Schattenworte - Veronica André - E-Book

Schattenworte E-Book

Veronica André

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Beschreibung

Um den kleinen Ort Rennes-le-Château im südfranzösischen Pyrenäenvorland ranken sich seit Jahrzehnten stets neue Legenden. Immer wieder totgesagt, stehen sie mit vitaler Beharrlichkeit wenig später wieder auf. Simon, Journalist aus Basel, steht der skurrilen Mixtur aus spiritueller Sinnsuche und Schatzgräberei, die Besucher aus halb Europa anzieht, eher verhalten gegenüber und arbeitet nur halbherzig an seiner Reportage über die Geheimnisse des Dorfes. Doch als er Theresa begegnet, verliert er diese Distanz. Theresa ist besessen von der Suche nach dem Tagebuch ihres Großvaters, des Kriminalkommissars Françoise Lichtenberg. Sie erhofft sich von seinen Aufzeichnungen Klarheit über sein mysteriöses Verschwinden. Theresa und Simon geraten bald in einen Strudel aus uralten Intrigen und sehr realer Gewalt. Noch ahnen sie nicht, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wird, denn das Tagebuch birgt einen Schlüssel, für den es sich lohnt, zu töten … Auf einer Reise der Autoren in das Languedoc im Jahr 1998 entstand die erste Idee zu diesem Buch. Diesem Besuch in der Gegend zwischen Carcassonne und der spanischen Grenze folgten weitere und schließlich der Entschluss, diese geschichtsträchtige Gegend und ihre Legenden in einem Roman zu verarbeiten - einem Roman über den Ort Rennes-le-Château, der die Autoren in seinen Bann zog, über Menschen, die dort und anderswo ihrem ganz persönlichen "Gral" nachjagen und dabei bereit sind, ihren Realitätssinn und ihr Gewissen über Bord zu werfen … und zu töten. So entstand ein Thriller, bis ins Detail präzise recherchiert, der eine Geschichte erzählt, die genau so hätte passieren können. Sämtliche räumlichen Gegebenheiten sowie ein Teil der historischen Ereignisse, von denen im Buch die Rede ist, basieren auf realen Umständen. Die Handlung steht im Spannungsfeld zwischen zunehmender Dramatik und der anspruchsvollen Parodie eines Milieus, das in seiner irritierend abgründigen Prägung einzigartig ist.

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Seitenzahl: 454

Veröffentlichungsjahr: 2016

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www.tredition.de

Um den kleinen Ort Rennes-le-Château im französischen Pyrenäenvorland ranken sich seit Jahrzehnten immer neue Legenden. Simon Tamanjan, Journalist aus Basel, steht der skurrilen Mixtur aus Sinnsuche und Schatzgräberei, die Besucher aus halb Europa anzieht, eher skeptisch gegenüber und arbeitet nur halbherzig an seiner Reportage über ebenjene Geheimnisse. Doch als er Theresa Lichtenberg begegnet, verliert er diese Distanz. Die junge Frau ist besessen von der Suche nach dem Tagebuch ihres Großvaters, der Kriminalpolizist in der Gegend war und eines Tages auf mysteriöse Weise einfach verschwand. Theresa und Simon geraten bald in einen Strudel aus uralten Intrigen und sehr realer Gewalt …

Sämtliche räumlichen Gegebenheiten sowie ein Teil der historischen Ereignisse, von denen im Buch die Rede ist, basieren auf tatsächlichen Umständen und wurden direkt an den Schauplätzen präzise recherchiert. Einige Irrtümer, die sich in der vielfältigen Literatur zu Rennes-le-Château finden, konnten überdies korrigiert werden. Die Handlung jedoch und die meisten Figuren sind frei erfunden.

für Thérèse

Veronica André

Schattenworte

Roman

www.tredition.de

© 2015 Veronica André

Umschlagabbildung: Kathrin Helbig-Klemm

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7323-7941-5

Hardcover

978-3-7323-7942-2

e-Book

978-3-7323-7943-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

PROLOG

COUSTAUSSA, SÜDFRANKREICH, 31. Oktober 1897

Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes … Der alte Priester reibt die abgegriffene Bernsteinperle zwischen seinen schmalen, kalten Fingern. Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes … sein Geist hält an diesem Wort fest, ein Zittern durchläuft den Körper. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder …

Es ist einsam im Haus um diese Stunde. Viel einsamer noch als bei Tage. Er sitzt, in eine Decke gehüllt, dicht am Kamin. Eine Petroleumlampe beleuchtet sein markantes Profil und lässt die tief gewordenen Falten um Augen und Mund scharf hervortreten. Die wenigen Haare stehen von seinem Kopf wie die letzten Federn eines gerupften Vogels. Das Feuer ist längst heruntergebrannt, nach der Dunkelheit ist nun auch die Kälte unaufhaltsam in das kleine Zimmer im Erdgeschoss vorgedrungen. Er richtet sich auf und wirft die Decke achtlos zu Boden. Sammelt die umherliegenden Schriftstücke ein, schiebt sie mit behutsamer Geste in eine alte braune Ledermappe und löscht die Lampe. Das Dunkel schlägt über ihm zusammen. Seine Hände umschließen den Rosenkranz, als könne der sie wärmen, und der Alte tritt ans Fenster. Auf dem Tisch stehen zwei Tassen. Die erkaltete Flüssigkeit verbreitet einen intensiven Geruch nach Rum.

Zur selben Zeit löst sich im ersten Stock des verfallenen Hauses auf der anderen Seite der Gasse ein glühend roter Punkt aus den tiefen Schatten eines Fensters. Wieder und wieder. Sein Aufglimmen ist hell genug, um in immer gleichen Abständen für einen Augenblick ein glattrasiertes, blasses Gesicht ein wenig zu beleuchten.

Zu dem Fenster führt eine brüchige Stiege. Das Haus steht schon so lange leer, dass niemand es mehr beachtet. Die Luft ist kalt und feucht, es hat begonnen zu regnen. Die Tropfen treiben im Wind und bedecken alles mit der stumpfen Patina des nahenden Winters. Unbarmherzig verschlingen sie die zarten Schleier aus Rauch und Atem. Unter einem der vielen Löcher des Daches bildet sich ein schmales Rinnsal. Wasser fällt auf die staubige Dielung und zerspringt, Dutzende graugepuderter Perlen, die über die rissigen Lärchenbretter rollen und dann plötzlich in einem Spalt verschwinden – vom Boden verschluckt.

Der Mann wirft den brennenden Stummel in die kleine Pfütze und tritt ihn aus. Die Scheiben des Pfarrhauses gegenüber sind jetzt dunkel. Die glänzenden schwarzen Stiefel berühren vorsichtig die brüchigen Stufen und dann den Schlamm der Gasse. Alles liegt in Finsternis und Stille.

Gerade als sich der Abbé umwendet, klopft es laut und entschlossen an die Tür. Er zuckt zusammen. Endlich habe auch ich Angst. Angst wie jene, die hier in ihren Hütten vegetieren und sich vor jeder weißhaarigen Greisin fürchten. Sie fürchten sich vor allem, nur nicht vor ihren furchtbaren Brüdern. Es klopft erneut, laut und fordernd.

Er seufzt, entzündet noch einmal das Licht und geht langsam zur Tür. Schwer nur bewegen sich die Riegel in ihren Schienen, lange waren sie nicht benutzt worden. Nun schiebt er sie seit einiger Zeit wieder vor, wenn er zu Bett geht. Seit sein Amtsbruder aus dem Nachbarort vor einer halben Stunde das Haus durch diese Tür verließ, hat er jedoch das vage Gefühl, durch nichts so wenig geschützt zu sein wie durch die Riegel einer Tür. Er blinzelt durch das kleine Gitter und erkennt eine durchnässte grüne Pelerine.

Der Schlüssel knarrt laut im Schloss und beim Öffnen erfasst ein Luftzug sein dünnes Haar. Die klamme Kälte lässt seinen müden Leib schaudern. Er tritt zur Seite. Der Mann vor der Tür schiebt sich wortlos vorbei und betritt die Küche. Ein Windstoß lässt die wenigen Flämmchen im Kamin müde am Holz lecken.

Draußen huscht ein Marder durch die tropfenden Rosenbüsche. Er springt auf die niedrige Mauer und verschwindet lautlos in der Nacht. Von der Kirche dringt der einsame zwölfte Schlag der Glocke herüber, kaum mehr als eine Ahnung im Rauschen des Regens.

Kurze Zeit später öffnet sich die Tür erneut und der Besucher tritt heraus. Die alte braune Ledermappe unter dem linken Arm, schiebt er den Hut tief ins Gesicht, verlässt mit raschen Schritten das Grundstück. Das Feuer im Kamin ist herabgebrannt. Ein schwacher Geruch nach Zigarettenrauch hängt in der Luft. Einzig das kraftlose Flackern der Glut spiegelt sich in den Augen von Abbé Antoine Gélis. Die Hände gefaltet, liegt er auf den staubigen Fliesen. Zum letzten Mal spürt er den kalten Tramontagne über sein Gesicht streichen. Dann fällt die Tür ins Schloss. Suchend tasten die Finger seiner rechten Hand nach der nächsten Perle. … jetzt und in der Stunde unseres Todes. Das Blut unter seinem Kopf beginnt langsam zu gerinnen.

