Schattenstunde - Penny Hancock - E-Book

Schattenstunde E-Book

Penny Hancock

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Beschreibung

Dora Gentleman lebt allein mit ihrem Sohn und ihrem dementen Vater in einem alten Haus an der Themse. Als sie merkt, dass ihr die Situation über den Kopf wächst, engagiert sie eine Hilfskraft. Für Mona ist es die einzige Chance, ihre bedürftige Familie in Marokko zu unterstützen. Aber dann verdüstert sich die Stimmung. Mona merkt, dass Dora nicht die gutherzige Arbeitgeberin ist, die sie sich erhofft hat. Dora dagegen misstraut Mona und fürchtet, dass diese ihr schaden will. Immer mehr entspinnt sich zwischen den beiden Frauen ein Machtkampf, der am Ende ein tödliches Opfer fordert ...

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Buch

Dora Gentleman ist Moderatorin einer beliebten Radioshow und gilt als »die Stimme Südostenglands«. Sie lebt allein mit Teenagersohn Leo und ihrem dementen Vater Charles in Deptford, einem heruntergekommenen Stadtteil im Südosten von London, direkt am Ufer der Themse. Als Dora merkt, dass ihr die Pflege des Vaters über den Kopf wächst und ihre Karriere sowie die Treffen mit ihrem Geliebten Max erheblich unter der Situation leiden, engagiert sie eine Hilfskraft, Mona. Für Mona ist die Arbeit in Deptford die einzige Möglichkeit, ihre Mutter und Tochter in ihrer Heimat Marokko zu unterstützen. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb sie nach England gekommen ist: Ali, ihr Mann, ist seit geraumer Zeit verschwunden und soll angeblich in London sein. Rasch lebt sich Mona in Doras Haushalt ein und kümmert sich liebevoll um Charles, der in der Einliegerwohnung im Keller lebt. Sie bringt das alte Haus zum Strahlen, kocht, kauft ein und schafft es sogar, Leo aus seiner Lethargie zu reißen. Und auch Charles freut sich jeden Tag über Monas Gegenwart. Dora nimmt diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Ihre anfängliche Erleichterung wandelt sich allmählich in Argwohn und Eifersucht. Hat Mona ein dunkles Geheimnis? Umgekehrt merkt Mona mehr und mehr, dass Dora nicht die gutherzige Arbeitgeberin ist, die sie sich erhofft hat. So entspinnt sich mehr und mehr ein Machtkampf zwischen den beiden Frauen. Und dieser nimmt schließlich ein furchtbares Ende …

Autorin

Penny Hancock wuchs in Südost-London auf und unternahm ausgedehnte Reisen als Sprachlehrerin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in Cambridge.

Mehr von Penny Hancock:

Ich beschütze dich. Psychothriller

Penny Hancock

Schattenstunde

Psychothriller

Aus dem Englischen

von Eva Kemper

Die Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel »The Darkening Hour«

bei Simon & Schuster UK Ltd., London.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe August 2015

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Penny Hancock

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: plainpicture/Tanja Luther; FinePic®, München

AG ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-15811-8

www.goldmann-verlag.de

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Für Tante Dorothy

»Bei jeder Uferkette, jedem Taue, bei jedem festliegenden Boote, an dem sich die Strömung brach, bei den Vorsprüngen der Brückenpfeiler von Southwark Bridge, bei den Rädern der Dampfschiffe, welche das schlammige Wasser peitschten, bei den schwimmenden Balken, welche zusammengebunden vor manchen Zimmerplätzen des Ufers lagen, schossen seine funkelnden Augen hungrige Blicke hervor. Endlich, nachdem seit einer Stunde die Dämmerung eingebrochen war, zog er plötzlich die Leinen des Steuerruders straffer an und gab dem Boote die Richtung nach der Uferseite von Surrey.«

Unser gemeinsamer Freund, Charles Dickens

»Nun gut! Wenn du entschlossen bist, so geh!

Doch wisse, dass du zwar als Törin, doch als

wahre Freundin deiner Freunde gehst.«

Antigone, Sophokles

Prolog

Deptford, Südost-London

Niemand sieht die Frau, die einen Mann im Rollstuhl über den Markt schiebt. Zwischen all den Standbesitzern, Einkäufern und Cracksüchtigen, die die Straße bevölkern, zwischen den Frauen mit fast kahl rasierten Köpfen und Männern mit langen Haaren, zwischen Müttern mit Buggys voller Kinder, Teenagern mit iPod-Stöpseln in den Ohren, Betrunkenen und Dealern scheinen diese beiden gar nicht vorzukommen. In dem ganzen Trubel, dem Gerede, dem Kaufen und Verkaufen, den Besorgungen – man gehört dazu, egal, wer man ist oder woher man kommt – haben diese beiden Menschen keinen Platz.

Sie verschmelzen mit dem Hintergrund, genau wie der Somalier, der in seiner Warnweste die Straße fegt, wie das hagere Mädchen mit dem Gesicht einer alten Frau, das die Obdachlosenzeitung Big Issue verkauft, oder die zusammengedrängte Gruppe Vietnamesen neben dem Geldwechselbüdchen. Sie sind noch uninteressanter als die jungen Ukrainer, die im Kleiderlager unter der Brücke Textilien sortieren, oder der bengalische Koch in der offenen Tür, durch die der heiße Kochdunst abzieht.

Würde sie doch jemand anschauen, würde er merken, dass die beiden – die Frau und der alte Mann – nicht miteinander verwandt sind. Der Mann hat unruhige blasse Augen, seine Haut ist spröde und faltig. Zu viel Sonne hat ihr dunkle Flecken aufgemalt; der braune Teint der Frau hingegen hat zu wenig Sonne gesehen und wirkt fleckig. Sie ist klein, mit sanften Konturen und dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Aber viel auffälliger ist ein anderer Unterschied. Der Mann strahlt Wohlstand aus – er trägt eine gute Stoffhose, polierte Lederschuhe, eine dicke Wolljacke und einen Kaschmirschal. Die Frau ist in eine Jogginghose und einen langen blauen Kittel gehüllt, darüber hat sie eine billige Fleecejacke gezogen. In den Pfützen dringt Wasser durch ihre zerlumpten Turnschuhe. Ein Beobachter würde vielleicht sogar zuerst ihre dunklen Augenringe und den resignierten Blick bemerken und wie gleichgültig sie auf die bunten Läden und Stände und das muntere Gerede reagiert. Während sie den alten Mann mit seinem Beutel Obst auf dem Schoß die Straße hinunterschiebt, scheint es, als wäre die Frau nicht einmal in dieser Stadt, als wäre sie in Gedanken an einem Ort, der so weit entfernt und so tief in der Vergangenheit versunken ist, dass sie nicht mehr weiß, ob er überhaupt existiert.

Doch niemand sieht hin, niemand interessiert sich für sie. Und nicht einmal der alte Mann in seinem Rollstuhl ist sich sicher, wer ihn in der Dämmerung dieses Abends Anfang Januar durch das Gedränge schiebt. Solange sie ihn bald nach Hause bringt, denn ihm knurrt schon vor Hunger der Magen, und solange er seine Klementinen bekommt, die fest und frisch auf seinem Schoß liegen, ist er zufrieden.

