Schattenwende - Christian Geiss - E-Book
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Schattenwende E-Book

Christian Geiß

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Beschreibung

Schattenwende - Berlin, November 1989: Die BND-Agenten Kaleb Geidi und Jörn Becher widersetzen sich ihrem Auftrag und handeln auf eigene Faust. Mit Informationen, die nicht für seine Augen bestimmt waren, taucht Geidi in Amerika unter, um dort ein ruhiges und bürgerliches Leben zu führen. Doch Jahre später holen ihn die Schatten seiner Vergangenheit ein. Nachdem seine Freundin Kati entführt wurde, muss er sich seinem damaligen Leben stellen. Längst vergessene Feinde, internationale Geheimdienste und eine militante Untergrundorganisation bringen ihn zwischen alle Fronten. Buchkritik aus dem Magazin: DURCHBLICK. Ehrlich wie ich bin, gebe ich gerne zu, dass ich, als ich "Schattenwende" in den Händen hielt, überhaupt keine Lust verspürte, einen Spionageroman oder Agententhriller zu lesen. Jeder hat nun mal so seine Vorlieben - und meine liegt nicht wirklich in diesem Genre! Aber - eins kann ich den Lesern versprechen: Geiß schafft es, durch die Leichtigkeit seines Schreibstils und die spannende Art zu Erzählen, auch "Spionage-Agenten-Romane-Nichtleser" zu erreichen und von seinem Buch zu überzeugen! Ich auf jeden Fall, freue mich schon auf einen weiteren Roman von ihm! der-durchblick.eu/

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Seitenzahl: 320

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Ähnliche


Christian Geiss

Schattenwende

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Impressum neobooks

Kapitel 1

Lediglich der Mond schaut zu, als Kaleb seine Hände um Katis zierliche Hüften legt und sie mit Schwung auf den kleinen Holzsteg hebt, der sich am Rand eines idyllischen Waldsees befindet, um dann selbst mit einem gekonnten Sprung hinterher zu kommen. Gleichzeitig produziert Kati mit ihren Füßen einzelne Wasserspritzer, die sich bis zur angrenzenden Liegewiese verteilen.

An der Stelle, an der die beiden sich befinden, gibt es durch die schnellen Bewegungen im Wasser kleine Kreise, die eine langsam auf das Ufer zutreibende Welle verursachen. Auf diesem aus Lärchenbrettern zusammengezimmerten Steg drückt Kaleb sie mit dem Rücken ganz sanft an die dunklen, vom Wind gegerbten Holzplanken und fängt an, Kati vom Knöchel aufwärts zu küssen. Als seine Lippen ihr Knie berühren, spürt er, wie Kati beginnt, mit einer Hand in seinem Haar zu wühlen, mit der anderen Hand streichelt sie sich selbst über ihren glatten, wunderschönen Bauch. In der Krone der Birke, die direkt am See steht, heult ein Uhu, aus dem angrenzenden Wald ist das Klopfen eines Spechts zu hören und im Licht des Mondes huscht der Schatten einer vorbeifliegenden Fledermaus vorüber. Langsam wird ihr Atem gleichmäßiger und seine Küsse wandern langsam ihr linkes, vom Schwimmen noch feuchtes Bein hinauf. Ab und zu kneift Kaleb zärtlich in ihre von der Sonne gebräunte Haut. Am Ende des Beines verweilt er mit seinen Küssen etwas länger, bevor diese ihren unaufhaltsamen Weg nehmen. Kati hat inzwischen ihre Hände auf seinen Rücken gelegt, ihr Atem ist ruhig und flach und die Finger ihrer Hände bohren sich in seinen durchtrainierten, muskulösen Rücken. Keiner der beiden achtet darauf, was um sie herum passiert. Die Frösche stellen aus Ehrfurcht das Quaken ein und der große wuschelige Biber, mit seinem braunen Fell, bringt seine Biberkinder in den Bau, da sie noch zu jung sind, um so etwas zu sehen. Kaleb und Kati bekommen von alledem jedoch nichts mit, sie bewegen sich inzwischen in einem Rhythmus, der wie der Schwanentanz von Tschaikowski mal langsam, fast schon stillstehend ist und dann wieder wie das Brausen des Meeres anschwillt, bis sie sich ganz der Leidenschaft zweier sich Liebender hingeben.

Es ist schon weit nach Mitternacht, als sie Hand in Hand über den Schotterweg zurück zu seinem dunkelblauen Coupé, den er am Waldrand geparkt hatte, gehen.

„Du bist ­–“

Kaleb hielt inne, was sollte er sagen. „Du bist wunderschön“ – das wäre eine gnadenlose Untertreibung gewesen; kein Vergleich und kein Kompliment hätte auch nur annähernd ihre Schönheit beschreiben können.

Sollte er sagen: „Ich liebe dich“? Diese drei Worte wurden viel zu oft gesagt, ohne darüber nachzudenken, was sie bedeuten. Mancher Mann sagt sie morgens zu seiner Frau, um sie anschließend in der Mittagspause mit seiner Sekretärin zu betrügen. Diese drei Worte konnte er ihr nicht sagen. Das, was er für Kati empfand, war weit mehr als Liebe, die doch oft von Selbstsucht gekennzeichnet ist.

Immer noch hatte er seinen Satz nicht beendet. Vielleicht merkte Kati ja, was in seinem Kopf vorging, denn sie drückte seine Hand und küsste ihn.

„Du brauchst nichts zu sagen. Es war wie immer wunderschön mit dir.“

Vor ihnen tauchte das kleine Kassenhäuschen auf, in dem tagsüber ein Rentner einen viel zu hohen Eintritt kassierte. Aber dafür konnte der Mann in dem Häuschen ja nichts. Er war sicher froh, in seinem Ruhestand etwas zu tun zu haben und für ihn war es eine Möglichkeit, ab und zu aus dem Haus zu kommen.