PRINCIPIUM

Nichts ist erhabener als das Ganze zu wissen.

ATHANASIUS KIRCHER, Ars magna

RENNES-LE-CHÂTEAU, am Abend

Unaufhörlich wehte der Tramontagne. Er lehnte sich gegen die Fenster und sein kalter Hauch brachte einen ersten Vorgeschmack des Winters.

Gerade hatten die letzten Besucher die Tür hinter sich zugezogen. Vier Deutsche und ein Paar aus England. Die kleine Glocke über der Tür pendelte nach der heftigen Bewegung noch einige Augenblicke, ihr Klang jedoch war verhallt. Das Museum schloss um achtzehn Uhr. Gähnend griff Theresa nach dem Schlüsselbund und wandte sich der Treppe zu, um im oberen Stockwerk die Fenster zu schließen und die Lichter zu löschen. Sie stieg die knarrenden Stufen hinauf und hoffte, nicht schon wieder einen dieser Unverbesserlichen aufzustören, die immer wieder glaubten, sie könnten ungestört eine Nacht im Museum verbringen. Dafür war sie heute einfach zu müde. Doch kein heimlicher Schatzsucher lauerte in einer dunklen Ecke. Nur die abendliche Stille lag in den Zimmern. Zufrieden sammelte sie ein paar weggeworfene Kaugummipapiere auf, die zusammengeknüllt unter der Vitrine mit den Messgewändern lagen.

Immer öfter in letzter Zeit ertappte sich Theresa Lichtenberg dabei, von einem dieser öden Heimatmuseen zu träumen, in denen ihr Tagwerk darin bestand, ein paar Eintrittskarten an Zufallsgäste zu verkaufen und bei der Frage, ob die ausgestellte zweiköpfige Ziege tatsächlich echt sei, vehement zu nicken. Echt, was denn sonst! Doch eigentlich war ihr klar, dass sie sich nicht beklagen konnte. Noch vor wenigen Jahren ging es im Museum und dem angrenzenden ehemaligen Pfarrhaus noch ganz anders zu. Dann wurde die Ausstellung von der Gemeinde übernommen. Vorher hatte man allerdings viele Stücke der alten Ausstellung, die einschlägige Besucher besonders angelockt hatten, entfernt. Theresa hatte sich damals im Museum beworben. Und sie wurde eingestellt. Eine glänzende Gelegenheit, ein Glücksfall.

Von 1885 bis 1917 hatte in diesem Haus Pfarrer Bérenger Saunière gelebt, dessen ungewöhnlichem Wirken ein großer Teil der Ausstellung gewidmet war. Dieser vielversprechende junge Mann aus dem benachbarten Dorf Montazels hatte nach dem Studium eine Stelle am Priesterseminar zu Narbonne bekommen, hervorragende Perspektiven also. Dann kam der jähe Absturz – die Versetzung nach Rennes. Zwischen der baufälligen Kirche und den düsteren Häusern hoch oben auf einem windigen Berg war der perfekte Ort, um einen begabten Akademiker zu disziplinieren. Zumindest schien es so. Aber dann entfaltete der neue Pfarrer eine Vitalität, die diese Tristesse bezwang. Er renovierte die Kirche und baute eine Villa, ließ eine Wasserleitung legen und erwarb sich den Respekt der Dorfbewohner. Ihr Herz konnte er freilich nicht erobern. Zu vieles, was er so tat, erregte ihr Misstrauen. Saunière hatte die Pfarrkirche mit Absonderlichkeiten aus bemaltem Gips verzieren lassen, die gelinde gesagt nicht ganz den liturgischen Konventionen entsprachen. Woher hatte er das Geld für seine Projekte, wer waren die Ausländer, die immer wieder bei ihm zu Besuch waren? Wozu streifte Hochwürden oft ganze Tage durch die Gegend? War es nur ein Gerücht oder hatte er wirklich etwas gefunden? Alte Manuskripte in einer präparierten Altarsäule, vielleicht sogar einen echten Schatz draußen in einer der Höhlen der Umgebung. Etwas, was er keinem Menschen zeigen, mit keinem teilen wollte, vielleicht mit Ausnahme einer Person: Marie Denarnaud.

Marie hatte als junge Frau die Stelle der Haushälterin bei Saunière angetreten und war ihm ein Leben lang treu geblieben – bis der Tod sie schied. Wie eng das Verhältnis zwischen den beiden wirklich gewesen war, hatte niemand genau sagen können, doch bot bereits das Offensichtliche Anlass für weitreichende Vermutungen.

Nicht nur die Bauern wiegten skeptisch die Köpfe, auch der neue Bischof im stolzen Carcassonne. Er tat aber noch mehr: Als Saunière nicht sagen wollte, wie er seine hohen Rechnungen bezahlte, wurde er suspendiert. Allerdings hatte sein Nachfolger keine Chance. Ihn hielt es nur kurz auf dem Berg. Seine sonntäglichen Messen las er allein, der Beichtstuhl blieb leer. In merkwürdig unemotionaler Geschlossenheit standen die Schäfchen zu ihrem alten Hirten, der sich, das musste man zugeben, doch irgendwie um sie gesorgt hatte. Am Ende blieb dem Bischof nichts übrig, als den Abbé wieder einzusetzen, was von der fernen, komfortablen Bischofsstadt aus gesehen angesichts der unwirtlichen Pfarrstelle immer noch als schmerzhafte Maßregel gelten konnte. Als Saunière dann starb, im kalten Januar 1917, wurde er sitzend aufgebahrt und Trauergäste aus halb Europa, Freund wie Feind, rissen zum Gedächtnis kleine Troddeln von dem roten Umhang, den man seinem Leichnam umgelegt hatte.

Seit den fünfziger Jahren rankten sich nun immer neue Spekulationen um Saunière und bisher hatte noch jede der mehr oder weniger genialen Lösungen des Rätsels von Rennes-le-Château nur größere Konfusion gestiftet.

Am kleinen Tresen im Erdgeschoß warf Theresa noch ein paar schnelle Zeilen auf einen Zettel. Eine Notiz für ihre Kollegin Vivien Peneloux, die morgen das Museum öffnen würde. Theresa hatte frei und sehnte sich bereits nach den einfachen Wonnen eines abendlichen Bades, eines guten Buches und anschließenden zehn Stunden Schlaf – Dinge, die das Leben angenehm machen, wenn man sie zu schätzen weiß.

Gerade streckte sie die Hand aus, um die Alarmanlage einzuschalten, als in ihrem Rücken die Glocke durch das heftige Öffnen der Tür aus ihrer Ruhe gerissen wurde. Was ist denn noch? Erstaunt drehte sie sich um und beäugte missmutig den Mann, der im Vorraum stand.

„Bonsoir, Monsieur! Leider haben wir gleich geschlossen!“, sagte sie streng. „Ja, leider. Am besten kommen Sie morgen früh. Zehn Uhr. Die Kirche ist dann auch wieder offen. Pfarrgarten und Villa sind bei uns inklusive, Monsieur. Merci, au revoir!“

Der späte Besucher schaute sie verblüfft an und Theresa biss sich auf die Lippen. Manchmal ging ihr die gesamte Menschheit wirklich auf die Nerven. Sie hätte vielleicht nicht so unfreundlich sein müssen, aber fünf Minuten vor Feierabend, das war einfach eine schlechte Zeit.

„Verzeihen Sie, Madame“, er hob beschwichtigend die Hände, „ich hatte nicht vor, das Museum zu besichtigen. Jedenfalls nicht kurz vor der Schließung, es ist ja gleich sechs!“ Demonstrativ blickte er auf seine Uhr.

Theresa war ihr kleiner Ausbruch bereits unangenehm. Sie versuchte sich zu erinnern, woher ihr der Akzent des Mannes bekannt vorkam, auf die Schnelle fiel es ihr aber nicht ein.

„Eigentlich wollte ich mich nur erkundigen, ob sie mir nicht eine Unterkunft empfehlen können. Irgendwas in der Nähe, besondere Ansprüche habe ich jedenfalls nicht. Ich bin gerade erst angekommen und dachte mir, im Museum wüsste man sowas vielleicht.“

„Woher kommen Sie denn?“ Theresa war nur halbherzig interessiert und griff nach einem kleinen Stapel Infomaterial im Ständer neben der Tür.

Erst kürzlich hatte die alte Laroche ihr stolz einige Hochglanzprospekte ihrer winzigen Pension herübergebracht. Von den Touristen konnte man mittlerweile recht gut leben, wenn man clever genug war und etwas Wohnraum zur Verfügung hatte.

„Direkt aus Basel, sozusagen frisch importiert“, sagte der Fremde und hielt ihr die Hand hin, „Simon.“ Er lächelte.