Die Frau lenkt den Rollstuhl durch die Menschenmenge zu dem breiten, schlickigen Fluss mit seinem Geruch nach Öl und den Waren aus anderen Welten. Als sie sich von dem Markt entfernen und der süße Duft der Röstkastanien hinter ihnen verfliegt, wird der Schimmer der behelfsmäßigen Lampen allmählich schwächer, und es wirkt, als verließen sie nicht nur das Licht, sondern auch die Wärme, obwohl der Atem der Standbesitzer weiß in der kalten Luft hängt.

Die Frau schiebt den Rollstuhl bis zur Gasse zwischen einer Mauer und der früher so beeindruckenden Paynes Wharf, von der nur noch sechs Bögen der Fassade geblieben sind. Am Ende der kurzen Gasse gelangen die beiden zu ein paar modrigen Stufen, die zum trüben Wasser der Themse hinunterführen. Ein verborgener Ort, schon tagsüber nicht leicht zu finden, doch nachts verschwindet er völlig im Dunkel. Die Frau bleibt stehen und starrt ins Wasser. Zehn Stufen sind zu sehen – es herrscht Ebbe.

Nach einer Weile dreht sie sich um. Kehrt langsam vom Fluss zurück und schiebt den alten Mann durch eine schmale Straße mit georgianischen Reihenhäusern. Kleine Engel oder Galionsfiguren, auf deren Köpfe sich in der einbrechenden Dunkelheit Reif legt, umrahmen die Türen. Beim letzten Haus nimmt die Frau den Seiteneingang in den Garten, hilft dem alten Mann aus dem Rollstuhl und geht mit ihm die Stufen zu seiner Einliegerwohnung unter dem Haupthaus hinunter.

Sobald sie im Apartment sind, hilft Mona dem alten Mann in seinen Lehnsessel mit der Fußstütze. Charles spürt die Hand unter seinem Ellbogen, aber er weiß in diesem Moment nicht, wem sie gehört, und es ist ihm auch egal. Als er sitzt, fragt er nach seinem Abendessen. Mona bringt es ihm auf einem Tablett, füttert ihn mit einem Löffel, wischt ihm mit einem Trockentuch das Kinn ab und gibt ihm etwas Wasser zu trinken.

Und nachdem er seine Würstchen mit Kartoffelbrei gegessen hat, schält sie für ihn eine Klementine. Die einzelnen Stückchen Fruchtfleisch in ihren losen Membranen fühlen sich ähnlich an wie sein schlaffer Penis, den sie für ihn hält, als er nachher in dem winzigen Badezimmer pieselt.

Sie bringt die Schalen in die Küche und wirft sie in den vollen Mülleimer. Dann nimmt sie die Mülltüte heraus, verknotet sie, stellt sie beiseite, um sie später hinauszubringen, und ersetzt sie durch eine neue. Sie spült seine Teller und räumt auf. Dann ist es spät genug, um ihm sein Nachtzeug anzuziehen.

Im Haupthaus über ihr dröhnen Schritte die Treppe herunter, eine Tür wird zugeschlagen. Mona spürt die Geräusche; ihre Haut kribbelt, ihre Ohren klingeln. Ihre Handflächen schwitzen. Sie sehnt sich danach, dass dieser Tag zu Ende geht. Sehnt sich nach dem Moment, in dem sie sich auf ihr notdürftiges Bett in der Ecke dieses Zimmers legen kann, weil sie erschöpft ist und sich nichts mehr wünscht, als alles zu vergessen.

Dann kommt sie. Die Stimme hallt durch den Schacht des Speisenaufzugs und dringt ins Zimmer.

»MONA!«

»Ja.«

»Es ist sieben Uhr.«

»Er geht gerade ins Bett. Dann komme ich.«

»Sie sind spät dran.«

»Ich bin gleich da.«

Der alte Mann verlangt jetzt auch nach ihrer Aufmerksamkeit: »Du hast ihn schon wieder versteckt! Verdammt noch mal, Weib, du hast mir den Whisky weggenommen.«

»Sofort!«, brüllt es in diesem Augenblick von oben, und der Mann grummelt etwas vor sich hin. In Monas Kopf beginnt es zu hämmern.

Früh am nächsten Morgen, als auf dem Fluss noch Nebel wabert und die Straßenlaternen in ihren verschwommenen orangefarbenen Lichthöfen schimmern, kräuseln sich die Wellen um etwas Größeres als den üblichen Unrat aus Plastikflaschen und Bierdosen, Spritzen und Hamburgerschachteln. Im Lauf der Nacht ist das Wasser die Stufen hinaufgekrochen und hat eine seltsame Gestalt mit sich getragen. Ein Oberkörper, Arme und Beine, die in die Tiefe ragen, und ein Kopf. Er sieht aus wie der Kopf einer Mumie, eingewickelt in einen blauen Kittel, wie ihn, das stellt die Polizei später fest, Hausangestellte und Pflegerinnen tragen.

Und nachdem man die Leiche aus dem Fluss gezogen und in einen Leichensack gesteckt hat, nachdem dieser tote Mensch identifiziert ist und die Lokalzeitung über den Fall berichtet hat, wollen alle mehr sehen, wollen alle Bescheid wissen. Aber es ist zu spät.

Mona ist nicht mehr hier.

Teil eins

Das Geschenk

Kapitel eins

Drei Monate zuvor

Das Erste, was mir in London auffällt, sind die Statuen. Sie verteilen sich über die Stadt wie ein eigenständiges Volk aus Stein. Männer auf Pferden, halb nackte Frauen, Kleinkinder mit Flügeln, Löwen und Monster. Während wir durch die Straßen fahren, sitzen Mr und Mrs Roberts vorne, und ich hocke auf meinem Platz hinten und lehne den Kopf gegen die Scheibe.

Überall scheinen Lichter. Sie halten die Nacht fern. Irgendwann lassen wir die prunkvollen Straßen hinter uns und biegen auf eine breite Brücke ab. Auf dem großen, dunklen Fluss darunter stoßen die gespiegelten Lichter wie Schwerter ins schwarze Wasser. Mein Fluss, der Bouregreg zu Hause in Marokko, ist verspielt; er zwinkert ein helles Glitzern in die blaue Luft. Ich würde gerne jemandem sagen, dass die Themse dunkler ist, als ich gedacht habe, und London größer als ein ganzes Land. Aber es ist niemand hier, dem ich es sagen könnte. Wären da nicht Leila und Ummu, würde ich umdrehen, zurückfahren und mich irgendwie durchschlagen, bis Ali wiederkommt. Selbst wenn er wirklich in London ist, wie Yousseff meint, werde ich ihn in dieser endlosen Stadt nie finden. Die Idee war verrückt. London nimmt gar kein Ende.

Als das Flugzeug startete, habe ich mir vorgestellt, ich wäre ein Drachen. Meine geliebte Tochter Leila würde die Schnur halten und abwickeln, während ich in den Himmel hinaufstieg. Schließlich war ich irgendwo über Spanien, und sie musste mich loslassen. Ich bekam Angst. Plötzlich war ich ein Drachen ohne Schnur, ganz den Winden ausgeliefert. Die Roberts hatten es sich hinter einem dicken blauen Vorhang in der Business Class bequem gemacht. Das englische Paar hinter mir war mit seinem Kind beschäftigt, das den ganzen Flug über den Gang auf und ab gerannt war; sie hatten sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass sein Herumlaufen das Flugzeug stören könnte. Der Mann vor mir hatte sich Stöpsel in die Ohren gesteckt. Andere Fluggäste schliefen oder sprachen leise.