Hinter der Schranke, die für Autos die Zufahrt zum See blockierte, erblickte Kaleb sein Schmuckstück auf vier Rädern.

Autos waren neben Frauen seine große Leidenschaft. Bevor er Kati kennenlernte, hatte er seine Autos immer besser gepflegt als seine Freundinnen. In der Regel hatte er seine Autos auch länger. An seinem Coupé angekommen, machte Kaleb zuerst die Beifahrertür auf und ließ Kati als Erste einsteigen. Kurz zuckte sein rechter Backenmuskel. In der Ferne war das Quaken der Frösche zu hören und alles schien ruhig zu sein. Kalebs Instinkte jedoch rieten ihm zur Vorsicht. Die Ausbildung in einer Spezialeinheit des BND hatten seine Sinne extrem geschärft. Sein Gehör glich dem einer Fledermaus und seine Augen waren so scharf wie die einer Eule. Mit diesen durchsuchte er den vor ihm liegenden, nur vom Mond und den Sternen erleuchteten Wald.

Das Geräusch war jedoch nicht von vorne gekommen, sondern hatte eher wie das Spannen einer Armbrust in einiger Entfernung hinter ihm geklungen. In seinem Kopf spielten sich nun in rasender Geschwindigkeit die Möglichkeiten ab, die ihm zur Wahl standen. Er hätte das Handschuhfach öffnen, seinen geladenen Revolver herausholen, mit einem Satz über die Motorhaube springen und hinter dem Auto Deckung suchen können. Dies wäre wohl die beste Wahl gewesen. Allerdings hätte das einige Sekunden gedauert, und wenn er hinter dem Auto Deckung gefunden hätte, wäre Kati die Augenblicke, in denen er über die Motorhaube gesprungen wäre, wie auf dem Präsentierteller gewesen. Selbst wenn er die Tür zugeworfen und ihr zugerufen hätte, sie solle sich flach ins Auto legen, wäre es für einen Stahlpfeil oder einen Bolzen aus einer Armbrust dennoch kein Problem gewesen, eine Autotür zu durchschlagen und anschließend den Brustkorb seines Ziels zu durchbohren. Bei vielen Personen wäre ihm das egal gewesen. Die Ledersitze und das Auto wären von innen gereinigt und die Sache unter dumm gelaufen abgehackt worden. Bei Kati war es ihm jedoch nicht egal. Sie war nicht nur wunderschön, hatte endlos lange Beine und Brüste, die dazu einluden, sein Gesicht darin einzugraben. Er dachte an ihre leidenschaftlichen Küsse und die Liebesnächte, in denen sie sich liebten, bis die Sonne im Osten den Horizont in purpurrotes Licht tauchte. Er liebte ihre ganze Art, ihre Lebensfreude, ihr Umgang mit Kindern und die Art, wie sie zusammen lachten. Nein, für diese Frau wäre er eher gestorben, als sie der Gefahr des Todes auszusetzen.

Die zweite Möglichkeit und für ihn wesentlich gefährlichere war, mit einer Handbewegung den Revolver aus dem Handschuhfach zu holen und sich im gleichen Moment umzudrehen. Dann wüsste er zwar nicht, wohin er schießen musste, aber er konnte hoffen, dass derjenige, der dort im Wald war, noch ein Geräusch verursachen und ihm dadurch zeigen würde, in welche Richtung er zu schießen habe. Aber wie sollte er Kati erklären, dass er ein geladenes Schießeisen dabei hatte und mit dieser auch noch umgehen konnte? Sie waren seit zehn Jahren ein Paar. Nachdem sie gemeinsam von Deutschland nach Amerika ausgewandert waren, hatten sie hier in Louisiana einen Ort gefunden, wo sie sich wirklich wohlfühlten. In all den Jahren war er für sie immer der erfolgreiche, von vielen Zeitungen begehrte Reporter gewesen.

Vor seiner Ausreise in die USA und während seiner Zeit beim BND war er schon durch unzählige Verhöre gegangen, bei denen er nackt mit auf den Rücken gefesselten Händen auf einem Stuhl gesessen hatte und ein Strahler von mindestens fünfhundert Watt zehn Zentimeter vor seinem Gesicht eine größere Hitze verbreitete als die Sonne in der Sahara. Aber Scheiße, er könnte ihr sagen, was er wollte, letzten Endes würde er es ihr nicht wirklich erklären können. Kaleb entschied sich somit für die, wenn man das Lehrbuch für solche Fälle betrachtet, wohl dümmste Variante. Er tat so als habe er nichts gehört, lächelte Kati an, machte ihre Tür zu und schritt langsam um das Auto herum, immer bereit, falls er das Klicken des Abzugs hören sollte, einen Sprung auf die andere Seite des Wagens zu machen. Bei jedem Schritt spielte sich das Szenario in seinem Kopf ab. Als er an der Fahrertür angekommen war, wanderten seine Augen noch einmal durch den Wald. Aber da er nichts sah und hörte, steckte er den Schlüssel in die Zündung, trat die Kupplung und legte den ersten Gang ein.

„War was?“ fragte Kati.

Sie hatte ein gutes Gespür für gefährliche, nicht alltägliche Situationen. Kaleb schüttelte den Kopf, lächelte sie liebevoll an, aber gab ihr darauf keine Antwort.

Als sie auf der von Straßenlaternen beleuchteten Hauptstraße ankamen, legte sich seine innere Anspannung. Kati hatte den Sitz nach hinten gedreht und war mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen. Wenn sie von seiner Vergangenheit erfahren würde, wüsste sie, dass es eine Menge Menschen gab, die schon lange Zeit auf der Suche nach ihm waren und kein Problem damit gehabt hätten, ihn oder sonst jemanden aus seinem näheren Umfeld zu töten.