„Theresa“, sagte Theresa irritiert und reichte ihm, die Hand ignorierend, ein Prospekt der Auberge du Curé.

„Versuchen Sie es damit. Madame Laroche hat sicher noch ein Zimmer frei. Es gibt Frühstück und zum Essen gehen Sie einfach zwei Gassen weiter. Dort haben Sie das beste Restaurant der Gegend vor der Nase: La Pomme du Cheval bleu.“

„Aha, so heißt es? Der Apfel des blauen Pferdes? Vielleicht Blauer Pferdeapfel? Na schön, ein ungewöhnlicher Name jedenfalls.“ Er schien amüsiert. Der Import aus Basel faltete das Blatt zusammen und wandte sich zur Tür.

„Vielen Dank, Theresa. Ich denke, Madame Laroche ist genau das, was ich brauche: Ruhe, gutes Essen und die Nase im Wind des alten Abbé Saunière. Einen guten Abend und vielen Dank für den Tipp! Salut!“ Mit diesen Worten zog er die Tür hinter sich zu und verschwand in der beginnenden Dämmerung.

Noch so ein Freizeithermetiker! Verärgert legte sie den Schalter der Alarmanlage um. Heftiger, als nötig. Sie löschte das Licht, schloss die Tür hinter sich und ging kopfschüttelnd durch den stärker werdenden Wind zu ihrem Wagen.

Auf der Fahrt nach Alet-les-Bains versuchte Theresa Lichtenberg, sich auf einen behaglichen Abend einzustellen. Doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Zu viele Gedanken spukten ihr durch den Kopf, zu viele, um auch nur einen einzigen von ihnen richtig fassen zu können. Und jemand wie dieser Simon hatte ihr da gerade noch gefehlt. So wie es aussah, würde er genau wie all die anderen in den nächsten Tagen durch den Ort streifen und jedes Steinchen umdrehen. Er würde die treuherzigen Einheimischen und vor allem sie selbst strapazieren, indem er penetrante Fragen stellte. Sie gab Gas. Manchmal hatte sie all das so unendlich satt!

In Couiza nickte sie einem Gendarmen zu, der auf der Brücke über die Sals stand. Arnaud? Alphonse? Jedenfalls kannte sie ihn flüchtig. Das wuchtige Schloss tauchte auf der linken Seite auf. Die letzten Kilometer nach Alet-les-Bains konnten ruhig eine kleine Ewigkeit dauern. Aber das taten sie nicht. Theresa stützte das Kinn auf ihre rechte Hand und rollte im vierten Gang dem Abend entgegen.

Das alte Landhaus ihrer Familie, in dem sie seit einiger Zeit mit ihrer Schwester lebte, schien regelrecht dafür geschaffen, Behaglichkeit zu verbreiten. Doch leider sehen fremde Augen meist nur, was sie sehen wollen und selten das Wesentliche – und in diesem Fall war das Wesentliche ihre Schwester. Isabelle, der Nachzügler der Familie Lichtenberg, war das vollkommene Gegenteil der acht Jahre älteren Theresa. Bereits äußerlich unterschieden sie sich auffallend. Theresa hatte die große Gestalt ihres Vaters geerbt und ebenso dessen markantes Gesicht mit den dunklen, etwas kantigen Zügen. Isabelle dagegen war kleiner und von heller Natur, sie schien zart, weich und zerbrechlich. Doch weitaus erstaunlicher war der charakterliche Unterschied: Theresa verfolgte schon als Kind ihre eigenen Ideen auf eine an Verbissenheit grenzende Weise. Sie war nicht grundsätzlich dickköpfig, doch wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, setzte sie all ihre Kraft daran, es auch zu erreichen.

Isabelle dagegen war von sehr wechselhaftem Wesen. Als Kind oft unberechenbar in ihren Launen, fiel es ihr später schwer, Freunde zu finden. Kaum irgendetwas weckte wirklich ihr Interesse. Mit 19 Jahren hatte sie aus heiterem Himmel eine Tasche gepackt und war nach Toulouse gegangen. „Ich ersticke in dieser Enge“, hatte sie in dem Brief geschrieben, den ihre Mutter auf dem Küchentisch fand, „ich muss raus aus dieser elenden Provinz, gehe nach Toulouse, damit ich wenigstens e i n m a l das Gefühl habe, wirklich zu leben. Eure blöden Familiengeheimnisse haben mich nie interessiert! Du hast doch noch nicht mal gemerkt, wie fremd wir uns alle sind. Hauptsache, Deine Theresa geht ihren Weg …“

Mama war schockiert. Dass solche Ablehnung in ihrer Tochter wohnte, hatte sie nicht gewusst. Ein Konkurrenzverhalten sicher, aber war das nicht normal zwischen Schwestern? Eine Eifersucht, die aus der Angst entsteht, weniger geliebt zu werden? So unterschiedlich ihre beiden Töchter auch sein mochten, sie liebte sie beide und sah keinerlei Grund, weiter darüber nachzudenken. Dass sie mit Theresa Dinge teilte, die Isabelle verschlossen waren, lag ihrer Meinung nach lediglich darin begründet, dass Isabelle nie ein tieferes Interesse für die Familiengeschichte aufgebracht hatte. Im Gegensatz zu Theresa. Diese wurde der Geschichten über ihren Großvater nie überdrüssig. Ein einfacher Dorfgendarm, dessen Familie aus dem Elsass stammte und der es im Laufe seines Lebens bis zum Kommissar gebracht hatte. Überdies war er damals für einige der Mordfalle zuständig, die über ein halbes Jahrhundert hinweg immer wieder das Tal der Aude erschüttert hatten. Das Geheimnisvollste und Abgründigste jedoch war sein mysteriöser Tod. Seine Leiche wurde nie gefunden. Am dritten Tage nach seinem Verschwinden aber war morgens eine Schachtel auf der Schwelle seines Hauses aufgetaucht. Theresas Großmutter hatte sie geöffnet und fortan hatte sich eine entfremdende Beklemmung in das anständige, aufgeräumte Leben der Lichtenbergs gedrängt. In der Schachtel war nichts gewesen als eine verstümmelte Tierzunge, obszön und stinkend auf vulgären roten Samt gebettet. Stoff genug also für beunruhigende Phantasien.

Isabelle war noch nicht lange von zu Hause fort, da folgte der zweite Schock. Auf einer Postkarte mit einer schlechten Aufnahme der Kathedrale Saint Etienne teilte sie ihrer Familie kurz und bündig mit: Fahre morgenmit ein paar Freunden nach Indien. Melde mich. Mit einem klapprigen Bus brachen sie auf und kehrten erst knapp zwei Jahre später zurück. Isabelle sprach nie viel über diese Zeit. Eigentlich nur einmal. Und das war der dritte Schock: Sie war HIV-positiv.

Den Abend, als Theresa dies erfuhr, würde sie nie vergessen. Isa war für ein paar Tage nach Alet gekommen. Offenbar brauchte sie Geld. In dieser Zeit war sie unnahbar, launisch und gereizt. Am letzten Abend setzte sie sich zu ihrer Schwester, die unter dem alten Pflaumenbaum hinter dem Haus saß und ein aufgeschlagenes Buch im Schoß hielt. Lange saßen sie schweigend. Theresa hatte keine Lust mehr, ihr ständig ins Gewissen zu reden. Das erschien ihr so jämmerlich hoffnungslos. Nach einer Weile nahm Isa ihrer großen Schwester das Buch aus der Hand, in dem sie sowieso nicht weitergelesen hatte. Erstaunt hob Theresa die Augen und sah, dass Isa weinte. Leise, fast unhörbar kamen ihr zwei Sätze von den Lippen, die Theresas Leben ebenso ändern sollten, wie sie das ihre verändert hatten: „Ich habe Aids … Und ich nehme Koks, um meine elende Angst zu vergessen.“

Der Vater war bereits vor einigen Jahren bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen. Ein LKW raste damals bei Nacht und ohne zu bremsen frontal in seinen Wagen. Er war sofort tot.

Madame Lichtenberg lebte nun seit über zwei Jahren in einem Pflegeheim bei Maury, weit weg also. Eine fortschreitende Demenz zwang alle Beteiligten zu dieser unbefriedigenden Lösung.

Theresa hatte ihre Schwester schließlich zu sich nach Alet geholt. Diese Entscheidung war ihr schwergefallen, denn sie hatte es genossen, allein in dem großen Haus zu leben. Und ihr war klar, dass die bloße Anwesenheit ihrer Schwester unweigerlich zu Reibereien führen würde. Trotzdem lauteten ihre einzigen Bedingungen: Kein Koks! Und kein Wort zu Mama! Isabell hatte sich lange daran gehalten. So lange, dass Theresa im Stillen ihre Stärke bewundern musste. Die Krankheit war noch nicht ausgebrochen, es konnte vielleicht einige Jahre lang gut gehen. Geborgte Zeit. Geborgtes Leben, der Angst abgerungen.