So einsam habe ich mich noch nie gefühlt.

Leila machte sich keine Sorgen. Sie dachte, ich würde einfach für eine Weile weggehen, um etwas Geld zu verdienen, damit sie wie die anderen Kinder die Schule besuchen konnte und neue Sachen bekam.

»Lass sie nicht merken, dass du traurig bist«, hatte mich Ummu, meine Mutter, gewarnt. »Denk an das Geld. Sie kommt schon damit klar.«

Und das tat sie auch. Sie winkte mit einer Hand, hielt sich mit der anderen an Ummu fest und hüpfte, als sie sich auf den Weg zum Suk machten. Davor war ich noch nie weiter von Leila entfernt gewesen als am anderen Ufer des Bouregreg, um hinter einer anderen Frau herzuräumen.

Ummu war begeistert, als ich ihr von dieser Stelle erzählt habe.

«Alhamdulillah! Allah sei Dank!«, rief sie und riss die seifigen Hände hoch. Sie hatte im Waschbecken Bettlaken geschrubbt und mit den Armen tief im kalten Wasser gesteckt. Jetzt stand sie auf und nahm mit ihren nassen Fingern meine Hand. Sah mich aus blitzenden Augen an. Ich konnte hören, wie die winzigen Seifenblasen auf ihren Armen platzten.

»Ich kann es kaum glauben! London!«, rief sie. Sie spricht immer zu laut, sogar ihre Freundinnen beschweren sich darüber.

»Damit schaffen wir es«, sagte ich. »Da drüben ist der Mindestlohn höher als alles, was wir uns hier erträumen könnten.« Ich versuchte, munter zu klingen, obwohl ich ein ungutes Gefühl hatte. Es gab viele Gründe, warum ich nicht gern in den Häusern anderer Frauen arbeitete.

»Das ist ein Segen, Mona, wo ich doch jetzt so blind bin, dass ich nicht mehr arbeiten kann, und du deine Stelle bei Madame verloren hast.«

Blind ist übertrieben. Meine Mutter sieht schlecht – das Ergebnis zu vieler Jahre, in denen sie bei schlechtem Licht Teppiche gewebt hat –, aber sie ist nicht blind. Was sie sehen will, sieht sie.

Trotzdem haben wir keine andere Wahl, wenn wir über die Runden kommen wollen. Und ich habe einen weiteren Grund, nach London zu gehen, der schwerer wiegt als alle Bedenken, Leila zu verlassen. Wenn Ali in England lebt, wie ich es jetzt glaube, und er in Schwierigkeiten geraten ist, kann ich ihm helfen. Dann sind wir wieder zusammen, ich und Ali und Leila – eine Familie, so wie es sein sollte.

»Ich habe mir was überlegt. Nach fünf Jahren kannst du dich in England einbürgern lassen«, sagte Ummu, »genau wie Rachida. Fünf Jahre, Mona. Bis dahin kannst du Englisch lesen und schreiben und hast eine tolle Stelle irgendwo in einem schicken Büro. Dann musst du nicht mehr für andere Frauen putzen.«

»Ummu, ich werde nicht fünf Jahre bleiben«, habe ich geantwortet.

Aber jetzt bin ich hier, fahre durch diese endlose Stadt mit immer weiteren Straßen, weiteren Wohnungen, weiteren Ampeln und Geschäften, nur sind sie hier inzwischen weniger beeindruckend und dafür dunkler und unfreundlicher – ob ich Ummu oder Leila je wiedersehe?

Das Auto biegt in eine ruhige Straße ein, und wir halten vor einem Haus. Sogar hier gibt es vor der Tür Statuen, zwei kleine, nackte Kinder mit Flügeln.

»Ihr neues Zuhause«, sagt Mrs Roberts, dreht sich um und lächelt mich an.

Kapitel zwei

Mona kommt mit dem ersten Herbstregen, um ihre Füße weht goldenes Laub.

Genau ein Jahr, nachdem Mummy gestorben ist.

»Mein Geschenk aus dem Süden«, witzelt Roger, während er sich die polierten Schuhe auf meiner Fußmatte abtritt.

Sie sieht anders aus, als ich dachte. Bei dem Wort »Witwe« habe ich eine ältere Frau in Schwarz erwartet. Resolut, aber verlässlich. Stattdessen ist die Frau auf der Treppe in meinem Alter. Klein, eng in einen billigen blauen Anorak gehüllt, und unter ihrem Kopftuch schauen dunkle Haarsträhnen hervor. Riesige, ernste braune Augen. Ich muss an die Madonnenstatuen in den altmodischen christlichen Läden oben in der Deptford High Street denken, an ihre seligen Gesichter, ein Inbegriff der Demut.

Ich sehe ein regelrechtes kleines Tableau vor mir: diese Frau zwischen den beiden Putten, die über ihr an meiner Tür flattern, und auf der anderen Straßenseite der Kirchturm, der in den orange schimmernden Himmel über London ragt. Im ersten Moment bin ich erleichtert.

Hinter ihnen steigt Claudia aus dem Auto. Sie tänzelt auf Zehenspitzen über das Kopfsteinpflaster, als würde im Rinnstein womöglich noch ein übel riechender Rest des viktorianischen Londons lauern. Wir sind im Deptford des 21. Jahrhunderts, und nicht im schlechteren Teil, trotzdem zeigt sie unverhohlen ihre Vorurteile.

»Kommt rein«, sage ich, und sie schieben sich an Mona vorbei.

Auch der letzte Funken Bedauern über unsere Trennung verfliegt, als Roger durch den Flur geht und dabei die Schultern hochzieht aus Angst, er könnte die Wände berühren und sich schmutzig machen.

Er trägt einen cremefarbenen Anzug mit passender Krawatte, als käme er geradewegs aus einem anderen Jahrhundert. Hätte Claudia nichts damit zu tun, würde mich seine unschuldige Aufmachung vielleicht rühren; Roger hat noch nie ganz in unserer Zeit gelebt, und früher muss ich das mal liebenswert gefunden haben.

Mona hockt auf einem der Küchenstühle, ganz vorne auf der Kante. Ich schenke den anderen einen Gin Tonic ein, und während ich mit Roger spreche, starrt sie ausdruckslos vor sich hin. Obwohl unsere Trennung so abgelaufen ist, wie sie abgelaufen ist, können Roger und ich noch miteinander reden. Das haben wir wohl nur unserem Sohn Leo zu verdanken. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, welche Sorgen er uns jeden Tag macht.

»So, hier ist sie, Dora. Startklar und bereit zur Arbeit. Ich habe ihr von deinem Vater erzählt, und sie hat sich schon darauf eingestellt.«

»Danke, Roger.«

»Wie geht es Leo?«

»Es geht ihm … besser. Jedenfalls besser als vorher.«

»Er hat sich doch Arbeit gesucht, oder?«

»Er hat es versucht. Es gibt kaum was. Und er ist nicht in der besten Ausgangsposition.«

»Wäre er bei den Prüfungen nicht durchgerasselt …«

»Ich weiß.«

»Ein Praktikum – so läuft das heute. Mit deinen Verbindungen in der Medienbranche musst du doch was für ihn finden können, Theodora.«

Würde Claudia nicht zuhören, würde ich widersprechen. In Rogers Aussage schwingt so viel unausgesprochene Feindseligkeit mit. Aber ich halte mich zurück.