Nach einer halben Stunde Fahrt waren sie an dem einsam gelegenen Landhaus, in dem Kati wohnte, angekommen. Er hatte sie schon oft noch mit hineinbegleitet, dort waren sie dann gemeinsam eingeschlafen oder hatten noch lange über Gott und die Welt geredet. Den folgenden Tag begannen sie dann immer mit einem gemeinsamen Frühstück, bevor Kati zur Arbeit in die städtische Verwaltung und er – zu seinem Job in dem örtlichen Verlag ging. Aber heute Nacht nicht, dachte er. Am Haus angekommen zwickte er sie sachte in den Bauch. Natürlich fragte sie ihn, ob er noch mit hineinkommen wollte. Diese Frage gehörte an das Ende eines solchen Abends, wie das Amen in der Kirche.

Aber irgendetwas drängte Kaleb, heute Nacht lieber in seine Mietwohnung in der Stadt zu fahren.

„Nein, heute nicht, ich muss morgen früher raus und mich auf meinen Artikel im Feuilleton vorbereiten.“

Kati schaute etwas überrascht, da es ganz selten vorkam, dass er nicht mehr mit hineinkam und vor allem nach dem, was eben passiert war, hätte sie es erwartet. Aber sie konnte ihn ja auch nicht zwingen, noch mit hineinzukommen.

„Schade, ich hätte gerne morgen früh da weiter gemacht, wo wir eben am See aufgehört haben, aber wenn du nicht kannst, ...“

Sie küsste ihn, dann ging sie ins Haus.

Normalerweise dachte Kaleb bei der Rückfahrt an Kati und dass er im Leben noch nie so einer Frau begegnet war. Aber heute drehten sich seine Gedanken darum, ob sein Gehör ihm einen Streich gespielt hatte und er sich das Spannen der Sehne einer Armbrust oder eines Sportbogens nur eingebildet hatte. Eigentlich war dies nahezu unmöglich, denn sein Hörsinn war der Schärfste seiner Sinne. Aber wenn dort im Wald jemand gestanden und auf ihn gezielt hatte, wieso hatte er dann nicht geschossen? Oder war gar nicht er, sondern Kati das Ziel und wenn ja, wieso?

In seiner Wohnung befestigte er von innen die drei zusätzlichen Ketten an der Tür und kippte das Wohnzimmerfenster. Die Fenster öffnen wollte er nicht, dann hätte das schusssichere Glas, das er sich extra anfertigen ließ, keinen Sinn mehr gehabt. So stand er am gekippten Fenster, rauchte genüsslich seine Zigarette und dachte darüber nach, was zu tun sei, falls jemand aus seiner längst vergessenen Vergangenheit ihn gefunden hätte. Aber das konnte und wollte er einfach nicht glauben.

Kapitel 2

Deutschland einige Tage zuvor -

„Polizeinotruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“

Für einige Sekunden blieb die Leitung stumm. Dann wiederholte Frau Rollflügel ihre Frage: „Was ist Ihr Anliegen?“

Aber sie bekam keine Antwort.

Damaris Rollflügel wollte gerade in den Hörer rufen, dass dies keine Leitung für blöde Scherze sei. Aber da erklang auch schon der gleichmäßige Piepston, der ihr zeigte, dass ihr Gegenüber bereits aufgelegt hatte.

So machte sie ihre übliche Notiz in ihren Berichtsbogen über einen Anruf um zwei Uhr dreiundfünfzig.

Ein seltsamer Anruf. Am nächsten Morgen würde sie den aufgezeichneten Anruf dem Chef der Polizeistation vorspielen. Eigentlich wollte sie mit ihrem Chef nicht viel zu tun haben und war froh, wenn sie zur Nachtschicht eingeteilt war. Aber es gehörte zu ihrer Pflicht, ihn über alle eingegangen Anrufe zu informieren. Sie mochte den Chef der Polizeistation, Jörn Becher, nicht. Sie hatte immer das Gefühl, dass er ihr, sobald sie sich umdrehte, auf den Hintern starrte und auch seine Art, mit seinen Mitarbeitern umzugehen, behagte ihr nicht. Mit seiner Körpergröße von höchstens einem Meter fünfundsechzig und seinem kleinen Schmerbauch, der sich unübersehbar hinter seinem in der Regel schlecht gebügelten Hemd befand, zählte er nicht gerade als Musterbeispiel für einen durchtrainierten Polizisten. Das und seine chauvinistische, arrogante Art machten Herrn Becher in ihren Augen zu einem der unausstehlichsten Männer, denen sie bisher je begegnet war. Just in dem Moment, als Frau Rollflügel aufstehen und sich im Flur einen Kaffee aus dem Automaten im Flur holen wollte, klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Nicht nur, dass es ungewöhnlich war, dass in einer Stadt wie Lichtach überhaupt jemand nachts die Notrufnummer wählte, aber nachts um kurz vor drei zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten war eine echte Ausnahme.

„Notruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“

Auch diesmal passierte nichts. Wieder war kein Ton zu hören. Damaris Rollflügel hielt den Atem an. Sie wollte gerade den Knopf für die Funkverbindung mit einem heute Nacht tätigen Streifenwagen betätigen, als sie zwei gedämpfte Schüsse im Erdgeschoss der Polizeistation hörte.

Kurze Zeit später ging das Licht im Treppenhaus an und sie vernahm Schritte. Ihr Puls sprang auf zweihundert und sie konnte das Pochen ihrer Halsschlagader spüren, ihre Hände waren schweißnass und ihr Mund wurde trocken.

Die Schritte im Treppenhaus kamen immer näher. Schnell drückte Damaris den Knopf für die Funkverbindung mit einem der diensthabenden Streifenwagen.

