der Tag zu Ende geht. Ich tu dir damit sogar einen Gefallen.«

Das Gesicht des Burschen lief blau an, als Kaynes Stiefel ihm die Luft abdrückte. Er wedelte schwach mit den Händen, ein erbärmliches Gurgeln drang aus seinem Mund. Graue Augen, vor Todesangst geweitet, starrten den großen Mann an.

Sie baten um Gnade, flehten ihn an.

Kayne wandte den Blick ab. An diesen Ausdruck konnte er sich erinnern, und die Augen von ganz ähnlicher Farbe hatten zu einem ebenso jungen Gesicht gehört. Ebenso gut konnte er sich an seine Seelenqualen erinnern, als Mhairas verzweifelte Schreie ihm in die Ohren drangen, während der Übelkeit erregende Gestank ihres brennenden Leibs ihm in die Nase stieg. Aus dem Käfig, an dem er sich die Hände blutig gekratzt hatte, war kein Entkommen möglich gewesen.

Er betrachtete seine Unterarme. Die Narben waren immer noch zu sehen, aber das war nicht wichtig. Er hatte noch andere, viel schlimmere Narben davongetragen. Narben von einer Art, die einen Mann für immer veränderte.

Schwer seufzend nahm der alte Barbar den Stiefel von der Kehle des Jungen, zog ihn hoch und warf ihn sich mit einer Leichtigkeit, die sein Alter Lügen strafte, über die Schulter. Mit einem letzten Grunzen drehte er sich um und lief so schnell, wie es die knirschenden Beine erlauben wollten, die Straße hinunter.

Der Wolf hatte schon einige Becher Vorsprung, als Brodar Kayne in die heruntergekommene Schenke in der Nähe des Elendsviertels stolperte. Die Gäste der verräucherten Spelunke warfen ihm neugierige Blicke zu, als er seine stöhnende Last auf den vom verschütteten Starkbier feuchten Boden gleiten ließ. Sein Rücken tat höllisch weh.

Er war nachgiebig geworden, das war sein Problem. Sie könnten schon längst zu den Freistädten im Osten unterwegs sein. Zweifellos konnten sich jene Orte nicht mit dieser weitläufigen, stinkenden Stadt messen, aber sie lagen ein gutes Stück draußen im Freiland, wo kein Magierfürst etwas zu sagen hatte und die Magie nicht wie im Trigon als Konterbande galt. Der Dolch an seinem Gürtel sollte ihm bei den richtigen Aufkäufern eine königliche Belohnung einbringen.

Aber nein. Stattdessen hatte er nun diesen verdammten Narren am Hals, der sich vor seinen Füßen wand.

Jerek hatte ihn bereits bemerkt. Er saß in der hintersten Ecke der Schenke über sein Bier gebeugt und bedachte jeden, der so dumm war, ihn anzusehen, mit finsteren Blicken. Auf dem kahlen Schädel spiegelte sich der Schein der Fackeln, die Haut glänzte zornig rot. Er kniff die Augen zusammen, als Kayne sich ihm näherte.

»Es ist Zeit zu gehen, Wolf. Ich hatte eine Begegnung mit den Ordnungshütern. Sie werden im Nu über den Laden hier herfallen wie der Aussatz.« Er wartete, während sein Freund langsam den Becher leerte und aus dem Krug, der mitten auf dem Tisch stand, noch einmal nachfüllte.

Schließlich blickte Jerek kurz zu ihm auf. Dann hob er den Becher und leerte ihn abermals. »Wer, zum Teufel, ist das?«, fragte er mit seiner groben, heiseren Stimme. Schließlich stellte er den Becher mit lautem Knall ab und nickte in die Richtung des Burschen. Die Frage klang völlig harmlos. Ein gefährliches Zeichen.

Kayne seufzte. Na gut, dann bringen wir es hinter uns. »Der Bursche da? Zwei dieser Schweinehunde in den roten Mänteln wollten ihn gerade umbringen. Sie verlangten, ich solle ihnen Platz machen. Dazu hatte ich aber keine Lust.« Er wartete geduldig auf den Ausbruch, der gewiss kommen musste.