»Ein Praktikum ist genauso schwer zu bekommen wie eine richtige Stelle, Roger. Und du verstehst nicht, worum es geht; sein Selbstwertgefühl ist angeschlagen …«

»Ein Grund mehr für ihn, sich was zu suchen. Der Junge braucht Feuer unterm Hintern.«

Ich lache. »Probier es mit der Peitsche, wenn du willst. Es wird nicht funktionieren. Du hast ja keine Ahnung.«

Ich könnte mich ohrfeigen, als ich höre, wie meine Stimme kippt. Ich will mich nicht vor den anderen aufregen, aber ich ertrage es nicht, wenn Leo so missverstanden wird. Genauso wenig ertrage ich es, dass sich mein Sohn, mein bildhübscher Junge, derart verändert hat. Ich schlucke. Ich will auch nicht danach beurteilt werden, was aus ihm geworden ist, seit er bei mir wohnt.

»Er ist hier«, sage ich leise. »Du kannst gerne selbst mit ihm reden.«

»Dann gehe ich mal kurz zu ihm«, sagt Roger und drückt Claudias Schulter. »Was hast du gesagt, wo er ist?«

»Im Wohnzimmer.«

Wieder bin ich in eine Falle getappt. Roger wird mir vorwerfen, ich würde nichts dagegen unternehmen, dass Leo den Fernseher mit Beschlag belegt.

»Sei behutsam, Roger. Er ist sehr empfindsam. Regt sich leicht auf.«

»Empfindsam. Ein fauler Egoist trifft es wohl eher. Ich werde ihm mal den Kopf waschen.«

Als Roger sich aufrichtet, regen sich die ganzen alten Selbstzweifel in mir. Ich sollte ihm widersprechen, aber dazu fehlt mir die Kraft. Außerdem stehe ich im Moment wegen Mona in seiner Schuld.

»Aber nicht zu lange, Liebling«, säuselt Claudia und lächelt affektiert. »Der Tisch ist für acht reserviert. Um diese Zeit kommt man schlecht durch London.«

»Es dauert nur einen Moment«, sagt er.

Er geht und lässt mich mit Claudia und Mona allein in der Küche. Wir bilden ein verlegenes Trio. Mona hat immer noch kein Wort gesagt, und Claudia will sich nicht setzen. Stattdessen klopft sie mit ihren kurzen Pfennigabsätzen auf meinen Natursteinboden und dreht ihr Glas in den Händen hin und her. Wahrscheinlich hat sie Angst, Endymions Haare könnten an ihren Luxus-Trenchcoat von Aquascutum gelangen. Ich frage mich, warum sie nicht mit Leo reden will. Immerhin ist sie seine Stiefmutter, er hat mehrere Jahre bei ihr gelebt, bevor er zu mir zurückgekommen ist.

»Mona, Dora würde Ihnen gerne Ihren Wohnbereich zeigen«, sagt sie. »Nicht wahr, Dora?«

Natürlich. In Claudias Welt, der Welt, die ich hinter mir gelassen habe, verkehrt man nicht mit Bediensteten.

»Wohnbereich« ist leicht übertrieben. Mona soll in der Kammer hinter der Küche schlafen, die früher mein Arbeitszimmer und dann Leos Lernzimmer war. Durch den schmalen Spalt in der offenen Tür sehe ich die Kleidung, die sich auf dem Boden türmt, und den schiefen Stapel aus Büchern und Zeitschriften auf dem Tisch. Seit Leo Ende letzten Jahres die Oberstufe abgebrochen hat, wird das Zimmer vor allem als Abladeplatz benutzt. Überall liegen seine alten Schulhefte und Bücher, DVDs, die er nicht mehr anschaut, und Kleidung, aus der er herausgewachsen ist.

Ich gehe Mona voran zur Tür, um sie vor Claudias neugierigem Blick abzuschirmen; sie soll das Durcheinander im Zimmer nicht sehen. Ich wollte eigentlich aufräumen, aber wegen der Arbeit und Daddy habe ich keine freie Minute gefunden. Das würde Claudia mit ihren ganzen Hausangestellten nie begreifen.

Bei näherem Hinsehen glaube ich, dass Mona doch ein paar Jahre älter ist als ich. Schiefe Zähne. Schlecht ernährt, matte braune Haut. Ein paar dunkle Pünktchen auf einer Wange.

Als ich für sie die Vorhänge zurückziehe, Endymion aus dem Zimmer scheuche und die Decke auf ihrem Bett glatt streiche, überkommt mich ein warmes Gefühl. Alles an ihr – ihre billige Kleidung, ihr ungeschminktes Gesicht – wirkt nach Claudias harter Oberfläche tröstlich. Am liebsten würde ich sie umarmen.

Ich zeige ihr das kleine Bad vor ihrem Zimmer.

»Ich lasse Sie dann mal auspacken«, sage ich.

Sie zieht ihren Mantel aus.

Nachdem sie ihre Kapuze abgestreift hat, stelle ich fest, dass ihr schwarzes Haar glatt, schlaff und recht fettig ist. Ihr Kinn ist leicht gepolstert. Der Körper wird von mehreren Lagen Kleidung verdeckt, aber man sieht, wie rundlich sie ist. Sie konnte wahrscheinlich nie ein Fitnessstudio besuchen, hat keine Ahnung von gesunder Ernährung und war vielleicht nie beim Zahnarzt – in ihrer Heimat ist so etwas teuer. Ich helfe ihr, denke ich. Ich werde ihr Leben besser machen. Ein fairer Handel – immerhin ist sie hier, um mir das Leben zu erleichtern.

»Morgen zeige ich Ihnen alles und stelle Sie Daddy vor. Sie sind bestimmt müde. Möchten Sie etwas essen? Etwas trinken?«

Sie starrt mich an.

»Essen«, sage ich laut und deute es an. »Trinken?«

»Ah. Nein, danke.«

Sie macht Anstalten, sich zu verbeugen. Ich winke ab, um ihr zu zeigen, dass solche Unterwürfigkeit nicht nötig ist, dann lasse ich sie allein und schließe die Tür hinter mir.

Roger ist nach seiner Begegnung mit Leo schon wieder in die Küche zurückgekehrt.

»Ich habe ihm gesagt, dass er den Fernseher ausmachen muss. Und dass ich keinen Soundtrack hören will, wenn ich mit ihm rede.«

»Und?«

»Irgendwo hat er ein paar unschöne Angewohnheiten aufgeschnappt. Er ist fast schon pampig. Was ist los, Dora?«

»Wie ich gesagt habe. Er ist niedergeschlagen. Der Arzt meint, er sei depressiv.«

Claudia blickt zu Roger auf. Hat sie sich Botox spritzen lassen? Ihr Gesicht wirkt so starr, als könnte es nicht einmal etwas verraten, wenn sie es wollte.