„Notfall in der Zentrale, bitte direkt kommen.“

Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis derjenige, der dort die Treppe hinauf kam, die Tür zu ihrem Büro aufstoßen würde. Da sie keine Polizistin, sondern lediglich Angestellte für den Polizeinotruf war, hatte sie nicht einmal eine Waffe. Aber sie wusste, dass einer der Polizisten, eine Pistole in der oberen Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte – allerdings befand sich dessen Büro am anderen Ende der Etage und so war es unmöglich, jetzt dorthin zu gelangen, ohne demjenigen, der auf der Treppe war zu begegnen. Sie glitt von ihrem Stuhl und versteckte sich unter ihrem Schreibtisch. Auf der Straße konnte sie entfernt die Sirenen des Streifenwagens hören, sie lauschte, ohne die Augen von der Tür ihres Büros zu lösen. Nach ihrer Berechnung musste sich diese jeden Moment öffnen. Ihr Blick fixierte die Türklinke, aber nichts passierte. Die Schritte, die sie vor wenigen Momenten noch deutlich gehört hatte, waren verschwunden. Das Einzige, was jetzt durch die Räume schallte, waren die Sirenen, die höchstens noch eine Straße von der Polizeistation aufheulten. Ihre Kehle war trocken und ihre Hände schweißnass. Der Streifenwagen war jetzt vor der Polizeistation, die Sirenen verstummten und das Einzige, was sie hörte, waren zwei flüsternde Männerstimmen. Es dauerte nicht lange, dann stand Rainer Heimer, einer der Polizisten dieser Station, mit erhobener Waffe in ihrem Büro. Eine Sekunde später betrat ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, mit der Waffe im Anschlag den Raum.

„Damaris, was ist los?“, sagte Rainer und seine Stimme hatte etwas an sich, dass sie schwer zuordnen konnte. Augenblicklich wurde ihre Haut aschfahl und mit zitternder Stimme antwortete sie auf die Frage. „Irgendjemand war hier in der Station und es gab zwei Schüsse. Wo sind die beiden Wachleute, die unten im Foyer Dienst haben?“ Eigentlich war ihr die Antwort klar.

Rainer nahm ihre Hand. Damaris fiel sofort auf, dass seine Hand ganz kalt war. „Sie sind tot“, sagte er leise. „Hast du irgendjemand gesehen? Oder war irgendetwas Ungewöhnliches in dieser Nacht?“

„Gesehen habe ich nichts, ich habe nur die zwei gedämpften Schüsse gehört. Ja und dann gab es da ein Telefonanruf. Es hat wie ein Jungenstreich geklungen. Ich habe aber alles auf Band und werde es morgen dem Chef vorspielen.“

„Hast du Herrn Becher noch nicht über die Vorfälle informiert?“

„Nein, bis jetzt noch nicht. Ich denke, wir sollten ihn anpiepsen und dann auch direkt die Spurensicherung aus Dieken kommen lassen.“

Das „lassen“ wäre ihr fast im Hals stecken geblieben. Rainers Hand hatte ihre losgelassen. In seinen Augen sah sie, dass etwas nicht stimmte. Rainer wusste, wie man mit einer Handbewegung jemandem die Halswirbel brechen konnte. Aus seiner Tasche holte er einen schwarzen Lederhandschuh, wie ihn alle Polizisten mit sich führten. Er streichelte ihr mit der linken Hand über das blonde, kurz geschnittene Haar. Dann schnellte seine Rechte an ihren Unterkiefer, sodass der Kopf ruckartig nach hinten flog.

Es knackte, wie wenn man dürres Holz im Winter für den Kamin klein machte. Nur, dass hier kein dürres Holz gebrochen wurde, sondern einer der Halswirbel von Damaris Rollflügel. Eigentlich hätte Damaris nun die letzte Ehre zu Teil werden sollen. Jedoch war dort niemand, der für sie ein Gebet sprach oder ihre vor Todesangst geweitet Augen schloss. Erst, wenn die Spurensicherung ihren Job gemacht hatte, würde sie mit einem städtischen Leichenwagen abtransportiert werden und dann würden auch ihre Augen geschlossen werden.

Für Rainer war dies hier ein Job, für den er bezahlt wurde und diesen wollte er gut ausführen. Mit seiner rechten, immer noch vom Lederhandschuh geschützten Hand, drückte er somit den Notrufknopf, um zusätzliche Streifenwagen zur Station zu ordern. Als Nächstes wurde Jörn Becher angepiepst und die Spurensicherung aus Dieken gerufen. Alles musste jetzt sehr schnell gehen. In der Regel braucht der nächstgelegene Streifenwagen höchstens drei Minuten bis zur Polizeistation und Herr Becher würde auch in den nächsten zehn Minuten hier auftauchen. Er war zwar ein unausstehlicher Typ, hatte aber einen Scharfsinn, der nicht unterschätzt werden durfte.

Kapitel 3

Vier Stunden Schlaf sind viel zu wenig, dachte Kaleb, als er beim Piepsen des Weckers sein Daunenkissen über den Kopf legte, um dieses schrecklich gleichmäßig monotone Piepsen nur noch gedämpft hören zu müssen. In der Küche sprang die elektronische Zeitschaltuhr der Kaffeemaschine an. In wenigen Minuten würde die Küche von Kaffeeduft erfüllt sein. Dann ein paar Aufbackbrötchen mit Nutella und der hausgemachten Erdbeermarmelade, die er jedes Mal auf dem Bauernhof einkaufte, wenn er dort Kati bei ihren Reitstunden zuschaute. Zu der Erdbeermarmelade noch ein wenig Quark, obwohl er sich da nicht mehr sicher war, ob er noch ein Päckchen im Kühlschrank hatte. Allmählich konnte er sich damit anfreunden aufzustehen, wenn da nicht immer noch dieses monotone Piepsen des Weckers gewesen wäre. Er zog das Kopfkissen zur Seite und betätigte den Schieber an seinem Wecker, sodass zumindest dieser Krach ein Ende hatte. Das einzige Geräusch war nun das Dampfen der Kaffeemaschine. Drei Tassen schwarzer Bohnenkaffee warteten darauf, sein Blut in Wallung zu bringen. Noch mehr als über drei Tassen Kaffee hätte sich Kaleb jetzt gefreut, neben Kati aufzuwachen und ihr einen Guten-Morgen-Kuss zu geben. Aber er hatte ihr eindeutiges Angebot gestern Abend im Auto ja abgelehnt. Es half nichts, er musste jetzt aufstehen. Sein morgendlicher Rundgang durch die Wohnung zeigte ihm, dass alles in Ordnung war, die Vorhängeschlösser waren an ihrem Platz, alle Jalousien unten und die Fenster geschlossen. Wenn er jetzt die Brötchen in den Backofen stellte, hatte er noch zehn Minuten zum Duschen und Rasieren, das sollte reichen.