Jerek stand abrupt auf. Nach den Maßstäben des Hochlands war er kein großer Mann, hatte jedoch recht breite Schultern. In den dunklen Augen loderten Flammen, als er den Jungen anstarrte. Er strich sich über den kurzen schwarzen Bart, der bereits mit grauen Strähnen durchsetzt war. Dann zupfte er daran. Seine Lippen zuckten. Jetzt geht es los, dachte Kayne.

»Das ist einfach unglaublich!«, knurrte der Wolf. Er knallte beide Fäuste auf den Tisch. Dabei kippte der Krug um, fiel auf den Boden und verteilte dort seinen Inhalt. Dann griff der Krieger hinter sich und zog die beiden Kriegsäxte.

Mit der linken Waffe deutete er auf den Burschen. »Der Wichser da? Wer ist er? Ein Niemand. Lass ihn sterben. Uns kann das egal sein. Was musstest du dich auch einmischen? Ich dachte, wir hätten es jetzt hinter uns. Wir sind lebendig hier angekommen. Ich habe mich darauf gefreut, einen Abend mit Zechen zu verbringen. Das habe ich mir nach dem Theater, das wir hatten, auch verdient. Wollte mir heute Abend eine Muschi gönnen. Das kann ich jetzt wohl vergessen, was? Dass du auch immer den Helden spielen musst. Ich hab genug davon. Verdammt noch mal, ich bin es leid.«

Kayne wartete geduldig, bis Jerek seine Tirade beendete. In einer Welt voller zorniger Männer war der Wolf der zornigste, den es überhaupt gab. Wo ein ruhiges Wort gereicht hätte, um eine angespannte Situation beizulegen, war der Wolf jederzeit bereit, bis aufs Messer zu kämpfen, und er neigte dazu, jeden vor den Kopf zu stoßen, der mehr als fünf Minuten in seiner Gesellschaft verbrachte. Dennoch war der Wolf im Grunde der beste Freund, den Kayne je gehabt hatte. Man musste die Leute eben nehmen, wie sie waren. So hatte es sein Vater immer ausgedrückt.

Jerek hielt einen Moment inne, um Luft zu holen, und der ältere Hochländer ergriff sofort die Gelegenheit. »Wolf, beruhige dich. Wir stehlen zwei Pferde und reiten nach Osten ins Freiland. In zwei Tagen sind wir dort. Siehst du das hier?« Er zog den glühenden Dolch aus dem Gürtel und hielt ihn hoch. »Magie. Der hat unserem Freund da drüben gehört. Ich denke, dafür dürften wir dreißig Golddukaten bekommen. Vielleicht sogar mehr.« Ihm fiel etwas ein. »Sagtest du nicht, du bist auf weibliche Gesellschaft aus? Seit drei Stunden hockst du hier und trinkst. Aber da drüben in der Ecke sitzen jede Menge Huren.« Er deutete auf die andere Seite der Schenke, wo mehrere leicht bekleidete Freudenmädchen auf Kundschaft warteten.

Jerek bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Vorher wollte ich was trinken. Kann denn ein Mann nicht in Ruhe seine Pfeife anfeuchten? Ich könnte den Keller der Schenke leersaufen und sie mir trotzdem noch alle vornehmen, bis sie nicht mehr gerade stehen können, Kayne. Zieh ja nicht meine Männlichkeit in Zweifel. Das würde dir schlecht bekommen.« Der Wolf packte die Äxte fester, bis die Knöchel weiß anliefen.

»War nicht so gemeint«, lenkte Brodar Kayne eilig ein. »Es ist mir einfach nur aufgefallen. Lass mich rasch mit dem Wirt reden, und dann verschwinden wir.«

Er ging zur Theke, wo ihn ein Mann mit einem riesigen Geschwür neben der Nase misstrauisch beäugte. Kayne kramte in der Gürteltasche herum und zog zwei Silberzepter heraus. Er legte die Münzen auf die Theke. »Siehst du den Kerl, der sich da am Boden windet? Er soll ein Dach über dem Kopf haben, bis er wieder auf die Beine kommt. Er hat sich ein paar Rippen gebrochen, und der Kopf wird ihm die nächsten zwei Tage ziemlich wehtun, aber er wird es überleben. Falls die Wächter kommen, hast du ihn nie gesehen. Haben wir uns verstanden?«