Lange war es gutgegangen zwischen Isa und Theresa. Bis vor einigen Wochen hundert Euro aus Theresas Brieftasche verschwunden waren. Erbost und enttäuscht war Theresa am Abend in das Zimmer ihrer Schwester gestürmt. Laute Musik dröhnte ihr entgegen, Isa lag halbnackt auf ihrem Bett und brach beim Anblick ihrer Schwester in hysterisches Lachen aus. Dann schrie sie, Theresa solle verschwinden. Sofort! Ihr Leben ginge nur sie selbst etwas an, genauso wie ihr Verrecken. Von diesem Abend an war es immer häufiger zu Auseinandersetzungen gekommen. Doch Theresas Brieftasche blieb seitdem unangetastet. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie Isa an den Stoff gelangte, aber weder war Isa bereit, mit ihr darüber zu sprechen, noch gefielen ihr die Antworten, die sich aufdrängten.

Das also war der Stand der Dinge. Miteinander reden konnten sie nicht mehr und es gab Momente, in denen Theresa erschrocken feststellte, dass es ihr zunehmend egal wurde.

Theresa parkte den alten dunkelgrünen Benz vor der Tür und holte tief Luft. Die Freude auf den ruhigen Abend wich zunehmend einem schlechten Gewissen. Sie hatte ihre Mutter seit über einer Woche nicht mehr besucht. Es fiel Theresa nicht leicht, sich einzugestehen, dass ihr diese Fahrten nach Maury immer schwerer fielen. Ihre Mutter erkannte sie kaum noch, es war im Prinzip völlig egal, ob sie täglich vorbeischaute oder ein halbes Jahr nicht kam. Madame Lichtenberg beklagte den Verlust ihres Vaters François, schimpfte über die Behörden, deren Ermittlungen aus ihrer Sicht mehr als schlampig gewesen waren und lebte meist in einer Zeit, in der ihre beiden Töchter noch nicht einmal geboren waren. Sie sprach von nichts anderem als der Zeit ihrer Jugend. Kam Theresa, so freute sich Madame Lichtenberg herzlich über den lange ersehnten Besuch ihrer Halbschwester Juliette – die seit 23 Jahren tot war. Juliette war fast schon eine alte Frau gewesen, als Theresas Mutter, das Nesthäkchen, gerade erst erwachsen wurde. Isabelle war unter keinen Umständen bereit, Theresa bei ihren Besuchen zu begleiten, und das sorgte regelmäßig für neuen Sprengstoff zwischen den Schwestern.

Theresa schloss das Schiebedach und stieg aus dem Wagen. Die Fenster im ersten Stock waren hell erleuchtet und das rhythmische Dröhnen dumpfer Bässe vibrierte in der abendlichen Luft. Vergiss es, dachte Theresa mit einem schmerzlichen Lächeln. Vergiss den Abend, vergiss deine kleinlichen Bedürfnisse, vergiss deine ganzen eigenen Probleme! Nichts ist spannender als der vertraute Gedankenaustausch zweier Menschen, die einander so herzlich verbunden sind! Isabelle hasste es, wenn Theresa zynisch wurde, aber diese sah keine andere Möglichkeit, um sich zu schützen. So folgten Abende wie dieser fast schon einem Ritual.

Theresa öffnete die Tür, versuchte den Lärm aus dem oberen Stockwerk zu ignorieren und ging geradewegs auf den kleinen Kasten zu, der neben der Tür zur Küche an der Wand hing. Sie öffnete ihn und mit mittlerweile routinierten Handgriffen drehte sie die Sicherung für das obere Stockwerk heraus. Sofort herrschte Stille. Eine Stille, die in den Ohren dröhnte. Die gesamte obere Etage lag im Dunkeln und die Lichter der Lampen im Esszimmer warfen bizarre Schatten auf die abgetretenen hölzernen Treppenstufen. Theresa war in einen der Sessel gesunken, die am Kamin standen, ohne sich der Jacke oder der Schuhe zu entledigen und harrte der Dinge, die nun unweigerlich folgen würden. Sie musste nicht lange warten.

„Theresa!!!“ Eine Tür hatte sich geöffnet und Isabelles Stimme durchschnitt die Stille. Das leichte Überschnappen bestätigte Theresas Annahme: Ihre Schwester war völlig high. „Mach sofort das Licht wieder an! Hör endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!“, schrie sie und beugte sich dabei gefährlich weit über das Geländer. „Du ekelst mich an, verstehst du?“ Isabelle schlug mit der Faust in die Luft. Ihr Handrücken traf hart die Kante des Handlaufes.

Theresa erhob sich aus dem Sessel und blickte müde nach oben. „Reg dich ab, Schwesterherz.“ Langsam zog sie die Jacke von den Schultern und ließ sie achtlos zu Boden gleiten. „Reg dich ab, Isa, ich mache uns später was zu essen.“

Doch Isabelle ließ sich nicht so einfach abspeisen. „Du kotzt mich so an!“, schrie sie, „du und deine ganze verdammte Art, mir zu zeigen, wie sehr ich dir auf den Geist gehe! Komm her, Isa! Hier hast du Almosen, arme Isa! Du bist ja so anstrengend, doch ich meine es gut, ich opfere mich, Isa! Pah!“ Sie verschwand in ihrem Zimmer und die Tür fiel mit lautem Knall ins Schloss.

Theresa zuckte mit den Schultern, drehte die Sicherung wieder ein und stellte fest, dass die Bässe verstummt blieben. Dann ging sie in die Küche und ließ sich in einen Stuhl am großen Eichentisch fallen. Nach einigem Kramen in ihrer Tasche förderte sie ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten zutage, atmete tief durch und riss ein Streichholz an.

RENNES-LE-CHÂTEAU, am nächsten Tag

Theresa schlenderte durch den Garten, der vor dem Friedhof lag. Den Schlüssel für die Kirche St. Marie Madeleine hatte sie sich in die Tasche ihrer Jeans gestopft. Gerade hatte sie die Kirche abgeschlossen, ohne durch Fragen aufgehalten zu werden. Sie spürte, dass sie Hunger hatte. Im Museum war nicht viel los. Den ganzen Tag hatte es geregnet und das schien viele Zufallsbesucher von einer Visite abzuhalten. Neben der Grotte hielt sie inne und schielte sehnsüchtig die Straße hinunter. Dort unten lag das „Pomme du Cheval bleu“, in ihren Augen eines der besten Restaurants im Umkreis, leider mit einem viel zu langen Namen, weshalb es die meisten entweder Blaues Pferd oder Blauer Apfel nannten. Vivien hatte nichts dagegen, für eine Weile das ohnehin leere Museum alleine zu hüten und dann zu schließen, und so hatte sich Theresa schnell entschieden. Sie lief die wenigen Schritte zum Restaurant in beschwingter Vorfreude auf ein ausgezeichnetes Mahl.

Kaum hatte sie die Tür aufgestoßen, fand sie sich bereits in den Armen Hercules wieder, des Besitzers der Lokalität. „Welch erhabener Schein in meiner unwürdigen Hütte!“, dröhnte er und küsste Theresa schmatzend auf beide Wangen.

Lachend machte sie sich los. Das war nicht leicht, denn Hercule trug seinen Namen nicht zu Unrecht und neben seiner Körpergröße war das stattlichste an ihm sein voller, dunkler Bart, den seit einiger Zeit kleine Silberfäden durchzogen. „Ich habe Hunger.“ Theresa breitete die Hände in einer Geste der Verzweiflung aus.

„Setz dich dort an den Tisch. Alors! Ich bringe dir den besten Salat des Midi! Danach Hühnchen in Wein mit Pilzen und zum Schluss eine Pâté, die ich gerade in den Ofen geschoben habe. Zufrieden, Mademoiselle?“

Noch ehe Theresa protestieren konnte, schob Hercule sie sanft, aber bestimmt an einen Tisch am Fenster. Eine Karaffe Wein stand schon bereit. In seinem Rubinrot brachen sich die Lichter der Kerzen. Das Grau des wieder einsetzenden Regens blieb für diesen Moment draußen vor den Fensterscheiben. Theresa lehnte sich wohlig zurück. Gerade als sie das Weinglas erhob, drang eine bekannte Stimme an ihr Ohr.

„… und glauben Sie mir, Simon, gerade diese Art der Kodierung zeugt davon.“

Erasmy! Einer von den Menschen, die diese charmanten Spuren eines bewegten Lebens trugen. Sein Alter konnte man unmöglich schätzen und Theresa hatte ihn nie danach gefragt. Eigentlich war er von all den Gralsrittern, die sich hier tummelten, der einzige, der ihr wirklich sympathisch war. Er war häufig hier und ausgestattet mit einem untrüglichen Gespür für jene Menschen, die zu willfährigen Zuhörern wurden und mit ihm, Flasche um Flasche teilend, in endlosen Diskussionen strandeten. Eigentlich stammte er aus Luxemburg. Seine häufige Anwesenheit in Rennes-le-Château war mittlerweile schon etwas ganz Normales, obwohl Theresa nie genau wusste, was er hier eigentlich trieb. Meist verstrickte er sie in ironische Diskurse, mal lud er sie zum Essen ein, mal traf sie ihn in hitziger Debatte mit armen Unwissenden. Theresa war nicht klar geworden, ob Erasmy ein Spötter oder ein Spinner war. Doch sie mochte ihn, ihn und seine geschliffene Art, dem Gegenüber jeden Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn er länger nicht da war, fing sie sogar an, ihn ein bisschen zu vermissen. Und wer war bei ihm: Simon, der Import aus Basel! Wenn das nicht wieder einmal passte.