»Depressiv? Er hatte die besten Voraussetzungen, Dora. Ich habe für seine Bildung mehr ausgegeben als für irgendetwas anderes – ich habe sogar dieses Haus bezahlt!«

»Es liegt doch nicht am Geld. Oder an der Schule. Wir sind die Belastung – es war nicht leicht für ihn.«

Jetzt zielt Roger genau auf meine wunde Stelle.

»Wir? Oder du, Dora? Bei dir kommt die Arbeit doch vor allem anderen.«

»Hör mal, Roger, darüber will ich jetzt nicht reden. Claudia möchte das bestimmt nicht hören, oder, Claudia? Wir können uns später treffen und das besprechen.«

Roger seufzt. »Ich gehe mal mit ihm essen, solange wir hier sind. Er braucht ein Ultimatum.«

»Na ja.« Ich habe genug von dem Thema. »Danke, dass du sie hergebracht hast.« Ich deute mit dem Kopf Richtung Arbeitszimmer. »Spricht sie einigermaßen Englisch? Ein paar Wörter schien sie zu kennen.«

»Wenn du langsam redest. Was sie kann, hat sie im Haus von Madame Sherif aufgeschnappt. Ich glaube, sie haben Englisch gesprochen.«

»Wie alt ist sie?«

»Keine Ahnung. Du kannst in ihrem Pass nachsehen. Aber sie halten Geburten nicht so fest wie wir, das weißt du ja vielleicht noch.«

»Im Grunde ist es egal«, sage ich. »Solange sie gesund ist. Manchmal muss man für Daddy etwas verrücken oder umstellen. Oder ihn hochheben.«

»Oh, sie ist kerngesund«, beruhigt er mich.

»Dürfte ich mal dein Bad benutzen, Theodora?«, meldet sich Claudia, und weil ich mir denken kann, dass sie nicht dasselbe Bad wie Mona benutzen möchte, schicke ich sie nach oben.

Als sie gegangen ist, beugt Roger sich näher und flüstert mir ins Ohr.

»Sag mir Bescheid, wenn sie sich zu viel herausnimmt. Du willst doch nicht, dass sich so etwas wie mit Zidana wiederholt.«

»Mein Gott, Roger. Fang doch nicht damit an, das ist Jahre her.«

»Ich weiß, und wir konnten es unter den Teppich kehren. Aber nur mit Glück. Hätte es jemand herausgefunden …«

»Hat aber niemand. Und wir wollten uns nicht daran festhalten.«

»Trotzdem. Wenn die Lage … gib mir Bescheid. Besser, man unterbindet so etwas sofort.«

Ich starre ihn an. Ich dachte, der Vorfall sei vergessen. Zidana war die junge Hausangestellte, die in Rabat für uns gearbeitet hat, als Leo dort die Schule besuchte. Ich wünschte, Roger hätte die Sache nicht erwähnt.

Als Claudia die Treppe herunterkommt, wechselt Roger das Thema.

»Hier«, sagt er, »das sind Monas Papiere. Du kennst ja die Spielregeln – laut ihres Visums ist sie nur für die Hausarbeit hier. Und zwar bei dir. Im Grunde gehört sie dir. Sie darf keine andere Arbeit annehmen. Wenn es nicht funktioniert, muss sie sofort nach Hause. Sie schuldet mir noch das Geld für den Pass und das Flugticket, das kannst du von ihren ersten Gehaltszahlungen abziehen.«

»Danke, Roger.«

»Wie gesagt, wir haben seit einem Jahr ihre Freundin Amina, und sie ist großartig.«

»Ich weiß das wirklich zu schätzen. Jetzt, wo Daddy unten wohnt, und mit der Arbeit und allem komme ich ohne Hilfe nicht mehr zurecht.«

»Pass nur auf, dass du sie im Griff behältst«, rät Claudia. »Lass dir nichts gefallen. Sie soll sich zwar vorrangig um deinen Vater kümmern, aber sie putzt und kocht und macht auch alles andere. Diese Mädchen wollen beschäftigt werden.«

»Ja. Danke, Claudia. Ich weiß.« Hat sie vergessen, dass ich früher mit ihrem Mann verheiratet war? Und auch mal Personal hatte?

»Liebling!«, ruft Roger hinter mir.

Claudia leert ihren Gin. »Ich komme.«

Als ich sehe, wie er Claudia die Tür aufhält, bin ich ganz sicher, dass ich Roger einen riesigen Gefallen damit getan habe, mich aus seinem Leben zu verabschieden. Claudia passt viel besser in die Rolle der Diplomatengattin, als ich es je gekonnt hätte.

Aber als sie in ihrem teuren Leihwagen meine Straße hinunterfahren und das Wasser unter ihren Reifen aus den Pfützen spritzt, bedauere ich einen Moment lang, dass ich diese Art Leben nicht mehr führe.

Kapitel drei

Im Dunkeln denke ich an Leila.

Um diese Zeit geht sie immer schlafen.

Wäre ich bei ihr, würde ich ihr jetzt aus einem der Bücher vorlesen, die ich in meiner Zeit bei Madame Sherif gekauft habe; ich würde das Kinn auf ihren warmen Kopf stützen und mit ihrem seidigen Haar spielen. Und sie würde an die Decke starren und dabei am Daumen lutschen. Oder, wie sie es manchmal macht, an meinen Fingern ziehen, als würde sie eine Kuh melken. Ummu würde hinter dem Vorhang herumhantieren.

Ummu hat nie lesen gelernt. Aber vielleicht erzählt sie Leila gerade eine ihrer Geschichten, die sie früher mir erzählt hat, und erweckt mit ihren tanzenden, flatternden Händen Dschinns und Prinzessinnen zum Leben.

Ich nehme mein Handy. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was die Ansage bedeutet. Und plötzlich ist Leila noch weiter von mir entfernt.

Ihr Guthaben reicht für diesen Anruf nicht aus.

Ich bin allein in einem fremden, dunklen Land, ohne einen einzigen Dirham, und kann nicht einmal meine Tochter anrufen. Jetzt kommen die Sorgen. Wann kann ich Geld nach Hause schicken? Im nächsten Sommer beginnt die Schule. Habe ich bis dahin genug für Leilas Bücher verdient? Und für Ummus grauen Star? Wird mein Lohn überhaupt ausreichen, damit sie ihr Essen bezahlen können, das Gas, den Strom?

Mir fällt ein, was Ummu gesagt hat, als die Lage ernst wurde. Damals, als ich meine Stelle bei Madame Sherif verlor und wir nichts von Ali hörten.

»Was wehtut, ist nicht das hier.« Sie strich sich mit den Fingern über die Augen. »Oder das.« Ihre ausholende Geste umfasste das eine Zimmer, das wir durch einen Vorhang in zwei geteilt hatten. Es war laut, und wir lebten inmitten von Menschen, die Ummu unter unserer Würde fand.