Der Blick des Wirts wanderte zwischen den Münzen und dem geschundenen Burschen hin und her. Er schüttelte den Kopf und schob die Silbermünzen zurück. »Mein Leben ist mehr wert, als mir die Zepter kaufen können, Hochländer. Wenn die Wache entdeckt, dass ich einen Gesetzlosen beherberge, brennen sie das Haus nieder. Ich habe eine Frau und eine Tochter …«

Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil ein fülliger Mann, der die Schürze eines Schmieds trug, eilig die Schenke betrat und in das Gastzimmer platzte. Der Schweiß rann ihm in Bächen über das mit Ruß verschmierte Gesicht. Er hatte eine schrille Stimme, die überhaupt nicht zu seinem Äußeren passte.

»Es gibt wichtige Neuigkeiten, Leute! Dorminia ist abgeriegelt! Bis auf Weiteres darf niemand herein oder hinaus. Der Befehl kommt von Lord Salazar persönlich.«

Brodar Kayne sah sich zu Jerek um. Der Wolf raufte sich schon wieder den Bart. »Seit wann?«, fragte er den Schmied. Er hatte eine ungute Vorahnung.

»Seit gerade eben«, antwortete der Mann mit der Fistelstimme. »Etwas Bedeutendes ist passiert. Es soll mit Schattenhafen und dem Krieg um diese verdammten Inseln zu tun haben.« Er zwirbelte sich den Schnurrbart, der zu beiden Seiten weit abstand. »Ein Stück südlich von hier ist ein Trupp Wächter unterwegs. Sie suchen jemanden. Anscheinend wurden zwei der Dreckskerle hier in der Nähe ermordet.«

Verdammt, dachte Kayne. Wie können die so schnell reagieren? Er wandte sich an Jerek.

»Wir setzen uns zum Hafen ab und suchen uns ein Versteck.« Dann bemerkte er, dass jemand an seinen Hosen zupfte. Der Bursche wollte sich aufrichten. Kayne bückte sich und half ihm auf die Beine.

Der Junge krümmte sich jedoch sofort wieder, presste sich die Hände auf die Brust und schnappte keuchend nach Luft. Dann aber – es war wirklich bemerkenswert – richtete er sich auf. Dem von Blut verkrusteten Gesicht sah man die Schmerzen deutlich an, und doch lag in den stahlgrauen Augen ein entschlossener Ausdruck. Immerhin, dann hast du wohl doch ein wenig Rückgrat in dir.

Jerek kam hinzu und starrte den Burschen böse an. Man musste ihm zugutehalten, dass er dem Blick des Wolfs standhielt und nicht zusammenzuckte.

»Ich bin Davarus Cole«, erklärte er mit einer Stimme, die trotz seiner unverkennbaren Schmerzen von einer gewissen inneren Stärke zeugte. Es klang beinahe, als hielte er eine Ansprache. »Nordwestlich von hier kenne ich einen Ort, an dem wir vor der Roten Wache Zuflucht finden können. Dort sind wir unter Freunden.« Er hustete und spuckte ein Blutgerinnsel aus. Einen Moment lang schien es, als würde er ohnmächtig. Dann bemerkte er die Blicke der beiden Hochländer und heftete erbost den Blick auf die blutige Spucke.

Kayne schüttelte den Kopf. Dieser Tiefländer war wirklich ein komischer Kauz. »Ich bin Brodar Kayne, das da ist Jerek. Ich könnte nicht behaupten, dass wir einen besseren Plan haben, also nehmen wir dich beim Wort. Was ist?« Der Junge starrte seinen Gürtel an. »Oh, das. Ich behalte den Dolch einstweilen, weil ich dir das Leben gerettet habe.«

Cole erweckte den Eindruck, als wollte er protestieren, aber Jerek brachte ihn mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen.

Kayne klopfte dem jungen Davarus Cole beruhigend auf die Schulter. »Na gut, dann führe uns.«

Scheideweg

Die Stadt summte vor Geschäftigkeit, als Davarus Cole seine neuen Freunde durch das Gewirr der Nebenstraßen führte. Glücklicherweise trafen sie im Gedränge nicht auf Wächter.

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