Das Bad war das größte Manko in seiner Wohnung. In erster Linie war es viel zu klein. Offenbar hatte der Monteur, als er hier die Armaturen anbrachte, einen ganz schlechten Tag gehabt. Das Waschbecken hing gerade so tief, dass es für Leute von einem Meter sechzig oder kleiner geeignet war. Kaleb hingegen musste sich mit seinen ein Meter einundachtzig immer bücken. Eigentlich war das ganze Bad für Kleinwüchsige. Der Duschkopf konnte höchstens auf einen Meter siebzig geschoben werden, Kaleb musste beim Duschen immer in die Hocke gehen. Der Spiegel vom Hängeschrank zeigte ihm, wenn er aufrecht stand, gerade noch die Mitte seiner Stirn, aber nicht mehr seine Haare. Egal, das Haus hatte zwanzig Wohnungen und war so anonym, dass sich keiner dafür interessierte, was sein Nachbar macht oder nicht macht und der Vermieter lebte irgendwo in Australien. Wenn die Miete pünktlich gezahlt wurde, bekam man auch den Hausverwalter, Herrn Ropp, nie zu Gesicht. Herr Ropp war ohnehin ein besonderer Mensch. Er hatte als Hausmeister die Wohnung im Erdgeschoss bezogen. Kaleb hatte im Fahrstuhl einmal mitbekommen, wie zwei Frauen wetteten, dass selbst eine kommunistische Wanderschnecke schneller sei als Herr Ropp, und innerlich hatte er ihnen recht gegeben und gegrinst. Nein, Herr Ropp würde nie freiwillig eine Wohnung inspizieren, und selbst wenn er darum gebeten wurde, dauerte es Tage, wenn nicht Wochen, bis er den Ersatzschlüssel gefunden hatte und sich zu der Wohnung aufmachte.

Daher war die Wohnung für ihn perfekt. Es war eines von zwei etwas höheren Häusern in der Stadt und dadurch, dass er im obersten Stockwerk wohnte, konnte ihm auch eigentlich nie jemand ins Fenster schauen.

Er griff nach dem dunkelblauen Handtuch, das auf dem Hocker neben der Dusche lag.

In der Küche waren die Brötchen schon seit einigen Minuten fertig, aber nicht verbrannt, sondern goldbraun und knackig warm. Er wollte erst ein paar Brötchen essen und zumindest eine Tasse Kaffee trinken, bevor er seine E-Mails abrief und sich die neuesten News im Internet anschaute. Das mit den E-Mails war immer ein sehr kurzes Unterfangen. Seine E-Mail-Adresse war lediglich seinem Chef und Kati bekannt.

Da er Kati eigentlich fast jeden Tag sah, brauchten sie sich keine E-Mails zu schicken und sein Chef gab ihm lediglich kurze Statements zu seinen Artikeln oder bat ihn darum, vielleicht über dieses oder jenes Thema einen Artikel zu verfassen.

Der schwarze Kaffee tat seine Wirkung und sein Kreislauf lief jetzt, eine halbe Stunde, nachdem er aufgestanden war, auf Hochtouren. Wie befürchtet, hatte er beim letzten Einkauf vergessen, seinen Quarkvorrat aufzufüllen. Auf den Genuss des Quarkaufstrichs unter der Erdbeermarmelade musste er somit verzichten. Zum Glück war der Kaffee gut und die Nutella reichte noch für zwei Brötchen.

Normalerweise arbeitete er mit dem Notebook nur im Büro oder in der Redaktion, eigentlich setzte er sich damit niemals an den Frühstückstisch, aber heute machte er eine Ausnahme. Mit der Kaffeetasse in der Hand holte er das Notebook aus seinem Arbeitszimmer und stellte es auf dem Küchentisch auf.

Sein Passwort für das Internet war eine zehnstellige Nummer, die er damals vom BND bekommen hatte und die ihm, bis auf eine, alle Türen im geheimen Ausbildungslager in Beichbach in Ostbayern, nahe der tschechischen Grenze geöffnet hatte. Diese Nummer war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie, selbst wenn er nachts aus dem Schlaf geweckt würde, aufsagen konnte.

„Sie haben drei neue E-Mails“, meldete eine Stimme aus dem PC-Lautsprecher. Das war ungewöhnlich. Von gestern Abend bis heute Morgen hatte Kati ihm bestimmt keine E-Mail geschrieben und drei E-Mails von seinem Chef? Naja, vielleicht ein Lob für den Artikel von letzter Woche, eine Anregung für den Artikel morgen und – mal was Neues – eine Gehaltserhöhung. Seine Finger glitten über das Touchpad und der Mauscursor bewegte sich zu seinem E-Mail-Programm. Ein Doppelklick auf die linke Maustaste und das Programm öffnete sich.

Kaleb hustete die Brocken, die er noch vom Brötchen im Hals hatte, auf den Monitor und die Kaffeetasse fiel aus seiner Hand auf die hellblau-weiß marmorierten Küchenfliesen.