»Das ist es gar nicht. Es ist die Art, wie die Leute uns anschauen, seit Ali gegangen ist«, erklärte sie. »Als hätten wir uns das irgendwie selbst zuzuschreiben.« Wieder zeigte sie mit gespreizten Fingern auf unser Zimmer, auf die dünnen Wände zwischen uns und Haits Wohnung nebenan, auf die Wäsche, die auf Leinen zwischen den Häusern hing, die spielenden Kinder in den Gassen, die Müllberge, die die Stadtverwaltung einfach nicht abholen ließ. »Sie sehen, dass wir hier alle zusammenleben, aber nicht, wer wir früher gewesen sind, welche Arbeit wir gemacht haben. Oder die Männer, die gestorben sind. Die Männer, die gegangen sind.«

Sie hatte sich in Fahrt geredet. Jetzt senkte sie die Stimme. »Sie sehen etwas Anstößiges«, zischte sie. »Sie halten uns für minderwertig. Sie sehen Menschen ohne Moral.«

»Wer sind denn ›sie‹, Ummu? Von wem redest du da?«

»Von den Leuten, die uns abfällig anschauen«, sagte sie. »Den Reichen.«

Ich sparte mir die Bemerkung, dass sie auf genau diese Art unsere Nachbarn anschaute und genauso schuldig war wie die anderen.

Sechs Wochen, nachdem Ali verschwunden war, sprach ich mit seinem ältesten Freund Yousseff oben im Café des Jeunes, wo er alten Männern Tee servierte.

»Pass auf«, sagte er, »ich schätze, Ali ist nach England gegangen. Das wollte er schon immer – um dort zu Ende zu studieren.«

»Wie soll er das anstellen? Er hat keinen Pass. Mir hat er gesagt, er würde seinen Berberbrüdern bei irgendeiner Gebietsstreitigkeit helfen.«

»Kann sein. Trotzdem wette ich, er ist in England. Sobald er sich eingelebt hat, sobald er kann, ruft er dich bestimmt an. Ah, salam alaikum!« Er wandte sich einem Stammgast zu, und mir war klar, dass ich gehen konnte.

Und jetzt bin ich hier. Meine Gefühle sind unvorhersehbar, sie kommen mir so schwankend vor wie der Boden, nachdem ich zum allerersten Mal geflogen bin.

Ich denke an die Reise, an die Entfernung, die das Flugzeug mit mir zurückgelegt hat, von der Wärme des Südens in diese raue Kälte des Nordens. Langsam begreife ich, dass sich nach diesem Flug nichts mehr so anfühlen wird wie früher. Die Welt ist doch nicht, wie ich dachte. Die Luft ist kein leerer Raum, sie kann sogar die gewaltige Masse aus Eisen und Stahl eines Flugzeugs voller Menschen tragen. Gleichzeitig habe ich erkannt, dass die Erde nicht fest ist; Menschen können in ihr verschwinden, so wie Ali verschwunden ist. Und obwohl ich wieder auf dem Boden bin, bekomme ich jetzt das schreckliche Gefühl, dass ich genauso spurlos verschwinden könnte.

Ich strecke eine Hand aus und drücke sie gegen die kühle Wand, um wieder Halt zu finden. Und denke darüber nach, wo ich bin.

Dieses Haus ist vollkommen anders als das von Monsieur und Madame in Rabat. Ihre Villa hatte automatische Tore, Gärten und Flure so breit wie Straßen und Salons, die so groß wie eine Moschee waren. Dieses Haus ist hoch und zwischen andere gequetscht wie eine arme Frau in einem überfüllten Bus.

Als ich ankam, hat Theodora selbst die Tür geöffnet. Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Groß, bernsteinfarbenes Haar. Sie hat gelächelt, aber aus Erfahrung weiß ich, dass das Äußere trügen kann. Ich denke an Madame. Wie freundlich sie gewirkt hat, bis ich gehen musste.

Hinter der Tür ein schmaler Flur. Gemälde an den Wänden, Spinnweben unter den Decken, nackter Holzboden, eine steile Treppe, die zu verborgenen Zimmern führt. Ich sah sofort, dass »Dora«, wie die anderen sie nannten, sich nicht um ihr Haus gekümmert hat. Es war klar, dass sie mich braucht. Das ist gut. So etwas eröffnet Möglichkeiten. Es gibt mir Macht.

Dieses Haus ist vornehm, aber es ist nicht gemütlich. In meinem Zimmer herrscht Kälte, eine feuchte Kälte, der ich nicht entkommen kann, egal, wie tief ich mich unter die Decke verkrieche. Ich habe einen Fleecepullover über mein T-Shirt und eine Jogginghose angezogen, um warm zu werden, aber meine Finger sind immer noch taub. Neben meinem Bett stehen eine Lampe und eine Vase mit alten braun verfärbten Rosen. Im Zimmer riecht es nach Katze.

Das Bett sackt unter mir ein. Meine Lider kribbeln vor Müdigkeit. Ich ziehe die Steppdecke enger um mich, schließe die Augen vor dem klammen Raum, der Kälte, den fremdartigen Geräuschen der Nacht. Vor allem, was hinter dieser Tür auf mich wartet.

Ich sehne mich nach Leilas warmem Körper, danach, sie an mich zu ziehen. Nach der Art, wie sie sich an die Rundungen meines Körpers schmiegt, so wie die Mosaikfliesen an die Wände der Moscheen zu Hause.

Wenn man sich Mühe gibt, sage ich mir, findet man immer einen Weg zu bekommen, was man braucht. Konzentrier dich. Genau das musst du jetzt tun. »Wenn das Geld knapp wird«, hat Ali oft gesagt, »werden wir erfinderisch.«

Ich werde dafür sorgen, dass Leila die Schule besucht. Ich werde Ali finden. Und dann, inshallah, fahren wir zusammen nach Hause, und ich muss nie wieder hinter einer anderen Frau herputzen.

Kapitel vier

Ich war als Einzige von uns Geschwistern bereit, Daddy bei mir aufzunehmen.

Die anderen zeigten ihr wahres Gesicht, als wir Mummys Sarg in die Erde senkten. Als hätte eine wachsame Gottheit den Blick von ihnen genommen. Sie benahmen sich wie Kinder, die glauben, sie könnten nach Herzenslust gemein und verantwortungslos sein, solange sie nicht erwischt werden.

Die einzelne Dahlie – Mummys Lieblingsblume –, die wir ihr nachwarfen, das Knirschen, als die Erde auf den Eichensarg fiel, all das kommt mir jetzt vor wie der erste Schritt auf dem Weg in den moralischen Abgrund, den die drei anderen einschlugen, sobald sie den dunklen Gräbern den Rücken kehrten.

Das war Ende Oktober, vor einem Jahr.

Uns war nicht klar gewesen, dass sich das Begräbnis bis in die Dunkelheit hineinziehen würde. Nach dem Altweibersommer hatten wir auch nicht damit gerechnet, dass es regnen würde. Verloren und wie eingesperrt standen wir unter den Ästen der Platanen auf dem Friedhof. Das erste gelbe Herbstlaub trudelte herab und heftete sich wie Strafzettel an Mummys Sarg.

Simon und Anita stürzten sich auf mich, als ich mich an die Ufermauer lehnte. Ich starrte auf das dunkle Wasser und dachte über meinen Namen nach.

Theodora.

Daddy hat ihn nach meiner Geburt ausgesucht, so wurde es mir gesagt. Geschenk Gottes. Er gab mir eine Goldkette mit dem Namen, die ich ständig trug; das Metall lag warm um meinen Hals. Ich war Daddys Gottesgeschenk. Geschwister bekommen in ihren Familien immer einen Stempel aufgedrückt, jeder wird auf eine Rolle festgelegt. Ich war die Selbstlose. Deshalb war es natürlich meine Aufgabe, die Verantwortung zu übernehmen, als unsere Mutter krank wurde. Ich musste ihre Beerdigung organisieren und mich um Daddy kümmern.