„… ein Zeichen, das angeblich in jedem Buch Saunieres zu finden war! Haben Sie sich einmal dieses alberne Exlibris genauer angesehen? Nun ist es ja verschwunden, ebenso wie die anderen Exponate …“

Theresa hörte Simons Lachen. Sie hatte allerdings Besseres zu tun, als ausgerechnet jetzt eine dieser unvermeidlichen Debatten zu belauschen, ohne die hier kaum ein Tag vergeht: Totenschädel und Felsgrotten, Maria Magdalena und der Gral. Trotzdem war es schwer, dieses hermetische Duett zu überhören. Die beiden waren so vertieft in ihr Gespräch, sie hatten wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt, dass sie nicht mehr die einzigen Gäste waren, und so hielten sie sich keineswegs zurück.

„Aureum seculum redivivum“, deklamierte Erasmy mit kräftigem Bass, „nie gehört davon, wie? Erstmals erschienen im Jahre 1625 und nicht erst 1677, wie viele glauben. Geschrieben hat es ein gewisser Adrian Minsicht … jawohl, Minsicht! Er nannte sich allerdings auch Henricus Madathanus. Sie sind nicht der Einzige, der noch nie davon gehört hat, mein Freund. Wirklich, nicht der Einzige! Das ist ein Traktat von kaum zwanzig Seiten. Und wissen Sie, Simon, was wir darin finden? Nein? Wir finden darin, ta-tata-taa: Saunières Exlibris!“

Zufrieden lehnte er sich zurück und zündete seine Pfeife an, die im Eifer des Gefechts erloschen war. Simon beugte sich nach vorn und blätterte in einem Büchlein, das in seinem einfachen Ledereinband schon recht mitgenommen aussah. „Tria sunt mirabilia“, entzifferte er. „Centrum in trigono centri. Und ein großes B.S. Was ist das für ein Werk?“

„Mein lieber junger Freund, dieses Buch ist eines der Hauptwerke über die geheime Bildsprache der Rosenkreuzer. Ein gesuchtes Stück, glauben Sie mir. Nicht nur für die Rosicrucianer. Und unser phantasievoller Bérenger Saunière zögerte natürlich nicht, das Symbol als Exlibris zu benutzen, wo die Initialen schon einmal passten. Was denken Sie, was da schon alles hineingedeutet wurde!“

Er lachte schallend. „Das Schönste ist wohl eine Abhandlung über die Geheime Geometrie: Das Exlibris zeigt den Weg zum Grab des Erlösers, so vier, fünf Kilometer entfernt von hier! Aber wissen Sie, die Geheimen Geometriker haben es auch wirklich nicht leicht, es versteht sie einfach keiner so richtig. Die meinen, irgendwie hätte die ganze Sache mit Linien und Winkeln zu tun und dann kriechen sie mit ihren teuren, empfindlichen Messgeräten über Eisenbahngleise oder durchs Unterholz und niemand lohnt es ihnen. Das Ergebnis eines langen, opferreichen Forschungstages kann dann schon mal ganz kryptisch heißen: zweiundsiebzig Grad Abweichung von der Linie des Geheimnisses. Naja, man muss das verstehen, sowas schmiedet zusammen.“

„Und wieso hat noch keiner dieses Saeculum vivum mit Saunière in Verbindung gebracht?“ Simon klappte das Buch vorsichtig zu.

„Aureum saeculum redivivum – das wiedererrichtete goldene Zeitalter. Aber unter diesem Titel ist es kaum zu finden. Es ist in der Chymica Tripartita abgedruckt und der Kupferstich fällt nicht gerade ins Auge. Wenn Sie wieder mal nach Rom kommen, dann gehen Sie zur Piazza Vittorio Emanuele. Dort steht der letzte Rest der Villa des großen Alchimisten Massimo di Pietraforte. Das Tor ist vermauert, also stehen Sie bitte davor und staunen Sie! Die Porta Hermetica! Dort finden Sie das Zeichen in Stein gehauen. Wissen Sie was, lieber Simon, die meisten, die hierher kommen, suchen einfach nur nach dem, was sie finden wollen.“ Erasmy unterbrach sich, denn jetzt hatte er Theresa in ihrer Ecke am Fenster entdeckt. Er erhob sich und zwängte sich mühsam zwischen den Stühlen hindurch. Sein nicht unbeträchtlicher Bauch war ihm dabei sichtlich im Wege, doch zwinkerte er Theresa zu und hielt theatralisch die Luft an, wobei er den Bauch einzog, die Backen aufblies und die Augen aufriss. Er sah aus wie ein großer, gestrandeter Kugelfisch.

Theresa unterdrückte ein Lachen.

„Oh, verzeihen Sie, Mademoiselle, ich hatte sie gar nicht bemerkt! Ein schwerer Fehler!“ Erasmy ergriff ihre Hand mit ritterlicher Geste und deutete einen Handkuss an. „Bonsoir, meine Verehrung.“

„Salut“, lachte Theresa, „setzen Sie sich doch einen Moment.“

Erasmy stopfte eine lose Strähne seines grauen, dünnen Zopfes hinter das rechte Ohr und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

„Nur für einen winzigen Augenblick! Ich bin in einen wichtigen Fachdisput vertieft. Der junge Herr hat keinen blassen Schimmer vom Großen Geheimnis von Rennesle-Château, das gibt es doch wirklich selten. Ich kann ihn also unmöglich warten lassen“, Erasmy zwinkerte ihr zu. „Er ist praktisch noch Jungfrau und ich werde ihm eine Menge beibringen.“

„Daran zweifle ich nicht“, erwiderte Theresa.

„Simon Tamanjan. Journalist. Er kommt aus der Schweiz“, flüsterte Erasmy und deutete über seine Schulter.

„Wir sind uns bereits begegnet.“ Theresa nickte Simon zu. Er nickte erfreut zurück.

„Ah. Natürlich. An unserer Theresa kommt keiner vorbei.“ Erasmy warf sich in Pose und setzte zu einem schiefen, volltönenden Singsang an: „Sie bewacht den Schlund der Geheimnisse wie einst Zerberus die Abgründe des Hades. Eine echte Hüterin des Grals. Dazu ausersehen, auf ewig die Reliquien des Abbé Saunière zu bewahren!“

Erasmy hatte beim Wein ordentlich zugelangt und nun erreichte seine extravagante Ader ihren Höhepunkt. Er würde nicht mehr so leicht zu bremsen sein.

„Monsieur Tamanjan“, rief er durch den Raum, „kommen Sie rüber zu uns, diese Frau hier ist der Schlüssel zu all Ihren Fragen! Die Muse der ewig Suchenden!“

„Meine Güte, Erasmy!“, Theresa stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht.

„Oh ja, die Güte, meine Liebe! Bonitas! Da fällt mir doch ein, was ich ihnen noch erzählen wollte. Haben sie schon einmal vom Alphabet des Ramon Llull gehört? Von Raimundus Lullus. Nicht? Wie überaus bedauerlich! Heute morgen las ich in der ‚Revue de synthèse‘ eine interessante Abhandlung. Dieser Lullus hat es fertiggebracht, im finstersten Mittelalter eine beeindruckende universale Methode zu entwickeln, die der absoluten Wahrheitsfindung dient. Den Baum des Wissens hat er es genannt. Es sollte sowas wie ein Computer werden, nur ohne Silizium. Er fand neun principia absoluta, neun Eigenschaften Gottes, als da wären: bonitas, magnitudo, duratio, potestas, sapientia, voluntas, virtus, veritas und gloria. Wie steht’s mit dem Latein, Mademoiselle?“

„Eigentlich wollte ich jetzt essen!“

Erasmy gab sich nachsichtig: „Also gut, ich will es Ihnen sagen: Es sind Güte, Größe, Dauer, Macht, Weisheit, Wille, Tugend, Wahrheit und Herrlichkeit. Und dann gibt es natürlich noch die relativen Prinzipien …“

Kurz bevor sich die relativen Prinzipien des Ramon Llull materialisieren konnten, kam Hercule mit dem ersehnten Hühnchen und verscheuchte den Störenfried. Dankbar machte sich Theresa über das exzellente Essen her und keine Minute später brandete in ihrem Rücken erneut Erasmys Bass gegen die Stimme dieses Journalisten. Doch sie hörte nicht mehr hin.