Mit einem Satz sprang er auf und lief in sein Schlafzimmer. Die kugelsichere Weste hing ganz rechts im doppeltürigen Kleiderschrank. In sein Schulterhalfter steckte er seine zwei kleinkalibrigen Waffen. Eine dritte Waffe saß in einem Halfter an seinem rechten Fuß. Hastig machte er sich aus der Wohnung. Zum Glück waren zu dieser Uhrzeit nur sehr wenige Menschen in diesem Haus unterwegs und zumindest im Treppenhaus oder im Fahrstuhl begegnete ihm niemand. Der Fahrstuhl war jetzt ohnehin zu langsam. Er sprang die Treppe hinunter und nahm immer vier Stufen auf einmal. Sein Coupé stand eine Straße weiter auf einem Sonderparkplatz für die Mieter des Hauses in der Diamond Street.

Bis zu Katis Landhaus benötigte er, wenn er sich beeilte, immer noch mindestens zwanzig Minuten. Das war vermutlich zu lange, aber schneller ging es nicht. Er holte das Letzte aus dem Coupé heraus. In der Stadt sprangen nachts alle Ampeln auf Grün, wenn man auf sie zufuhr und auf der Landstraße außerhalb der Stadt gab es nur eine Kreuzung, die er bis zum Landhaus passieren musste.

Die Reifen quietschten. Nach neunzehn Minuten war er da. So schnell hatte er noch nie den Feldweg erreicht, der zu ihrem Haus führte. Er stellte das Auto seitlich in einen Feldweg, die letzten dreihundert Meter lief er geduckt. Sein Körper war wie elektrisiert, seine Sinne aufs Äußerste geschärft.

Im Haus brannte kein Licht, die Szenerie war gespenstig. Das alte Landhaus, in dem Kati wohnte, war eigentlich ein idyllischer Ort und auch in dieser Vollmondnacht schien alles normal zu sein. Dicht am Haupthaus befand sich die Scheune mit den Pferdeboxen, in denen die High Society ihre Warmblüter unterstellte, um sonntags die unberührte Weite hier draußen genießen zu können. Direkt an die Scheune grenzten der Auslauf für die Pferde und ein kleiner Reitplatz, auf dem Reitstunden für die Kinder gegeben wurden. Auf der Veranda standen links eine Hollywoodschaukel und rechts ein schöner alter Schaukelstuhl. Auf der Hollywoodschaukel hatte er schon viele Abendstunden mit Kati gesessen und über die Zukunft philosophiert. Kinder wollten sie haben, mindestens zwei höchstens fünf, Namen hatten sie sich auch schon überlegt und eine interne Hitliste angelegt. Auf der Schaukel hatten sie von fernen Ländern geträumt, die sie gemeinsam bereisen wollten und wie schön es doch wäre einmal zusammen in Italien am Strand zu liegen. Diese Schaukel war der Ort für ihre Träume und Ideen oder einfach der Ort, an dem sie schaukelnd nebeneinandersaßen, ihre Hände ineinander gefaltet hatten und die Welt stillzustehen schien.

Kaleb machte einen großen Bogen, um das Haus durch die Hintertür zu betreten, dabei ließ er die Eingangstür nie aus den Augen. Er eilte von Fichte zu Fichte, um hinter den dünnen Nadelbäumen im Notfall Schutz suchen zu können. Er hatte schon etwa einhundert Meter zurückgelegt und befand sich in Höhe der Veranda, als er in der Scheune das Schnauben der Pferde hörte. Vielleicht war ein Fuchs oder Marder durch die Scheune gehuscht und hatte die Tiere erschreckt – oder irgendjemand versteckte sich dort. Kaleb bewegte sich einige Schritte zur Scheune hin, konnte aber trotz des Vollmondes nichts erkennen. Er war auf alles gefasst, holte seine Waffe aus der Weste und entsicherte sie. Als er wieder zur Scheune schaute, dachte er, er hätte einen schwarzen Schatten gesehen, der vom Haus zur Scheune rannte. Das Schnauben der Pferde wiederholte sich und jetzt war er sich sicher, dass der Grund dafür weder ein Fuchs noch irgendein anderes Tier war. In geduckter Haltung pirschte Kaleb sich an der Veranda vorbei ohne einen Blick durch die Tür oder eines der Fenster zu werfen. Er konzentrierte sich ganz auf die Scheune und hoffte den Schatten noch einmal zu sehen und somit eine Richtung und ein Ziel zu haben. Seine schwarze Hose und seine dunkle Weste waren die optimale Kleidung für dieses Terrain und wie so oft, wenn er sich in einer brenzligen Situation befand, strich er sich mit seiner linken Hand über seinen Dreitagebart. Da war es wieder, das Schnauben der Pferde. Als er am Ende der Veranda ankam, stand er wieder vor einer Entscheidung. Entweder durch ein Seitenfenster ins Haus hinein oder mit einem schnellen Sprint zur Scheune. Er entschied sich für den schnellen Sprint zur Scheune, da sich dort auf alle Fälle jemand aufhielt, der dort nicht hingehörte. Noch einmal ließ er seine Augen über das Gelände und den kleinen Reitplatz schweifen, aber er sah nichts Ungewöhnliches. Mit schnellen Schritten erreichte er das Scheunentor, das nur angelehnt war. Die Pferde schnaubten noch einmal heftig und nervös. So gut es ging spähte er durch die Tür, ohne sie dabei zu bewegen oder ein Geräusch zu machen. Durch das Dachfenster fiel genügend Licht, um die Umrisse zweier Männer erkennen zu lassen, die vor einer der Pferdeboxen standen und sich leise unterhielten. Kaleb konnte Bruchstücke von Sätzen und einzelne Worte verstehen – „Sie wusste nichts“ und „Stadtwohnung“ waren Begriffe, die er aufschnappen konnte. Im Mondlicht sah er, dass jeder der Männer eine Waffe in der Hand hatte und dass die Hand des einen voller Blut war. Die Männer machten sich los und gingen auf die Stalltür zur. Kaleb kroch, so schnell er konnte, um die Ecke der Scheune und richtet seinen Lauf auf die Tür. Zuerst war ein Knarren zu hören, dann ging die Tür auf und die Männer traten nacheinander heraus. Er hatte schon viele Menschen in seinem Leben erschießen müssen und diese Zwei würden bestimmt nicht zu den Charakterstärksten und Aufrichtigsten zählen. Noch ein zwei Schritte und sie würden aus dem Schatten der Scheune treten und im vollen Mondlicht stehen. Noch einmal blieben sie stehen und schauten zur Veranda. Kaleb ließ seinen Blick nicht von ihnen. Genau in dem Moment, als einer von beiden einen Schritt aus dem Schatten der Scheune tat, schob sich eine Wolke vor den Mond. Kaleb wollte diese Chance nicht verstreichen lassen. Er wusste, dass diese zwei Schurken für etwas Schreckliches zu büßen hatten. In Windeseile hatte er den Schalldämpfer aufgeschraubt, ein geübter Blick und zwei kurz aufeinander folgende Schüsse. Beide Männer fielen wie Sandsäcke auf den Boden. Kaleb hatte beide direkt ins Herz getroffen. Es ging alles so schnell, es gab keinen Schrei, nichts! Eigentlich hätte er nun hingehen und sich von dem Tod der Männer überzeugen müssen, allerdings wusste er von niemanden, auf den er je gezielt geschossen hatte der dies überlebte. Schnell machte er sich zu dem Seitenfenster auf, um in das Haus einzusteigen. Die Wolke war inzwischen am Mond vorbei gezogen und es war wieder heller. Im Haus brauchte er nicht lange zu suchen, was auch immer sich hier abgespielt hatte, es war schrecklich und diese beiden Männer da draußen waren auf jeden Fall viel zu schnell und unter zu wenig Schmerzen gestorben.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Herz zog sich zusammen. „Kati wo bist du?“ dachte er nur.