Ich starrte über die Ufermauer und ließ meine Tränen in die trüben Tiefen fallen. Es war fast eine Beleidigung, dass sich die Welt einfach weiterdrehte, obwohl wir gerade unsere Mutter beerdigt hatten. Ausflugsschiffe pflügten den Fluss hinauf. Musik dröhnte von ihnen herüber, und in ihrem Kielwasser klatschten Wellen gegen das Pfahlwerk. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich eine schmale Treppe. Ich stellte mir vor, wie man die Stufen hinunter in die reißende Strömungen und Wellen der Themse stieg und welche Erleichterung es in gewisser Weise wäre. Eine Erlösung von der dumpf schmerzenden Trauer, die auf mir besonders schwer lastete, weil ich die Rolle der Versorgerin übernommen hatte.

Simon hielt seine neueste Flamme im Arm. Simon war der Lustige. Der Freie und Ungebundene. Er brachte ausländischen Studenten Englisch bei. Ich vermutete, das tat er nur, um Frauen aufzureißen. Er genoss sein Singleleben viel zu sehr, um sich ernsthaft auf sie einzulassen. Ich fragte mich, ob diese Frau meinen kleinen Bruder mochte. Oder sah sie ihn nur als Möglichkeit, an einen britischen Pass zu kommen? Und was in aller Welt hatte sie auf der Beerdigung unserer Mutter zu suchen?

»So«, fing Anita an, »Terence hat Daddy rüber ins Pub gebracht. Wir müssen entscheiden, wo er bleiben kann, bis wir etwas organisiert haben.«

»Er kommt natürlich mit zu mir. Ich werde ihn doch nicht am Abend von Mummys Beerdigung rauswerfen.«

»Das wollte ich auch nicht andeuten«, antwortete Anita. »Aber kommt er in der Wohnung zurecht? Kann er für sich selbst sorgen?«

»Ich lasse ihn da ja nicht einfach allein. Ich habe schon ein Auge auf ihn.« Es war erstaunlich, dass Anita anscheinend gar nicht begriff, was ich für Daddy getan hatte.

»Ja«, sagte sie, »aber Leo soll doch in die Wohnung ziehen, dachte ich, und …«

»Ehrlich gesagt traue ich Leo im Moment nicht zu, allein zu wohnen«, unterbrach ich sie und bedauerte es sofort.

Sie zog die Augenbrauen hoch und tauschte einen Blick mit Simon. Anita war die Hübsche. Sie glitt durch das Leben, völlig unberührt von den Hindernissen und Anforderungen, mit denen wir anderen uns herumschlagen mussten.

»Hör mal«, sagte sie jetzt, »ich meine doch nur, wir wissen, dass du arbeitest und dich um Leo kümmerst. Also, wenn es sein muss, könnten Richard und ich Daddy nehmen – na ja, nicht allzu lang, nur, bis wir etwas anderes gefunden haben. Aber für …«, sie zuckte mit den Schultern, »ein paar Nächte könnte er bei uns bleiben.«

»Hätte ich ein eigenes Haus, würde ich ihn nehmen, das wisst ihr ja«, warf Simon ein.

»Schon in Ordnung«, sagte ich. Und das war es auch. Einer von uns konnte und sollte Daddy nehmen. Es war unsere Pflicht. Sogar ein Privileg. Kein Opfer. Ihr Pech, wenn sie das nicht erkannten.

»Gut«, sagte Simon. »Das ist großartig, Dora. Bei dir ist er am besten aufgehoben.«

»Du musst nur aufpassen, dass er auch mal rauskommt«, bemerkte Anita. »Er darf sich jetzt, nach Mummys Tod, nicht hängen lassen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nur, dass er nicht den ganzen Tag untätig in der Wohnung sitzen kann – er braucht Anregung.«

»Das soll wohl heißen, ich würde ihn vernachlässigen!«

»Nein, Dor, aber solange du arbeitest, kannst du ihn nicht rundum versorgen.«

»Ich glaube, bis jetzt habe ich es ziemlich gut hinbekommen«, blaffte ich.

Anita hob die Hände, und Simon warf ihr einen Blick zu. Zum Glück kam in diesem Moment Terence herüber, unser ältester Bruder. Er war der Erfolgreiche, gelegentlich aber auch der Skrupellose, wenn er sich zu weit von der Familie entfernte.

»Je eher Dads Haus auf den Markt kommt, desto besser«, sagte er. »Ich habe mich erkundigt, was Pflegeheime kosten, und wir können uns auf tausend Pfund in der Woche gefasst machen. Das können wir wahrscheinlich nur finanzieren, wenn wir verkaufen.«

»Wir brauchen kein Pflegeheim«, widersprach ich. »Und über die Zukunft können wir reden, wenn wir nicht mehr so mitgenommen von der Beerdigung sind. Es würde Daddy nur aufregen, wenn wir heute darüber sprechen. Dann würde er ganz abstürzen. Erst mal bleibt er bei mir.«

Ich war Theodora, die Selbstlose, die das Richtige tat, und ihren Seufzern hörte ich die Erleichterung an.

»Hat jemand nachgesehen, ob sie im Pub das Essen bereitgestellt haben?«, fragte Anita.

»Ja, das hat Terence schon erledigt«, antwortete Simon. »Vielleicht sollten wir uns auf den Weg machen.«

Wir setzten uns im Mayflower zusammen, Daddys Lieblingspub in Rotherhithe, reichten Sandwiches herum und sprachen darüber, wie sehr Mummy sich über dieses Wiedersehen gefreut hätte – in den letzten Jahren hatten wir es nicht geschafft, uns zu treffen. Beziehungsprobleme und Sorgen um die Kinder hatten uns Scheuklappen angelegt. Erst durch Mummys Krankheit merkten wir, wie alt sie und Daddy geworden waren. Uns war klar, es war zu spät für die Familientreffen, von denen unsere Mutter früher immer gesprochen hatte, und auch für die Reisen, die sie geplant hatte.

Wie ironisch, dass ihr Tod uns endlich zusammenbrachte.

In diesem Augenblick begriff ich noch nicht, dass ihr Tod uns auch auseinandertreiben würde.

Wir schüttelten ihren alten Freundinnen und einigen entfernten Verwandten, die sich eingefunden hatten, die Hand und bedankten uns für ihr Kommen. Leo schlurfte auf die Terrasse, um zu rauchen.

Daddy wurde wegen der Uhrzeit nervös, als müsste er zu einem wichtigen Termin.

»Dora«, sagte er, »höchste Zeit zum Aufbrechen. Wir wollen doch nicht zu spät kommen. Es ist schrecklich dunkel.«

»Ist schon gut.« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wir müssen uns nicht beeilen. Auf uns wartet nichts.«

Dann sah er mich mit diesem verwirrten Blick an, der hieß: Willst du mich zum Narren halten? Oder verliere ich den Verstand?

Anita kämpfte mit ihren beiden kleinen Kindern und stritt sich mit Richard darüber, wer von ihnen erschöpfter war. Sobald sie ihren Whisky getrunken hatten, würden sie Jack und Jemima auf den Kindersitzen festschnallen, sie an die Bildschirme in ihrem Audi Estate stöpseln und zu ihrem kuschligen Leben in Muswell Hill zurückkehren.