Hüterin des Grals, Schlüssel zu allen Fragen – Theresas Anwesenheit in Rennes-le-Château hatte tatsächlich nicht ausschließlich mit ihrem Job im Museum zu tun. Dass sie diese Stelle bekommen hatte, war in ihren Augen ein Glücksfall, den sie sich selbst kaum erklären konnte. Theresa war keine Hüterin. Eigentlich war sie eine Jägerin. Ebenso wie all diese Suchenden, denen sie mit innerer Verachtung begegnete – und doch vollkommen anders.

Die Geschichte ihres Großvaters François und sein mysteriöses, ungelöstes Ende hatten sie nie losgelassen. Sein Leben war auf das Engste mit den Geheimnissen dieses Ortes verwoben. Sein Tod ebenso. Sie hatte in den Archiven von Limoux und Carcassonne recherchiert, jede Zeitungsnotiz kopiert, ihre Mutter mit immer neuen Fragen gelöchert. Was Theresa jagte, war ein Tagebuch. Das Tagebuch des ehemaligen Gendarmen François Lichtenberg. Und in diesem Tagebuch musste die Wahrheit stehen. Die Wahrheit über seine Mörder, über die Todesfälle und über die sogenannten Geheimnisse von Rennes-le-Château.

Von ihrer Mutter wurde sie von Kindesbeinen an, wissentlich oder nicht, auf François’ Fährte angesetzt und Theresa war bis zum Letzten entschlossen, diese Jagd zu Ende zu bringen. Es war zu ihrer Obsession geworden und manchmal erschrak sie darüber. Also tauchte sie ein in all die Gerüchte, Spekulationen, Geheimnisse, Rätsel und Vermutungen um den Ort und seinen Pfarrer, um durch jeden noch so kleinen Hinweis das Tagebuch irgendwann aufzuspüren. Die Regale in ihrem Zimmer quollen über von phantastischen Publikationen zu diesem Thema und eine war meist haarsträubender als die andere. Daneben fanden sich unzählige Bücher über Religion, Geheimgesellschaften, Symbolik, mittelalterliche Geschichte und vieles mehr. Und doch hatte sie nichts erreicht. Nichts!

Die Kopie der Zeitungsmeldung über das Verschwinden ihres Großvaters trug sie immer in ihrer Tasche.

La Dépêche du Midi,12.September 1973

Grausamer Fund in Alet-les-Bains

Alet-les-Bains: Kommissar a. D. F.

Lichtenberg noch immer vermisst. Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen.

Am gestrigen Abend in der siebenten Stunde fand die 77 Jahre alte Hutmacherin Laeticia Lichtenberg vor ihrer Haustür ein verschnürtes Paket, in dem sich eine bereits verwesende Schafzunge befand, die in der Mitte gespalten worden war. Die Frau erlitt nach dem Öffnen des Paketes einen Nervenzusammenbruch und wurde besinnungslos einem Arzt zugeführt. Zu der Frage, ob ein Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Ehegatten, des seit vier Tagen vermissten Kommissars François Lichtenberg, besteht, wollte sich die zuständige Polizeidienststelle bislang nicht äußern, es gilt augenblicklich aber als wahrscheinlich. Lichtenberg erlangte in unserer Region gewisse Bekanntheit durch Ermittlungen im Zusammenhang mit mehreren Todesfällen im Aude-Tal. Nähere Feststellungen haben sich bisher nicht treffen lassen. Mitteilungen, die zur Klärung der Angelegenheit dienen können, sind der Gendarmerie erwünscht.

Theresa seufzte. Sie goss den restlichen Wein in ihr Glas und blickte aus dem Fenster. Draußen hatte sich der Abend sanft und lautlos ausgebreitet.

CHÂTEAU-L’ARBRE

Die Reifen knirschten im frisch aufgeschütteten Kies. Wie Gischt am Bug eines Bootes stoben kleine weiße Steinchen zur Seite. Das elektronisch gesteuerte Tor mit den geschmiedeten Ornamenten schloss sich geräuschlos hinter dem Wagen mit den getönten Scheiben. Der Chauffeur brachte den schwarzen Maybach zum Stehen, stieg aus, eilte nach hinten und öffnete mit leichter Verbeugung die Tür des Fonds. Aus dem Inneren des Wagens tauchte eine Hand in dunklem Handschuh auf. Der Chauffeur ergriff sie und half dem Mann behutsam aus dem Sitz. Einem Mann mit schlohweißem Haar und unnatürlich blasser Haut, deren Fahlheit durch den dunklen Stoff seines Anzugs noch betont wurde. Seine Rechte umklammerte einen altertümlich anmutenden Gehstock mit silbernem Knauf. Doch nichts an ihm wirkte gebrechlich, wie auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Er strahlte eine beinahe unheimliche Vitalität aus, als er sich neben dem Wagen aufrichtete. Ein Mann mit grünen Lederhandschuhen und schwarzen Stiefeln. Er also war der Boss, und sein Blick glitt über die Fassade des Westflügels. Simon folgte der sanften Kopfbewegung. Ein Teil des Gebäudes hatte einen neuen Außenputz und wohl auch neue Fenster erhalten.

Der Mann wandte sich an den Fahrer und sprach sehr leise. Dieser tippte lässig an seine Mütze, bestieg den Wagen und wendete, das große schwarze Auto verschwand hinter einem der Wirtschaftsgebäude des Schlosses. Der Ankömmling studierte die Fassade noch immer gründlich und nickte versonnen. Seine Haare wehten im Wind. Herumliegende Gerüstteile und ein Betonmischer bildeten eine seltsam lebendige Insel inmitten der sterilen Akkuratesse auf dem großen Hof. Die jüngsten Restaurierungsarbeiten mussten gerade erst abgeschlossen worden sein. Dann drehte er sich um und überquerte den Hof. Einzig das rhythmische Klacken seines Stockes auf dem Pflaster war zu vernehmen. Rhythmisch wie ein Metronom.

Als Kind hatte Simon zu Hause oft auf dem Klavierschemel gesessen und dem Metronom gelauscht. Dem Geräusch der Zeit. Mit den Jahren verschwindet die Ruhe, wenn man es hört, das Geräusch der Zeit. Die Tür des gotischen Portals öffnete sich und ein Athlet im lässigen Anzug kam über die Stufen nach unten. Er war Ende dreißig, das blonde Haupthaar nicht länger als das auf Simons Handrücken. So stellt man sich wohl Norweger vor. Er begrüßte den Angekommenen. Die Gesten, gewiss einladend gemeint, gerieten dabei ein wenig zu unterwürfig. Hinter ihm stürmten zwei Dobermänner aus dem Dunkel der Vorhalle. Sie umkreisten hechelnd den Ankömmling und sprangen kläffend an ihm hoch. Er kraulte einen der Hunde im Nacken. Plötzlich jaulte dieser auf und verschwand in den Büschen der Auffahrt. Im selben Moment wurde oben im dritten Stock ein Fenster aufgerissen und ein Name gerufen. Es klang wie Wollberg oder Wallberg. Der Norweger drehte sich um …

Simon fluchte. Das kleine Rädchen, mit dem die Schärfe justiert wird, gab noch ein leises Knacken von sich und ließ sich dann in spielerischer Leichtigkeit um die eigene Achse drehen. Er hatte das Glas vor Monaten zum letzten Mal benutzt, obwohl er es immer in der Tasche bei sich trug. Sein zweites, ein russisches Militärfernglas, war sicher unzerstörbar, lag aber in Basel. Es war für spezielle Recherchen bestimmt, und das hier war keine spezielle Recherche, sondern doch eher ein Herbsturlaub.

Er verlagerte sein Gewicht ein wenig nach hinten und kroch rückwärts in den Schutz der Wacholder- und Buchsbäume zurück. Dabei stieß sein Schienbein unsanft gegen den Pfahl eines der Blechschilder, die in weitem Bogen das Schloss umgaben: Proprieté privée! Das erwartet man natürlich angesichts der pompösen Anlage. Aber dann hatte man doch ein wenig übertrieben: Trüffelgebiet! Weit und breit stand keine einzige Eiche, keine Buche, keine Kastanie. Trüffel zu finden war hier nicht wahrscheinlicher als ein Ölvorkommen – jeder Einheimische musste das sehen. Man hätte gleich schreiben können: Hier wohnen Fremde, die etwas Ruhe brauchen. Trotzdem würden die Schilder ihre Wirkung tun, denn bei den kostbaren Knöllchen hörte der Spaß in dieser Gegend definitiv auf. Ohne Fernglas war es sinnlos, länger hier herumzuliegen. Simon rieb sein Schienbein und zog die schwere Tasche zu sich heran. Ein paar letzte Fotos und dann nichts wie fort von hier. Er hätte Erasmys Vorschlag folgen und ihn mitnehmen sollen, dann hätte die Sache noch einen anderen Reiz gehabt. Der Nestor der hiesigen Hermetiker hätte sich in diesem Ambiente sicher wohlgefühlt. Immerhin war der Tipp von ihm. Simon hatte keine Ahnung gehabt, dass die Herzstücke der ehemaligen Ausstellung an diesen Ort gebracht worden waren, ehe das gesamte Museum der Gemeinde überschrieben wurde.