Ein kurzer Blick auf die Uhr – fünf Uhr zwanzig. Von der Stadt bis zum Landhaus hatte er neunzehn Minuten gebraucht und er war jetzt schon fünfzehn Minuten hier. Also gab er sich selbst nur fünf Minuten, um das Haus zu untersuchen, danach würde er von hier verschwinden. Der Vollmond warf sein dämmriges Licht in den Raum hinter der Verandatür. Es machte alles den Eindruck, als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Der Glastisch in der Mitte des Raumes hatte einen großen Riss und die Wanduhr war stehen geblieben. Am Rand der Couch stand Katis Handtasche und auf dem Beistelltisch lag noch ein Notizblock, aber keine Spur von Kati. Schnell steckte er sich den Notizblock und das Handy aus der Handtasche in die Innenseite seiner Weste. Vielleicht gab es dort irgendwelche Nummern oder Hinweise, die er noch brauchen konnte, denn eines war klar – hier gab es einiges an Klärungsbedarf.

Am Ende des Wohnzimmers befand sich eine silberne Wendeltreppe, die hinauf ins Schlafzimmer führte. Er musste dort hoch, um zu sehen, welches Szenario sich dort abgespielt hatte oder ob dort oben noch alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Aber wenn oben jemand auf ihn wartete, hatte er kaum eine Chance. Er würde von unten kommen und der Obenstehende war auf jeden Fall klar im Vorteil. Jetzt bräuchte er einen Zaubertrank, wie ihn die Gummibärenbande im Fernsehen immer nahm, mit dem Sie mindestens zwei Meter hoch springen konnten. Davon jetzt einen Schluck und er wäre mit einem Satz oben im Schlafzimmer und wäre dann jedem Angreifer zumindest ebenbürtig oder sogar überlegen gewesen. Kaleb überlegte einen kurzen Moment, ob er anstelle eines Zaubertrankes zumindest seine kleine Taschenlampe auspacken sollte, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Falls sich jedoch noch weitere Personen auf dem Gelände befanden, könnte das Licht der Taschenlampe ihn verraten, also ging er ohne Zaubertrank und ohne Licht und nur mit gezückter Waffe langsam und Schritt für Schritt die Treppe hinauf. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte immer mehr erkennen.

Alle Befürchtungen schienen unbegründet, hier oben war alles wie immer. Das alte rustikal geschmiedete Bett stand so, als ob dieser Raum der stillste und ruhigste Ort zwischen Grönland und dem Südpool sei. Gern hätte er all seine Gedanken darauf gerichtet, zu rekonstruieren, was in den Stunden, seitdem er sich von Kati verabschiedet hatte, hier in diesem Haus geschehen war. Seine Gedanken machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung und er musste unwillkürlich das Bett mit seinem einfachen Metallgestänge anschauen. Wie viele schöne Stunden hatte er hier mit Kati schon verbracht. An den Wänden und an der Decke befanden sich große und kleine Spiegel und an der Kopfseite des Bettes gab es ein Gemälde, das die Silhouetten zweier Menschen zeigt, die sich in den Armen liegen. Ihre doch recht umfangreiche Kleider- und Schuhsammlung bewahrte Kati in ihrem begehbaren Kleiderschrank im Erdgeschoss auf. Der Raum hier oben war einfach zu schade, um ihn mit irgendwelchen Schränken oder Bords jeglicher Art vollzustellen. Dieser Raum war nur dazu da, um zwei Menschen, die sich liebten eine geeignete Spielwiese zu bieten. Obwohl der Begriff „Spielwiese“ viel zu platt ist. „Spielwiese“, das klingt wie ein abgemagerter Spielplatz mit einer Schaukel und einer kleinen Wippe. Nein, dieser Raum war das Olympiastadion, hier wurden Weltrekorde aufgestellt und Champions League und Weltpokal gewonnen. Die Bezeichnung „Hall of Fame“ würde diesem Raum eher gerecht werden. Ob hier oben noch einmal ein Zehnkampf der besonderen Art stattfinden würde, konnte er momentan nicht sagen, aber zumindest müsste man vorher nicht aufräumen.

Gerne wäre Kaleb noch hinuntergegangen und hätte Bad, Küche und Kleiderschrank kontrolliert, aber ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass die fünf Minuten verstrichen waren und es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Außerdem hatte er zwei seiner drei E-Mails ja noch nicht gelesen.