Um sieben Uhr verabschiedeten sie sich, wie ich es vorhergesagt hatte.

»Wenn wir jetzt fahren, schaffen wir es noch ins Ben’s zum Abendessen«, hörte ich Richard murmeln. Fehlte ihm wirklich jedes Feingefühl, oder war das seine Art, den Tod seiner Schwiegermutter zu »verarbeiten«?

Terence und seine neue Freundin Ruth sahen nach, ob sie genug Geld für ein Taxi hatten.

»Dora«, sagte Terence und legte mir eine Hand auf die Schulter, »Daddy muss nach Hause. Er ist todmüde.«

»Weiß ich.« Ich gab mir Mühe, nicht verärgert zu klingen. »Ich gehe, sobald ich Leo von der Bar loseisen kann.«

Er zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Meine Geschwister wollten Leo einfach nicht verstehen. Sie dachten, genau wie Roger, ich würde ihm zu viel durchgehen lassen. Sie meinten, ich müsste nur ein Machtwort sprechen, damit er loszieht und sich Arbeit sucht, statt jeden Tag von morgens bis abends zu rauchen und Autorennen im Fernsehen anzuschauen. Im Moment stand er mit einem Red Bull und einer Marlboro auf der Terrasse. Es würde ein Kampf werden, ihn dort wegzubekommen. Aber ich wollte nicht ohne ihn gehen – ich wusste nie, wo er landen würde.

Simon plauderte mit seiner Begleiterin. Sie hatten sich in eine Nische gekuschelt und es sich für den Abend gemütlich gemacht.

Ich half Daddy in seinen Mantel und versuchte, etwas Zeit zu schinden, um die Konfrontation mit meinem Sohn hinauszuschieben.

»Ich weiß«, hörte ich Simon kichernd sagen. »In deiner Sprache heißt es ›auf‹ und ›zu‹. Hier sagen wir ›dunkel‹ und ›hell‹. Ja, sogar, wenn es um Farben geht. Und, was ist es jetzt, hell oder dunkel?«

»Es ist zu?«, riet sie, und er lachte, und dann drückte er ihr schmatzend einen Kuss auf die Wange.

Daddys Trauer und die anstehende Arbeit, sich um ihn zu kümmern, waren offenbar schon wieder aus Simons Gedanken verschwunden, nachdem die Beerdigung vorüber war.

Ja. Ab dem Tag, an dem wir Mummy beerdigten, ließen meine Geschwister die Maske fallen.

Kapitel fünf

Sonntagmorgen gehe ich hinunter in die Küche und finde dort Mona, die auf einem Schemel hockt und die Hände zwischen die Oberschenkel klemmt.

Ich bin Roger dankbar, dass er das organisiert hat, aber mir wird auch fast ein wenig schwindlig, denn er hat etwas Ungeheures erreicht. Einen Menschen quer durch Europa zu schaffen, nur für mich. Wahrscheinlich hat er immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich damals ausziehen musste, und ich jetzt auch unseren Sohn versorge.

Aber es ist in Ordnung. Es ist legal, größtenteils. An der Grenze musste Roger vorgeben, sie sei seine Haushaltshilfe – sie würde zu ihm gehören. Da wir einmal verheiratet waren, war es zum Glück nicht schwierig, alles rechtmäßig aussehen zu lassen. Sollte jemand Fragen stellen, würde ich einfach sagen, Roger sei nach Marokko zurückgekehrt und Mona wäre bei mir geblieben.

Wegen ihres Visums kann sie sich allerdings keine andere Stelle suchen; sie gehört mir und nur mir.

»Sie müssen Daddy kennenlernen«, sage ich.

Mona steht auf und folgt mir nach draußen, am Haus vorbei und bis zur Kellertreppe. Daddys Eingang war früher die Hintertür des Hauses. Seinen Vordereingang am Fuß der Treppe, der direkt auf die Straße führt, habe ich abgesperrt, damit Daddy nicht auf Wanderschaft geht und sich nicht irgendwelche Einbrecher Zugang verschaffen.

Der Garten ist verwildert. Mir fehlt die Zeit, den Rasen zu mähen, und von Leo kann ich auch nicht alles verlangen. Durch das grüne Laub der Bäume am Ende des Gartens schimmern goldene Blätter. Birnen verfaulen im Gras. Überall scheinen Dinge herabzufallen – Blätter, Spinnen, Pflanzensamen, Spelzen, die letzten matten Insekten. Ich kann kaum glauben, dass wir wieder Oktober haben, dass seit Mummys Tod ein Jahr vergangen ist.

»Daddy hat seine eigene Wohnung«, erkläre ich Mona, als wir die Stufen zum Keller hinuntersteigen. »So kann ich ein Auge auf ihn haben, und er bleibt trotzdem selbstständig.«

Sie sieht mich an. Wieder überlege ich, wie gut sie mich wohl versteht.

Unten öffne ich seine Tür und gehe mit ihr hinein.

Anfangs fand ich es schön, Daddy im Haus zu haben, trotz der traurigen Umstände. Mummy nach kurzer Krankheit gestorben, Daddy, der auf sie angewiesen war, entwurzelt und in die Einliegerwohnung unter mir umgesiedelt. Zwei lebhafte, erfolgreiche, sogar mondäne Menschen waren innerhalb eines Jahres verfallen, der eine zu Staub, der andere zu einem Schatten seiner selbst. Durch Daddys Nähe fühlte ich mich wieder vollständig, als wären zwei getrennte Teile von mir, die Erwachsene und das Kind, wieder vereint worden. Ich wollte Daddy zeigen, dass ich im Innersten immer noch der Mensch war, den er so geschätzt hat, bevor ich erwachsen wurde.

Damals lief es bei der Arbeit gut. Nach den ersten Gehversuchen im Radio hatte man mich ins Vormittagsprogramm befördert und mir meine eigene Sendung gegeben, Theodora Gentleman, die Stimme Südostenglands. Leo war zurückgekommen, um hier die Oberstufe zu besuchen. Weil Roger wollte, dass er sich vor seinem Studium in England einlebte, besorgten wir ihm einen Platz an einer der besten Schulen der Gegend.

Dann ließ er sich mit einer Clique ein, die einen schlechten Einfluss auf ihn hatte. Er fing an, die Schule zu schwänzen. Es wurde immer schlimmer. Er ließ sich dabei erwischen, wie er vor der Schule Drogen verkaufte, und wurde in das Büro des Direktors geschleift. Danach wurde er eigenbrötlerisch und schmiss die Schule. Das wirft Roger mir immer noch vor.

Eine Zeit lang half Leo mir mit Daddy. Sie verstanden sich gut, auch wenn sie kaum etwas unternahmen. Als sich Daddys Gesundheitszustand verschlechterte und Leo an allem das Interesse verlor, auch an seinem Großvater, wurde ich nicht mehr mit beiden fertig. Am Ende knickte ich ein, rief Roger an und hörte mir seine Tiraden an, ich würde zu viel arbeiten und unseren Sohn vernachlässigen.

»Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er seinen Großvater pflegt.«

»Schon möglich. Aber meine Arbeit ist wichtig, und ich kann nicht alles allein machen.«

»Wir arbeiten alle, Dora.«