Insgesamt erschien ihm die Unternehmung nun recht abwegig. Er hatte die Observierung nicht mit ganzer Seele in Angriff genommen. Und jetzt stellte sich diese etwas farblose Trauer ein, wie immer, wenn ein erhofftes Abenteuer dann doch nicht stattfand: seit der Pubertät eine stabile Größe in Simons emotionalem Dasein.

Er stand dieser Geheimniskrämerei um einen unbedeutenden Geistlichen in einem noch unbedeutenderen Dörfchen dieses ansonsten so bedeutenden Landes mit schwindendem Interesse gegenüber. Ein Job der angenehmen Art, aber nur wenn der Saft dieser kahlen Gegend noch für eine letzte Story reichte.

VIRTUS

Es wird sich zeigen, dass es gar schwierig ist,

zu erkennen, welche Eigenschaften jedes

Ding in Wirklichkeit hat.

DEMOKRIT

TAGEBUCH, 5. OKTOBER 1910: Geschafft! Kein Anwärter mehr, nein: Gendarm der Kriminalpolizei! Wie ich es wollte. In Zukunft nicht nur Tatkraft, sondern vor allem Kopfarbeit! Ich wäre vor Verblödung verdorrt, und jetzt: keine Marktweiber mehr nach ihrer Lizenz fragen, keine Saufbolde in die Zelle stecken. Schluss und ab morgen in Limoux! Der Mordfall Gélis, ja, sowas inspiriert! Ein ungelöster Fall! Kein bisschen deprimierend, sondern sehr reizvoll! Dieses Zigarettenpapier mit der blutigen Aufschrift Viva Angelina. Düster und bizarr. Der Greis erschlagen, lag wie aufgebahrt. Ein Priester! Wer erschlägt denn Priester? Saunière aus Rennes hatten sie verhört damals, wegen des Papiers Marke Le Tzar, raucht hier fast jeder. Gélis, Saunière und Boudet aus Rennes-les-B. – das Triumvirat der Schwarzröcke, früher unzertrennlich. Seit der Mord passierte, will ich zur Polizei, und jetzt ist es soweit! Auf nach Limoux!

CHÂTEAU-l’Arbre

Die Reifen knirschten im Kies, dann schloss sich das Tor geräuschlos hinter der Limousine. Der Chauffeur half dem Mann aus dem Wagen, dann tippte er lässig an seine Mütze und fuhr den Maybach in die Garage.

„Willkommen auf Château-l’Arbre, Monsieur Weisguth!“ Die Stimme gehörte Lars Walberg, der über die Stufen nach unten in den Hof kam.

Weisguth war ein paar Schritte auf das Portal zugegangen und hatte sich auf seinen Gehstock gestützt. Nun betrachtete er sein Schloss.

Walberg salutierte mit einer Geste, die nichts an Ehrerbietung fehlen ließ. „Ich freue mich außerordentlich, dass Sie so bald zurückkehren konnten.“

„Es ist an der Zeit.“ Weisguth lächelte. „Mein lieber Lars, wie ich sehe, haben Sie das Schloss in meiner Abwesenheit gut verwaltet.“ Er schlug dem Jüngeren kameradschaftlich auf die Schulter. „Ich hoffe doch, dass die Restaurierung hier niemanden aufgeschreckt hat. Die Sammlung ist gut und sicher verwahrt?“ Dies war weniger eine Frage als eine Feststellung, der man besser zustimmen sollte.

„Alles zu Ihrer Zufriedenheit, davon bin ich überzeugt“. Lars Walberg gestattete seinem kantigen Gesicht eine kurze, fast zärtliche Regung und wandte sich der Treppe zu. Drei Jahre arbeitete er schon hier, aber es war doch etwas Besonderes, wenn der Chef auf dem Hof stand. „Kommen Sie, ich habe einen kleinen Imbiss vorbereiten lassen.“

In diesem Augenblick rasten zwei Dobermänner durch die geöffnete Tür nach draußen. Sie sprangen die Stufen herab und umkreisten hechelnd und schwanzwedelnd den Ankömmling. Die Hand im dunklen Ziegenleder tätschelte den Nacken des größeren Hundes. Liebkoste ihn hinter den Ohren und fuhr spielerisch über die Schnauze. Ihr plötzlich und schmerzhaft zupackender Griff im Nacken ließ das Tier aufheulen. Mit eingezogenem Schwanz suchte es winselnd das Weite und verschwand in den Büschen der Auffahrt. Weisguth lächelte noch immer. Lars Walberg hatte still dabeigestanden und zugesehen. Oben hatte jemand nach ihm gerufen, doch er hatte es ignoriert. Nun wandten sich beide erneut dem Eingang zu. Der zweite Hund folgte ihnen noch immer wedelnd die letzten Stufen hinauf und tauchte ein in das Zwielicht der Vorhalle.

RENNES-LE-CHÂTEAU

Theresa trug einen der großen Kartons hinter den Tresen. Am Vormittag waren die frischgedruckten Touristenführer eingetroffen. Lächerliche sechs Euro für ein Heftchen, das dem staunenden Leser auf immerhin drei Dutzend Seiten ein ganzes Universum an Geheimnissen präsentierte. Der Umsatz erstaunte Theresa immer wieder.

„Bonsoir!“

Theresa drehte sich um und erblickte Simon. In den letzten Tagen war er häufig vorbeigekommen, hatte die Ausstellung studiert, war viele Male in der Kirche gewesen, hatte Fragen über Fragen gestellt.

Und immer öfter kam er, um mit ihr an den langen Nachmittagen einfach nur zu plaudern. Theresas anfängliche Abneigung war einem wohlwollenden Interesse gewichen. Sie genoss es immer mehr, mit dem Dauergast aus dem Norden die Zeit totzuschlagen. Daraus waren mitunter stundenlange Gespräche entstanden. Gespräche, in denen man spürt, dass man sich noch viel mehr sagen könnte. Er war nicht so wie die Mehrheit der anderen Besucher, mit denen sich die Unterhaltung in den Themen Saunière, Schatzsuche und der anschließenden Frage erschöpfte, welches Restaurant wohl das beste Cassoulet auf der Karte hat.

Doch anders als sonst murmelte er heute etwas unbeholfen: „Vergleichsweise warm, oder?“ Einen kurzen Moment hatten sie einander in die Augen geblickt. Eine Sekunde zu kurz! Und jetzt ist das Wetter dran. Manchmal sollte man besser den Mund halten.

„Reden ist der misslungene Versuch zu schweigen.“ Theresa sagte es so leise, dass er es wohl nicht verstehen konnte. Sie hatte das mal irgendwo gelesen und es fiel ihr immer ein, wenn jemand ein Gespräch so peinlich eröffnete. Aber im Grunde hatte er Recht. Seit einigen Tagen hielt sich eine ungewöhnlich milde Witterung. Die Sonne strahlte vom herbstblauen Himmel und lediglich einige vorlaute Schleierwölkchen trübten die perfekte Illusion, die Kälte sei noch weit. Es duftete nach den späten Astern und nichts deutete darauf hin, dass der Winter bald Einzug halten würde.

„Ja, man sollte ans Meer fahren“, sagte Theresa endlich und verzog resigniert den Mund. Am Meer sitzen bis zum Abend und wenn man dann heimkommt, ist alles ganz anders …

Simon hatte seine große gelbe Umhängetasche mit dem unerschöpflichen Inhalt dabei. Erst gestern hatte sie ihn deswegen aufgezogen. Wie ein Junge, der all seine Spielsachen mit sich herumschleppt um im Notfall immer das Richtige dabeizuhaben. Er hatte nach Kräften versucht sich zu verteidigen, war jedoch an ihrem Spott gescheitert.

Simon arbeitete als freier Journalist für einige große Magazine in der Schweiz. Sein Mentor war ein mit allen Wassern gewaschener alter Fuchs. Eigentlich seit Jahren im Ruhestand und dennoch immer mal wieder bei einer großen Sache dabei. Er hatte ihn eines Abends in die Lounge seines Hotels bestellt. Umrahmt vom blaukräuselnden Rauch seiner obligatorischen Zigarre, die wie ein elfter Finger zu ihm gehörte, hatte er verschwörerisch die Stimme gesenkt, war nah an Simon herangerückt und hatte ihm seinen eisblauen Blick aufgezwungen: „Simon, glaub mir, es wird der Moment kommen, da du dieses eine Interview, dieses eine Foto nur bekommst, indem dir niemand, aber auch wirklich niemand ansieht, wo du die letzten Nächte verbracht hast. Ob du dir auf einem Garagendach den Arsch abgefroren hast oder gelangweilt in Hotelbars rumhängst, du wirst dem Titelblatt von Men’s Health entsprungen sein und, verflucht noch mal, alles dabeihaben, was du brauchst. Wenn im entscheidenden Moment dein Schweißgeruch alles versaut oder der leere Akku des Diktiergeräts, dann hast du die Karre selbst in den Dreck gefahren!“

Simon hatte diese Lektion verinnerlicht, das musste man ihm lassen. Und gleich bei seiner ersten großen Story musste er alle Register ziehen. Es ging damals um den Maria-Lionza-Kult in Venezuela, genauer um eine Reihe von Todesfällen unter seinen Anhängern. Simon hatte sein Team mitten im Dschungel verloren und musste vier Tage mit dem überleben, was er in eben dieser Tasche hatte. Das war lange her, doch gleichwohl unvergessen. Inzwischen hatte sich Simon ein wenig auf diese mystisch-esoterischen Themen spezialisiert. Es hatte sich einfach so ergeben. Irgendwie begleitete jede dieser Recherchen seine eigene Suche nach … ja, nach was eigentlich?