Kapitel 4

Ein Blick in die Vergangenheit

Warschau, 3. September 1989 in irgendeinem Keller unter einer kleinen kommunistischen Kneipe.

„Wenn Sie wollen, dass der Eiserne Vorhang wirklich fällt, dann stimmen Sie unseren Bedingungen zu oder der Zloty wird mit Sicherheit auch bei Ihnen Staatswährung und Bananen gibt es nur noch in Carepaketen von Verwandten. Also überlegen Sie gut und dann entscheiden Sie richtig!“

„Was denken Sie denn, wer ich bin, ich kann das nicht entscheiden. Selbst wenn ich wollte – ich stehe ganz unten in der Befehlshierarchie. Das Einzige, was man mir mitteilt, ist, wann es in der Kantine ein zusätzliches Schnitzel oder 'ne doppelte Portion Pommes gibt. Glauben Sie mir, ich bin lediglich hier, um als Kontaktmann zu fungieren. Also, kommen Sie morgen nach Moskau zum Roten Platz, dort wird Sie dann jemand aufsuchen, der solche Entscheidungen treffen kann. Und überlegen Sie gut, ob Sie kommen, denn ganz ehrlich – ich glaube eher daran, dass auf dem Times Square wieder Bäume stehen, als dass ich in meiner Heimat mit Zloty zahle.“

„Machen Sie keine dummen Sprüche, das ist ja nicht zum Aushalten! Es ist ganz einfach: Sie geben uns innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Koordinaten und wir Ihnen die Wiedervereinigung – schönen Abend noch.“

„Ihnen auch.“

Kapitel 5

Die Reifen drehten durch, als Kaleb über den Schotterweg förmlich zurück auf die Landstraße flog. Auf dem Rückweg hatte er es genauso eilig wie auf dem Hinweg – wen auch immer er verfolgte, momentan war ihm dieser zumindest noch einen Schritt voraus und den galt es aufzuholen.

Viele Frauen mochten zwar auf seine engen Jean stehen, in denen sein durchtrainierter Hintern gut zur Geltung kam, aber enge Jeans haben in der Regel auch enge Hosentaschen und aus denen beim Fahren das Handy herauszuholen, war schwierig. Endlich hatte er es geschafft.

„Hey Claudi!“

„Wer wagt es?“ Die Stimme klang nicht nur verschlafen, sondern auch ein wenig gereizt.

„Wir haben kurz vor sechs, also wer um alles in der Welt ist so wahnsinnig mich zu wecken?“

„Hier ist Kaleb – ich brauche deine Hilfe“.

„Meine Hilfe?! Du, Altes, entschuldige, wenn ich das so sage, Arschloch. Du meldest dich fast anderthalb Jahre nicht bei mir und dann morgens um kurz vor sechs und fragst, ob ich dir helfen kann?“

„Es ist echt dringend!“

„Dass es dringend ist, glaub ich dir. Was ist denn los?“

Diese Frage klang eher ironisch oder fast schon sarkastisch. Der Unterton war gewollt und schwang ganz bewusst und unüberhörbar mit.

„Wirst du von irgendeiner Frau steckbrieflich gesucht oder hat jemand eine Schlägertruppe auf dich angesetzt?“

Kaleb ahnte, dass es wohl kein so langes Telefongespräch werden würde.

„Falls das so ist, sag mir, wo du bist. Dann komm ich und helfe den Jungs. Vielleicht lassen sie mich auch mal zuschlagen.“

Danach war die Leitung tot und bestimmt nicht durch ein Funkloch.

Kaleb starrte auf die Straße. Die Nacht neigte sich langsam ihrem Ende und er konnte sehen, wie die Häuser langsam in die Farben der aufgehenden Sonne getaucht wurden. Zwischen den Violett- und Rottönen sah er auch die Dachspitze des Verlagshauses, in dem die Redaktion war, in der er arbeitete. Bis dorthin bräuchte er, da er über die Umgehungsstraße fahren könnte, mit dem Auto von hier aus nur einige Minuten.

Während der Fahrt hatte er allerdings beschlossen, nirgends hinzufahren, wo er sich in den letzten Tagen oder Monaten aufgehalten hatte. Deshalb schieden seine Wohnung und das Verlagshaus als mögliche Ziele aus. Er wollte auch niemanden aufsuchen, zu dem er in letzter Zeit Kontakt hatte. Es war einfach zu gefährlich. Er wusste noch nicht sicher, wer sein Gegner war, aber eine schlimme Vorahnung machte sich langsam breit.

Claudi hingegen wäre eine Ausnahme gewesen. Das Intermezzo mit ihr lag nun schon über ein Jahr zurück und war auch eher ein um ein paar Tage verlängerter One-Night-Stand gewesen. An manchen Tagen hasste Kaleb sich dafür selbst, denn seine ganze Liebe galt völlig und ungeteilt Kati, trotzdem konnte er diesen Seitensprung auch nicht als Versehen bezeichnen. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Kati war für zwei Wochen auf einem Lehrgang und er war auf diesem Wahnsinnskonzert von Pink und danach war es eben passiert. Claudi dachte, es könnte wirklich etwas werden, aber ihre Beziehung hatte vier Tage gehalten, danach hatte er Claudi erklärt, dass sie sich auseinander gelebt hätten, was sie ziemlich verärgerte. Damals hatte er noch gedacht, dies sei wohl eine dieser unüberwindbaren Hürden zwischen Männern und Frauen und nicht allein auf die Sache mit dem X- und Y-Chromosom zurückzuführen. Bei Frauen waren alle Dinge direkt auf einer völlig unerreichbaren und für ihn unverständlichen Gefühlsebene. Sie weinen schreien, werfen mit Gegenständen um sich und rufen Sätze wie: „Vor Männern wie dir hat mich meine Mutter gewarnt!“ oder „Mach dich dahin, wo der Pfeffer wächst!“