Simon griff in die Tasche, suchte etwas, ohne dabei hinzusehen, holte endlich einen kleinen Zettel heraus und gab ihn Theresa. Es war das Etikett einer Limonadenflasche. Theresa betrachtete es eine Weile. Sie kannte weder die Marke noch wusste sie überhaupt, von welchem Kontinent es stammte.

„Finnische Cola?“

„Nicht schlecht!“ Simon nahm ihr das Papier vorsichtig aus der Hand und drehte es um. „Estland, aber darauf kommt es gar nicht an. Ich meine das hier.“ Auf der Rückseite stand etwas mit Kugelschreiber hingekritzelt:

„Der Anfang ist es“, las er, an einer x-beliebigen Stelle beginnend, und stutzte über den eigentümlichen Zufall, „ist es, der dem Menschen fehlt.“

Theresa schwieg. Schließlich blickte sie Simon an. Der war inzwischen etwas nervös geworden. „Sehr nebulös. Wieso zeigen Sie mir das?“

Simon hatte wohl zu spät daran gedacht, dass Theresa nur sehr begrenzt Gedanken lesen konnte. „Es ist nur, falls Sie sich fragen, was mich und diese bescheuerte Tasche durch die halbe Welt treibt. Durch die halbe Welt und dann in diese verrückte Einöde. Reden ist also der misslungene Versuch zu schweigen? Wittgenstein sagt das. Ich habe es genau gehört. Mein Hörvermögen betrug letzte Woche 140 Prozent. Leider! Sowas kann ganz schön nerven!“

„Wieso letzte Woche?“ Theresa wurde rot, stellte den Karton ab und setzte sich.

„Ich war vor einer Woche beim Hörtest. Es ist vielleicht blöd, aber ich will nicht, dass Sie …“

„Dass ich denke, Sie würden am liebsten übers Wetter reden? Simon, wenn Sie etwas für Ihr Image tun wollen, könnten Sie hier mal mit anfassen. Ich glaube ja gerne, dass Sie in einem fernen heißen Land ein Fürst sind, aber anbieten können Sie’s ja wenigstens! Die ganzen Kisten müssen da rüber.“ Theresa war ein wenig sauer. Er hatte ihr gestern von einer Reise nach Simbabwe in Simbabwe erzählt. Sie hasste es, wenn man sie so bloßstellte. Simbabwe in Simbabwe, was ist denn das?, hätte die dumme Nuss vielleicht fragen müssen. Endlich hatte er ihr dann verraten, dass es sich um eine Ruinenstätte handelte, wo er vom letzten Häuptling eines aussterbenden Volkes angeblich für zwanzig Dollar adoptiert worden war. Seitdem durfte er sich „Herr der Bergwerke“ nennen. Da haben wir’s, ein Junge eben! Wenn die Hälfte seiner Geschichten stimmt, genügt das eigentlich schon. Sie wurde versöhnlicher.

„Was ist denn nun los mit diesem Cola-Etikett? Geoffenbarte Weisheit für unterwegs?“

„Ach, vergessen Sie’s. Irgendwann vielleicht, nicht jetzt, nicht … am Anfang. Ich habe es sowieso nur abgeschrieben. Der Zettel ist uralt. Im Winter 1991 habe ich mal ein paar Wochen mit einem gebrochenen Bein in einer Klinik auf Saaremaa zugebracht. Das einzige Buch in einer verständlichen Sprache, das es dort gab, war Meyrinks Golem auf Französisch. Ich habe ihn dreimal hintereinander gelesen.“

Theresa musterte ihn. Jetzt ging es also schon wieder los. „Auf Saaremaa in Saaremaa, richtig?“ Sie stand auf und ging zu dem letzten Karton hinüber.

„Sorry, das muss man nun wirklich nicht unbedingt kennen. Von hier aus ist das kurz vorm Polarkreis. Eine Ostseeinsel, gehört zu Estland. Es gibt dort so einen Meteoritenkrater. Er heißt ausgerechnet Kali, so wie diese bengalische Göttin mit ihren Menschenopfern. Da stehen heute natürlich die Esoteriker Schlange. Damals war das noch nicht so. Da war ich der einzige Ausländer, der sich dafür interessierte.“

Simon war gebildet und ein wirklich guter Unterhalter – oder sollte man besser Geschichtenerzähler sagen. Ohne dass es ihm vielleicht bewusst war, hatte Theresa eine ganze Menge über ihn erfahren. So etwas kam sonst praktisch nie vor.

Wenn er nicht gerade in der Gegend herumzog und in nächster Nähe großer Geheimnisse billige kleine Zimmer anmietete, lebte Simon Tamanjan in Basel. Er liebte diese Stadt nicht sonderlich, was seinen beruflichen Ambitionen sehr entgegenkam. Und trotzdem fühlte er sich ganz wohl, wenn er zu Hause war. Simon und Basel hatten also ein solides, unromantisches Verhältnis.

Überhaupt lag das Romantische den Tamanjans nicht im Blut. Sie waren im Jahre 1920 in die Schweiz übergesiedelt. Wie tausende anderer armenischer Familien hatte sie vier Jahre zuvor das Osmanische Reich verlassen. Nach einer Odyssee durch halb Europa lebten sie einige Zeit in Paris, schließlich ersteigerte der Urgroßvater die kleine Buchhandlung in Basel, die bis heute in Familienbesitz ist. Die Flucht hinterließ deutliche Spuren im Bewusstsein der Nachfahren. Ein tiefes Gefühl der Unbeständigkeit des Lebens wurde jedem kleinen Tamanjan in die Wiege gelegt. Nichts schien so preisgegeben wie die irdische Heimat. Vielleicht bescherte gerade dieses Sich-Fügen in eine zwar ferne, gleichwohl unumgängliche Notwendigkeit, alles stehen und liegen zu lassen, Simons Familie eine Eingesessenheit, die nicht so recht zu der empfundenen Unrast passte. Aus der bloßen Erwägung, innerhalb weniger Stunden das Allerwichtigste in einem Koffer verstauen zu müssen, resultierte ein feines Gespür für Prioritäten, dessen Konsequenz nicht zuletzt ein gewisser ökonomischer Erfolg war. Der Buchladen von Simons Vater hatte sich zu einem Antiquariat von bedeutendem Ruf entwickelt. Immer noch klein, aber sehr, sehr fein. Zur Kundschaft gehörten mittlerweile Sammler aus vier Kontinenten. Gewiss, die allerteuersten Werke wurden anderswo gehandelt, und doch war Simon zwischen unersetzlichen Kostbarkeiten großgeworden. Kurz vor seiner Abreise erst hatte er die Machinae coelestis von Hevelius in der Hand gehalten. Fast die gesamte erste Auflage war 1679 zusammen mit dem Danziger Wohnhaus des großen Astronomen verbrannt und nun gab es hier noch ein geschundenes, zerlesenes Exemplar, das förmlich nach Geschichte roch.

Simon erinnerte sich an einen Nachmittag, es war eine kleine Unendlichkeit her und er war vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Er kam aus der Schule, hatte im Laden gestanden und nach der Inquisition gefragt. Sein Großvater hatte sich aus seinem Lehnstuhl erhoben und aus einem der großen, verschlossenen Bücherschränke den Dialogo von Galileo Galilei herausgeholt – und die Erde bewegt sich doch! Die Florentiner Ausgabe von 1632. Der Widerruf war damals kaum verklungen, als alle Exemplare, deren man habhaft wurde, im Sommer 1633 dem Feuer übergeben wurden. Das Werk stand noch zweihundert weitere Jahre auf dem Index verbotener Bücher. So etwa hatte sein Geschichtsunterricht ausgesehen.

Simon lehnte am Tresen und sah Theresa an. „Wo sind eigentlich all die anderen Erbstücke des alten Saunière?“, fragte er beiläufig. Dabei angelte er sich eins der neu eingetroffenen Heftchen und blätterte darin. Zu dieser Jahreszeit war nicht mehr so viel los im Ort und die neugierigen Touristenschwärme würden erst wieder mit Beginn des Frühjahrs den Ort erobern. Es herrschte beschauliche Ruhe. Sogar im Museum.